Man sollte nicht in einem Haus sein, in dem die Gänge Spiegelwände haben. Das Spiegelkabinett verzerrt. Es macht dick, dünn, lang, kurz. Es verdreht dich wie eine Spirale, die weder Anfang noch Ende hat. Die Füße enden nie und der Kopf, der immer länger und länger wird, ebenso wenig.

Alice hinter den Spiegeln. Lewis Carroll hat sie nicht im Spiegel gesehen, sondern dahinter, wo sie sich vor der Welt versteckt hat. Er wusste genau, dass Alice nichts mit den Spiegeln zu tun hatte, denn sie folgte dem weißen Kaninchen. Es führte Alice direkt hinter die Spiegel, wo sie endlich sicher war.

Die Spiegel verzerren und lassen nur selten das, was sich hinter ihnen verbirgt, durchsickern und wenn, dann nur teilweise, niemals das Ganze, weshalb es so schwer ist, die Wirklichkeit zu erkennen.

Warum man sich aus der Welt stehlen will? Warum Märchen, wie auch viele Religionen und eventuell auch Philosophien darauf abzielen, der Welt zu entsagen? Na, weil sie verzerrt und nichts so sein lässt, wie es ist. Schneller, weiter, höher und immer mehr und mehr und mehr. Das ist alles, was man in den Spiegeln zu sehen bekommt.

Und dann wäre da noch diese kleine Spielzeugwelt, die ich als Kind so geliebt habe. Wer kennt noch die süßen Bücher von Enid Blyton von Nicki und von Tessie, dem Bärlein und Großohr und Kleinohr und all den anderen, wie wohl auch den Kegelkindern, von denen alle Neune ein lachendes Gesicht haben? Na, wer kennt sie? Selbst diese werden von den Spiegeln verzerrt und schauen ganz anders in diese Welt als sie das hinter den Spiegeln tun.

Man flüchtet sich in Bücher, wenn man die verzerrte Welt nicht mehr ertragen kann und glaubt, dass in den Büchern die besseren Welten beschrieben werden. Spielzeugländer, Lebkuchenstädte, alles Länder, in denen es nichts zu tun gibt, außer Freude zu haben. Freude zu leben und nicht im Schweiße deines Angesichts sein Brot verdienen. Diese Religion habe ich nicht gemeint, denn diese verdonnert einen zum Großteil in die Welt, auch wenn später einer gesagt haben will, dass sein Reich nicht von dieser Welt ist. Mag sein, dass er gelogen hat, aber diesen Büchern traue ich nicht, denn dieser Mann der Liebe hat kein Wort selbst auf Papier geschrieben. Und das war gut so. Man sollte nicht schreiben. Nicht über die Welt und vor allem nicht über die Welt hinter den Spiegeln. Das einzige, was man tun kann, ist, dem weißen Kaninchen zu folgen und abwarten, wohin es einen führt. Einfach Ruhe bewahren, still sein und abwarten.

I only see in infrared. Oder heißt es: I only dream in infrared? Schöner Song von der Band „Queensryche“. Und wie recht sie haben – die Jungs aus Bellevue!
Alles schwarz hier. Nicht weiß, denn nur unterm Schwarz kann sich einiges verstecken. Weiß ist rein. Reines, unendliches, ewiges Weiß. Das Kaninchen ist zwar weiß, aber im Schwarzen ist es wie unsichtbar. Das unsichtbare Schwarz, in dem sich alles ständig verändern kann und sich wahrscheinlich auch verändert.

Schwebend mitten im Schwarz. Nichts sehen, nichts hören, nichts riechen, nichts sprechen, nichts berühren. Aber da ist noch etwas. Das Gefühl zu sein, auch wenn alle Bewusstseinssinne ausgeschaltet sind. Ich bin. Mitten im Nirgendwo. Und hier heißt es tatsächlich Ruhe bewahren. Still sein ist einfach, denn im Nichts, wo es absolut keine Atmosphäre gibt, werden Geräusche nicht übertragen. Da kann man schreien so laut wie man will – da kommt kein Ton raus aus dem weit aufgerissenen Mund.

Könnte man durch eine Infrarotbrille etwas sehen? Das weiße Kaninchen ist in der Nähe. Auch wenn ich es nicht sehen kann, kann ich es irgendwie spüren. Wie mit einem sechsten Sinn. So wie ich fühle, dass ich bin. Das weiße Kaninchen ist auch ein „Ich bin“. Oder ist es dasselbe „Ich bin“?

Die Brille sitzt und ich befinde mich mitten in einem Puppenhaus, in dem plötzlich das Licht angeht. Oder liegt es an der Infrarotbrille, dass plötzlich so was wie Licht und eine putzige, kleine Einrichtung in einem kleinen, putzigen Puppenhaus da sind? Egal!

Es erinnert mich ein wenig an ein Erlebnis von Freund Carlos, als er meinte, unter etwas Großem zu liegen, das geschwungene Säulen hat. Don Juan gab ihm irgendwelche Pilze zu rauchen und versetzte ihn damit in die Kindheit zurück, als er als kleiner Krabbeljunge unter einem Stuhl am Rücken lag. Wie hab ich die große Welt als Kleinkind wahrgenommen? Wohl viel, viel größer als jetzt.

Woher weiß ich, dass ich in einem Puppenhaus bin? Ich weiß es einfach. Es liegt wohl an der Einrichtung. Und ich bin wahrscheinlich geschrumpft. Das weiße Kaninchen dürfte auch so ähnliche Drogen wie Don Juan haben und sie mir heimlich eingegeben haben. Es dürfte eine Injektion gewesen sein, denn bevor ich mich im totalen Schwarz befand, spürte ich einen kleinen Stich am Hals, als hätte mich eine Gelse gestochen. Sozusagen hat mich dieser kleine Stich geschrumpft.

Das Bett im Schlafzimmer des Puppenhauses schaut bequem aus. Und irgendwie bin ich müde, aber nicht so müde, als müsste ich sofort schlafen. Das weiße Kaninchen dürfte sich in der Puppenhausküche befinden, denn es riecht nach warmem Essen. Nach welchem Essen kann ich nicht sagen. Der Geruch ist mir neu, aber angenehm. Das Bett ist weich wie man sich Wolken vorstellt, wenn man aus dem Flugzeugfenster schaut und am liebsten aussteigen möchte, um darin herum zu tollen. Man versinkt fast in diesem Puppenhausbett. Und man träumt den Traum im Traum, der wiederum ein Traum ist, usw. I only dream in infrared ...

Die Menschheit ist verloren. Die Menschen verstehen sich nicht mehr untereinander. Das weiße Kaninchen lässt mich das durch ein langes, dickes Fernrohr sehen. Die Menschen haben vergessen, wie man richtig miteinander kommuniziert. Und irgendwann haben sie vergessen zu spielen. Aus dem Spiel ist plötzlich Ernst geworden.

Warum hören Kinder zu spielen auf? Bloß weil ihnen Eltern und Lehrer sagen, dass nun der Ernst des Lebens beginnt? Wie schön ist es doch in der Puppenküche und dem weißen Kaninchen beim Kochen zuzusehen! Seine roten Augen leuchten vor Freude am Kochen. Alles nicht so ernst. Klar, man muss essen, sonst verhungert man und überall ist Nahrung auch nicht vorhanden. Dennoch ließen sich diese Probleme lösen, wenn da nicht Geiz und Neid wären, die mit dem Ernst gekommen ist.

Ritter, Tod und Teufel oder die vier apokalyptischen Reiter hielten Einzug in der Menschenwelt. Man kann es auch das Eiserne Zeitalter nennen. Der Moment, wo aus dem Spiel Ernst wurde.

Zieh dein Hasenkostüm aus, sagte Donnie Darko zum Hasen und der Hase sagte zu Donnie: Zieh dein Menschenkostüm aus. Nur so kann wieder einwandfrei kommuniziert werden.

Wir setzen uns an den Puppentisch. Das weiße Kaninchen schien auch geschrumpft zu sein. Es muss sich anstrengen, um auf dem Sessel Platz zu nehmen. Seine Füße sind etwas zu kurz. Lass sie wachsen, raune ich ihm zu und schon wachsen sie. Jetzt schaut es seltsam aus, das weiße Kaninchen und plötzlich hat es Spaß daran, seine Gliedmaßen wachsen und wieder schrumpfen zu lassen. Hin und wieder macht es das auch mit den Ohren. Jetzt eben berühren sie die Decke der Puppenküche und die Karotte knackt unter seinen Zähnen. Arme Karotte, sage ich und als ich in den Apfel beiße, sage ich: Armer Apfel. Und: Aber von irgendwas muss man doch leben!

Wenn etwas reif ist, geht es über in andere Dimensionen. Wir essen doch nicht den Geist der Karotte oder den Geist des Apfels. Alles ist Geist. Alles ist beseelt und Seelen kann man nicht essen. Irgendwann werden wir auch gegessen, entweder von der Erde oder vom Feuer oder vom Meer und seinen Fischen. Wie auch immer, wenn etwas reif ist, muss es gehen, um dem Unreifen Platz zu machen. So ist der ewige Kreislauf: wenn das Unreife reif ist, darf das Reife gehen.

Kluges, weißes Kaninchen! Wird die Menschheit auch wieder reifer, damit sie wieder spielen kann?

Die Welt ist der Stoff aus dem die Träume sind. Den Satz hab ich schon mal wo gelesen oder vielleicht einmal selbst fabriziert. Das weiße Kaninchen nickt. Egal, woher der Satz kommt, er scheint irgendwie zu stimmen. Träume kann man selbst formen, wenn man sich mit Träumen auskennt.

Was meinst du, warum ich diesen idiotischen, hellblauen Anzug, diese unnötige rote Fliege um den spitzen Hemdkragen des rot getupften Hemdes auf weißem Untergrund trage? - fragt das weiße Kaninchen und wirkt ein wenig verärgert. Es hat vergessen zu erwähnen, dass es einen knallgelben Zylinder auf dem Kopf hat, unter dem die langen Ohren versteckt sind. Liegt es an mir? - stelle ich die Gegenfrage und der knallgelbe Zylinder nickt.

Ich schließe die Augen und stelle mir das weiße Kaninchen in Jeans und Trägerleibchen vor. Ja, ich hab IHN nicht vergessen und es erinnert mich nun mal an IHN. Groß steht ER vor mir, diesmal mit halblangem, tiefschwarzem Haar, das IHM knapp bis zu den Schultern fällt und lächelt SEIN unvergleichliches Lächeln. Als ich die Augen wieder öffne, sehe ich zwar Jeans und ein Trägerleibchen, aber darin steckt das kleine, weiße Kaninchen mit den roten Knopfaugen.

Hab Geduld, - sagt es sanft, wobei mich bereits die Stimme an IHN erinnert. Hat sich Alice auf ihrer Reise ins Wunderland irgendwann verliebt? Das weiße Kaninchen wiegt den knallgelben Zylinder (den es noch immer zu Jeans und Trägerleibchen trägt) hin und her, als wüsste es nichts Genaueres. Ich denke an den Hutmacher, im Film gespielt vom hübschen Johnny Depp. Wieder wiegt der Zylinder vor mir hin und her.

Verliebt würde ich es nicht nennen, eher so was wie eine tiefe Freundschaft oder wie etwas Ewiges, das eigentlich schon immer war, - sinniert das weiße Kaninchen. Ich will eben fragen, wie es das meint, als es unaufgefordert weiter spricht. Es kann aber auch sein, dass ich will, dass es weiterspricht und es deshalb auch tut. Träume kann man ja steuern, wenn man sich damit auskennt.
Na ja, wie meine ich das? - grübelt das weiße Kaninchen weiter, - irgendwie gehören die beiden zusammen, als wären sie nie getrennt gewesen. Der große Bruder und die kleine Schwester, oder Vater und Tochter oder großes Ich und kleines Ich.

Großes Ich und kleines Ich gefällt mir. Ganz tief in mir drinnen weiß ich aber, dass es reine Phantasie ist und ebenso wie die Welt ein Stoff für Träume ist. So wie auch die Träume selbst ein Stoff für Träume sind. Hatten wir ja schon, - die Träume in Träume... Eben bemerke ich, wie schnell ich von Alice und dem Hutmacher auf mich und IHN schließe!

Klar ist Phantasie ebenso ein Stoff aus dem Träume gemacht sind, so wie alles, was du wahrnehmen kannst, ein Stoff ist, aus dem Träume gemacht sind. Erst wenn die Wahrnehmung wegfällt, wachst du aus dem Traum auf und bist du selbst.

Das weiße Kaninchen entpuppt sich immer mehr zu IHM, vor allem, was die Weisheit betrifft. ER ist weise. Zumindest habe ich IHN weise gemacht. Ich habe IHN gemacht!

Ja, das hast du, - murmelt das weiße Kaninchen, - weil alles, was wahrgenommen werden kann, nichts anderes als Vorstellungen sind. Du hast (und hör auf, ihn mit Großbuchstaben zu beleidigen!) ihn dir so vorgestellt, aber so ist er nicht und das weißt du. Er ist unbeschreiblich und auf sehr direkte Weise manchmal das krasse Gegenteil von dir.

Ja, er ist, wie ich gerne sein möchte. Liebevoll, geduldig, zufrieden. Natürlich stelle ich ihn mir deshalb auch äußerlich unbeschreiblich schön vor. Innen wie außen oder wie man sagt.

Wir verlassen das Puppenhaus und wachsen im selben Moment, als wir draußen stehen. Das weiße Kaninchen ist nicht mehr gleich groß oder besser gesagt – gleich klein – wie im Puppenhaus, denn jetzt hat es die rechte Kaninchengröße und geht mir, wenn es – wie eben – Männchen macht, bis zu den Knien, wobei die Langohren natürlich höher reichen. Ja, es ist in der Tat ein großes Kaninchen.

Alles sind irgendwie verbaut aus. Legoland – schießt es mir durch den Kopf oder so was Ähnliches wie irgendein Spielzeugland. Nur in eben so genannter normaler Größe, was irgendwie keinen Sinn macht.
Wenn du es so willst, - meint das weiße Kaninchen und alles schrumpft. Nur, wie kann ich bemerken, wann etwas in normaler Größe ist und wenn etwas schrumpft, wobei ich und das weiße Kaninchen ja auch, je nachdem, normale Größe habe oder schrumpfe? Man könnte es als gute Mathematiker oder Physiker berechnen, aber das bin ich nicht, also muss ich dem weißen Kaninchen glauben, dass wir eben wieder geschrumpft sind und mit uns das Spielzeugland.

Sei wer du bist, - sagt das weiße Kaninchen, als wir auf dem riesig weitem Plateau stehen und auf all die unzähligen Spielzeugländer hinabsehen, die sich unter uns zu allen Seiten ausbreiten. Ja, wir können sie alle überblicken, auch wenn das Plateau so riesig und weit ist, dass wir nicht an allen Seiten runter sehen können.

Rundumblick, - sage ich und das trifft es genau, denn nur wenn ich mich rundum betrachte, kann ich sein, wer ich bin. Das ist jetzt nicht nur eine Metapher, denn man sollte schon wissen, wie man in den jeweiligen Situationen reagiert. Ist man eher hitzköpfig, wird man zu schnell reagieren, was einem später leid tun könnte, aber nicht sollte, weil man nun mal hitzköpfig ist und dadurch auch zu schnell reagiert.

Es sollte einem nie etwas leid tun und mal sollte auch nie auf etwas stolz sein. Auch wenn sich herausstellt, dass man der liebenswürdigste und zuverlässigste Mensch auf der Erde ist, sollte man sich nicht brüsten damit.
Und wenn es deine natürliche Art ist, dich damit zu brüsten? - fragt das weiße Kaninchen.

Man lernt nie aus. Aber ständig zu hinterfragen, ob das nun meine natürliche Art ist, oder ob ich mich zurücknehme oder übertreibe, ist auf die Dauer auch nervig. Woher weiß ich auch, was meine natürliche Art ist? Sich zu viel mit sich selbst zu beschäftigen, macht müde, laugt aus und fährt die Energien runter. Das weiße Kaninchen lacht.

In irgendeinem Spielzeugland ist gerade Nacht. Die Lichter sind angegangen und in manchen Spielzeughäusern ebenso. Man kann durch die Fenster reinsehen, wie die Spielzeugfiguren sich fürs Nachtmahl bereit machen oder ihre Spielzeugkinder baden und sie später ins Spielzeugbett bringen.

In einem anderen Spielzeugland ist gerade der Morgen angebrochen und die Spielzeugmenschen fahren mit ihren Spielzeugautos zur Arbeit. Aus den Spielzeugfrabriken dampft bereits Rauch. Genauso aus den Spielzeuglokomotiven, mit denen einige Spielzeugmenschen zur Arbeit fahren. Zu Hause machen sich die Spielzeughausfrauen ans Putzen, um später einkaufen zu gehen und zu kochen, damit der Spielzeugmann, wenn er in der Mittagspause nach Hause kommt, Mittagessen hat. Manche Spielzeugfrauen fahren selbst zur Arbeit und dann treffen sie sich mit ihrem Spielzeugmann in einem Spielzeugrestaurant zum Mittagessen, währen die Spiezeugkinder sich in einem Spielzeugkindergarten vergnügen oder in eine Spielzeugschule gehen und sich dort ebenso vergnügen, weil die Spielzeuglehrer sehr lustig sind.

Es ist schön, all das zu beobachten, weil es so friedlich ist. Ja, solange sie das alles spielen, - meint das weiße Kaninchen und deutet ganz weit nach drüben, wo eine Armee mit Spielzeugsoldaten aufmarschiert.

Schließlich denke ich: Vielleicht hätte man all die Spielzeufwaffen und all das Drumherum dazu generell verbieten sollen. Andererseits, vielleicht ist Kampf und Krieg ein Teil der natürlichen Art der Menschen. So mag es wohl sein, - meint das weiße Kaninchen.

Die Welt ist eine Lüge!

Sagt wer?

Sage ich, denn wenn sie bloß ein Traum ist, kann sie durchaus auch eine Lüge sein, da uns doch wirklich von klein auf die Welt erklärt wurde, die Don Juan einst angeblich sagte.

Und wer war der erste Erklärer? - fragt das weiße Kaninchen und lässt sich an einer Klippe des Plateaus nieder, indem es die Hinterbeinchen zu einem Schneidersitz formt, was mich sehr an „ihn“ (jetzt lass das doch mit den Anführungszeichen – erst sind es beleidigende Großbuchstaben und jetzt das, - also echt!) erinnert. Schon gut, ich hab deine Gedanken empfangen und notiert.

Erstes und Letztes – so nennt Herr Karl eines seiner Bücher, die ich so gerne lese. Gibt's wahrscheinlich nicht. Oder? Ich meine jetzt nicht das Buch, sondern das Erste oder das Letzte.

Wenn du mir sagst, wer der oder die erste Welterklärer/in war, gilt es.

Woher soll ich das wissen? Bin ich denn schon so lange auf der Welt? Andererseits...

Ja?

Andererseits, - würde ich mich an Advaita halten, müsste ich es wissen, da ich ja das große Ganze bin.

Na ja, ganz so einfach ist es nicht. Denk mal an den Kurs in Wundern. Da gibt es die Welt gar nicht, was eigentlich sehr verständlich dargelegt wird, obwohl wir ja hier sind, was wiederum nur ein winziger Gedanke ist, der gar nicht existiert. In dem Fall existieren wir gar nicht, auch wenn es uns so (er)scheint. Advaita sagt, die verwirklichte Welt ist auch die Wirklichkeit, da sich ja die Wirklichkeit in allem was ist, verwirklicht. Mal gibt es die Welt und mal gibt es sie nicht. Es scheint, als wüsste die Quelle nicht, was sie will.

Und? Was meinst du mit all dem, weißes Kaninchen?

Alles Theorien oder Konzepte, wie dein Herr Karl sagt. Und wir sind die Phantome in diesen Konzepten und wissen gar nichts.

Er ist nicht MEIN Herr Karl. Ich finde eben, das, was er sagt, ist so schön erfrischend. Also werden wir Würmer dem Geheimnis wohl nie auf die Spur kommen.

Solange wir uns als Würmer betrachten, wohl kaum. Vielleicht sind wir Würmer und wissen es nicht. Vielleicht träumen wir Würmer, dass du ein Mensch bist und ich ein weißes Kaninchen bin. Wer kann das schon wissen?

Irgendwann und irgendwo habe ich geschrieben, dass Menschenseelen immer Menschenseelen bleiben. Das Plateau erinnert mich daran, dass er (keine Großbuchstaben und keine Anführungszeichen) einst auf so einem ähnlichen Plateau all die Geister gesehen hat, die die Welt ausmachen. Den Menschengeist, den Adlergeist, den Wolfsgeist – eben alle Arten von Lebewesen, die es gibt.

Ah, und du meinst, einmal Mensch immer Mensch. Und wann war das das erste Mal?

Du bist nervig, weißes Kaninchen.

Warum sollte immer der Mensch die Spitze der Evolution sein? Weil er sich seiner selbst bewusst ist. Ist er das denn wirklich? Ich denke mal, auch wenn ich es nicht wirklich weiß oder wissen kann, dass die Quelle, wenn sie sich in all dem, was ist, verwirklicht, keine Unterschiede macht. Alles in dem, was ist, ist ihr einerlei. Und wenn sie sich wieder zur Ruhe gibt, ist sowieso alles einerlei, weil dann nichts mehr ist, außer sie selbst. Nur – bedenke – auch das ist bloß ein Konzept, das dir eben ein Phantom, verkleidet als weißes Kaninchen, übermittelt hat.

Wir blicken hinab auf die Gefangenen, sind aber selbst ebenso gefangen. Gefangen im immerwährendem Kreislauf des Lebens. Zwei der unzähligen Wellen des aufgeschäumten Meeres. Ist es wieder glatt, sind alle Wellen verschwunden, als wären sie nie da gewesen.

Es fällt mir noch immer schwer, das zu verstehen. Wie kann ich gleichzeitig die Ganzheit des Selbst sein, wenn ich bloß einer ihrer vielen Aspekte bin? Diese Frage stelle ich ihm (ohne allem!) schon so oft. Weißes Kaninchen, wie kann ich gleichzeitig das Meer sein, wenn ich bloß eine der unzähligen Wellen bin?

Heißt es nicht, dass das Armband aus Gold ist, aber das Gold nicht aus Armband? Formen verschwinden. Als wären sie nie da gewesen.

Weil du noch zu sehr an deinem Ego festhältst, - sagt das weiße Kaninchen, - weil du dem, was du dein Leben nennst, einen Sinn geben willst und doch keinen findest.

Stimmt, Herr Karl meint auch, wenn uns die Sinnlosigkeit des Lebens bewusst wird, setzt die Depression ein. Wortwörtlich steht es in oben genanntem Buch:

Wenn die Gnade hinter dir her ist, erreicht dich die Sinn-Leere der Depression, Sinnlosigkeit umarmt dich – die Welt macht einfach keinen Sinn mehr, heiraten nicht, Geldverdienen nicht, etc. Nichts kann dich mehr befriedigen, du wirst depressiv. Aber zu dieser Ruhe kommt es nur, weil die Gnade bereits hinter dir her ist. Weil du dem näher bist, was Frieden ist, und der braucht niemals irgendeinen Lebenssinn. Er ist ohne Bedeutung. Das Selbst bedarf keines Sinns. Und wenn das Selbst wieder das sein will, was Selbst ist und nichts braucht und nichts will, dann wird das kleine Ich depressiv. Je näher du als Phantom dem kommst, was Ruhe ist, umso deprimierter bist du. Ich halte das für ein gutes Zeichen.

Aber auch das soll man nicht so ernst nehmen und außerdem glaube ich auch nicht, dass uns die Welt erklärt wurde und wir deshalb das unschuldige Kind in uns verlieren. Kinder beobachten und machen meistens alles nach. Zuerst spielen sie nur Mutter-Vater-Kind und Kaufmannsladen und was es so alles an erwachsenen Spielen gibt und schließlich kommt der Knackpunkt, ab dem alles ernst wird, weil es ums Geldverdienen geht und wohl auch darum, besser dazustehen als der Nachbar.

Aber Wettbewerbsspiele gibt es auch in der Kindheit, - meint das weiße Kaninchen und ich erinnere mich an den Spar-Schilling als Anhänger, den ich nur deshalb in die Schule mitnahm, um damit anzugeben. Das war kein Spiel mehr. Das war bitterer Ernst und als er noch bitterer wurde, dachte ich, den Anhänger verloren zu haben und als es ganz bitter wurde, dachte ich sogar, meine Sitznachbarin habe ihn mir gestohlen, weil sie denselben hatte. Schließlich wurde aufgeklärt, dass ich einen zweiten haben wollte und nicht, was die Wahrheit war, dass ich ihn in meinem Hosensack hatte, der so tief war, dass ich den Anhänger nicht spürte. Angeklagt. Ganz bitterer Ernst. So stand ich nun ganz unschuldig als falsche Schlange vor der Lehrerin und der ganzen Klasse und musste am Ende noch nachsitzen, damit meine gestrenge Frau Mutter wusste, dass ich den Anhänger verbotenerweise mit in die Schulen genommen habe. Dann gab es noch mal ein Donnerwetter mit dem Teppichklopfer, was heute Kindesmisshandlung genannt wird.

Interessant ist auch, wie sich alles ändert. Gestern verboten und heute sogar erwünscht. Gestern als kindischer Streich abgetan und heute brummen sie dir einige Jahre Knast auf. Das wäre doch schon ein Zeichen, nichts mehr ernst zu nehmen.

Das weiße Kaninchen sagt nichts mehr zu diesem Thema. Am liebsten würde es ohnehin zu gar keinem Thema etwas sagen. Einfach nur schweigen und beobachten. So wandert es am liebsten durchs Spielzeugland.

Wir haben eben das Plateau verlassen und sind hinunter gewandert in eine kleine Stadt, die aus lauter bunten Bausteinen besteht. Bunte Städte gibt es nicht so viele, aber es gibt sie auch für Erwachsene. Aber bunt alleine macht es auch nicht aus.

Das weiße Kaninchen stapft wie ein Großer (es ist tatsächlich um einiges größer als ich, so knapp an die 2 Meter, sozusagen ein Riesenkaninchen) vor mir her und ich wünschte, es (er?) würde wenigstens den Kopf abnehmen, um sein wahres Gesicht zu zeigen. Insgeheim höre ich es (ihn) lachen.

Figuren aus Bausteinen, die gefährlich wackeln, versuchen eben in ein Bausteineauto zu steigen. Es ist eine wackelige Stadt und ich wünschte, wir wären irgendwo gelandet, wo es sicherer ist und man nicht ständig auf der Hut sein muss, dass einem ein Baustein auf den Kopf fällt.

Ständig auf der Hut zu sein, fördert die Aufmerksamkeit, - höre ich das weiße Kaninchen vor mir sagen.

Lebenswerk. Ich sinniere. Das weiße Kaninchen weicht eben einem Baustein aus, der von oben herab fällt. Es scheint, als hätte der Baustein ein Eigenleben und folgt dem weißen Kaninchen in einer gewissen Höhe von etwa einem halben Meter. So schwebt der Baustein nun ständig über dem Zylinder des weißen Kaninchen und ich sinniere weiter.

Nimm den Hut ab und zeig dich endlich, - rufe ich und tu so, als wäre der Baustein über seinem Kopf mein Werk. Drohung.

Worüber sinniere ich? Über mein Lebenswerk und dass es vollkommen egal ist, ob es sich um die Originalschrift – sozusagen um die ersten Bücher – oder um die (geänderte) Veröffentlichung handelt. Es ist nicht sein Leben. Beide Varianten sind nicht sein Leben. Genauso wenig wie das hier mein Leben ist.

In der Vergangenheit ist es außerdem egal, ob es sich um so genannte reale Erinnerungen oder um Phantasie handelt. Alles vorbei und gegessen. Phantasie dürfte sich sogar länger halten, wenn man sie aufgeschrieben hat und das Papier eine Zeitlang überdauert. Aber selbst Papier stirbt einmal. Bücher verschimmeln und lösen sich auf. Nichts bleibt bestehen.

Das weiße Kaninchen weiß schon, dass ich es nicht bin, die den Baustein über seinem Kopf tanzen lässt. Ich will in eine andere Stadt, - rufe ich ihm zu. Ich will in eine Art Paradies, mit einem paradiesischen Garten, in dem weiße Pavillons stehen, in denen wundervolle Musik gemacht wird und wo seltsame Wesen friedlich flanieren. Irgendwo in der Ferne erhebt sich ein Berg, auf dem eine Burg steht, in dessen Nähe Drachen, Einhörner und Pferde mit Flügeln grasen. Dort will ich hin, auch wenn ich weiß, dass es ebenso Illusion ist wie alles andere. Denn für die absolute Wirklichkeit bin ich noch lange nicht bereit.

Aber was ist sein Leben? - fragt das weiße Kaninchen. Will es das wirklich? Auf jeden Fall! - bestätigt es und ich vermute unter der Kaninchenmaske ein schelmisches Grinsen.

Nun, ich erinnere mich an ein oder wohl auch mehrere Gespräche, in denen er sich darüber beschwert hat, was ich aus ihm gemacht habe. Ein Leuchtendes Wesen, zumindest ein halb Leuchtendes Wesen und halb Mensch, da sein Vater ein Leuchtendes Wesen und seine Mutter ein Mensch war. Er wollte anscheinend kein Leuchtendes Wesen sein, sondern bloß ein Junge, der adoptiert wurde und dessen Zieheltern gar nicht gut zu ihm waren, er es aber geschafft hat, ihnen zu entkommen und schließlich die Liebe in der Musik zu finden, was ihn zu einem Rockstar machte. Zwar nicht zum Größten aller Zeiten, aber doch mit einem schönen Erfolg. Mag sein, dass er seine Maria kennenlernte, aber gewiss ist das auch nicht, so, wie er sich beschwerte. Fette Kuh nannte er sie bösartig, er, der große Meister, der aus der Quelle der Kraft zu mir sprach, was ja auch nicht wahr war. Oder doch?

Ich meine, das Leben, worüber du teilweise geschrieben hast und es auch teilweise, so kann man es durchaus sagen, wenn man im Nachhinein berücksichtigt, dass Phantasie ebenso Erinnerung sein kann, - also, so kann man durchaus sagen, dass du es auch teilweise erlebt hast, - nun, dieses Leben dürfte bloß ein Aspekt des großen Meisters gewesen sein. Sozusagen ein Aspekt von vielen, denn immerhin ist er die Ganzheit des Selbst und das kann er als Mensch nicht gewesen sein. Menschen sind keine Ganzheit. Dafür lege ich meine Pfote ins Feuer.

Welch Wortschwall und das mit einem Baustein über dem Kaninchenkopf mit Zylinder. Ja, er beschwerte sich auch darüber, dass ich ihn zur Ganzheit des Selbst machte und erzählte mir daraufhin einiges über seine sogenannten Parallelleben. Das Leben als Gärtner oder als Mörder ohne Gewissen. Also, ich kann mir nicht vorstellen, dass einer seiner Aspekte mal ein Mörder gewesen sein könnte.

Warum nicht? Vergiss nicht, die Ganzheit des Selbst ist auch nicht das Gelbe vom Ei.

Und warum nicht?

Meinst du, ein kleines, weißes Kaninchen, angezogen wie ein Mensch, könnte dir das erklären?

Vielleicht kann er es?

Wenn, dann hätte er es schon längst getan, aber er kann es auch nicht, weil er, auch als Ganzheit des Selbst, noch immer ein Gefangener im Hamsterrad ist.

Du versteifst dich zu sehr auf Advaita, weißes Kaninchen.

Es gibt logisch gesehen kaum eine andere Alternative. Der Kurs in Wundern ist zu extrem. Dein Freund Carlos ist zu phantastisch. Dann bleiben nur noch Elbin Lotte und Herr Karl.

Fast wäre ich versucht gewesen zu fragen, woher du das weißt. Nun gut. Warum Elbin Lotte?

Alles lebt und alles ist gleichzeitig tot. Was für eine Aussage, dieser so gesegneten, alten Dame. Nun, und Herrn Karl dürfte klar sein, denn seine Argumente sind Advaita so radikal wie es nur geht. Aber das alleine ist es nicht. Träume von Seelen, die sich im Himmel oder in einer Art Paradies wieder treffen, mag ja vielleicht schön sein. Ist es auch glaubwürdig für dich?

Nicht wirklich, weil es bloß menschliche Vorstellung ist. Kein Hund oder keine Katze oder irgendein anderes Tier würde sich so was vorstellen können. Und da ist für mich der Haken. Warum bloß der Mensch?

Vielleicht, weil er all die Lebensarten bis zum Mensch durchgemacht hat? Wiedergeburt!

Möglich. Und dann denke ich wieder: Wozu sich über derartiges den Kopf zerbrechen, wo ich von vorne herein weiß, dass ich auf keinen grünen Zweig komme. Aber lustig ist es allemal.
Wir sind vom Thema abgekommen. Du meinst also, als Ganzheit des Selbst wäre er zufrieden gewesen, wenn ich erkannt hätte, dass das Leben als Rockstar bloß ein Aspekt von vielen gewesen ist?

So würde ich es sehen, - meint das weiße Kaninchen und beginnt plötzlich zu rennen, als wäre der Jäger hinter ihm her. Will es vielleicht so dem Baustein entkommen?

Eher will ich der Verwirrung entkommen, als das weiße Kaninchen dem Baustein. Und das in meinem Alter! Es ist eine verdammte Lüge, dass man mit dem Alter reifer, weiser und ruhiger (Herr, gib mir Gelassenheit!) wird. Eine wirklich verdammte Lüge! Denn das Gegenteil trifft zu. Man wird blöder, unruhiger und reif nur, was den Verfall des Körpers betrifft.

Was nun? - fragt das weiße Kaninchen, noch immer vom Baustein bedroht und ein wenig vom Laufen nach Atem ringend.

Wie, was nun?

Wie entscheidest du dich nun? Existiert er nur in deinem Kopf oder gibt es ihn wirklich irgendwo, aber eben nicht so, wie du über ihn geschrieben hast?

Was für eine Frage, weißes Kaninchen. In dem Fall würde ich ganz am Anfang der Gespräche stehen, wo ich diese Frage so oft gestellt habe und schon damals mehr als verwirrt war. Aber ehrlich gesagt, tippe ich auf ersteres. Er, so wie ich über ihn geschrieben habe, egal, welche Variation, ist bloß auf meinem Mist gewachsen, gespickt mit Bücherweisheiten, die ich irgendwo und irgendwann mal gelesen habe. Mag ja sein, dass unser Gehirn etwas empfängt und es eine Macht gibt, die uns etwas sendet, aber das sind ja auch nur Hirngespinste einiger Verrückter, selbst wenn sich auch verrückte Wissenschaftler darunter befinden, die nur ein wenig mehr Geld verdienen möchten, indem sie Bücher heraus bringen, deren Themen gerade „in“ sind, wie etwa Quanten und Bewusstsein oder ähnliches.
Warum ich das Thema Erinnerungen und Phantasie angeschnitten habe, ist doch nur, weil sich in unseren Erinnerungen oft viel verändert. Manches wird schöner im Licht der Vergangenheit und einiges vielleicht auch Erschreckender. Dennoch besteht ein Unterschied zwischen realem Erleben und dem Erleben im Kopf.

Dabei ist alles – wusch – und schon vorbei.

Und nie geschehen.

Richtig!

Ach, weißes Kaninchen, das sind ja auch nur Hirngespinste und selbst wenn ich oft sage, dass die alten indischen Schriften wahre Weisheiten und wohl echte Schätze sind, wurden ja auch sie von Menschen geschrieben.

Menschen, die hinter den Vorhang blickten.

Möglich, aber wir leben nun mal vor dem Vorhang und müssen mit all den Widerlichkeiten, die das Leben uns bietet, zurechtkommen. Keine Ahnung, wie ich hinter den Vorhang blicken könnte, außer in meiner Phantasie.

Der Baustein fällt herab und wäre das weiße Kaninchen nicht schnell einen Schritt zur Seite gehopst, wäre ihm der Baustein direkt auf den Zylinder gefallen. Und nicht nur das, denn der Baustein hat ein gewaltiges Loch in die Spielzeugstraße gebohrt. Ein Loch, so tief, dass man den Grund nur erahnen kann. Es ist auch so breit, dass wir beide locker nach unten klettern können.

Bist du bescheuert, weißes Kaninchen? Was machen wir da unten?

Wir erkunden die Unterwelt, ganz im Sinne von Dante Alighieri, der diesen Schrecken köstlich niederschrieb. Und das so um 1300!

Wusstest du, dass bereits um diese Zeit über das Wetter geschimpft wurde? Sozusagen auch Klimawandel und Weltuntergangsstimmung. In jedem Zeitalter dürfte die Menschheit vor der Ausrottung Angst gehabt haben. Und sieh, wir leben immer noch. Hurra!

Auf dem steilen Kletterweg hinab, der aus glitschigem, modrigem Schlamm besteht, erinnere ich mich an einen Traum, in dem jemand Angst vor dem Tod (mal ehrlich, wer hat sie nicht?) hat und ich sagte, man müsse keine Angst haben (Ironie?), denn ein Aus und Vorbei bekommt man eh nicht mit und wenn es noch was gibt, ist es sicher schöner und besser als dieses Leben und falls man wieder in ein ähnliches Leben zurück müsste, würde man eher Angst vor diesem Leben haben und sich mehr dagegen wehren, als jetzt vor dem Tod.

Es gibt kein Jenseits, - murmelt das weiße Kaninchen, - es gibt nur andere Welten. Das Jenseits ist eine Erfindung jener, die Macht über Menschen haben wollen. Wenn du nicht gut bist, kommst du in die Hölle, aber wenn du tust, was ich dir sage, kommst du ganz gewiss in den Himmel.

Und die Welten sind alle nur schlecht? - frage ich, während ich mit Schaudern unheimliche Schreie von unten höre.

Sie sind wie sie sind, weder noch und vor allem sind sie auch das, was du selbst daraus machst.

Ach, wie ist es wieder klug, das weiße Kaninchen, das klettern kann wie ein Affe.
Die Schreie halten an und machen mich nervös. Was erwartet mich da unten, wo das weiße Kaninchen vorhin sagte, wir erkunden die Unterwelt ganz im Sinne von Dante Alighieri, der doch auch die Hölle beschrieben und Hieronymus Bosch sie gemalt hat.

Das mit Dante war nur ein Scherz. Da unten ist zwar die Hölle los, aber in ganz anderem Sinne. Die Schreie klingen nur wegen der Akustik so seltsam. Wenn wir unten sind, hören sie sich freundlicher an.

Wettkämpfe? Da laufen seltsame Gestalten herum und veranstalten Wettkämpfe! Die Schreie dienen als Anfeuerung und es sind auch glückliche Schreie der Sieger darunter. Ich mag keine Wettkämpfe, weißes Kaninchen.

Weil du nicht verlieren kannst?

Was ist das nun wieder für eine Lektion?

Es geht darum, weder dem Gewinn noch dem Verlust Bedeutung zu geben.

Weder noch. Neti neti. Schon wieder nur der alte Hut?

Absolut nicht, denn in Wirklichkeit kannst du immer nur gewinnen.

Auch wenn ich verliere?

Was verlierst du denn?

Weißes Kaninchen, wenn ich spiele, will ich gewinnen. Darum geht es doch beim Spiel. Ja, natürlich geht es auch um das Spiel selbst. Wenn man ein bestimmtes Spiel gerne spielt, ist es auch egal, ob man gewinnt oder verliert.

Auch darum geht es nicht. Es geht darum, dir selbst bewusst zu sein, dass du niemals verlieren kannst, auch wenn es so scheint, als würdest du ein Spiel oder irgendwas anderes verlieren.

Weil ich ohnehin nichts besitze?

Du besitzt alles! Alles ist deins!

Jetzt beginnst du aber zu spinnen, weißes Kaninchen. Die untere Luft tut dir nicht gut.

Dann beobachte mal diese seltsamen Gestalten, wie du sie nennst.

Sie sind alle fröhlich und springen herum wie Kinder. Auch die Anfeuerer lachen und schreien und scheinen sich nicht wirklich darum zu kümmern, wer gewinnt oder wer verliert. Jeder und jede für sich scheint in dieser Unterwelt ein Sieger zu sein. Es war nur meine Einstellung, mein verblendetes Bewusstsein, in den Jubelnden einen Sieger zu sehen, denn alle Läufer, die durch das Ziel rannten, jubelten, lachten und sprangen wie Kinder umher. Mein Augenmerk galt nur dem scheinbar Ersten, der durchs Ziel lief, obwohl das überhaupt keine Bedeutung hatte. Diese seltsamen Gestalten kennen nichts Erstes und auch nichts Letztes. Sie sind sich alle gleich. Alle sind sie Sieger, die ihre ständigen Siege genießen können. Was für eine Welt!

„...die Pflanzen trügen eine Weisheit in sich, die die Menschheit, wie lange es sie auch geben werde, niemals ganz verstehen würde“, schreibt Anthony Doerr in seinem Buch „Wolkenkuckucksland“, was mich wiederum auf den Gedanken bringt, dass es durchaus unterschiedliche Seelen geben könnte. Das menschliche Bewusstsein ist für Arsch. Wir haben den Draht zur Natur verloren, der so wichtig ist, wenn man auf der Erde leben will. Artgerecht! Und das tun wir Menschen schon lange nicht mehr. Eigentlich erhebt sich die Frage: Haben wir das überhaupt jemals getan?

So seid ihr eben, - meint das weiße Kaninchen, während wir in der Unterwelt weiter wandern und diese seltsame Welt mit den seltsamen Spielern, die immer gewinnen, auch wenn sie anscheinend verlieren, hinter uns lassen. Gar nicht so einfach zu verstehen, diese kleine Welt. Andererseits, wenn mir alles gehört, kann auch das Gegenteil zutreffen, dass mir nichts gehört. So wie Don Juan mal zu Freund Carlos sagte, wenn einem alles wichtig ist, dann ist einem auch alles unwichtig.

Dann hast du nichts verstanden, - meint das weiße Kaninchen und nimmt seinen Zylinder ab, um seine langen, weißen Ohren glatt zu streifen, die unter dem Zylinder etwas zerknittert wurden.

Dann erklär es mir!

Das kann ich nicht. Du musst von selbst drauf kommen. Und wenn du es weißt, sozusagen selbst erfahren hast, ist es nicht mehr wichtig. Also zerbrich dir nicht deinen Menschenkopf. Es kommt ohnehin alles von selbst.

Was hältst du von den unterschiedlichen Seelen?

Dieses Thema hatten wir doch schon.

Du kennst mich anscheinend doch nicht. Wiederholungen sind bei mir an der Tagesordnung. Alles so lange durchkauen, bis nichts mehr übrig ist. Ich gehe gerne in Details.

Wo der Teufel lauert.

Von mir aus. Also?

Das ist irgendwie wie in einem Kastensystem. Für immer geprägt, wenn es denn so was wie Wiedergeburt gibt. Aber ich denke, das wäre zu einfach. Ich bin da eher bei dem Bild vom Meer und den Wellen. Wenn du genau hinsiehst, sind die Wellen nichts anderes als das Meer. Sie sind praktisch das Meer. Kein Unterschied. Nur Erhebungen. Mal kleine und mal große. Sie kommen und gehen und sind niemals dieselben. Spielt auch keine Rolle, denn irgendwann verschwinden alle Wellen und das Meer ist vollkommen glatt.

Was ist damit: Nichts ist jemals vergessen?

Was wäre denn so wichtig in der Menschenwelt, was nicht vergessen werden sollte?

Traurige Aussichten für die Menschenwelt. Und ich glaube, sie hat jede Menge Feinde. Vor allem das, was sie der Tierwelt in allen Zeiten angetan hat, ist nie wieder gut zu machen.

Dann wäre es doch ein Segen, sich für immer im Meer verstecken zu können.

Du sagst es, weißes Kaninchen! Das Bild mit dem Meer besagt für mich, dass das Meer, egal, ob mit oder ohne Wellen immer die Quelle, Gott oder wie immer man „es“ nennen mag, ist.

In Wirklichkeit ist es beides gleichzeitig. Denk an Elbin Lottes Spruch: Man ist gleichzeitig lebendig und tot.

Für unser kleines Menschenhirn nicht einfach zu verstehen. Die Quantenphysik, so sagt man, verstehen nicht mal die hochrangigsten Wissenschaftler. Und doch haben sie diese winzigsten Teilchen erkannt, die ihnen das Leben schwer machen.

Würde ich nun sagen, dass die Quelle nichts vergisst, beziehst du das auf die Erinnerungen eines Menschen. Vergiss den Menschen. Vergiss auch die Weisheit der Pflanzen und die Intuition (Instinkt?) der Tiere. Es ist nichts von alldem, obwohl es all das beinhaltet.

Und woher weißt du das, weißes Kaninchen?

Ich weiß genauso wenig wie du, aber ich denke, meine Ausführungen sind interessanter als deine.

Jetzt sollte ich beleidigt sein und schmollen. Tu ich aber nicht. Also, wohin gehen wir überhaupt?

Kluges Abwehrmanöver, - sagt das weiße Kaninchen und geht lachend voraus auf einem schmalen Kieselsteinpfad, an dem sich links und rechts ein gepflegter Rasen mit kleinen Beeten befindet, in denen bunte Dahlien wachsen. So wunderschöne Blumen!

Sich nicht wichtig nehmen, ist eine der ersten Lektionen von Don Juan. Klingt einfacher, als es ist. Ah geh, ich nehm mich eh net wichtig! Und ob ich das tue. Schnell beleidigt und so was wie Kritik, schlechte Kritik, mögen wir ja gar nicht. Aber ich nehme mich nicht wichtig. Alles Lüge und vor allem ist es undurchführbar, denn das Ego lässt sich nie betrügen. Es ist das Ehrlichste auf dieser Erdkugel und wohl auch in allen anderen Welten, wenn es denn welche gibt.

Richtig! - jubelt das weiße Kaninchen und bewundert wie ich die bunten Dahlien links und rechts von uns. Wohin der Kiesweg aus schneeweißen Kieselsteinchen wohl führen mag?

Richtig?

Ja, richtig! Das Ego ist das Ehrlichste am Menschen. Es zeigt sich wie es ist und das ganz ohne Schönfärberei. Ich meine damit das reine Ego. Sozusagen das gereinigte Ego. Don Juan würde es das perfekte Tonal nennen.

Das Nagual ist wichtiger!

Keineswegs. Ohne perfektes Tonal wird das Nagual verherrlicht und missverstanden. Du siehst es als das, wie du gerne sein möchtest, es aber nicht bist, weil du noch nicht einmal dein Tonal kennst.

Du bist heute aber sehr garstig, weißes Kaninchen, - schmolle ich und sehe kein Ende vom Kiesweg und den wunderschönen Blumen rechts und links von uns. Selbst die Blumen breiten sich links und rechts unendlich weit aus. Zu genau in alle unendlichen Richtungen schauen macht schwindlig.

Ein perfektes Tonal kann durchaus ein Massenmörder sein. Du weißt ja, er hat dir mal darüber einiges erzählt. Er hat vollkommen grundlos gemordet. Und doch war eine Absicht dahinter, nämlich die Absicht selbst.

Wir sind also doch Marionetten und wenn wir das erkennen und uns von der Kraft leiten lassen... Nein, das kann nicht wirklich so sein. Ich verstehe ja, dass gut und böse aus der konstruierten Menschenwelt stammen, aber selbst Tiere erkennen, was ihnen gut oder schlecht tut und unterscheiden deshalb ebenso wie der Mensch. Aber vielleicht bekommt der Satz – verurteile keine Krankheit, keinen Unfall und keinen Mörder, denn der Tod kommt immer zur rechten Zeit am rechten Ort – von ihm Sinn.

Hast du ihn denn für sinnlos gehalten?

Nicht so ganz, aber irgendwie schrecklich. Sag mal, hat dieser Kiesweg auch mal ein Ende?

Alles endet irgendwann einmal und irgendwo. Auch du und ich ebenso. Alles hat seine Zeit in diesem unendlich großem Ganzen. Jedes Teilchen ist genauso wichtig oder unwichtig und würde nur ein winzigstes Teilchen fehlen, was ja nicht der Fall ist – aber sagen wir falls, dann wäre das Ganze nicht das Ganze.

Aha, also wichtig und unwichtig sind ein und dasselbe. Du widersprichst genauso oft wie er, weißes Kaninchen.

Der Kiesweg endet abrupt und schon geht mein Schritt ins Leere. Der Fall. Wie war das? Hochmut kommt vor dem Fall. Na ja, dann lassen wir uns mal anständig fallen und genießen den Fall, denn auch wenn wir ihn nicht genießen würden, würde er passieren und da ist doch genießen viel besser als nicht genießen. Oder wie der Bergsteiger, der sich in Bergnot an einem Seil festhielt, das oben eine Maus anknabberte, eine Erdbeere am Berghang entdeckte, sie pflückte und im Angesicht des bevorstehendes und vielleicht tödlichen Falls sie genussvoll aß und schwärmend sagte: „Ach, wie süß!“

Was soll es im Nichts, in diesem Schwarz, zu genießen geben? Der Fall ins Nichts. Ins Schwarze. Direkt ins Schwarze getroffen. Wieder diese unendliche Finsternis, als ich dem weißen Kaninchen folgte. Immerhin habe ich Farben erwartet, die ich während des Falls um mich herum erkennen kann. Aber nichts. Rein gar nichts. Und wieder kann ich nichts hören, nichts riechen, nichts berühren und zum reden ist mir nicht, weil ich befürchte, dass das weiße Kaninchen nicht in meiner Nähe ist und mich niemand sonst hören kann. Vielleicht ist es bereits am Grund zerschellt.

Das weiße Kaninchen liegt im eigenen Blut am Boden. Tot. Mausetot. Und bald kommt auch auf mich der Grund zu, auf dem ich zerschellen werde und ebenso in meinem eigenen Blut liegen werde.
Es ist so erschreckend, wie sehr verletzbar der Körper ist und gleichzeitig so genial funktionierend. Jeder Körper! Auch der der Tiere und Pflanzen. Wie schnell kann die Schönheit einer Rose oder einer Dahlie zerstört werden! Tiere und Menschen verstümmelt werden! Das ist das Allerschrecklichste! Die verstümmelten Leichen! Diese furchtbaren Kriege, wo Menschen Arme und Beine abgetrennt und ihre Gesichter so verletzt wurden, dass man sie nicht mehr erkennen konnte.

Der Song „one“ von Metallica fällt mir da ein. Keine Beine, keine Hände, kein Gesicht mehr. Der Kopf ist jedoch noch einigermaßen vorhanden, denn mit dem sendet der verwundete Soldat Morsezeichen an seine Umwelt. „Kill me, kill me...“ Wenn einer nicht mehr sehen, hören, riechen, reden und berühren kann, wenn alle Bewusstseinssinne nicht mehr da sind, was ist das dann für ein Leben? Ein Leben im Nichts, wo es nichts mehr gibt, außer dich selbst. Horror oder Erleuchtung?

Weder noch, - höre ich das weiße Kaninchen sagen. Ich höre! Und ich kann sogar etwas erkennen. Schemenhaft zeichnet sich vor mir eine Gestalt mit langen, hoch aufgestellten Ohren ab. Ich stehe auf einem Boden. Auf festem Boden. Und ich rieche etwas. Riecht irgendwie nach Kuchen. Kuchen mit Rosinen und Schokofüllung. Vielleicht noch eine Portion Schlagobers dazu?

Was weder noch, weißes Kaninchen?

Du siehst zu schwarz. Wortwörtlich. Solange du meinst, eine kleine Welle zu sein und nicht der gesamte Ozean, wirst du immer wieder zwischen Horror und Erleuchtung hin und her pendeln. Aber es geht nicht um Horror oder Erleuchtung. Es geht um Frieden. Genau um den Frieden, der du in Wirklichkeit bist. Das ist eigentlich die einfachste und wahrste Beschreibung, die man in diesem Fall geben kann.

Fall! Wir fallen nicht mehr. Wir befinden uns auf festem Boden und in einer Art Großküche, wo die köstlichsten Gerichte gekocht, gebraten und gebacken werden. Ich bevorzuge Backwerk. Ich war schon immer nur für Nachspeisen. Eventuell Vorspeise, wenn es sich um einen gemischten Salat mit Ei und Käse und gutem Dressing handelt. Hauptspeise war nie meins.

Interessiert keinen, - meint das weiße Kaninchen und schnappt sich eine rote Karotte, bevor sie von einem jungen Mann, mit weißer, hoher Kochmütze zerschnitten wird. Ob unter der weißen, hohen Kochmütze lange, weiße Ohren sind?