Ist schon mal jemandem aufgefallen, dass es sein könnte, dass wir gar nicht atmen müssen? Plötzlich wird mir bewusst, dass ich einen Atemzug mache. Einatmen – ausatmen – einatmen – ausatmen. Atme ich, wenn es mir nicht bewusst ist? Und – wie kann ich das wissen, solange es mir nicht bewusst ist?
Gibt es die Welt, wenn ich sie nicht wahrnehme?

Das ist keine so unberechtigte Frage. Man sitzt bequem in einem Fauteuil, hat die Decke warm über den Füßen, ein Buch in der Hand, in das man sich selbstvergessen vertieft und alles rund herum verschwindet. Ist einfach nicht mehr da. Existiert es dann noch?
Unsere Augen sehen sowieso nie alles. Immer auf irgendwas fokussiert. In der Mitte ist die Einstellung scharf und je weiter es nach Außen geht, wird es immer unschärfer, bis gar nichts mehr da ist.
Ja, ja, alter Hut, würden viele sagen. Aber das heißt noch lange nicht, würden diese vielen sagen, dass die Welt deshalb nicht existiert. Ihre Existenz hängt doch nicht, würden diese vielen weiters sagen, von uns oder unserem Bewusstsein ab.
Nein? Da gibt es doch diese Frau, die sich manchmal ganz, ganz schnell umdreht, um zu sehen, ob die Welt noch da ist. Sie wohnt drüben in 3c, wo die schönen, modernen Appartements gebaut wurden. 3a, 3b, 3c und 3d gibt es in dem neuen Haus.
Und dann gibt es noch den Herrn über unserer Wohnung. Er trägt ständig einen dunkelgrauen Anzug, mit weißem Hemd und schwarzer Krawatte. Er lebt alleine. Das Haus, in dem unsere Wohnungen sind, ist schon alt, mehr als 30 Jahre. Es gibt auch nur vier Wohnungen, ähnlich wie drüben, auf der anderen Straßenseite, wo die schönen, modernen Appartements sind.
Dort sind die Küchen alle schon eingebaut gewesen, während wir uns welche anschaffen mussten. Bei uns gab es nur das Badezimmer und das WC eingebaut. Und man muss sagen, die dort drüben haben die modernsten Küchen mit allem Drum und Dran. Das hat mir die Frau gesagt, die sich manchmal ganz, ganz schnell umdreht, um zu sehen, ob die Welt noch da ist. Sie sagte auch, ich darf sie Frau Melissa nennen und dass sie ursprünglich aus Verona kommt, einer Stadt, wie aus dem Märchenland. Sagte sie, aber mir wurde schon öfters gesagt, dass italienische Städte gar nicht so schön sind, weil dort die Müllabfuhr ständig streikt. Und sie, die Frau Melissa, sagte auch, dass die Welt immer da ist, wenn sie sich umdreht. Dabei dreht sie sich wirklich schnell um – Pirouetten drehend. Sie ist Tänzerin in einem Ballett, sagte sie. Kann ich mir gut vorstellen, denn Frau Melissa ist klein und zart und auch sehr hübsch, mit langen, schwarzen Locken und großen, dunklen Augen. Eine sehr hübsche Ballerina, diese Frau Melissa.
Was den Herrn über unserer Wohnung betrifft, er ist ein wenig wortkarg. Einmal, als wir uns im Stiegenhaus trafen, streckte er seinen dünnen, langen Zeigefinger nach mir aus und krümmte ihn einige male, als wolle er mich zu sich locken. Nicht nur sein Zeigefinger ist dünn und lang. Sein Körper ist es auch. Ich glaube, er misst fast 2 Meter und ich wundere mich immer, wie er auf seinen Füßen die Balance halten kann. Er ist aber kein Balletttänzer. Er arbeitet bei einem Bestatter, deshalb trägt er immer dunkelgraue Anzüge und schwarze Krawatten.
Als ich seinem Zeigefinger folgte, flüsterte er mir zu, dass er alle Menschen hasst und froh ist, wenn immer mehr unter die Erde kommen oder, wie es in letzter Zeit Mode ist, verbrannt werden. Dann grinste er diabolisch und ging zur Arbeit.
Ein anderes Mal, sah ich, wie er Frau Melissa beobachtete, die gerade wieder einmal ihre Pirouetten drehte. Ich klärte ihn auf und sagte, Frau Melissa will sehen, ob es die Welt hinter ihr noch gibt, da sie diese nur vorne sehen kann. Und dann sagte er etwas, was mich wirklich nachdenklich machte. Er sagte, dass die Welt nur aus unseren Vorstellungen besteht und wenn wir diese fallen lassen und neue Vorstellungen hätten, würde auch eine ganz neue Welt entstehen.

Regentage. Schlüpfrige Tage, im wahrsten Sinne des Wortes. Vor allem dann, wenn bereits das Herbstlaub auf dem asphaltierten Weg liegt. Da rutscht man gerne, eigentlich weniger gerne, drauf aus. Dann wird auch das Einkaufen gehen mühsam. Schritt für Schritt. Ganz langsam. Am besten, den Stock nicht vergessen. Aber so weit bin ich noch nicht, obwohl ich das schlüpfrige Wetter gar nicht mag. Auch nie mochte. Nicht einmal, als ich jung war und die anderen auf dem glatten Gehwegen mit einem Jauchzen dahin segelten. Ich ging stets wie auf rohe Eier.
Der Herbst ist der Vorbote des Winters. Allein die am Boden liegenden Blätter künden das schlüpfrige Wetter an. Wenn sich die Eiskristalle bilden. Am Fenster sind sie schön, aber heute nicht mehr gern gesehen, weil man dann nicht nur die eigenen Räume heizt. Sparen ist angesagt. Energiesparen.
Es ist noch nicht Herbst, obwohl ich ihn bereits in den Knochen spüre. Sagt man so. Meine Knochen sind aber noch ganz okay, auch wenn einige Finger langsam krumm werden, wie die einer Hexe. Meinem rechten Zeigefinger nach könnte ich durchaus eine sein, so krumm ist er. Eine Hexe. Das sagen sie von der Frau oberhalb. Gegenüber von dem, der beim Bestatter arbeitet. Nun, ich kann durchaus seinen Namen nennen, der ja kein Geheimnis ist, obwohl viel von Datenschutz die Rede ist. Er heißt Anton Schuster und ist so um die 40 oder 50. Schwer zu schätzen. Wahrscheinlich ist er jünger als er aussieht, was man von der Frau, die ihm gegenüber wohnt, nicht sagen kann. Sie ist sehr hübsch und wenn man hübsch ist, sieht man automatisch jünger aus. Gerda Binder steht auf dem Schild unten an der Eingangstür. Und oben an ihrer Wohnungstür steht auch noch mal ihr Name und darunter „Energetikerin“.
Ich glaube, das mit den Vorstellungen hat Herr Schuster von ihr, die alle in der Straße „die Hexe“ nennen. Das ist aber nicht im bösen Sinn. Ganz im Gegenteil und Frau Gerda – ich darf sie so nennen, wie ich Frau Melissa von gegenüber auch beim Vornamen nennen darf – nun, Frau Gerda ist sogar stolz darauf, da sie gerne eine echte Hexe wäre, die wirklich zaubern kann.
Mir gegenüber wohnt ein junges Ehepaar. Aber sie werden bald ausziehen, da sie ein Baby bekommen und die Wohnungen hier zu klein sind. Es gibt kein Kinderzimmer. Wir haben zwar ein geräumiges Wohnzimmer, in dem eine Essecke, wie auch eine Wohnlandschaft, mit Couchtisch und großem Schrank, samt TV-Gerät, Platz haben, aber eben nur einen Schlafraum und Küche, Bad und WC. Für ein kinderloses Ehepaar und für Singles groß genug, aber heute will man ja dem Kind sein eigenes Reich gönnen.
Wie gerne denke ich an die gute, alte Zeit zurück, die vielleicht gar nicht so gut war und sie nur in der Erinnerung verschönert wird. Außerdem war das noch vor meiner Zeit, als die Menschen als Großfamilien zusammen lebten und keiner in ein Heim abgeschoben werden musste. Meine Mutter war noch zu Hause. Hausfrau. Ein ehrenwerter Beruf, der leider nicht geschätzt wird. Was, du arbeitest nicht? So wird man gefragt, wenn man heute als Frau keinen Beruf hat. Mein Vater sagte einmal, dass Hausfrau, wenn man es wirklich genau nimmt, sehr viel Arbeit bedeutet. Und meine Mutter hatte immer etwas zu tun.
Damals ging man nicht einfach los und kaufte sich neue Kleider. Damals wurde gestopft und genäht und alles so lange erhalten, bis es wirklich gänzlich kaputt war. Damals gab es die Wegwerfgesellschaft noch nicht. Aber sie kam mit der Zeit auf, als ich Kind war.
An Regentagen gibt es immer viel nachzudenken, wenn ich am Fenster sitze und die Straße runter blicke, wo alles grau in grau erscheint. Sogar im Sommer. Ein warmer Sommerregen. Man kann das Fenster offen lassen, so warm ist es. Die Wettervorhersage hat fast eine Woche lang Regen angekündigt. Hochwassergefahr auch. Bei uns nicht. Unsere Kleinstadt liegt erhöht. Da fließt das Wasser gut ab und es müsste schon eine Sintflut kommen, um es unter sich zu begraben, wie das in letzter Zeit mit einigen Ortschaften passierte. Es wird zu viel abgeholzt und zu viel zubetoniert. Sogar bei uns. Wenn ich spazieren gehe und das mache ich regelmäßig, um fit und beweglich zu bleiben, und die Ortschaft hinaus wandere, wo es einst noch bunte Blumenwiesen gab, sind in den letzten Jahren Reihenhäuser gebaut worden. Eine Umfahrungsstraße wurde auch gebaut, weshalb ein großes Stück Wald abgeholzt werden musste. Ich sage immer, es ist kein Wunder, wenn sich die Natur wehrt, was man den Klimawandel nennt. Vor allem Frau Gerda pflichtet mir bei und meint, die Erde habe eine Seele, die lange genug geweint hat, aber jetzt ist sie nicht mehr nur traurig, sondern auch sehr wütend.

Charakter, Persönlichkeit – wie sehr unterscheiden sich die Menschen voneinander? Wenn ich Herrn Schuster und Frau Gerda vergleiche, unterscheiden sie sich natürlich nicht nur deshalb, weil der eine ein Herr und die anderen eine Frau ist. Die Gangart ist eine andere, obwohl manche Männer, wie ich im TV mit Erstaunen feststellte, eleganter mit Stöckelschuhen gehen als manche Frauen. Also können auch Männer mit ihren Hintern wackeln wie Frauen und unterscheiden sich nicht mal mehr geschlechtlich voneinander. Männer schminken sich, benutzen Kosmetikartikel, gehen in Schönheitssalons und tragen Röcke und das nicht nur in Schottland. Wenn ich das so betrachte, wird die Welt immer verrückter.
Darauf will ich aber nicht wirklich hinaus, denn mir geht es nicht um Geschlechtsunterschiede, die es eh schon lange nicht mehr gibt, außer im Beruf, was die Bezahlung betrifft, sondern wirklich um den Charakter, um die Persönlichkeit des Einzelnen. Erkenne ich die Menschen daran? Kann ich voraussagen, was die eine oder der andere schön oder weniger schön findet?
Frau Gerda sagte unlängst, sie liebt Rosen. Das seien ihre Lieblingsblumen. Und weil ich herausfinden wollte, ob auch Herr Schuster Rosen so schön findet, fragte ich ihn anderntags danach. Er sah mich überrascht an und meinte: „Wieso nicht?“ Ich bohrte weiter, weil ich, wie er, das Wohnhaus verließ – er zur Arbeit und ich zum Einkaufen – und fragte nach seinen Lieblingsblumen. „Weiß nicht“, antwortete er, „darüber habe ich noch nie nachgedacht.“ Ich fragte, ob er eine Lieblingsfarbe hat, eine Lieblingsmusik, ein Lieblingstier, bis er mich anherrschte: „Was sind das denn für Fragen?!“ Ich ließ ihn schnell weitergehen und bereute meine Fragen, die ich ja nur für mein Projekt stellte.
Wenn ich am Fenster saß und auf die Straße blickte, um Menschen zu beobachten, stelle ich viele Unterschiede zwischen ihnen fest. Ich kann von weitem feststellen, ohne Gesichter zu sehen, wer gerade des Weges kommt. Es liegt nicht nur am Gang, auch an den Bewegungen. Aber ich denke, auch das ist es nicht, was einen Menschen im Ganzen ausmacht. Im Ganzen kann man das wahrscheinlich gar nicht feststellen, außer der Mensch hat alle möglichen Situationen erlebt. Das ist unmöglich, denn kein Mensch kann alle möglichen Situationen durchleben.
Aber in ein und derselben Situation handeln sie doch unterschiedlich, was vielleicht auf einen bestimmten Charakter schließen lässt. Würde Herr Schuster ein Menschenleben retten, auch wenn er sich selbst in Lebensgefahr bringen würde? Und Frau Gerda? Würde sie? Und das junge Paar neben mir? Und Frau Melissa, die Ballerina? Würde sie tänzelnd ins kalte Wasser springen, um ein Kind vor dem Ertrinken zu retten?
Einige Lebensretter sagen, sie hätten gar nicht nachgedacht. Es sei alles spontan gewesen. Erst im Nachhinein sei ihnen bewusst geworden, was sie getan haben und dass auch sie in Lebensgefahr waren. Es war ihnen also nicht bewusst, was sie getan haben.
Was tun Menschen, wenn sie bewusst sind? Nicht nur atmen, wie ich anfangs geschrieben habe. Sie setzen Masken auf. So schöne, wie nur möglich, um zu gefallen. Zumindest die meisten. So ist es sehr schwer, zu ihrem wahren Charakter, zu ihrer wahren Persönlichkeit durchzudringen. Außerdem, wie entsteht ein bestimmter Charakter, eine bestimmte Persönlichkeit? Ist es abhängig davon, wie und wo man aufwächst? Ist es vielleicht abhängig von den Genen. Geistig oder körperlich – das ist die Frage. Wahrscheinlich beides.
Menschen, die im Süden aufwachsen, sind wohl heiterer und haben eher ein phlegmatisches Gemüt. Was heute geht ist gut, den Rest machen wir morgen. Nordische Menschen sind eifriger. Dennoch kann man nicht alle in einen Topf werfen. Es gibt auch Ausnahmen, die aber bekanntlich die Regel bestätigen. Menschen, die in geregelten Verhältnisse aufwachsen, dürften ruhig und freundlich sein und sehr gut zwischen gut und böse unterscheiden können, während Menschen, die keine gute Kindheit und Jugend hatten, in dieser Hinsicht meist gehandicapt sind.
Vielleicht sollte ich das nächste Mal diese Fragen für mein Projekt stellen. Aber ehrlich gesagt, ich trau mich Herrn Schuster keine Fragen mehr zu stellen, sonst hält er mich wirklich für verrückt, was mir eben bewusst wurde. Also setz ich die schöne Maske auf und halte meinen Mund.

Was mir jedoch an Herrn Schuster gefällt, ist seine nicht so dicke Maske, wie ich sie bei vielen anderen wahrnehmen kann. Herr Schuster ist direkter und scheint oft das zu sagen, was er auch denkt. Vielleicht liegt es an seinem Beruf mit dem Tod, denn der Tod öffnet einem oft mehr als beide Augen.

Meine Nachbarn gegenüber sind ausgezogen. Das junge Paar, wo man bei der jungen Frau bereits das Bäuchlein sehen kann. Gestern haben sie mich in ihr neues Haus eingeladen. Einfach so, was mich gewundert hat, denn bisher hatten wir kaum Kontakt miteinander, außer das Grüßen im Stiegenhaus. Zuerst wollte ich ablehnen, da ich dachte, was geht mich deren neues Haus an, aber dann wurde ich neugierig und wollte wissen, was sie wirklich von mir wollen.
Es ist ein modernes Energiehaus. Ein flacher Kubus. Sagt mir nicht so zu. Ich mag die alten Häuser mit den großen Dächern, womöglich mit Dachwohnung, Giebeln und eventuell kleinen Türmchen. Der viktorianische Stil hat es mir angetan. Große und hohe Räume, wie auch große und hohe Fenstern mit rauschenden Vorhängen, die von der Decke bis zum knarrenden Holzboden hängen. Lüster an der Decke, die mit dem Licht spielen und alte Möbel, die mit ihrem Knirschen von vergangenen Zeiten erzählen. Das moderne Bauen heute wirkt so kalt und überträgt sich viel zu schnell an die Menschen, die darin wohnen. Sogar innen ist das Haus sehr modern und vor allem karg eingerichtet. Schwarz und Weiß dominieren. Sogar die zwei Bilder im so genannten Wohnzimmer sind in Schwarz-weiß gemalt. So genannt deshalb, weil es fließend in ein Esszimmer und in die Küche übergeht, deren Technik alle Stückeln spielt, wie man so sagt. Eine Treppe führt vom Wohnzimmer aus nach oben zu drei Schlafzimmer und zwei Bädern. Toiletten befinden sich oben wie auch unten, gleich neben dem Vorraum, der zwar klein, aber seinen Zweck erfüllt. Vor dem Wohnzimmer befindet sich eine geräumige Verranda, die in einen gepflegten Garten führt. Swimmingpool sei geplant, wie beide stolz betonten.
Gerd, der junge Mann, zu dem ich „du“ sagen darf, ebenso wie zu seiner hübschen Frau Dorli, öffnete festlich eine Flasche Champagner, da er meinte, das muss gebührend gefeiert werden. Ich fragte, was denn gefeiert wird. Dass ich das erste Mal mit ihnen zusammen das neue Haus betreten habe. Ich horchte auf und fragte, warum das erste Mal? Gerd meinte, da ich, wenn ich mit ihrem Vorschlag einverstanden bin, noch viel öfter in dieses Haus kommen und sogar hier wohnen werde, da das dritte Schlafzimmer für mich wäre. Mir blieb fast die Luft weg. Aber ich beruhigte mich verhältnismäßig schnell und fragte, wie sie auf so eine absurde Idee kämen, da ich weder mittellos noch obdachlos sei. Ich dürfe das nicht falsch verstehen, meinte Dorli, da es sich natürlich nicht um Almosen, sondern um einen Job handelt. Jetzt war ich vollkommen konfus.
„Na ja“, begann Dorli, „wenn das Baby da ist, möchte ich viel Zeit mit ihm verbringen und mich nicht auch noch um den Haushalt und das Kochen kümmern. Natürlich packe ich auch da mit an, aber vorwiegend möchte ich für das Baby da sein, deshalb dachte ich, dass sie als Haushaltshilfe bei uns einziehen. Was das Gehalt betrifft, werden wir nicht knausrig sein. Nur bedenke, du hast hier freie Kost und Logis.“ Ich musste sie angesehen haben wie eine Idiotin, mit weit offenem Mund und aufgerissenen Augen. Schließlich fragte ich, wie sie denn auf mich kommen und nicht über das Arbeitsamt eine Fachkraft suchen. Sie würden doch gar nicht wissen, wie sauber es in meiner Wohnung ist und ob ich überhaupt kochen kann.
„Sie wirkten auf uns immer so einsam“, erklärte Gerd. „Niemand kommt sie besuchen und sie wirken auch irgendwie nachdenklich und traurig, also dachten wir, es täte ihnen gut, wenn sie eine Familie haben würden.“
Ich konnte nicht glauben, was ich da höre, aber ich wollte nicht unhöflich sein, also bedankte ich mich für ihren guten Willen, und meinte, dass ich gerne alleine bin und froh bin, dass ich meine Ruhe habe. Dann trank ich mein Glas Champagner schnell aus, das mir überhaupt nicht schmeckte, da ich dieses perlende Zeug nicht mochte und Alkohol generell verabscheute. Wieder sehr höflich, verbeugte ich mich vor den beiden und sagte, dass ich schon alleine hinaus und wieder nach Hause finden werde, da das Haus doch etwas abgelegen im Grünen liegt und der Weg etwa eine gute halbe Stunde bis nach Hause war. Gerd lief mir zwar nach und wollte mich fahren, aber ich winkte ab und ging so schnell wie möglich weiter.
Also, was den Menschen so alles einfällt!

Als ich zu Hause ankomme und eben die Wohnungstür aufsperren will, kommt von oben Frau Gerda in ihren, wie immer, in einem ihrer weit schwingenden, bunten Röcken oder Kleidern herunter. „Wann werden sie ausziehen?“ fragt sie mich und ich stelle die Gegenfrage, wie sie denn darauf komme, dass ich ausziehen werde. „Na, zu Ihren ehemaligen Nachbarn in das neue Haus!“ ruft sie lächelnd aus und scheint sich darüber zu freuen. Wollen mich denn die Leute hier los werden, dachte ich. Jetzt fehlt nur noch Herr Schuster, der mich dazu beglückwünscht, in ein neues Haus ziehen zu dürfen. Ich war zu fassungslos, um eine Antwort zu geben, sperrte auf und ging so schnell wie möglich in meine geliebte Wohnung.
Ja, ich liebe meine kleine, heimelige Wohnung und sie ist mir, da ich alleine lebe, groß genug, wenn nicht schon zu groß. Und ich kann hier tun und lassen was ich will und wann ich will. In meinem Alter noch einen Job mit so einer Verantwortung wäre doch Irrsinn. Ich dachte keinen Moment darüber nach, ihn anzunehmen. Und – ehrlich gesagt, bin ich, da ich diese Zeilen eben schreibe – noch immer schockiert über diese Sache, noch dazu, wo hinter meinem Rücken mit Frau Gerda darüber geredet wurde. Wer weiß, wem sie noch erzählt haben, dass sie mich bei sich aufnehmen werden. Als hätte ich so etwas nötig.
Es stimmt schon, ich bin viel alleine, aber ich bin gerne alleine. Ich brauche keine Gesellschaft. Die hatte ich zu genüge, als ich im Café in der Hauptstraße unserer kleinen Stadt mehr als 30 Jahre gearbeitet habe. Jetzt, endlich in der wohl verdienten Pension, möchte ich mein Ruhe haben. Außerdem, was würde mit meiner Rente werden, wenn ich wieder einen Job annehme? Man darf sich zwar etwas dazu verdienen, aber wie viel, weiß ich nicht genau. Und wozu auch darüber nachdenken, da ich diesen Job ohnehin nicht annehme?
Über ein Jahr bin ich nun schon in Pension und mir geht es gut dabei. Bei der Arbeit im Café als Kellnerin war ich lange genug unter Menschen und lernte viele kennen, darunter auch Frau Melissa, die nach ihrem Job als Balletttänzerin fast täglich auf einen kleinen Espresso kam. Balletttänzerin ist sie zwar, aber keine so berühmte, dass sie davon leben könnte. Es gibt ab und zu Theateraufführungen in der Stadt und da tritt sie manchmal auf. Ihr eigentlicher Job ist Ballett- und Tanzlehrerin. Ob Frau Melissa auch informiert wurde, dass ich von dem jungen Paar in ihr neues Haus eingeladen wurde?

Es hat sich alles aufgeklärt, denn als ich Frau Gerda das nächste Mal traf und ganz offen fragte, woher sie denn gewusst habe, dass ich ausziehen würde, erzählte sie, dass sie das junge Paar gehört habe, wie sie zu ihm sagte: „Hoffentlich zieht Frau Petrovic bei uns ein, denn eine Haushälterin wäre schon gut.“ Frau Gerda habe das Paar aber nicht belauscht. Es war so, dass sie eben die Wohnung verlassen wollte und das Paar ebenso, also habe sie das Gespräch rein zufällig mitgehört. Sie sprachen auch darüber, ob das Zimmer wohl groß genug für mich sei und dass ich sicher etwas aus meiner Wohnung mitnehmen wolle. Dann verließ das Paar das Haus und Frau Gerda brauchte einige Minuten, um das Gespräch zu verdauen, bevor sie von der Treppe herunter kam und ebenfalls das Haus verließ. Sie sagte dann auch, es täte ihr sehr leid, wenn ich ausziehen würde, da ich hier so was wie die gute Seele sei. Wieso sei ich die gute Seele. Ich mach doch gar nichts. „Genau das ist es“, meinte Frau Gerda lachend, „Sie gehen niemandem auf die Nerven, aber sie haben immer ein gutes Wort für alle und sind immer freundlich.“
Ich könnte die Wohnung wirklich nie verlassen, außer im Sarg, wenn mich Herr Schuster aus der Wohnung trägt, falls er nicht auch ausziehen will, was aber nicht so aussieht. Es würde mir auch deshalb schwer fallen, auszuziehen, weil ich schon so lange hier lebe und der Start hier gar nicht so einfach war.
Es gab Krieg in meinem Geburtsland, einen sehr schmutzigen und grausamen Krieg. Aber Kriege sind immer schmutzig und grausam, obwohl dieser für mich wohl der schmutzigste und grausamste war, da ich in diesem Krieg meine Familie verlor. Zuerst wollte ich nicht flüchten, aber dann sah ich, dass niemand mehr in der Stadt war, die keine Stadt mehr war, sondern dem Erdboden gleichgemacht wurde. Alle flohen, - entweder in andere Städte, in denen es kaum besser war oder in ein anderes Land, wie ich und einige andere es taten. Wir hatten Glück, denn wir wurden wohlwollend aufgenommen. Und mit der Zeit, über die ich nicht so gerne spreche, bekam ich einen Job als Kellnerin und diese Wohnung.
Mein Glück war auch, dass meine Mutter mich zweisprachig aufzog, da sie von hier war. Nicht hier von dieser Stadt, sondern von diesem Land. Sie lernte meinen Vater kennen, als er hier arbeitete. Die beiden verliebten sich und zogen in sein Land, in dem sie so lange glücklich waren, bis dieser unnötige Krieg ausbrach. Ich hatte zwei ältere Brüder, Zwillinge - und eine jüngere Schwester. Sie wurden, wie meine Eltern und meine Oma, Opfer des Krieges.
Jahre später hörte ich, dass die Schwester meines Vaters überlebt hat und nachdem alles wieder aufgebaut war, lud sie mich zu sich und ihrer Familie ein. Im Urlaub fuhr ich hin und sah endlich wieder das Meer, das mir so sehr fehlte und noch immer fehlt, auch wenn es hier auch sehr schön ist. Wenige Tage nach meinem Besuch bei ihr, starb meine betagte Tante, die meine einzige Verwandte war. Seit dem war ich nicht mehr in meinem Geburtsland und nicht mehr am Meer.
Aber wie gesagt, ich spreche darüber nicht gerne. Und schreiben? Zuerst dachte ich, es hilft ein wenig, den Gräuel zu bewältigen, den man erlebt hat. Aber nein. Man steigert sich nur noch mehr hinein in das, was war und das man am besten zurück lässt. Nach vorne schauen oder noch besser, wie Frau Gerda immer sagt: „Lebe im Hier und Jetzt!“

Schade ist, dass wir hier keine Haustiere haben dürfen.Wenigstens eine Katze, die nur in der Wohnung bleibt und niemandem mit lautem Bellen, wie Hunde es zu gerne tun, auf die Nerven gehen. Dabei hätten wir einen so einen schönen Garten hinter dem Haus, den jeder benutzen darf. Für kleine Hunde zum Herumtollen wäre es ideal. Oft sitze ich auf dem kleinen Balkon vor dem Wohnzimmer und blicke hinunter auf die hübsch angelegten Blumenbeete, die immer gepflegte Wiese und wunderschöne, weiße Bänke, die hier zum Träumen anregen. An der linken Seite, nah bei meinem Balkon, gibt es Wäscheleinen zum Lufttrocknen für die Wäsche. Nach dem Abnehmen riecht sie dann immer so frisch.
Vor einigen Jahren saß eine Nebelkrähe oben an der Stange. Da ich keine Vegetarierin wie Frau Gerda und Frau Melissa bin, gibt es bei mir manchmal Fleisch. Das Fette schneide ich weg und ab und zu habe ich damals etwas zu viel Faschiertes eingekauft. Also warf ich diese Reste unter die Stange, wo oben die schöne, fast schwarze Krähe hockte. Zuerst blinzelte sie mich an, dann krächzte sie einige Male, als würde sie sich bedanken und schon stürzte sie sich auf die Fleischreste.
Ich machte das anfangs nicht regelmäßig, aber dann kaufte ich sogar Nüsse für meine Krähe, die nach einer Weile ihren Partner, oder ihre Partnerin mitbrachte. Ich weiß nicht genau, ob man das Geschlecht der Nebelkrähen äußerlich feststellen kann, aber ich habe gelesen, dass das Männchen meist etwas größer ist. In dem Fall war zuerst das Männchen bei mir und hat ausgekundschaftet, wo es leckeres Futter zu holen gibt.
Wieder nach einer Weile saßen plötzlich vier Krähen, die einen Höllenlärm machten, auf der Wäschestange und später weitere drei auf der gegenüberliegenden Stange, da die Wäscheleinen logischerweise von zwei Stangen gehalten werden. Ich bin richtiggehend erschrocken und befürchtete, dass sich die Bewohner ringsum und natürlich auch meine Nachbarn aufregen werden, wenn ich hier eine Horde Nebelkrähen anzüchte. Als ich ein paar Mal in die Hände klatschte, flogen sie davon und der Lärm war vorbei. Sie kamen zwar wieder, aber nach abermaligem Händeklatschen flüchteten sie.
Es tat mir leid um die Krähen, aber das geht einfach nicht, dass ich sie ihr Leben lang durchfüttere. Und ich muss ehrlich zugeben, dass ich in den letzten Tagen nicht nur Essensreste zu dem verliebten Paar hinaus geworfen habe, sondern mehrmals am Tag Faschiertes, das ich extra für sie gekauft habe und natürlich auch Nüsse. Ich habe sie richtiggehend verwöhnt und war wahrscheinlich nahe dran, sie der Natur zu entwöhnen, denn in der Umgebung unserer Kleinstadt gibt es Wälder und Wiesen, wo sie genug Futter finden.
Krähen sind kluge Vögel. Sie spüren sofort, was Sache ist und klar, bevor sie verhungern, suchen sie woanders Futter. Das taten auch das Paar und die anderen, die mit gekommen waren – darunter vielleicht sogar ihre Kinder, da einer ständig krächzend mit offenem Schnabel zu ihnen trottete und um Futter bettelte. Wenn nur ihr hässliches Krächzen nicht wäre. Ich finde es wirklich unangemessen für derart schöne Vögel. Schade, dass sie nicht singen wie Nachtigallen.
Ja, und schade, dass wir keine Haustiere haben dürfen. Die Hausverwaltung lässt das nicht zu und schon gar nicht im Garten, der regelmäßig von deren Gärtner gepflegt wird und wo ich auch gerne auf einer der Bänke sitze und die schönen Blumen bewundere, die gerade im Sommer all ihre Pracht zeigen.

Gestern gab es einen Radau im Haus gegenüber, wo Frau Melissa wohnt. Es passierte im dritten Stock, sozusagen zwei Stockwerke über Frau Melissa, die im Parterre ihre Wohnung hat. Dort wohnt seit einem halben Jahr eine Familie aus einem Land, in dem noch immer Krieg herrscht. Es ist aber auch ein Land, in dem Frauen nichts gelten. Sie sind nur für die Hausarbeiten und für das Kinderkriegen zuständig. Außerdem müssen sie schamhaft ihr Haar bedecken, wenn nicht gar ihren ganzen Körper. Burka nennt man dieses Folterding. Noch dazu liegt das Land in einer Zone, in der das Klima ziemlich heiß werden kann. Und dann müssen diese Frauen so was langes Schwarzes tragen, das alles verhüllt. Gerade die Augen schauen noch heraus. Arme Frauen. So etwas hat es bei uns nicht gegeben, obwohl die Männer schon gerne ein Machogehabe an den Tag legten.
Nun, gestern hat die Polizei den Mann abgeführt, weil er seine Frau erstechen wollte. Mit einem ganz normalen Küchenmesser. Man sagte, sie habe furchtbar ausgesehen. So viel Blut. Aber wahrscheinlich kommt sie durch.
Ich mag so was nicht sehen. Wenn ich irgendwo weiter entfernt das Signal eines Rettungsfahrzeugs höre, entferne ich mich, wenn möglich, noch weiter weg. Da gibt es doch Menschen, die mit ihren Handys alles filmen und dabei die Sanitäter behindern und auch noch beschimpfen, wenn sie vor dem Opfer stehen und sie es nicht filmen können, um dann alles im Internet zu verbreiten. Gibt es wirklich Leute, die darauf neugierig sind? Es scheint so, da in den Nachrichten manchmal gesagt wird, wie viele „Klicks“ so eine Video bekommt und das ist eine ganze Menge.
Als das im Nachbarhaus passierte, war ich spazieren. Es war nicht so heiß, bloß knappe 22°, da es am Vortag geregnet hat. Da braucht es dann anscheinend immer, bis die Sonne wieder voll auf uns runter glüht, wie in den letzten Tagen, wo es fast über 30° hatte und ich meine Spaziergänge in die Abendstunden verlegen musste, was ich nicht so gerne mache. Tagsüber ist es mir lieber. Da kann ich in die angrenzenden Wälder gehen.
Ja, wir haben eine Auswahl an Wälder, denn genau drei grenzen an unsere Kleinstadt. Abends wäre es mir dann schon etwas zu dunkel im Wald. Der Wald im Süden unserer Stadt ist besonders gut für meine Fitness, da der Wanderweg dort bergauf und bergab geht und das einige Male ganz schön steil. Gestern war ich aber in dem Wald, der mir am nächsten liegt, wo ich in knapp einer viertel Stunde an der Waldgrenze bin. Es ist auch der Wald, in dem im Herbst die meisten Pilze zu finden sind. Jetzt ist es noch etwas zu früh, obwohl vereinzelt doch einige wachsen könnten. Es könnte aber noch ein gutes Monat dauern. Aber es ist auch so herrlich im Wald. Man kann tief durchatmen und es ist so schön still, bis auf das Gezwitscher mancher Vögel.
Ab und zu habe ich Glück und kann ein Reh beobachten oder einen Hasen. Und manchmal kreisen Bussarde über den hohen Tannenwipfel und stoßen ihre lauten Schreie aus. Das höre ich so gerne. Es klingt für mich wie grenzenlose Freiheit und erinnert auch ein bisschen an die alten Westernfilme, wo man Adler kreisen sieht, die auch diese wilden Schreie ausstoßen. Man kann auch so schön träumen während dieser Spaziergänge im Wald. Angst habe ich keine, da ich oft gefragt werde, ob ich mich nicht fürchte so allein im Wald. Angst hätte ich gehabt, wenn ich zu dieser Zeit zu Hause gewesen wäre, als es diesen schrecklichen Radau gegeben hat.

Manchmal dachte ich in den letzten Monaten, seit ich in Pension bin, dass ich ein Traumtagebuch führen sollte. Noch nie in meinem Leben habe ich so viel geträumt, wie in diesen letzten Monaten. Vorwiegend und besonders intensiv sind die Träume bei Neumond, wenn es ganz finster ist. Auch bei Vollmond träume ich nachts intensiv, aber niemals so wie bei Neumond. Da ist es, als wäre alles wirklich, als würde ich nachts ein zweites Leben führen, von dem ich bisher noch nichts wusste.
Frau Gerda meint, dass Träume in andere Dimensionen führen und dass sie dem Tod sehr ähnlich sind. Der Tod, sagte Frau Gerda, wird auch „Schlafes Bruder“ genannt. Auch wenn wir uns an die Träume nicht erinnern, träumen wir und befinden uns in einem ganz anderen Leben. Irgendwie bezweifle ich das. Frau Gerda hat halt manchmal sehr aufgefallene Gedanken. Aber man weiß ja noch nicht viel über Träume. Psychologen sagen, im Traum arbeiten wir das auf, was wir tagsüber nicht ganz verarbeitet haben. Sozusagen im Traum die Probleme lösen. Wäre toll, wenn es so wäre. Aber es handelt sich ja nicht um materielle Probleme. Als ob es möglich wäre, im Traum Gold zu schürfen und es morgens auf dem Kissen liegt. Wäre traumhaft. Wortwörtlich. Es geht jedoch mehr um seelische Probleme.
Eigentlich habe ich keine seelischen Probleme. Mir ging es nicht einmal so schlecht, nachdem ich in dieses Land kam. Sicher war es nicht leicht, all die Bilde der Toten, der Verstümmelten auszublenden, aber mit der Zeit schaffte ich es mit dem Gedanken, dass dies nur mehr ihre leere Hülle war und sie nun von ganz oben auf mich runter lächeln und glücklich sind, dass ich es in dieses Land geschafft habe – in das Heimatland meiner Mutter. Ich stellte mir wirklich vor, wie sie in einem wunderschönen Garten die Blumen bewundernd streichelt und lächelt, weil ich in Sicherheit war. Und mein Vater, meine Oma und meine Geschwister waren bei ihr und zusammen wandeln sie glücklich lächelnd durch eine Art Paradies.
Aber ich träumte nie von ihr oder von Vater oder Oma oder meinen Geschwistern. Es war eher von fremden Menschen und von Gegenden, wie ich sie noch nie gesehen habe. Zwei Träume wiederholen sich oft. Der eine ist von einer Stadt, zumindest von einem Stadtteil, wo die Straße bergauf zu einer Kreuzung führt. Die Häuser dort sind alt und haben mehrere Stockwerke. Ich suche in diesem Stadtteil nach einer Bushaltestelle, um wieder nach Hause zu kommen. Aber ich finde keine. Frau Gerda deutet den Traum so, dass ich wieder in meine Heimat zurück möchte. Mir kommt das nicht so vor, denn es macht mir nichts aus, wenn ich die Haltestelle nicht finde. Mir gefällt es in diesem Stadtteil, vor allem ein Haus, das irgendwie rund zu sein scheint und an der Rundung, die auf die Kreuzung zeigt, ein hohes Fenster hat, aus dem jemand herunter schaut. Es ist eine dunkle Gestalt, die ich nicht kenne, aber die mir im Traum dennoch bekannt erscheint, wie auch die anderen Leute, die plötzlich da sind und mit mir durch die Stadt wandern. Wir sind dann plötzlich an einem anderen Ort, wo lauter Wohnwägen stehen. Die Szenerien in meinen Träumen wechseln immer sehr schnell, als ob man sich nur mal irgendwo hin denkt und schon ist man dort. Wäre das schön, wenn es im realen Leben auch so wäre. Ich würde mich schon manchmal in mein Heimatdorf hin denken, auch wenn es nicht mehr das ist, was es mal war, da alles neu aufgebaut wurde und ich es, als ich meine Tante besuchte, nicht wieder erkannt habe. Ich würde mich ja in mein altes, mein wirkliches Heimatdorf hin denken, wo in der Urlaubszeit am Strand der schöne Campingplatz, voll mit Touristen war.
Der andere Traum, den ich schon mehrmals träumte, dürfte mit meiner Heimat nichts zu tun haben. Ich stehe auf einer Brücke und blicke in ein Tal hinunter, in dem lauter Rohre liegen, die zu irgendeiner Maschine gehören, die vielleicht Strom erzeugt oder so was. Links und rechts von dem Tal erheben sich senkrecht schroffe Felsen, die sicher mehrere zehntausend Meter hoch sind. In diesem Moment, als ich diese ungewöhnliche Höhe erfasse, bin ich schon ganz oben auf so einem Felsen. Es ist ganz schmal dort oben und ich habe ein mulmiges Gefühl, wenn ich hinunter schaue, weil es so unfassbar hoch ist. Mit diesem Traum kann Frau Gerda nichts anfangen, so sehr sie sich auch bemüht, mehr in mich zu dringen und ich meine Gefühle besser beschreiben sollte. Habe ich Angst, in die Tiefe zu fallen? Nein, ich weiß, dass mir nichts geschehen kann. Aber nicht, weil mir bewusst ist, dass es nur ein Traum ist. Ich weiß es einfach, auch wenn ich durch diese Höhe ein mulmiges Gefühl habe, das ein wenig Bauchkribbeln erzeugt, wenn ich wach daran denke.
Manche Träume sind nur ganz kurz, aber so seltsam, dass ich sie am Morgen vergessen habe oder sie mir so unlogisch erscheinen, dass ich gar nichts damit anfangen kann, obwohl mir im Traum alles logisch erschienen ist. Frau Gerda dürfte vielleicht doch recht haben, dass es sich bei gewissen Träumen um eine ganz andere Dimension handelt. Und vielleicht sollte ich diese verworrenen Träume wirklich sofort aufschreiben, wenn sie mir noch etwas klarer erscheinen, denn am Morgen sind sie nur mehr totaler Schwachsinn.

Manchmal werde ich gefragt, warum ich alleine lebe und ob ich nie verliebt gewesen bin. Sicher war ich verliebt, aber es war nie Liebe. Es war nie das Gefühl für ein Leben lang zusammen zu gehören. Verliebt war ich schon als Kind und so weit ich mich zurück erinnern kann, war es der Sohn unserer Nachbarn, der einige Jahre älter war als ich. Er ging schon in die Oberstufe, während ich gerade mal die erste Klasse besuchte. Wie tat diese Verliebtheit weh! Ich war chancenlos. Noch dazu hatte er eine Freundin, mit der er nach Schulschluss Hand in Hand nach Hause ging. Und sie war so hübsch und hatte bereits weibliche Kurven, während ich wie ein Baby neben ihr wirkte.
Später waren es Touristensöhne, in die ich mich verliebte. Wir tauschten unsere Adressen, aber geschrieben hab immer nur ich. Antwort kam keine. Nicht mal eine kleine Postkarte. Sex hatte ich damals noch nicht. Das erste Mal sollte doch etwas Besonderes sein. Auch wenn manche Touristensöhne darauf drängten, da blieb ich standhaft, obwohl es mich bei dem einen oder anderen schon reizte. Besonders bei den Blonden und Blauäugigen. Obwohl es bei uns auch Hellhaarige gibt, sind sie doch eine Seltenheit. Es gab mal einen Sänger, der ziemlich berühmt war und aus dem Norden Europas kam. Was war ich verliebt in dem. Und wieder mal war diese Verliebtheit so unerreichbar, auch wenn ich bei dem Konzert, als er in die Nachbarstadt kam, die eher eine Großstadt als unser damaliges Dorf ist, ganz vorne stand und er mir mal ganz kurz in die Augen sah und mir zuzwinkerte.
Ich war 17, als es passierte. Und wieder war es der Nachbarsohn, in den ich mich verliebte und er sich vielleicht auch in mich, aber diesmal war es der jüngere Bruder von dem, in dem ich schon als Erstklässlerin verliebt war. Es geschah in einem Stall, wo frisch Heu aufgeschüttet wurde und das pikste und pikste. Aber ich hatte mein erstes Mal, das im Nachhinein ziemlich enttäuschend war. Übrigens, meinen ersten Kuss bekam ich von einem blonden und blauäugigen Touristensohn. Das muss auch erwähnt werden, denn ich denke, der erste so genannte Zungenkuss ist für ein Mädchen genauso was Besonderes. Der Kuss war auch besser als der erste Geschlechtsverkehr, der nach und nach etwas besser wurde.
Er hatte das Abitur hinter sich und ich war gerade in dem Jahr, das Abi zu machen. Aber dazu kam es nicht. Auch zu dem Abschiedsschmerz nicht, da er im nächsten Jahr ins Ausland zum Studium wollte und ich zurück bleiben hätte müssen. Es kamen die Panzer und Bomben dazwischen. Ich weiß bis heute nicht, ob er überlebt hat oder nicht.
Als ich hier ankam, dachte ich an alles andere als an einen Freund, mit dem ich mein Leben verbringen oder Sex haben möchte. Selbst, als ich versorgt war, Wohnung und Job hatte, lag mir nichts daran und ich bekam auch keine derartigen Anträge. Nun, ich war nie eine Schönheit, aber hässlich war ich auch nicht. Gerade so Durchschnitt. Durchschnittlich groß, durchschnittlich gebaut – na, eben glatter Durchschnitt, der keinen vom Hocker haut. Und noch dazu war ich Kriegsflüchtling, was die Leute hier anfangs ein wenig abschreckte.
Sicher hatte ich in den Jahren darauf Beziehungen, aber nur kurze, denn sobald es hieß: „Ziehen wir doch zusammen“ zog ich mich zurück, weil ich fühlte, er war nicht der Richtige. Und da nie der Richtige kam, blieb ich bis heute Single und werde es wohl auch bleiben.
Frau Melissa, die auch immer sagt, dass sie Single bleiben will, weil sie dann tun und lassen kann, was sie will und sich nicht von einem Mann herum kommandieren lassen will, fragte mich, als wir mal in „meinem“ Café zusammen hockten, was ich mir denn unter Liebe vorstellte oder vorstelle. Ich kann das nicht wirklich sagen, bloß, dass, wenn er mir gegenübersteht, würde ich wissen: „Das ist er!“ Sozusagen würde sich Wissen, Glauben und Fühlen zu einem Ganzen vereinen und mich praktisch umhauen. Frau Melissa lachte und meinte, das sei die beste Definition, die sie jemals gehört hat.

Die Frau, die von ihrem Mann fast abgestochen wurde, ist wieder in ihrer Wohnung und er befindet sich im Gefängnis. Ihre Kinder sind bei ihr in der Wohnung. Welch Glück, dass sie damals nicht da, sondern im Kindergarten waren. Das soll eigentlich der Grund für den fast tödlichen Streit gewesen sein, verriet mir Frau Melissa und drehte wieder einmal einige Pirouetten, um zu sehen, ob die Welt hinter ihr noch da ist. Sie müsse üben, klärte sie mich auf, weil ich anscheinend etwas entgeistert aussah, da übermorgen eine Ballettaufführung ist, wo sie die Hauptrolle spielt und ich natürlich kommen müsse.
Geplantes liegt mir nicht so. Deshalb gefällt mir der Spruch „willst du Gott zum lachen bringen, mach Pläne“ so gut. Man weiß ja nie, was kommt. Und vor allem, wie man selbst beieinander ist. Ich könnte morgen krank werden, dann wäre Frau Melissa enttäuscht, wenn ich nicht da wäre, obwohl ich zugesagt habe.
Apropos Gott! Der Mann, der seine Frau fast abgestochen hatte, war deshalb so wütend, weil die Frau ihre zwei Buben (der eine ist 2 und der andere 4, wie mir Frau Melissa aus sicherer Quelle sagte) in einen Kindergarten von Gottlosen gebracht hatte. Zu den Heiden sozusagen. Es gibt in unserer Kleinstadt leider nur einen Kindergarten und der befindet sich nahe der Kirche und ist auch mit der Kirche verbunden. Aber diese Kirche ist nicht die Kirche vom richtigen Gott, sondern von einem falschen Gott.
Es gab bei uns im alten Dorf auch eine Familie, die derart fanatisch war, dass sie nicht einmal etwas aßen, was sie nicht selbst aufgezogen und zubereitet haben. Geschweige denn, wer oder was der richtige Gott ist, denn der ist streng und höchst eifersüchtig.
„Wie man als Erwachsener nur an so was glauben kann!“ stieß Frau Melissa hervor und drehte theatralisch die Augen über. Ich fragte sie, was Religion damit zu tun hat, was Erwachsene glauben, da man Religion doch erst als Erwachsener richtig verstehen kann. „Ja, glauben sie denn an einen alten Mann, mit langem, weißen Haar und Bart, der auf seinem goldenen Thron im Himmel sitzt und über uns alle herrscht?“ fragte sie fast flüsternd, da ihr letzter Satz etwas zu laut ausgefallen war und ein Ehepaar an der anderen Straßenseite fast empört herüber geschaut hat. Dazu sei gesagt, Frau Melissa und ich haben uns vor dem Supermarkt getroffen und führten dort dieses Gespräch.
Natürlich glaube ich nicht an diesen alten Mann, der früher den Kindern in der Schule so erklärt wurde. Aber glauben tu ich an etwas. Das tut Frau Melissa auch, aber auf keinen Fall an so was wie an einen Gott oder gar an Götter wie die Inder das tun. Ich meinte, die alten indischen Schriften sind gar nicht so leicht zu verstehen, aber wenn man sich mal hinein versetzt hat, versteht man auch, warum es so viele Götter gibt, die eigentlich nichts anderes als ein einziger Gott sind. Frau Melissa sah mich nur groß an und winkte ab. Auf jeden Fall kann sie nicht verstehen, wie jemand nur aufgrund eines anderen Glaubens so ausrasten kann.
Als ich nach Hause ging, dachte ich wieder an mein Projekt, das ich über einige Bekannte aufgestellt hatte, um den Unterschied zwischen ihnen festzustellen. Frau Melissa scheint sich keine Gedanken über das Geistige zu machen, während Frau Gerda in diesem Gebiet die Spezialistin war. Sie glaubt an das große Ganze, an den Einen Geist. „Man könne sich das wie das Meer vorstellen“, sagte sie mir einmal, „in dem wir und alles einzelne Tropfen sind, die aus dem Meer aufsteigen, was die Geburt bedeutet, dann verdampfen und schließlich ins Meer zurück fallen, was den Tod bedeutet.“ So ähnlich hat sie es mir erklärt, wobei ich wiederum glaube, dass man so was gar nicht erklären kann. Es entzieht sich einfach unserem Bewusstsein, weil unser Bewusstsein zu klein ist. Wir können uns noch so sehr den Kopf zermartern oder kluge Bücher darüber lesen, dieses Geheimnis, woher wir tatsächlich kommen und wohin wir tatsächlich gehen, werden wir nie lösen können.
Herr Schuster war der Beste, als ich ihn mal fragte, ob er an einen Gott oder sonst was glaube. „Ich glaube an den ersten Wurm, der an mir nagen wird“, grummelte er und schon war er wieder weg. Übrigens hat er einen neuen Anzug, wie mir aufgefallen ist – einen Schwarzen mit ganz feinen, weißen Streifen.

Kaum jemand kennt meine Geschichte so genau, wie Frau Melissa und Frau Gerda, mit denen ich manchmal im Café, in dem ich gearbeitet habe, zusammen sitze. Wir treffen uns auch ab und zu abwechselnd in unseren Wohnungen. Frau Melissa und Frau Gerda dürften im selben Alter sein – beide so um die 30 bis 35. Ich hätte sie schon längst nach ihrem Alter fragen können, aber im Grunde genommen zählt so was ja nicht. Frau Melissa, die hübsche, kleine Italienerin ist äußerlich das genaue Gegenteil von Frau Gerda, die etwas mollig, aber nicht dick und sehr groß, so an die 1,80 ist. Sie überragt Frau Melissa fast um zwei Köpfe! Ob Frau Gerda von Natur aus rothaarig ist, weiß ich auch nicht, auf jeden Fall trägt sie die kinnlangen Haare mit Pony, seit ich sie kenne, in grellem Rot.
Ich war schon lange, wohl schon über 20 Jahre, eingezogen, als die beiden – Frau Gerda im selben Haus und Frau Melissa gegenüber – ihre Wohnungen bezogen haben.
Auch wenn ihr Glaube sehr unterschiedlich ist, - ihre Lebenseinstellungen sind sich ähnlich: beide wollen Singles bleiben. Es liegt nicht nur daran, dass beide enttäuschende Beziehungen hinter sich haben, - sie haben wohl erkannt, dass alleine leben mehr Freiheit bedeutet. Aber wenn man sich mit Frau Gerda unterhält, gibt es wieder einen großen Unterschied zwischen den beiden. Ganz klar, es ist das Geistige, während Frau Melissa mehr körperlicher Natur ist, wenn man das so sagen kann. Ich unterhalte mich mit beiden gerne, obwohl Frau Gerda manchmal ziemlich anstrengend mit ihren Theorien sein kann und Frau Melissa mir ein wenig zu viel über andere Menschen tratscht.
Aber beide sind für mich eine schöne Abwechslung, denn immer nur alleine sein, tut auch nicht gut, auch wenn ich meine (fast) täglichen Spaziergänge alleine sehr genieße und auch in meiner Wohnung gerne alleine auf der Couch liege und in einem Buch schmökere. Ich liebe Bücher und ich lese für mein Leben gerne. Das habe ich eigentlich schon immer getan, auch zu Hause in unserem alten Dorf. Und ab und zu schalte ich auch den Fernseher ein und schau mir einen Krimi an.
Langfristig vornehmen tu ich mir nichts mehr, wenn es nicht unbedingt notwendig ist, wie etwa Arztbesuche und unlängst die Ballettaufführung, die übrigens ganz nett war. Ansonsten lebe ich einfach in den Tag hinein und nimm das Leben, wie es kommt.
Und jetzt kommt Frau Melissa daher und meint plötzlich, dass ich nach meinem Freund suchen soll. Wie gesagt, sie und Frau Gerda kennen meine Geschichte und da sie mich auch nach Beziehungen gefragt haben, habe ich ihnen eben von meiner ersten sexuellen Beziehung erzählt und dass ich nicht weiß, ob mein Freund überlebt hat oder nicht. Das würde sich sicher feststellen lassen, da man übers Internet sehr viel ausforschen kann. Ich habe zwar einen Fernseher, aber keinen Computer und auch kein Handy oder Smartphone, wie das neu moderne Zeugs heißt. „Macht nichts“, meinte Frau Melissa „dann schauen wir eben bei mir ins Internet, denn ich habe einen Computer.“ Das war mir gar nicht recht, denn ich will nicht wissen, ob es ihn noch gibt oder nicht. Meinem Gefühl nach wäre eh nichts dabei raus gekommen, da er ohnehin ins Ausland zum Studieren gegangen wäre. Aus den Augen aus dem Sinn. Und er war auch nicht derjenige, mit dem ich mein ganzes restliches Leben verbringen hätte wollen.
„Vielleicht ist sogar Herr Schuster ihr ehemaliger Freund“ kam Frau Melissa plötzlich mit dieser absurden Idee und musste selbst lachen, während sie weitersprach: „Immerhin weiß niemand was über ihn, außer seinen Namen, der falsch sein könnte und dass er bei der Bestattung arbeitet. Er spricht mit niemandem und wenn man ihn mal anredet, murmelt er nur was Unverständliches und geht seiner Wege. Hat er Freunde? Nein. Ich habe ihn immer nur alleine gesehen.“ Ich verriet Frau Melissa dann, dass ich einmal beobachtet habe, wie Herr Schuster sie einmal beim Pirouetten drehen beobachtet hat und ich das Gefühl hatte, es würde ihm gefallen. „Du meine Güte! Niemals möchte ich dem gefallen“ ,stieß Frau Melissa hervor. „Warum denn nicht?“ fragte ich und sprach weiter: „Wenn man sich seine dunklen Anzüge wegdenkt und ihn in Jeans und Sweater steckt, dürfte er gar keine schlechte Figur machen. Immerhin hat er keine schlechte Figur.“ „Diese lange Bohnenstange?!“ kreischte Frau Melissa, wodurch ihr italienisches Temperament wieder mal durchkam. „Außerdem wäre er mir zu alt. Zumindest sieht er nicht jung aus.“
Wenigstens ließ sich Frau Melissa dann endlich ausreden, dass wir im Internet nach meinem ehemaligen Freund suchen und wir konnten gemütlich weiter Kaffee und Kuchen bei ihr genießen. Übrigens ist Frau Melissa eine hervorragende Mehlspeisebäckerin und hat des öfteren „unser“ Café mit ihren köstlichen Kreationen versorgt, was auch einer ihrer Nebenverdienste ist.

Die ersten Herbsttage machen mich immer melancholisch. Obwohl der Herbst eigentlich die schönste Jahreszeit ist, da er so richtig zu Spaziergänge einlädt und die Blätter der Bäume wunderbar bunt färbt, ist er doch der Vorbote des Winters, der in unseren Breiten ganz schön frostig werden kann.
Gegenüber, wo das junge Paar wohnte, das mich in seinem neuen Haus als Haushälterin haben wollte, ist jemand eingezogen. Es dürfte sich um zwei Studenten handeln. „Die sind schwul“, flüsterte mir, ganz unaufgefordert, Herr Schuster zu, was sonst nicht seine Art ist. Damit meine ich erstens, unaufgefordert zu reden und zweitens, derartige Verleumdungen zu äußern. „Wirklich“, meinte er hinter vorgehaltener Hand und zwinkerte mir sogar mit dem linken Auge zu, „ich habe sie schmusen sehen.“ Und ich dachte, es sind Studenten, die sich eine Wohnung teilen, wie das unter Studenten oft üblich ist. Dazu muss ich erwähnen, dass es in unserer Kleinstadt tatsächlich eine Universität gibt, nämlich eine Kunstuniversität, in der Frau Melissa Ballett und modernen Tanz unterrichtet. Es handelt sich aber nicht nur um Musik und Tanz, da auch bildnerische Kunst, wie etwa Malerei und Bildhauerei unterrichtet wird.
„Haben sie was gegen Schwule?“ fragte mich Herr Schuster, weil ich das mit den Studenten erwähnt hatte. „Natürlich nicht! Ich habe nichts gegen andere Religionen, Hautfarben und derartiges, solange es nicht in Gewalt und Zwang ausartet“, gab ich vielleicht etwas zu forsch zurück, da Herr Schuster ein wenig Abstand von mir nahm. „Vorbildliche Einstellung! Das muss man Ihnen lassen“, lobte er mich und ging mit langen Schritten aus dem Haus.
Die beiden sind Studenten. Und in den letzten Tagen, als ich einmal vom Spaziergehen nach Hause kam und so nebenbei einige Pilze gesammelt hatte, sah ich sie Hand in Hand mir entgegenkommen. Wir trafen gemeinsam vor der Haustür zusammen. „Wir wollten uns schon bei Ihnen vorstellen, aber bis jetzt waren wir mit all den Anmeldungen und dem Einrichten beschäftigt“, meinte einer der beiden. Ich musste lachen und sagte, niemand müsse sich bei mir vorstellen, da ich ja nicht die Hauswartin dieses Hauses bin. Es macht alles die Hausverwaltung, weshalb sich niemand um das Putzen des Stiegenhauses und die Gartenarbeiten kümmern muss. Ich sagte das, weil Frau Gerda, als sie einzog, glaubte, ich sei so was die Hausbesorgerin, die sich um alles kümmert. Es liegt an der Wohnung, da die meisten Hausbesorger im Parterre links die erste Wohnung haben. Die beiden jungen Männer sahen mich etwas perplex an und ich sagte schnell, dass ich natürlich erfreut wäre, wenn sie auf einen Besuch zu mir kommen. Kaffee wäre immer da und vielleicht auch etwas Mehlspeise von Frau Melissa von gegenüber, die sie als Kunststudenten vielleicht kennen, da sie Ballett- und Tanzlehrerin ist. „Die kleine Italienerin“, meinte der andere, der schmächtigere der beiden, „sie ist sogar eine unserer Trainerinnen.“
Na, Zufälle gibt es! Da wird mir Frau Melissa bald einiges zu erzählen haben und vor allem, wie sie zu dem Thema Homosexualität steht. Männer, die Ballett tanzen, so sagt man, haben ohnehin einen eher weiblichen Touch. Mir soll es recht sein. Ich mag sowieso eine bunte Welt viel lieber als eine eintönige, in der alle gleich sind. Aber über den Herr Schuster, der sonst immer so schweigsam, ja fast mürrisch ist, wundere ich mich noch immer. Er hat meine Herbstmelancholie fast vertrieben.

Jetzt hat es mir glatt von Herrn Schuster geträumt! Noch dazu so realistisch! Wir sind uns im Stiegenhaus, direkt vor dem Ausgang, als ich eben raus wollte, begegnet. Herr Schuster war so schnell bei mir wie ein Blitz und öffnete mir die Tür wie ein alter Kavalier. „Küss die Hand, schöne Dame“, sagte er, reichte mir seinen Ellenbogen, wo ich mich ohne Weiteres unterhakte und so gingen wir die Straße entlang in ein schickes Restaurant, das in unserer Stadt aber nicht gibt. Die Straße entlang gibt es ein italienisches Restaurant und McDonalds. Also gingen wir in das Restaurant, das so bezaubernd eingerichtet war, dass ich nur staunte. Und wirklich – es war alles so echt im Traum, als würde es tatsächlich passieren. Glitzernde Kristalllüster hingen von der Decke, schwere, in Gold- und Rot gehaltene Vorhänge an den Wänden, die kunstvoll über den Fenstern drapiert waren. Auf dem Boden lagen wertvolle Teppiche aus dem Orient. Eigentlich wirkte alles ein wenig orientalisch, wie auch die Tische und die Sessel, tapeziert wie die Vorhänge in Gold und Rot und aus dunklem, fast schwarzem Holz. Das Gedeck wirkte wie aus einer alten Zeit und wirkte so prunkvoll wie alles in diesem Raum. Und als ich auf meinen Begleiter blickte, der mir galant den Stuhl zurecht rückte, mich niedersetzen ließ und dann mir gegenüber Platz nahm, war ich noch mehr erstaunt. Es war Micha, der junge Mann, der mir vor langer, langer Zeit fast das Herz gebrochen hätte, als dieser unnötige, grausame Krieg ausbrach. Micha in einem eleganten Smoking, weißem Spitzenhemd und Fliege am Hals. Sein langes, tiefschwarzes Haar war zu einem Zopf gebunden und er lächelte mich strahlend an. „Endlich haben wir uns wieder gefunden“, sagte er mit der Stimme, die ich sofort wieder erkannte. Ja, das war mein Micha, mit dem ich vielleicht mein ganzes Leben hätte verbringen können. Aber war er auch bereit dazu? „Ich wäre nicht ins Ausland gegangen, wenn du mich darum gebeten hättest“, antwortete er, als hätte er meine Gedanken gelesen. Aber ich bat ihn nie darum. Das hätte ich nie gewagt. Wie denn auch? Ich kann nicht für andere entscheiden, was sie aus ihrem Leben machen. Und aus egoistischen Gründen schon gar nicht. Dann hörte ich noch, wie er „du gute, alte Seele“ sagte und wachte schweißgebadet auf. Ich konnte nicht mehr schlafen, also holte ich mir meinen Block und schrieb den Traum schnell auf, um ja nichts zu vergessen.
Noch während ich schrieb, kam es mir gar nicht mehr wie ein Traum vor, sondern eher wie eine Botschaft. Vielleicht sogar wie eine Botschaft aus dem Jenseits. Micha lebt nicht mehr. Dessen bin ich mir jetzt bewusst. Warum, kann ich gar nicht sagen. Aber dieser Traum, der so wirklich wirkte, war das Zeichen dafür. Und schon fasste ich mir (während ich diese Worte schreibe!) an den Kopf und dachte, ich wäre verrückt und würde zu viele Gespräche mit Frau Gerda führen, die ja auch an solchen Hokuspokus glaubt. Sagte sie doch, dass Träume sehr oft in andere Dimensionen führen und wohl auch ins Jenseits, wo es uns Lebenden gestattet ist, einen kurzen Blick hinein zu werfen.
Na, wenn das das Jenseits ist, dieses Restaurant und wenn dann auch noch hervorragendes Essen serviert wird, würde man sich den Tod doch glatt herbei wünschen.