Vielleicht sollte ich mehr Kochbücher lesen als den anderen Schwachsinn, den ich mir ständig reinziehe.

Reinziehe? - wiederholt das weiße Kaninchen fragend, während es neugierig in Kochtöpfe guckt.

Das ist so ein Ausdruck dafür, wenn man süchtig nach etwas ist, was man ohnehin nie verstehen wird, weil es nicht zu verstehen ist. Advaita zum Beispiel oder der Kurs in Wundern. Alles Mumpitz, obwohl es auf seine Art gleichzeitig wiederum das einzige ist, was ich nach dem körperlichen (?) Tod nachvollziehen kann.

Das weiße Kaninchen lacht schallend auf und alle Köche an den Öfen und Töpfen und Pfannen drehen sich nach ihm um. Warum das Fragezeichen? - fragt es, als es sich wieder beruhigt hat und sich die Köche wieder ihrem Tun widmen.

Weil ich mich auch frage, ob es nicht nur den körperlichen Tod gibt. Thich Nhat Hanh ist gestern im Alter von 95 Jahren gestorben. Friedlich eingeschlafen, wie es heißt. Er sprach von einem Weiterleben nach dem Tod, dass es so was wie eine unsterbliche Seele gibt. Jetzt dürfte er wissen, ob es wirklich eine unsterbliche Seele gibt.

Ich glaube nicht, dass er es jetzt weiß, denn jetzt ist ein anderes jetzt. Und das hat mit Wissen gar nichts zu tun, - meint das weiße Kaninchen jovial und schnappt sich eine weitere Karotte, die es genussvoll knabbert.

Ja, ich stelle mir auch vor, dass es ein anderes Bewusstsein sein könnte, oder etwas, das mit Bewusstsein gar nichts zu tun hat.

Es wird wie ein Feuerwerk sein, wie eine Befreiung und dann werden uns Flügel wachsen und wir können durch alle Materie hindurch fliegen und hinfliegen, wohin wir wollen.

Auch zu den Sternen?

Natürlich! - ruft das weiße Kaninchen und wir verlassen die Großküche und traben in das Restaurant nebenan. Schön gedeckte, nicht zu große und nicht zu kleine Tische sind symmetrisch in dem großen Saal verteilt. Von der Decke hängen, ebenso symmetrisch verteilt, prachtvolle Kristalllüster und die Wände sind entweder mit Blumen oder mit Bilder von Blumen geschmückt. An den Fenstern befinden sich geraffte Vorhänge im selben Stoff wie die Tischdecken auf den nicht zu kleinen und nicht zu großen Tischen. Der Boden ist weißer Marmor. Auf manchen Tischen ist für zwei, an anderen für drei, aber nie mehr als für sechs Personen gedeckt. Möchte eine größere Menge an Leuten speisen, muss das vorher angemeldet werden. So steht es vorne auf der Speisekarte, die so vielfältig ist, dass die Auswahl schwer fällt. Mehr als 30 Vorspeisen! Und mehr als 40 Nachspeisen! Da fällt die Wahl aber echt schwer.

Das weiße Kaninchen bestellt Karottensuppe, nachher Karottenpüree mit grünem Löwenzahnsalat ohne Essig und ohne Öl und als Nachspeise Karottentorte. Ich nehme gemischten Salat, mit Ei und Käse und Joghurtdressing als Vorspeise, die Hauptspeise lasse ich aus, stattdessen nehme ich zwei Nachspeisen; einmal Erdbeeren mit Sahne und als zweites Dessert eine Doppelportion Tiramisu.

Es sind wenig Gäste im Restaurant. Außer uns sind nur vier andere Tische besetzt. Nachdem wir gegessen und mir von Zuviel an Nachspeise schlecht ist, fällt mir das Gespräch zwischen Freund Carlos und Don Juan ein, als sie über das Tonal und das Nagual sprachen und Don Juan allen Gegenständen am Tisch irgendetwas aus dem täglichen Leben zuordnete. Gott, z.B., war das Tischtuch. Das Nagual war das, was den Tisch umgibt – unendlich umgibt.

Dafür, dass du alles immer wieder negierst, wofür du dich eigentlich begeisterst, denkst du viel zu viel nach, - meint das weiße Kaninchen und rülpst lautstark, aber niemand stößt sich daran.

Ja, bis ins kleinste Detail denke ich und komme trotzdem auf keinen grünen Zweig, obwohl ich auch weiß, dass man bei diesem Thema auf keinen grünen Zweig kommen kann. Und dennoch liebe ich es. Ja, es ist eine Sucht.

Der grüne Zweig?

Der vielleicht auch. Weißt du was, ich wäre jetzt bereit für einen langen Verdauungsspaziergang. Wenn ich da aus dem Fenster sehe, dürfte es in dieser ländlichen, leicht bergigen Gegend wunderschöne Wanderwege geben.

Na denn, auf geht’s! - schmettert das weiße Kaninchen und ist mit mir an der Pfote schon auf dem Sprung nach draußen. Bezahlt wird später!

Auf einem Steg, der über einen rauschenden, kleinen Bach führt, steht ein Wanderprediger. Er wird uns doch nicht wegen der Zechprelle rügen? Es sieht aus, als würde er den Bäumen und Wildblumen auf den Weiden seine Weisheiten verkünden, denn Menschen sind keine in der Nähe. Außer mir vielleicht, aber ich bin mir gar nicht mehr so sicher, ob ich in diesen Welten noch ein Mensch bin.

Das weiße Kaninchen geht tapfer den Pfad entlang, der zum Steg führt. Hinter dem Steg geht der Weg zwar weiter, aber er führt in ein felsiges Gebirge. Irgendwo dort oben dürften vielleicht noch Bergbauern leben, die in unserer Welt schon fast ausgestorben sind. Also sterben nicht nur viele Tiere durch den Klimawandel aus, sondern auch Menschen und vor allem das, wie sie leben. Na ja, unsere Welt gehört ja doch dazu, auch wenn es sich um diese Welt hier, in die ich dem weißen Kaninchen gefolgt bin, um eine geistige Welt, eine so genannte Phantasiewelt handelt.

Um Zeitreisen zu ermöglichen, muss die Zeit angehalten werden, - rezitiert der Predige, der in lange, schwarze Roben gekleidet ist. Über seinem kahlen Schädel trägt er eine ebenso schwarze Kapuze und am Kinn einen schwarzen Spitzbart, wodurch er mich irgendwie an eine Ziege erinnert. Sogar seine Augen sind irgendwie ziegenartig, da die Pupillen nicht rund, sondern länglich sind.

Der Teufel persönlich, - murmele ich, aber das weiße Kaninchen besänftigt mich mit einem milden Blick aus seinen roten Augen, dessen Pupillen nun auch länglich, wie die eine Ziege, sind. Eine Verschwörung?

Keineswegs, - meint das weiße Kaninchen, - deine Pupillen sind auch länglich, denn anders könntest du hier nichts sehen. Und nun höre weiter zu, was der schwarze Mann zu sagen hat.

Und wenn die Zeit angehalten wird, steht alles still. Dann bewegt sich nichts mehr, denn Zeit ist Bewegung und so lange sich etwas bewegt, gibt es Zeit.

Interessant, denke ich und abermals denke ich an Freund Carlos, dem Don Juan geraten hat, die Welt anzuhalten. Halte die Welt an und schalte deinen Verstand aus. Der Verstand macht die Welt. Die Gedanken in unseren Köpfen machen die Bilder, die wir sehen. Und wir ziehen alle an einem Strang, wie Don Juan erklärte, da unsere Montagepunkte an ein und derselben Stelle montiert sind. Genau deshalb nehmen wir alle ein und dieselbe Welt wahr. Die Unterschiede sind zu klein, um extra erwähnt zu werden. Wir sind alle Affen, die sich an eine Welt klammern und einfach nicht loslassen wollen.

Zeitreisen sind nicht möglich, - schmettere ich dem Prediger entgegen, aber er scheint mich nicht zu hören. Immer wieder fängt er mit seinem Vortrag von vorne an und als das weiße Kaninchen durch ihn hindurch geht, sehe ich, dass es sich bei ihm bloß um ein Hologramm handelt.

Auch die Brücke ist ein Hologramm und der Bach und der Berg dahinter und der Weg, auf dem wir eben stehen. Warum wir nicht ins Nichts fallen? Das tun wir! Wir fallen ständig ins Nichts.

Jetzt ist es das weiße Kaninchen, das sich einer Predigt angenommen hat:

Auch wir selbst sind Hologramme, ein Nichts auf dem Weg ins Nichts.

So etwas will ich einfach nicht wahrhaben, deshalb packe ich das weiße Kaninchen an den Ohren und schleife es über den Steg auf den Weg ins Gebirge.

Es geht bergauf. Aber nicht im wahrsten Sinne des Wortes. Eher hab ich das Gefühl bergab zu laufen. Tiefer und immer tiefer ins Tiefschwarze. Nachtblind sozusagen, weil nicht einmal der Gebirgspfad, der sich bald in einen Klettersteig wandelt, vorhanden ist. Im Nichts tappen. Was haben wir nur für eine mächtige Vorstellungskraft!

Das weiße Kaninchen, noch immer an den Ohren schleifend, wirkt schlaff. Als ich es frage, ob ihm von den vielen Karottenspeisen schlecht ist, bekomme ich keine Antwort. Na ja, alles endet mal, auch weiße Kaninchen.

Was rede ich denn da in meinem Kopf? Wieso sollte das weiße Kaninchen enden? Ja, ja, sicher endet es irgendwann einmal, aber doch nicht jetzt! Jetzt, so knapp vor dem Ziel!

Der Blick nach oben bietet mir einen strahlend blauen Himmel mit nur einer Wolke, die sich genau über der Spitze des Berges befindet wie eine Art Tür und so sieht sie auch aus. Mit Rundbogen und ein wenig mit kleinen Röschen verziert. Die Himmelstür. Ob sie echt ist?

Bald geht mir die Puste aus, denn es ist ganz schön anstrengend, mit dem weißen Kaninchen im Schlepptau, zu klettern. Aber dann erklimme ich die Bergspitze.

Und wie fühle ich mich? Gleich beschissen wie immer. Der Ort macht es nicht aus. Nicht das Außen. Das Paradies, oder der Frieden, wie es das weiße Kaninchen nannte, kann nur in mir selbst sein. Ein reines Gefühl, das sich nach außen ausbreitet und das Nichts zum Alles macht. Oder so ähnlich. Bin bald der angeblich weisen Sprüche müde.

Plötzlich ragen aus der Türwolke zwei Hände mit langen Armen. Greif zu, - rufen die Hände mit einer mir höchst bekannten Stimme, der ich so viele Stimmen gegeben habe. Ich kann nur eine Hand packen, da ich noch immer die Ohren des weißen Kaninchens in der anderen halte.

Lass das dämliche Hasenkostüm fallen. Hier brauchst du es nicht mehr, - sagen die Hände, aber ich bringe es nicht übers Herz, meinen treuen Begleiter fallen zu lassen. Ganz langsam hebt mich die eine Hand durch das Wolkentor und dann staune ich. Sampanna! Das gelobte Land!

Freu dich nicht zu früh! - lacht Arima und nimmt mir das Hasenkostüm aus der Hand. Nein, ich beschreibe Sampanna nicht mehr. Da fehlen einem ohnehin die Worte. Und auch Arima beschreibe ich nicht, denn weder Sampanna, noch Arima lassen sich beschreiben. Nur fühlen. Und genau das ist dieses reine Gefühl, das das Nichts zum Alles macht.

Also bist doch du unter dem Kostüm gesteckt, - rüge ich ihn, aber er verneint und meint, ich selbst habe es mir übergezogen und die ganze Zeit Selbstgespräche geführt. Und jetzt? Jetzt führe ich keine Selbstgespräche? Ja, sicher! Solange es etwas gegenüber gibt, führt man Selbstgespräche.

Das muss man sich mal im Kopf zergehen lassen. Oder besser nicht. Oder? Das Hasenkostüm noch immer an den Ohren nachschleifend, begeben Arima und ich uns endlich wieder auf das berühmt berüchtigte Plateau. Von hier sehen wir keine Spielzeugländer, sondern blicken hinab auf... Ach ja, ich beschreibe Sampanna nicht mehr!