Man muss hinabsteigen. Nicht die Sprossen hinauf und hoffen, dass die letzte Sprosse tatsächlich die letzte Sprosse ist. Man muss den Dingen auf den Grund gehen. Ganz tief und vielleicht sogar noch tiefer, um die Tiefe zu überwinden. Der Tellerrand kann auch unten sein.
Aber Arima sagte doch, dass es keine Rolle spielt, ob rauf oder runter. Mephan dürfte derselben Ansicht sein, da Gegensätze in die Menschenwelt gehören und der spirituelle Weg alle Lebewesen im Universum betrifft, wobei manche keine Gegensätze kennen.
Wie ist das Leben ohne Gegensätze? Wie ist es, wenn sich nichts vergleichen lässt, weil ohnehin alles unvergleichlich ist? „Weder noch“, sagt Shiran, der Vierarmige. Wie? Weder gleich noch unvergleichlich? „Weder noch“, sagt Shiran, der Vierarmige abermals.
Es fällt mir schwer, ihn anzusehen. Auf eine gewisse Art wirkt er wie behindert, wie eine Attraktion auf dem Jahrmarkt, der dem Pöbel zur Schau gestellt wird. Vier Arme! Zwei gehen 'normal' vom Schultergelenk aus, aber die anderen zwei wirken wie seitlich hinein gebohrt zwischen den Rippen, welche die Lungenflügel schützen. „Ich atme auch mit den beiden unteren Armen, weil sie Fortsätze der Lungen sind“, gibt er mir zu verstehen und lacht dann schallend. Ein Scherzkeks, der Junge!
Ach, was haben wir gelacht, als die Welt noch eine Scheibe war. Als sie rund wurde, wurden die Menschen mutig, begannen Schiffe zu bauen und reisten um die Welt. Wenn es nur das gewesen wäre.
„Wozu immer diese Wiederholungen und Menschenbeschimpfungen? Du bist doch schon weiter. Leg den Stift zur Seite und lebe. Ergründe die Tiefen deiner Seele, denn das, was nach oben schwebt, ist nicht leicht und verpufft.“
Wie kann man sich ausdrücken ohne Gegensätze zu verwenden? Am Seelengrund liegen die schweren Dinge, aber die leichten schweben nach oben. Schwer und leicht. Tief und hoch.
„Es liegt an der Sprache. Aber wir wollen sie nicht Fehlentwicklung nennen. Genauso wenig wie den Menschen. Hab Mitgefühl mit all dem, was du nicht verstehst oder nachvollziehen kannst. Fühle dich hinein in das Herzklopfen des Universums und löse so die Krusten am Grund deiner Seele. Ist der Grund einmal gereinigt, bist du frei.“
Auch ein Poet ist der Vierarmige, den ich jetzt anzusehen wage. Er ist genauso so schön wie Mephan, wenn nicht schöner, da er hell ist. Hell wie die wunderschöne Statue von Shiva, wo er nur zwei Arme hat.
Ich kann nicht nie wieder schreiben. Es gehört zu meiner morgendlichen Meditation. Manches muss einfach raus, auch wenn es zum wiederholten Mal raus kommt. Zu viel in mir. Zu viel aufgestaut. Zu viel wiedergekäut. Wiederkäuer Mensch. Die heilige Kuh in mir. Aber irgendwann wird der letzte Buchstabe getippt. Irgendwann sicher. So wie das Amen im Gebet. Falls ich bete.

Sitira, die Schöne, ich erzähle dir von Menschen aus einem Dorf vom Süden unserer Erde. Sie lebten so schlecht und recht zusammen. Mehr arm als reich. Die Männer waren Machos und schlugen sogar ihre Frauen, wenn diese nicht zu Diensten waren. Eines Tages brach eine Revolution aus. Guerillas kamen und nahmen die Männer mit, die sie zum Kampf brauchten. Wer nicht mit kam, wurde erschossen. Immer wieder kamen diese Guerillasoldaten, so lange, bis es keine Männer in diesem Dorf kam. Außer zwei. Einer davon war gerade auf Reisen und als er zurückkam war er neben einem Knaben, dem die Frauen Frauenkleider angezogen und ihn als Mädchen ausgegeben hatten, der zweite Mann. Was noch dazu kommt, die beiden Männer waren schwul. Ja, und es gab noch einen Mann, der gar nicht als Mann zählte, nämlich der Priester des Dorfes. Zuerst war Chaos in diesem Dorf, bis sich eine Frau aufraffte und der Meinung war, als Bürgermeisterin Ordnung schaffen zu können. Es gab viele Fehlschläge und viele Zwischenfälle, wie etwa, als die Frauen beschlossen, den Priester zu beauftragen, einige Frauen zu schwängern, da es sonst keinen Nachwuchs geben wird. War auch ein Fehlschlag, da der Priester zwar ein geiler Lüstling, aber zeugungsunfähig war.. Schließlich tat sich doch etwas, als die Frauen drauf kamen, dass die Bürgermeisterin zu wenig tut und sie sie absetzen wollten. Die Bürgermeisterin setzte sich jedoch durch und meinte, dass eine alleine kann nichts tun kann, aber sie alle zusammen können das Dorf auf 'Vorderfrau' bringen. Es gab dann sogar einen ganz speziellen Kalender. Einen weiblichen Kalender, der sich nach den Perioden der Frauen richtete. Das musste deshalb sein, weil alle Uhren stehen blieben und niemand mehr wusste, ob es nun Vor- oder Nachmittag war. Und man beschloss, nach einigen Protesten, dass niemandem mehr etwas gehört, aber allen alles gehört. Die Tiere wurden in einen gemeinsamen Stall gebracht, um die sich spezielle Frauen kümmerten, Gemüse wurden von speziellen Frauen angebaut, für Nahrung und frisches Wasser wurde in zwei Gemeinschaftsküchen gesorgt und so weiter. Es lief alles plötzlich perfekt. Selbst, als die Guerillakriege beendet wurden und die überlebenden Männer zurück kamen, gab es zwar afangs Streitereien, da sich die Männer von den Frauen nichts sagen lassen wollten, aber schließlich gaben sie klein bei und erkannten, wie gut das System, das die Frauen ersonnen haben, funktioniert und es lief weiterhin perfekt. Auch waren jetzt wieder zeugungsfähige Männer im Dorf, um für den Fortbestand der Menschen dieses neuartigen Dorfes zu sorgen.
Sitira lächelt und meint, das dürfte ein schönes und vor allem sehr unterhaltsames Buch gewesen sein, von dem ich ihr eben erzählte, aber nicht alles verraten hatte, da ja noch viel mehr passierte. Ja, es ist ein schönes und unterhaltsames Buch, das sich „Der Tag, an dem die Männer verschwanden“ nennt und dem Kolumbianer James Canòn wohl gelungen.
(https://www.lovelybooks.de/autor/James-Can%C3%B3n/)

Die Weiblichkeit nicht vergessen. Matriarchat statt Patriarchat. Die Amazone, die den ersten Mann gebar, wurde verflucht, verstoßen, für immer verbannt. Es gab nicht mal weibliche Pferde, auf denen sie ritten. Selbstbefruchtung. Für Frau und Stute.
Macht es wirklich einen Unterschied, wo es doch keine Unterschiede gibt? Die Tiefe ergründen oder die Höhe überwinden? Beten oder nicht beten. Glaube kann ohnehin nicht erzwungen werden. An nichts glauben ist einfach. Danke, Mephan, der du mir bis jetzt der Liebste bist, auch wenn ich nicht urteilen sollte. Es geht nicht anders. Als Mensch. Menschen urteilen, beurteilen, wägen ab und tun dann doch das Gegenteil von dem, was für sie am besten wäre.
Das Licht blendet. Er ist heller als ich dachte. Aber es ist warmes Licht. Im ersten Moment. Als würde er plötzlich eine innere Lampe abschalten, bewegt er sich dunkel und geschmeidig wie ein schwarzer Panther auf mich zu. Nein, nicht Mephan, obwohl man ihn leicht mit ihm verwechseln kann. Aber viel mehr noch mit Arima, dessen Bruder er sich nennt. Schlafes Bruder. Der Tod. Welcher von euch ist der Schlaf?
Luzy lächelt und bleckt zwei wunderschöne, blendend weiße Perlenreihen. Es sind die Träume, die er uns schenkt. Luzifer und Morpheus in einem. Der Rebell, der uns sagen will, dass nicht alles wirklich ist, was wir für wirklich halten.
Luzy hat nichts mit Goethes Widersacher zu tun, - nichts mit dem Teil jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft. Nichts mit dem Geist, der stets verneint, weil er meint, im Recht zu sein, denn alles, was entsteht, ist wert, dass es zugrunde geht. Nichts mit dem, der sagt: drum wär's besser, dass nichts entstünde.
Luzy ist mehr der Schlaf, der Träumer, tatsächlich ein Morpheus, und zwar kein kleiner, sondern ein großer. Fast 2 Meter misst der schwarze Panther, der Kim, bzw. Arima, bis aufs letzte Härchen gleicht, mit einem Unterschied (schon wieder!), nämlich dem Muttermal unterm linken Auge, das nur Kim, bzw. Arima hat. Kleinigkeiten, die aber immer wieder erwähnt werden müssen, denn in dieser Phase wären Verwechslungen fatal. Es würde das Innere nach außen stülpen und das Äußere nach innen. Und dann hätten wir den Salat, wo wir doch schon alles so schön geordnet haben.
Einmal gemischter Salat, bitte. Ja, Salatplatte – oft das einzige vegetarische Essen auf der Speisekarte von Restaurants. So wird das nie etwas mit der Gleichheit. Am besten gleich die Liebe und das Licht vernaschen, denn Pflanzen sind auch Lebewesen. Wir gehen mit euch allen unter. Verhungern vor der vollen Bratpfanne.
Luzys Blick ist keck. Ja, ich sehe ihn so – genauso sinnlich wie Arima. Selbst seine Ausstrahlung lässt nichts zu wünschen übrig. Kein Teufel. Kein Satan, der verführt, denn im letzten Moment hebt er seine Hand und zeigt auf einen schwarzen kleinen Punkt, der vor ihm in der Luft schwebt.
„Das seid ihr in Wirklichkeit. Ein winziger Punkt, der sich nach allen Seiten ausbreitet und unendlich ist. Winzig und unendlich. Wie passt das zusammen?“
Ja, Luzy, wie? Ich wusste, dass er in Rätseln spricht.

Punkt – Punkt – Punkt. Aneinander gereiht. Kettenglieder. Die Perlenschnur. Und die Rufzeichen und Fragenzeichen? Wo bleiben sie in diesem Spiel?
Luzy breitet seine dunklen Schwingen aus. So lässt es sich einfacher in der Wiese hocken. Er lehnt sich an einen Baumstamm, dessen Blätter an Ahorn erinnern, aber jedes von ihnen hat eine ganz eigene Farbe. Keines gleicht dem anderen. Man muss es doch nicht übertreiben. Ich weiß, dass alles unvergleichlich ist, auch wenn das in unserer Welt nicht immer klar ersichtlich ist. Aber Ahornblätter? Auf Sampanna?
Manche von den Ruf- oder Fragezeichen sind Dämonen oder Götter, was aber nichts mit böse oder gut zu tun hat. Gut und böse sind Menschenwerk. Davon wenden wir uns ab und wollen das Gesamtbild erkennen.
„Es gibt kein Gesamtbild“, sagt Luzy mit seiner dunklen Stimme. „Es gibt dieses oder jenes Bild, aber nie ein Gesamtbild. Entweder oder. So ist es nun mal.“
Und wenn das Gesamtbild die Einheit ist?
„Du sollst dir kein Bild machen“, krächzt Luzy, weil er sich das Lachen nicht mehr verhalten kann.
Man hält ihn für deinen Vater, der das gesagt hat.
„Vergiss all das Geschreibe. Es ist nichts anderes, als das, was du ständig verzapfst. Märchen. Zu versuchen, die Welt und das Dasein zu erklären, wird immer fehlschlagen, wenn man in einer konstruierten Welt lebt. Du kannst durchaus sagen, dass Dämonen Fragezeichen sind. Sie krümmen sich in den Unterwelten. Aber nicht vor Schmerz, sondern weil sie stets so bauen, dass die Wohnungen zu klein für sie sind und sie sich bücken müssen, wenn sie nach Hause kommen. Guter Scherz, was?“
Ja, Luzy. Ich wusste, dass er nur Scherze macht.
Und die Rufzeichen? Sind Götter so gerade,weil sie hohe Bauten haben?
„Sieh dir doch eure Dome und Kirchen an. Welcher Normalo möchte da drinnen wohnen, wo man die Lampen mit Feuerwehrleitern aufhängen müsste?“ kreischt Luzy eine Lachsalve nach der anderen.
Klar sind meine Fragen sinnlos. Aber ich erinnere mich an eine Erzählung von Kim, als er über so seltsame Wesen sprach, die wie Stecknadeln aussehen, aber die man durchaus auch für Rufzeichen halten kann.
Alles lebt, - sagt Elbin Lotte (die liebe Frau Lotte Ingrisch). Also leben auch unsere Buchstaben. Wir hauchen ihnen Leben ein.
„Dasein. Ihr haucht ihnen Dasein ein. Sie sind da. Das ist alles. Auch alle Geräte, Apparate, Maschinen, Roboter oder wie immer ihr all das Zeug nennt. All das ist da – Dasein. Das verlängerte Leben von euch. Energetisch zieht ihr Linien zu allem, was ihr schafft. Ihr seid mit eurem Schaffen durch Energielinien verbunden, was aber nicht heißt, dass ihr dem Schaffen Leben einhaucht. Leben ist wieder etwas anderes. Leben kennt ihr nicht. Erinnere dich an meinen Bruder, als er sagte: Ihr nennt es Leben – ich nenne es Tod. Oder so ähnlich. Das hier – all die Bilder, die du als Gesamtbild sehen möchtest – das ist tatsächlich Tod. Jenseits davon aber gibt es Leben.“
„Worte, alles nur Worte“, höre ich eine sonore Stimme von oben, spüre den Wind, den er mit seinen schwarzen Schwingen macht und schon landet Mephan direkt neben Luzy in der Wiese und kreuzt seine langen Beinen zum Schneidersitz.
„Sie begreift es ja nicht anders. Sie ist eine Logikerin, die an nichts glaubt und nur phantasiert, wenn sie schreibt.“
„Luzy übertreibe mal nicht“, nimmt mich Shiran in Schutz, der sich mir von hinten nähert und neben mir Platz nimmt, dass er Mephan und ich Luzy gegenüber hocken.
Das könnte eine interessante Gesprächsrunde werden.
„Schweigen wäre besser. Hörst du nicht die kompromisslose Stille?“
Ja, Luzy – ich höre sie.

Mittag – Mitternacht – mittig. Die goldene Mitte. Kompromisse? Buddha hatte unrecht. Vielleicht nicht für sich selbst, aber... Aber! Man muss sich entscheiden in dieser menschlichen Welt. Entweder oder! Wie Luzy schon sagte. Morgen oder Abend. Fisch oder Fleisch. Gut oder Böse. Auch wenn das, wie alles im menschlichen Leben, keine Bedeutung hat. Man muss sich entscheiden!
Man stelle sich vor, in einem der trostlosen Slums geboren zu werden. Man hat Glück (oder Pech?), wenn man aufgrund irgendwelcher Verbrechen (anders gibt es kein Überleben in den Slums) lebenslänglich eingesperrt wird und täglich verpflegt wird.
Man stelle sich weiters vor, in eine Königsfamilie hinein geboren zu werden. Glück oder Pech? Kommt auf die Umstände und auf die eigene Verfassung an. Stirbt die Mutter, wenn man sie dringend braucht, während der Vater schon vor der Hochzeit eine Geliebte hatte, sieht es nicht gut aus, auch wenn sich so viele Menschen (angeblich) wünschen, Prinz oder Prinzessin zu sein.
Krasse Beispiele. Aber man muss sich entscheiden. Dies oder das.
Mephan schüttelt seinen Kopf. Ihm gefällt das nicht. Er ist ohnehin fürs Hände-in-den-Schoß-legen und Nichts-tun. Geboren werden, sitzen, sobald man sitzen kann und sitzen bleiben. Und ja nicht aufs Atmen vergessen! Tief einatmen, anhalten und tief ausatmen. Aus dem Bauch, wenn geht. Denken ist Glücksache. Kann aber auch Pech bedeuten. Der Geist muss leer sein. Die kompromisslose Stille, wie Luzy wiederholt auf Mephans Seite ist.
Man darf nicht vergessen, Sampanna (auch wenn es auf Sanskrit „erfolgreich, glücklich, perfekt, vollkommen, beendet“ bedeutet) ist nicht die einzige Vorstufe zur Einheit. Es ist noch immer eine Art Schule, die man bestehen muss. Die vier Erwähnten, Mephan, Shiran, Sitira und Luzy, sind dort Lehrer, aber selbst sie treten manchmal daneben und folge dessen in die Scheiße, die sie selbst ausbaden müssen.
Nur Arima fällt aus dem Rahmen. Perfekt wie immer. Und er hält sich zurück. Sitira tut das auch. Weiblichkeit ist immer vorne weg, während sich Männlichkeit noch immer streiten – den starken Mann zeigen muss.
Sampanna ist nicht das Reich, das Sila und Pama bestellen, indem sie Städte und Landwirtschaften auf Vordermann bringen. Die Ersten werden die Letzten sein. Nachdem sich die Föten entschlossen haben, doch wieder zur schlüpfen und das Universum startklar zu machen, entstand Pamas, Silas und Arimas Reich der Zukunftsmenschen. Das neue Universum. Man erinnert sich doch an den herrlichen Park, in dem auch Luzy musizierte. Ja, er beherrscht die Künste der Menschenwelt fast vollkommen. Noch vollkommener ist Arima. Hätte wer was anderes gedacht? Niemals!
Sampanna ist noch das alte Universum. Dieses Universum. Diese Welt hier. Die Erde - umgeben von Sampanna, das uns zeigt, wie wir uns selbst retten können. Wenn wir hinsehen und hinhören. Aber nur dann!
Shiran ist nicht abgeneigt gegen die Stille. Er liebt sie, aber es sollte sich dennoch etwas tun. Wenigstens spielen sollte man können. Ein wenig Sport. Wer will es ihm verdenken – mit seinen vier Armen.
Wir vier in der Wiese. In einem Land, das sich durchaus Paradies nennen kann. Ich bin nur Gast hier. Geistiger Gast neben meinen geistigen Freunden. Bergauf geht es hier. Und wenn ich aufwache zeigt der Pfeil hinunter. Aber immer weniger. Irgendwann gehen wir alle geradeaus und das mit erhobenem Haupt. Ja, das werden wir! In der Tat, - wie Arima immer sagt. Nur diesmal schweigt er und überlässt den anderen Lehrern das Wort.

Wo sind sie, die Abenteuer? All die Erlebnisse, von denen man sagen kann, dass sie einmalig sind. Unvergesslich und der Höhepunkt des Lebens. „Wer die Schönheit angeschaut mit Augen.“ Der wünscht sich nur mehr den Tod, denn für die Augen gibt es nicht mehr zu sehen, was sich lohnt. So ähnlich ist es wohl auch nach einem Abenteuer.
Bücher lesen! Unbedingt! Dort sind Welten und Abenteuer versteckt! Als hätte man selbst alles erlebt. Die letzte Seite ist immer ein Abschied. Und jetzt?
Wie war das, als ich die Kim-Saga beendet hatte? Die ersten Gespräche? Die Geschichte von Ernst: „Ernst war so ein Lebewesen, das von manchen Dingen so überwältigt war, dass er sein gesamtes Leben darauf projizierte – und als seine Aufgabe vorbei war, war er vollkommen leer.“ Aus und Vorbei. Sterben. Innerlich. Ist leer sein wirklich sterben? Ja, wenn der Glaube fehlt oder so was ähnliches wie der Glaube. Glaubhaftigkeit! Ja, das ist es.
Luzy nickt. Mephan nickt. Shiran nickt. Und nun kommt auch Sitira um die Ecke und nickt mir zu. Ja, um die Ecke der herrlichen Terrasse, auf der wir in einer weichen Wiese hocken und auf einen Brunnen mitten in einem Pool blicken. Dahinter liegt ein See und Berge und Palmen überall und zauberhafte Flamingos stolzieren im Pool. Ein herrliches Bild. Paradiesisch.
„Wer die Schönheit angeschaut mit Augen, ist dem Tode schon anheimgegeben.“ „Tristan“ von August von Platen-Hallermünde. Ein berührendes Gedicht. Damals, ich es das erste Mal las, dachte ich, der Dichter hat Kim gesehen. Nein, das dachte ich natürlich nicht. Ich dachte, es passt auf Kim, so wie ich ihn mir vorstelle. Überirdisch schön. Unbeschreiblich schön. Nichts und niemand kann seine Schönheit beschreiben, zeichnen oder malen. Aber dieses Gedicht kommt nahe dran.
Wie komme ich von Abenteuer auf Schönheit? Weil es darum geht, Abenteuer zu erleben. Bei der Schönheit ist es dasselbe. Auch sie muss erlebt werden. Die vier Lehrer schenkten mir einen kleinen Einblick dafür. Einen klitzeklein winzigen Augenblick. Schönheit ist nicht nur Gesehenes. Wäre ja auch zu einfach. Es mehr als das. Es ist mehr als Gefühltes. Es ist das, was für Menschen fast unmöglich ist. Der zerrissene Mensch. Die idiotische Menschenwelt. Kann man so sagen und auch stehen lassen. Schönheit ist Ganzheit. Ungeteiltes und vielleicht auch Ungeborenes, auch wenn ich Kim das Geboren-worden-zu-sein angedichtet habe. Als Arima wurde er nie geboren. Er IST Arima. Der Ganze. Der Ungeteilte. Der Ungeborene. Ob er sich endlich hier blicken lässt?

Tristan

Wer die Schönheit angeschaut mit Augen,
Ist dem Tode schon anheimgegeben,
Wird für keinen Dienst auf Erden taugen,
Und doch wird er vor dem Tode beben,
Wer die Schönheit angeschaut mit Augen!

Ewig währt für ihn der Schmerz der Liebe,
Denn ein Tor nur kann auf Erden hoffen,
Zu genügen einem solchen Triebe:
Wen der Pfeil des Schönen je getroffen,
Ewig währt für ihn der Schmerz der Liebe!

Ach, er möchte wie ein Quell versiechen,
Jedem Hauch der Luft ein Gift entsaugen
Und den Tod aus jeder Blume riechen:
Wer die Schönheit angeschaut mit Augen,
Ach, er möchte wie ein Quell versiechen!

August von Platen-Hallermünde
(1796 - 1835), geboren als Graf Karl August Georg Maximilian von Platen-Hallermund, deutscher Dramatiker, Theaterschriftsteller und Lyriker

Es ist nicht der Glaube, der fehlt. Es ist die Glaubhaftigkeit. Glaubhaft sein, denn Glaube kann alles sein. Nur nicht Wissen. Wir werden nicht philosophisch. Wir sind es. Teilweise. Probeweise, aber all das hat keinen Wert. Ist nichts wert. Alles nur ein Spiel. Menschenspiel. Kostümball.
Wer will sich schon im Klaren sein, dass eh alles den Bach runter geht und in dieser Welt nichts Bestand hat? Schau deinem eigenen Tod in die Augen, dann weißt du, wovon ich spreche/schreibe.
Erinnerst du dich an einen Anfang? An ein Ende? Und doch sagen sie: - alles ist Bewusstsein. Alles beginnt. Alles endet. Nur das Sein bleibt. Der Unterschied? Persönlich – unpersönlich. Sonst ist das nichts.
Haben doch keine Ahnung. Einen Streit vom Zaun brechen. Wer hat all diese Sprichwörter erfunden? Wir blabbern nach, obwohl wir keine Ahnung von der Bedeutung haben. Geben aber allem eine. Irgendeine. Hauptsache es wird erklärt, belehrt. Schöne heile Menschenwelt. Langsam bröckelt die Fassade ab. Was ist dahinter?
Das ist keine Glaubhaftigkeit. Glaubwürdig sein. Ich glaube dir nicht, weil... Ja, weil? Weil du nicht glaubhaft bist. Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht, auch wenn er mal die Wahrheit spricht. Das geht die Oberen an, die sehr gut wissen, was Sache ist. Aber sie verraten nichts. Lassen uns im Dunkeln Kälte leiden. Schuld? Gibt es nicht.
Sitz nieder, atme tief ein, halte den Atem an und atme wieder tief aus. Bleib sitzen. Für den Rest deines Lebens. Egal, auch wenn in der Scheiße und all den stinkenden Flüssigkeiten des Körpers. Bleib einfach nur sitzen und lass es zu. Sei glaubhaft. Gib ihnen die Wahrheit. Es gibt nichts zu tun, denn es nie etwas geschehen.
Ja, meine lieben Lehrer. Ich weiß. Umsetzen? Umsitzen? Wir werden sehen. Auf jeden Fall gehört auch Mut dazu.

Du weißt nicht wer du bist. Eingeschlossen in einem zu engen Körper. Körper und Geist vertragen sich nicht. Der Körper tut sein übriges, indem er Geistähnliches erschafft. Manche nennen es Bewusstsein und können nicht zwischen Geist und Bewusstsein unterscheiden. Hier muss unterschieden werden. Muss! Unbedingt!
Wessen Stimme dringt an mein Ohr? Ohr? Durch wessen Augen sehe ich? Durch wessen Mund spreche ich?
„Es ist Sila“, gibt mir Sitira zu verstehen, die sich ganz nah neben mich gesetzt hat und ebenso verträumt auf den Brunnen, die Flamingos und alles andere blickt, während sie sanft meine Hand nimmt und drückt. „Sila hilft dir hier zu fühlen – hier zu sein.“
„Und wenn du wissen willst, wie Multidimensionalität funktioniert, denke an Ysil und Bela“, murmelt Shiran von der anderen Seite in mein Ohr.
Daran habe ich gar nicht gedacht. Ysil und Bela sind wie Thygyrill und Manola Aspekte Silas. Sie machen das Doppelwesen Sila erst aus. Diese vier sind sozusagen Hauptbestandteile dieser Energie, die sich Sila (Scheila ausgesprochen) nennt. Ich bestehe darauf, wie es ausgesprochen wird. Es hat so einen weichen Klang – Scheila. Warum ich es nicht gleich so schreibe? Keine Ahnung. Ist nun mal so.
„Wo ist Arima?“ frage ich.
„Fühl in dich“, dringen zwei Stimme – eine von links, eine von recht – in meine Ohren und treffen in der Mitte zusammen. Mitten im Gehirn, wo sich das menschliche Bewusstsein entwickelt hat – von klein auf. Dreijährige sind noch nicht so weit wie Zehnjährige. Es muss sich erst alles entwickeln. Muss! Unbedingt! Und wenn nicht? Wenn dieses 'Muss' endlich wegfällt? Nicht mehr stresst? Was dann? Lass alles zu. Alles. Ergebe dich. Lass dich fallen. In die ewige Unendlichkeit.
Über den Tellerrand hinausblicken. Mehr als nur hier sein. Überall sein. Über All. Übers All hinaus schweben. Schau mal, all die vielen Planeten! Wusste gar nicht, wie viele von denen bewohnt sind.
„Wie groß ist Sampanna?“
Lachen. Alle lachen. Als würde Sampanna aus Größen bestehen. Zwischenwelten oder Vorbereitungswelten bestehen nicht aus Größen. Auch wenn ich sage, Sampanna umschließt unsere Erde, weil es eine irdische Vorbereitungswelt ist, umschließt sie die Erde nicht wirklich. Oder sieht jemand etwas, das die Erde umschließt? Atmosphäre, Biosphäre? Und Troposphäre, Stratosphäre, Mesosphäre, Thermosphäre, Exosphäre und?
Lachen. Alle lachen.
„Nicht das was deine fünf menschlichen Sinne wahrnehmen können – das ist Sampanna.“
Ich ergebe mich der Phantasie und fliege auf einem schwarzen Drachen, gleichzeitig aber auch auf einem weißen Drachen. Ich bin Ysil und Bela in einem und wir beide lachen und erfreuen uns im Flug. Vor uns der goldene Drache. Und auf ihm reitet Arima, der König der acht Winde.

Wiederholung – Wiederholung. Man dreht sich im Kreis. Des Lebens Kreislauf. Geburt – Tod – Geburt – Tod. Das nenne ich Ewigkeit und Unendlichkeit. Immer wieder geboren werden. Immer wieder sterben. Bis man über den Tellerrand hinaus hüpft. Ja, hüpft! Mit beiden Beinen am Boden und dann los hüpfen, als würden sie in einem Sack stecken. Sackhüpfen. Auch ein Spiel. Spielerisch zugrunde gehen. Und dann? Aufwachen. Awakening. Das große Erwachen aus dem Traum des Lebens, des Todes. Das hat dann nichts mehr mit Ewigkeit zu tun, denn es gibt keine Zeit, die ewig wäre. Das hat dann auch nichts mehr mit Unendlichkeit zu tun, denn es gibt keinen Raum, der unendlich wäre.
Der König der acht Winde könnte leicht missverstanden werden. Es gibt keinen König. Keinen windigen König. Wie jetzt? Arima segelt auf seinem Drachen durch die Lüfte und kennt jedes Gebilde darin. Hat man so was schon gesehen? Gebilde aus Luft! Es sind die acht Winde. Die Baumeister der Luftgebilde. Welcher Wind baut mein Schloss? So lernt man als erstes die Schwingungen kennen, mit denen man kompatibel ist. Vögel wissen das. Die Luftbewohner. Sie sehen all die Luftschlösser, die Menschen gebaut haben. Daran stoßen sie sich nicht, aber an die festen Wände, die alles zubetonieren. Nicht nur Idefix vertreibt die Baumtöter und Wiesenzerstörer. Auch Vögel weinen um ihre Wohnungen.
Nun werden wir nicht trübselig und vielleicht sogar ein wenig heuchlerisch. Wir wohnen ja doch gerne gut. Und wir sind nun mal die Stärkeren und Klügeren. Meinen wir. Und sind uns – wohl die meisten – sehr sicher damit. Bis, ja bis...
„Eine Illusion jagt die andere“, flüstert Sitira und die anderen lachen, bis auch sie in die wohlklingende Melodie des Lachens einstimmt.

Wir fliegen durch den Nachthimmel. Höher. Immer höher. Wir lachen. 'Wir' löst sich auf. Die Leichtigkeit des Seins. Erst jetzt verstehe ich, was mit 'Leichtigkeit' gemeint ist. Nicht-sein und doch mehr Sein als bisher. Das Negative wird nicht zum Positiven. Beides vereint löst sich auf. Plus und minus ergibt minus. Wirklich. Ich habe gesehen, wie sich das Ja mit dem Nein und das Nein mit dem Ja vereinigt und Nichts daraus wird.
Achtlos wirft man Tierkadaver zur Tierverarbeitung. Geworfen wie alte Bälle. Haben wir das getroffen, was wir treffen wollten? Mit Menschenkadaver ist es nicht anders. Leblose Hülle. Und doch werden Pyramiden und andere Grabstätten gebaut. Es gibt ja auch Tierfriedhöfe. Was ich aber generell damit sagen möchte: Wir sind nichts. Wir sind diese achtlos geworfenen Kadaver, wenn wir nicht zum wahren Selbst zurück finden.
Und wieder Gelächter. Ja, ich weiß Bescheid über meine ständigen Wiederholungen. Aber das Bewusstsein...
„Vergiss das Bewusstsein. Je mehr sich darin festsetzt, um so mehr setzt sich alles fest“, sind Mephans kluge Worte. Der Verneiner. Luzy ist auch so einer. Sie hocken uns gegenüber. Uns – das sind Sitira und Shiran und ich.
In den Lüften, auf den Drachen, mit Ysil und Bela und Arima (er schweigt noch immer) bin ich auch. Ich bin dort, worüber ich schreibe. Ganz einfach. Oder?
Es muss sich nichts festsetzen. Das ist nur eine Ausrede, um ein morgendliches Gebet nicht zu vergessen. Mein Beget – um es richtig zu stellen. Ich bin, was ich bekomme. Ich nehme nichts mehr. Ich bin nichts mehr.
Alles kann ersetzt werden. Alles und jeder, auch wenn die Leistungen noch so toll sind. Freund Carlos würde so gut hier her passen. Irgendwie kann ich ihn fühlen, dort hinter den Bergen, wo die riesige Kuppel steht, in der es sich seine Mitzauberer bequem gemacht haben. Die Kuppel ist wie eine eigene Stadt – eine eigene Welt. Wie auf einem Kreuzfahrtschiff. Und der Navigator ist wie immer Don Juan, der vierzackige Nagual. Freund Carlos hat nur drei Zacken, deshalb ging seine Mission irgendwie in die Hose. Aber er hat erkannt, dass die Wegwerfgesellschaft wir selbst sind. Wir werfen uns selbst weg.

Mach die Augen zu und staune. Wir wollen aber die Vorstellungskraft nicht strapazieren. Da ist nichts. Da war nichts. Kein Hohn, auch wenn sich manche grämen mögen. Auch wenn manche leiden und ihren Schmerz hinaus schreien. Wir wissen, dass da nichts ist. Wahrnehmung? Gibt's nicht wirklich. Alles Schall und Rauch. Lacht da jemand? Auch das soll's geben. Lachen und weinen gleichzeitig und dabei die Frage, die ich mir immer wieder stelle: „Wie kann ich nur glücklich sein, wenn noch immer jemand leidet?“ Aber da ist nichts, das leiden könnte. Nichts, das lachen könnte. Da ist nur das Theater des Lebens. Die Vorstellung hat für jeden ein Ende. Wenn wir uns nur an den Anfang erinnern könnten!
Der glückselige Flug hat auch bald ein Ende. Nichts ist für immer. Schon alleine das sollte uns zu denken geben. Nicht denken. Sich nichts vorstellen. Einfach nur sein. Langeweile? Keineswegs. Wir kennen es nicht. Erkennen nicht.
Was, wenn ich die Augen wieder öffne? Schon wieder träumte ich vom Urknall, der keiner war. Es gab sie schon früher. Lebewesen. Sie sahen anders aus als wir. Sie waren lieblicher. Putziger. Süßer. Und wie immer man Lebewesen nennt, die einem einen Seufzer entlocken und die man am liebsten fest (nicht zu fest!) an sich drücken möchte. Wie kann das Aussehen denn täuschen? Es kann. Diese lieblichen, putzigen, süßen Lebewesen haben nämlich etwas entwickelt, das den so genannten Urknall auslöste. Im Traum blätterte ich in einem Buch, in dem all das nachzulesen war. Ein Bilderbuch. Die nächsten Seiten nach dem Knall zeigten Bilder von Dinosauriern. Keine lieblichen, putzigen, süßen Lebewesen mehr. Es gab sie nicht mehr. Sie haben sich selbst ausgelöscht. Und wir? Löschen wir uns auch selbst aus?
Kann nicht sein, denn da ist nichts, das ausgelöscht werden könnte. Aber nur dann, wenn wir für immer die Augen schließen und staunen.

Verstand stößt an Grenzen
Gefühle verwirren
Körper verändern sich
Wer ist Ich?
Knapp und klar geschrieben. Ein Zustand, in dem ich selten bin. Ich? Gute Frage: Wer ist Ich? Wo ist das, was Ich genannt wird? Wer ist das, das Ich genannt wird?
„Lass los“, flüstern die Lehrer, „Erzähl uns lieber von deinen Träumen.“
Das hier nennt sich „Bergauf-hinunter“ und nicht „Träume“.
Sie lachen wieder. Lachen, dass sie sich die schlanken Bäuche halten.
„Wie etwas genannt wird... wie etwas genannt wird“, stößt Mephan zwischen Lachanfällen hervor, „ist so belanglos.“
Ich weiß, aber ich will mein morgendliches Beget (!) nicht vergessen. Nicht versäumen. Und vielleicht findet Arima dann wieder die Sprache wieder.
„Er mag keine Wiederholungen“, meint Luzy und die anderen, Mephan, Shirann und Sitira nicken. „Ihr wiederholt in euren Gespräche nur alles“, gibt mir Shiran zu verstehen. „Und das mag er nicht mehr.“
Meine Träume? Wunschträume? Als Kind hätte ich gerne Geschwister gehabt...
„Heute Nacht hat dich ein grauer Hund verfolgt“, erinnert mich Sitira.
Ein grauer Spaniel. Aber er hat mich nicht verfolgt. Ich ging mit ihm spazieren und irgendwann habe ich ihn verloren. Plötzlich war die Straße voll mit Hunden, aber der graue Spaniel war nicht dabei.
Aber ich träume – bzw. sinniere oft, was gewesen wäre, wenn ich Geschwister...
Und wieder lachen sie. Und bestätigen, dass Arima nichts von Was-wäre-wenn hält. Darauf gibt es zig Antworten. Unzählige. Aber was, wenn ich an einer Kreuzung mit vier Abzweigungen stehe und mich nur für eine entscheiden darf?
Die vier Winde in den Büchern von Freund Carlos. Sitira, stehst du, als einzige Weiblichkeit, für den starken Norden? Weder noch, denn sie ist nicht wirklich weiblich. Hier wird nicht fortgepflanzt. Hier wird empfangen. Dort vorne am goldbedeckten Schmiedeeisentor. Wenn es sich von selbst öffnet, sind die Gäste willkommen. Man ist nur Gast hier. Man ist in allen Welten immer nur Gast. Meistens wird es vergessen.
„Erzähle uns von der riesigen Kuppel“, ermuntert mich Luzy.
Es wäre wieder nur Phantasie, denn selbst Freund Carlos wusste nichts Genaues darüber, außer, dass sie aus einer Vision stammt. Auch eine Textstelle aus seinen Büchern, die ich liebe. Carlos fragte nach dem jungen Mitzauberer namens Eligio. Die anderen Mitzauberer sagten, er sei in der weißen Kuppel, zusammen mit Don Juan und Don Genaro. „Aber die Kuppel ist doch nur eine Vision“, meinte Carlos, worauf einer der jungen Mitzauberern sagte: „Dann ist Eligio eben in einer Vision.“
So einfach sahen sie es und wunderten sich nicht mal darüber. Man kann durchaus in einer Vision, in einer Phantasie stecken bleiben und nicht mehr zurück kehren, weil da nichts ist, das einen hält. In einer Welt, in der alles den Bach runter geht und man sich wünscht, die Menschheit würde endlich aussterben (habe ich gestern im Facebook gelesen!), hält einen wirklich nichts. Oh ja, die Liebe, die ja doch nur ein Wort ist und eher Gebraucht-werden genannt werden könnte, könnte einen halten. Aber nein, denn man braucht nichts. Man hat alles. Man ist alles.
Etwas, was Freund Carlos mich mit seinen Büchern lehrte: „Lass dich nicht im Selbstmitleid versinken.“ Da ist nichts, was du verlieren könntest, was dir weh tun könnte. Da ist nichts außerhalb. Und innerhalb? Nur Bekanntes. Nur du. Nur du selbst.
Die weiße Kuppel leuchtet von weitem im strahlenden Sonnenlicht. Wie gesagt – sie ist von riesigen, schier unbeschreiblich Ausmaßen. Wie eine kleine, eigene Welt. Dort leben die Zauberer. Hinter den Bergen, aber nicht bei den Zwergen. Die Zwerge leben in der anderen Richtung. Arima ist gerade mit Ysil und Bela auf den Drachen dorthin unterwegs. „Auf zu den Zwergen!“ rief Ysil und freute sich schon auf den kleinen Grom, der ihr Freund geworden ist und den sie öfters besuchen kommt.
Ach ja, die Kuppel. Ich weiß nichts von ihr. Aber vielleicht träumt mir heute Nacht von ihr und dann steht Freund Carlos das zweite Mal vor mir und ich schreie ihn an: „Ich weiß, dass ich träume!“ Na, und? Bewusst träumen ist keine Hexerei. Es ist noch lange nicht das, was ich suche. Ich?

Carlos war hier. Carlos lebt hier nicht mehr. Er lebt in seinen Büchern weiter. Für die Mehrheit. Er lebt in seinen Verwandten weiter. Für die Minderheit. Nachruf? Was sollte man ihm nachrufen? He, Carlos!? Die Theaterfigur Carlos hat den Geist aufgegeben. Vielleicht hat sie nicht der Adler gefressen. Vielleicht ist sie an ihm vorbei gegangen und spielt in anderen Welten weiter. Aber hier ist Carlos nicht. Nicht hier. Nicht da.
Die Kuppel ist zwar nicht leer. Ich sehe Arme, einzelne Augen, schwebende Füße. Sie können es einfach nicht lassen. Ständig verstecken sie sich hinter irgendwelchen Energiebändern. Nur ein Arm lugt hervor. Zuleica, dunkle Träumerin des Westwindes. Nur ein Zwinkern mit einem Auge. Silvio Manuel, der dunkelste der Zaubergemeinschaft. Nein, Zauberer wäre falsch, denn über schwarze oder weiße Magie verfügen nur Menschen und davon sind es nur wenige, die weiße Magie beherrschen. Sie halten sich selbst darin gefangen. Jene, die ich fälschlicherweise Zauberer nannte, sind Navigatoren. Sie fliegen in und durch verschiedene Welten, die uns Durchschnittsmenschen fremd sind. Wir ahnen nicht einmal, dass es sie gibt.
Ach, Freund Carlos ist ein Lügner? Er hat all das nicht selbst erlebt? Moment! Es gibt einen sehr schmalen Grad der Grenze zwischen Phantasie und Phantasie. Wenn man überzeugt ist, dass alles erstunken und erfunden ist, kann man es durchaus bloße Phantasie nennen. Wenn man aber in dem, was aus einem selbst kommt, (geistig) lebt, dann ist es die andere Phantasie. Dann ist es etwas, was man zwar nicht körperlich mit macht, aber der Geist stößt direkt hinein in diese Welten und lebt in ihnen. Wahre Abenteuer sind im Kopf, sagte schon einer der genialsten österreichischen Visionäre. Visionen! Ja, diese Phantasie grenzt an Visionen. Diese Phantasie mag eine kleine Vorstufe zum Wahren sein. Hier muss angesetzt und weiter gemacht werden. Erst dann kommt das große Eintauchen. Kannte Freund Carlos dieses Eintauchen?
Ysil und Bela landen bei den Zwergen. Das ist wieder eine ganz andere Welt, obwohl es sie auf Sampanna gibt. Der Distrikt der Zwerge. Alles Einteilungssache. Sie wollen unter sich sein. Genauso wie die Drachen und die Einhörner und geflügelten Pferde, von denen manche auch ein Horn haben. Man darf aber die rosa Elefanten nicht vergessen. Jetzt aber!

Poetisch sollte es sein. Verwirrend auch. Die Rede ist misslungen. Zumindest die Anfangsrede. Mal sehen, wie es weitergeht. Und ob es weitergeht. <--- So war die Anfangsrede. Die Misslungene. Und der große Rest? Misslungen oder nicht misslungen? Das ist hier keine Frage. Es ist so was von scheißegal. Selbst der Titel ist scheißegal. Zumindest diesmal. Es ist unzusammenhängend und doch zusammenhängend. Ein kleiner, dünner, roter Faden.
„Welcher Faden zieht sich durch dein Leben?“
Gute Frage, Luzy. Wenn man das weiß, ist man durch. Mein Faden ist farblos. Oder vielleicht grau. The beauty of grey. Auch ein schöner Song der Band „LIVE“. „This is not a black and white world...“
„Entweder oder!“ ruft Mephan schallend.
Schwarz oder weiß? Nein, du irrst dich, Mephan. Es ist weder schwarz oder weiß. Es ist farblos. Wir leben in einer farblosen Welt, die erst eingefärbt werden muss. Von Wesen, die Liebe im Herzen haben. Von Wesen, die harmonisch miteinander leben. Dann wird es eine bunte Welt – eine Regenbogenwelt.
Gott will. Was will er/sie/es? Wenn dir etwas nicht passt, wenn dich etwas verletzt, wenn dich etwas leiden lässt, egal ob körperlich oder seelisch, dann denke dir, dass Gott das will. Genau das hat Gott mit dir vor, um dich vollkommen zu machen. Das Leben (oder die vielen Leben) sind ein Prozess und Gott ist der Prozessor.
„Was für ein Schwachsinn!“ Sitira ist empört.
Glaubst du nicht an Gott, Sitira?
Da wende ich mich doch lieber wieder an die weiße Kuppel, in der Wesenheiten existieren, die der großen Kraft Einhalt geboten haben. Sie haben es geschafft – wenigstens bis in die riesige, weiße Kuppel.
„Ja“, brummt Silvio Manuel, „Die Kraft prozessiert.“ Und vor welches Gericht will sie gehen? Wen klagt sie an? „Da fragst du noch? Sie klagt die gesamte Menschheit an!“

Ergebe dich der Kraft und sie wird dich genauso führen wie das Ego, nur mit dem Unterschied, dass du dich nicht mehr fragst, was für dich heraus springt.
Kims/Arimas Worte hallen in mir nach. Absichtsloses Handeln. Es gibt keine Person. Es gibt nichts Persönliches. Das ist nur eine Position des Montagepunkts. Oder nur eine Blase, in der sich ein winziger Aspekt der Kraft als Mensch wahrnimmt.
Aber das Gericht entscheidet. Unpersönlich und neutral. Die Anklage steht. Der Richter urteilt. Statt Haft gibt es Freiheit. Was kostet sie? Gewohnheiten ändern oder ganz abschaffen. Selbstmitleid und Eigendünkel zügeln. Loslösen von allem.
Die Leichtigkeit des Seins wurde missverstanden. Sie findet nicht hier statt, denn es gibt kein Hier. Es gibt kein Hier und Jetzt. Es gibt nur Positionen.
Du weiß ja, was passiert, wenn man zu lange an ein und demselben Ort bleibt. Man höhlt den Platz aus und fällt in ein bodenloses Loch.
Man höhlt die Kraft aus. Was bleibt? Ein Loch. Das Aussterben hat längst begonnen. Deshalb müssen wir uns ändern. Von Grund auf oder von Grund an. Auch wenn die Position so stark fixiert ist, als gäbe es kein Loslösen. DAS ist mit Loslösen gemeint! Wir müssen uns von dieser Welt, die ja nur eine Position des Montagepunktes ist, loslösen.
Die Wesenheiten in der weißen Kuppel nicken. Der zarte Unterarm, wie auch das eine Auge und die schwebenden Füße, die der lieblichen (man soll sich nicht täuschen!), aber sehr starken Florinda gehören. Florinda gehört dem Nordwind an. Die Nordwindhexen sind die mächtigsten Hexen, - so sagte Don Juan. Die Verrückten, wie Zuleica und Silvio Manuel, sind dem Westwind zugehörig und kaum schwächer. Sie sind nur unberechenbarer.
Gestern las ich, dass ursachenlose Bauchschmerzen als Kind eine Geisteskrankheit ankündigen. Mit „ursachenlose“ ist gemeint, dass kein Arzt herausfand, woher die Bauchschmerzen kommen. Also muss es psychisch sein. Ich hatte als Kind oft Bauchschmerzen und zwar so arge, dass ich schrie und mich krümmte. Von wegen, Kohlgemüse! Es war (ist?) eine Geisteskrankheit!
Geisteskrank sind wir alle, auch wenn wir es nicht zugeben. Das sind die Schlimmsten! Jene, die es nicht zugeben! Es kann sich nur um Geisteskrankheit handeln, wenn man an der menschlichen Welt teilhat und sich noch dazu daran klammert, sich um Dinge bemüht, wo von vorne herein klar ist, dass man nichts wirklich besitzen kann. Und dann rafft man noch alles zusammen und das kurz vor dem letzten Atemzug, als könnten wir alles mitnehmen in den vorprogrammierten Tod.
Schon gut, ich hör ja schon auf. Klar, es ist eine Welt wie viele andere, aber man sollte nicht ständig in ihr herum hängen. Der Montagepunkt gehört verschoben. Wenigstens im Traum. Und ein bisschen in der Phantasie. Man muss erst Kraft sammeln, um das zu bewerkstelligen. Rekapitulation! Erinnere dich und lass los. Hol die Energie beim Einatmen zurück und gib die fremde Energie beim Ausatmen zurück. Es wäre ganz einfach und schon wären wir Navigatoren der Kraft.