Es dürfte der letzte schöne Herbsttag gewesen sein. So um die Mittagszeit wurden wir Hausbewohner von unserem neuen Paar in der Gartenanlage zum Grillen eingeladen. Die beiden steuerten alles bei. Würstchen, Steaks, Kartoffeln und Gemüse und natürlich jede Menge Getränke. Zum Einstand, wie beide sagten. Und wir durften die beiden beim Vornamen nennen. Jakob, der schmächtigere und Emil, der größere, aber auch sehr schlanke.
Es war tatsächlich so warm, dass ich ein T-Shirt mit kurzen Ärmeln trug, obwohl es schon Ende Oktober war. Das liegt an der Erderwärmung, an der wir Menschen schuld haben, meinte Herr Schuster und alle stimmten ihm zu. Wir betonieren alles zu, bauen und bauen, Straßen, Häuser, roden dabei Wälder und Wiesen ab und wundern uns, wenn Naturkatastrophen, wie etwa letzte Woche im Süden des Landes, Hochwasser, über uns kommen. Herr Schuster mag die Menschen nicht so sehr, was ich bereits erwähnt habe, und in diesem Fall kann ich ihn sogar verstehen.
Ich denke wiederum, es ist nun mal der Zahn der Zeit und im Moment sitzt er sehr locker und ist nahe dran am ausfallen. Können wir wirklich etwas tun? „Die wahre Veränderung findet immer nur innen statt“, meinte Frau Gerda, „denn wenn uns etwas an der Welt, vorwiegend an anderen Menschen stört, sollten wir bei uns selbst anfangen, uns fragen, was uns stört und ob der Störfaktor nicht doch in uns selbst liegt.“ Eine schöne Sichtweise, finde ich und vielleicht lässt sich auf diese Art nicht nur ständiges Kritisieren, sondern auch eine Lösung im Außen finden. Vorschläge, etwas anders zu machen, gibt es ja kaum, aber Gejammere zuhauf.
Peinlich berührt war ich, als ich kurz in meine Wohnung musste (das übliche menschliche Austreten) und zurück kam, als auch Herr Schuster im selben Moment den Ausgang zum Garten benutzen wollte und wie ein Kavalier zur Seite trat und „bitte sehr, nach Ihnen, schöne Dame“ sagte, was mich sehr an meinen Traum erinnerte, Herr Schuster sich aber im piekfeinen Restaurant in meinen Micha verwandelte. Ich glaube, ich wurde sogar rot, als ich voraus in den Garten ging.
Etwas später kam dann auch noch Frau Melissa, der ich verraten hatte, dass uns die beiden Studenten eingeladen haben und brachte köstliche, natürlich selbst gebackene Mehlspeise mit, die von uns allen gelobt und genossen wurde.
Es war ein gelungenes Gartenfest, mit interessanten Gesprächen, die alle sehr besonnen geführt wurden, auch wenn manch Thema dabei war, wo sich Herr Schuster wieder mal etwas derb über die „idiotische“ Menschheit ausließ und sofort Einstein zitierte, der als Genie recht haben musste, wenn er sagte, dass er sich gewiss sei, dass die menschliche Dummheit unendlich ist, während er sich beim Universum nicht so sicher sei.
Es war auch das erste gemeinsame Zusammensein von uns Hausbewohnern, was uns erst in den letzten Minuten auffiel, wo ich mir dann doch eine Weste anziehen musste, da der Herbstwind etwas kühl wehte.
Ich war noch ein wenig aufgewühlt, als ich abends auf der Couch mehr lag als saß und mir so halb einen Krimi im TV anschaute, da meine Gedanken noch immer bei dem Gartenfest waren. Ja, es war schön und wir sagten uns, dass wir das im nächsten Jahr, sobald es warm genug ist, wiederholen werden.

Es blitzt und donnert und gießt in Strömen und Herr Schuster (ich darf ihn seit dem Gartenfest „Toni“ nennen) und ich laufen einer Landstraße entlang, die ich nicht kenne. Man kann von der Gegend vor lauter heftigem Regen kaum etwas erkennen. Nur so viel, dass weit und breit keine Häuser zu sehen sind. Weiter vorne dürfte ein Wald sein, in dem wir Schutz suchen wollen, wie Toni mir versicherte. Plötzlich sind wir in dem Wald und stehen klitschnass vor einer Hütte. Die Tür ist mit einem Vorhängeschloss verriegelt, aber Toni schlägt es gekonnt mit einem Stein ab. In der Hütte ist es angenehm warm, als würde eben eingeheizt worden sein. Die zwei Fenster links und rechts von der Tür sind mit Balken versehen. Toni öffnet ein Fenster, damit etwas Licht in den einzigen Raum der Hütte fließt. Die einzige Einrichtung ist ein großes Himmelbett, ganz in Rosarot gehalten. „So was von kitschig“, wollte ich sagen, aber in diesem Moment umarmt und küsst mich Toni, dass mir der Atem wegbleibt. Wir fallen in das Himmelbett und entkleiden uns gegenseitig, wobei ich die Augen schließe. Als ich sie schließlich zaghaft öffne, liege ich nicht mehr mit Herrn Schuster, den ich Toni nennen darf, im Bett, sondern mit meinem Micha.
Ich glaube, von diesem Traum bin ich schreiend aufgewacht und dankbar für die doch dickeren Mauern unseres Wohnhauses.
Frau Gerda und Frau Melissa, die ich nach all den Jahren Gerda und Melissa nennen darf und wir endlich „per du“ sind, so wie mit allen hier im Haus (Toni, Jakob und Emil), saßen gestern zusammen bei mir im Wohnzimmer bei Kaffee und köstlicher Mehlspeise von Melissa und ich konnte nicht umhin, ihnen auch von diesem Traum zu erzählen, der wieder einmal so real erschien, als hätte ich alles wirklich erlebt.
„Du musst ihn suchen, diesen Micha“, riet Melissa mir. „Ja, das ist vielleicht ein Zeichen, dass er gesucht werden will“, pflichtete Gerda bei. „Und womöglich sucht er dich auch“, meinte Melissa. „Und was, wenn ich mich in Toni verliebt habe?“ platzte ich plötzlich heraus und erschrak selbst darüber, als hätte ein ganz anderer Mensch als ich das gesagt. Gerda und Melissa sahen mich auch höchst überrascht an. „Ich... ich wollte das eigentlich nicht sagen“, stammelte ich, „es war nur so eine Idee, weil es schon der zweite ähnliche Traum ist. Nur diesmal war er im wahrsten Sinne des Wortes stürmischer.“ „Als würde es eilen“, äußerte sich Gerda und sah mich vielsagend an.
„Geh doch mal mit ihm aus“, riet mir Melissa, „Heutzutage ist es keineswegs schlimm, wenn Frauen mal die Initiative ergreifen.“ „Bist du verrückt“ stieß ich hervor, „so was würde ich nie wagen!“ „Mir ist beim Gartenfest etwas aufgefallen“, begann Gerda; „Jedes mal wenn du Toni angesehen hast, wurdest du leicht rot im Gesicht und auch etwas nervös. Ich habe es an deinen Händen bemerkt, wie du mit den Fingernägeln gespielt hast. Und du hast es, so oft es möglich war, vermieden, ihn anzusehen.“ „Na ja“, meinte Melissa, „so unsauber ist er eh nicht und altersmäßig dürftet ihr auch zusammen passen.“ „Wie alt ist er denn, falls du das weißt?“ fragte ich und beide lachten. „Sieh an, unsere alte Romana ist ja doch verliebt“, sagte Gerda noch immer lachend. „Beim Gartenfest ließ er, wenn ich mich nicht irre, verlauten, er würde nächstes Jahr in Pension gehen“ erzählte Melissa schmunzelnd, „so gesehen müsste er bereits über 60 sein.“ „Ich hätte ihn viel jünger geschätzt, so zwischen 40 und 50 oder so“, meinte ich und spürte, dass ich gerne über Herrn Schuster, den ich jetzt Toni nennen darf, rede und auch gerne an ihn denke.

Letztens beim Einkaufen hörte ich zwei Damen im gegenüberliegenden Regal über Herrn Schuster reden. Ja, über Herrn Schuster, denn so sprachen sie über ihn, auch wenn ich ihn „Toni“ nennen darf. Die beiden Damen waren mir bekannt. Ich traf sie öfters beim Einkaufen im Supermarkt. So wie diesmal, als sie über Herrn Schuster sprachen und ich durch das Regal guckte und die beiden auch sah. Sie sagten, niemand könne so schöne Grabreden schreiben und sie am Grab aufsagen. Herr Schuster habe eine so schöne, beruhigende Stimme. „Dabei hatte er es gar nicht leicht im Leben“, kam es von der anderen Dame, die dann weiter sprach, dass Herr Schuster geschieden ist, weil seine Frau ihn betrogen hat. Er ging aus dem Haus, nicht sie. Und das war so was gutmütig und kaum zu glauben. Das wunderschöne Haus bei der Ausfahrt zum Baumarkt, dieses alte, schöne, mit dem großen Dach, wie man sie heute leider nicht mehr baut. Herr Schuster und seine Frau ließen das alte Haus renovieren, bevor die Tochter geboren wurde. „Er hat eine Tochter?!“ sprudelte es laut aus mir hervor und die beiden Damen blickten erschrocken zu mir herüber. „Ah, Frau Petrovic! Ach, wohnt Herr Schuster nicht in eurem Wohnhaus in der Erlenstraße?“ fragte die eine und ich bejahte. „Und das schon ziemlich lange. Also müsste die Scheidung auch schon lange her sein“, meinte ich und die andere Dame sagte: „Das war nicht lange nach der Geburt der Tochter, die nicht von ihm, sondern von ihren jetzigen Mann ist. Und stellen sie sich vor, als Herr Schuster erfuhr, dass seine Frau ihn betrogen hat, packte er seine Sachen, zog aus und überließ das ehemals gemeinsame Haus gänzlich ihr.“ „Manche sagten, er habe eine Schraube locker, dass er das getan hat“, meinte die eine, „und andere wieder sagen, dass er als wahrer Gentleman gehandelt hat, denn die Frau hat immerhin ein Baby, das ein Dach über dem Kopf braucht. Und nun leben sie, die Tochter, und der Nebenbuhler in dem einst gemeinsamen Haus, in das Herr Schuster durch die Renovierung nicht wenig Geld gesteckt hat und absolut nichts verlangt hat.“ „Woher wissen Sie das so genau?“ fragte ich. „Sie ist die Cousine des Nebenbuhlers“, antwortete die eine und deutete auf die andere Dame, die beschämt ihren Blick senkte, aber schnell wieder aufblickte und „man kann halt nichts machen – wo Amors Pfeils trifft, da trifft er halt“ sagte.
„Aber wenn ich begraben werde, möchte ich, dass Herr Schuster die Grabrede schreibt und sie an meinem Grab aufsagt“, sinnierte die eine und sah mich an. „Sie müssen wissen, Frau Petrovic, vorige Woche“, sprach sie weiter, „wurde eine Bekannte von mir begraben und ich war beim Begräbnis. Da hörte ich diese schöne Rede und diese wohlklingende Stimme, also erkundigte ich mich über diesen Herrn. Und schließlich erfuhr ich, dass er schon sehr lange bei der Bestattung arbeitet und vielleicht auch schon bald in Pension geht. Also suchte ich ihn im Institut auf und bat ihn, auch wenn er schon in Pension sein wird, dass er an meinem Grab eine Rede halten wird. Und das wird er. Stellen sie sich nur vor, Frau Petrovic, das wird er!“
Ich nickte nur und ging dann weiter, denn das kam mir etwas bedenklich vor und ich fragte mich, ob die eine Dame nicht doch eine Schraube locker hat, denn die andere ging, während die eine zu mir sprach, einen Schritt zurück und machte genau diese Geste um den Kopf, die andeutet, dass da etwas locker zu sein scheint. Aber egal, auf jeden Fall war ich wieder einmal sehr beeindruckt von Herrn Schuster – von Toni, den ich nun wohl auch als wahren Gentleman betrachte und ebenso verstehen kann, warum er nicht mehr allzu viel von den Menschen hielt.

Es wird kälter. Der Nebel am Morgen kündigt einen frühen November an. Für mich war und ist der November der Nebelmonat. Wir haben aber erst Oktober, Anfang Oktober. Die Zeit, wo die meisten Pilze wachsen, vor allem die großen Schirme, die man Parasol nennt. Sehr schmackhafte Pilze, die mir mitunter lieber sind als Steinpilze. Letztens habe ich so viele Parasole gefunden, dass ich den beiden Jungs Jakob und Emil welche abgab, da ich weiß, dass Jakob gerne kocht. Die beiden haben sich sehr gefreut und mich jetzt schon gefragt, was ich zu Weihnachten mache und ob ich nicht zu ihnen rüber kommen möchte, da sie ein spezielles Weihnachtsmenü kochen. Übrigens, und das muss ich erwähnen, sammle ich eigentlich nie zu viele Pilze. Da kommen doch manchmal Leute und stopfen ihre Autos mit Pilzen voll, die sie dann weiter verkaufen, was ohnehin und zu Recht verboten ist. Ich sammle immer nur so viele, wie ich sie für mich brauche. Aber ich dachte schon im Voraus, den Jungs welche abzugeben.
Für mich ist der Weihnachtsabend ein Tag wie jeder andere und das schon sehr lange, eigentlich, seit ich in dieses Land geflüchtet bin. Früher, mit meiner Familie, war es anders. Da freuten wir uns alle schon Tage zuvor auf dieses Fest, das uns immer heilig war. Und es gab erst nach dem Kirchgang die Geschenke, die nicht so kostspielig waren, wie es heute bei vielen der Fall ist. Wenn man bedenkt, was sich die Superreichen alles schenken. Ein kleiner Ferrari ist noch das Mindeste. Bei uns waren die Geschenke immer bescheiden und oft auch zweckmäßig. Immerhin feierten wir Jesu Geburt und nicht unsere Geburtstage. Wir waren sicher keine arme Familie, dass wir am Hungertuch nagen mussten, aber reich waren wir auch nicht. Eben eine Durchschnittsfamilie mit einem guten Einkommen des Vaters und einem sicheren Dach über dem Kopf. Einen kleinen Garten hatten wir auch um das Haus herum, wo wir zur Eigenverpflegung Gemüse und Obst anbauten. In unseren Breiten war der Winter nie allzu streng und so ernteten wir auch längere Zeit als hierzulande. Natürlich hätten wir das Gemüse und Obst nicht anbauen müssen und es beim Händler können, der ein gut gehendes Geschäft mitten im Dorf hatte, in dem es alles gab, was man so zum Leben brauchte. Manchmal gab es auch Kleidung, vor allem Kleiderschürzen, die meine Mutter gerne trug, die ja zu Hause war und für uns Kinder sorgte. Vater verdiente genug für uns alle. Er war im Gemeindeamt tätig, wo er unter anderem für die Stromrechnungen zuständig war.
Übrigens hatten mich des öfteren auch Gerda und ebenso Melissa zum Weihnachtsfest eingeladen, aber ich habe immer abgesagt. So auch den beiden Jungs, die dann irgendwie enttäuscht waren. Ich hoffe nur, sie sind nicht beleidigt.
Ich bin ja gerne alleine und möchte es auch bleiben. Nicht, dass jemand glaubt, der vielleicht mal diese Aufzeichnungen liest, ich hätte es wirklich auf Herrn Schuster, auf Toni, abgesehen. Die Zeit, als ich auf die große und wahre Liebe wartete, ist längst vorbei. Und glücklicherweise geben Gerda und Melissa endlich auch Ruhe wegen der Suche nach Micha oder wegen einem „Date“ mit Toni.
Die Träume von Toni, der sich in Mich verwandelte haben aufgehört. Statt dessen sind es eher gewöhnliche Träume, an die ich mich kaum erinnere und wenn, ergeben sie keinen Sinn.
Ergibt das Leben einen Sinn? Diese Frage stelle ich mir auch oft. Da wird man in eine herzensgute Familie hinein geboren, dann bricht ein Krieg aus, der die Familie auslöscht, man flieht in ein anderes Land, in dem man fremd ist und sich erst einleben muss, bevor man richtig akzeptiert wird und schließlich ist man alt und wartet nur mehr auf den Tod. Ergibt das einen Sinn? Wahrscheinlich sollte man sich gar nicht danach fragen, weil wir ja nur ein winziger Zahn in diesem unendlich großen Getriebe sind, die den Sinn dieser Maschine nicht mal ansatzweise verstehen könnten. Und wer weiß, vielleicht gibt es überhaupt keinen Sinn. Eine Blume, so blöd das jetzt klingt, fragt ja auch nicht nach den Sinn ihres Blühens. Sie blüht einfach. Ja, es klingt blöd, weil ich die Blume vermenschliche und eine Blume ist nun mal eine Blume und kein Mensch. Wer will schon wirklich wissen, was in einer Blume oder einem anderen Lebewesen vorgeht, auch wenn sich Wissenschaftler brüsten, es zu wissen. So nimmt eine Katze die Umwelt wahr und so ein Hund und so ein Vogel und ein Bussard sieht eine Maus aus vielen Metern Entfernung. So sagen sie und glauben, Recht zu haben. Ich bin mir da nicht so sicher und könnte mir vorstellen, dass uns Menschen die anderen Lebewesen der Erde um einiges voraus sind, weil sie ja schon viel früher da waren. Zumindest die meisten Spezies.
Jetzt habe ich mich wieder hinreißen lassen und bin ein wenig philosophisch geworden. Ich sei eine kleine Philosophin hat auch Emil auf der Gartenparty gesagt, als wir einige interessante Gespräche geführt haben, darunter auch diese, ob das Leben einen Sinn hat und wie andere Lebewesen wahrnehmen und ob man das wirklich wissen kann. Ich kann ja nicht einmal wissen, wie meine Nachbarn wahrnehmen. Sagte nicht schon der Philosoph Schopenhauer, dass bei gleicher Umgebung doch jeder Einzelne in einer anderen Welt lebt?

Jetzt, wo es kälter wird, werden die Spaziergänge etwas kürzer. Wenn es stark regnet, was in den letzten zwei Tagen der Fall war, gehe ich gar nicht raus, außer ich muss zum Supermarkt. Da ich aber nicht viel brauche und meistens für drei bis vier Tage einkaufe, konnte ich zu Hause bleiben, die Füße hochlegen und ein interessantes Buch lesen.
Ich weiß gar nicht mehr, wie ich zu diesem Buch gekommen bin. Es gibt im Supermarkt oft Angebote zu einem Spottpreis und auch wenn es Mangelware ist, bin ich noch nie enttäuscht worden. Es fehlen also keine Seiten und schon gar nicht die wichtigsten – falls es ein Krimi ist – die letzten. Wenn ich etwas Besonderes an Büchern will, gehe ich in den Buchladen, der gleich um die Ecke ist oder in die Bibliothek, wo ich auch einen Ausweis habe. Am besten ist es im Buchladen. Die Verkäuferin dort ist eine ganz nette. Ich darf mich dort in einen bequemen Stuhl setzen und sie bringt mir sogar Kaffee, während ich die Bücher, die sie zur Auswahl bringt, durchgehe. Und immer sind die dabei, die ich mir zu den gewissen Themen vorstelle.
Aber dieses Buch, das ich innerhalb der letzten zwei Tage ausgelesen habe – ich weiß wirklich nicht, ob es ich es vom Supermarkt, aus dem Buchladen oder von der Bibliothek habe. Vom Supermarkt kann es nicht sein, da „Mangelware“ an den Seiten gestempelt sein müsste. Manche Bücher bekomme ich auch von Gerda geliehen, aber die sind alle so – wie soll ich sagen? - ja, zweifelhaft. Man kann das, was in diesen Büchern steht, glauben oder auch nicht glauben. Und manche davon sind wirklich haarsträubend. Einige haben ich schon nach den ersten Seiten weggelegt, weil man gewisse Übungen machen muss, die, wie ich mich kenne, nicht mal ansatzweise ausführen kann. „Legen sie sich auf den Rücken und visualisieren sie, wie ihr Geist den Körper verlässt.“ Also, wenn mein Geist den Körper verlässt, heißt das so viel wie sterben. Tot sein. Könnte ich mir vorstellen, obwohl ich natürlich nicht weiß, wie es ist, tot zu sein. Zumindest kann ich mich nicht erinnern, falls es so etwas wie Wiedergeburt gibt.
Ich wollte doch über dieses Buch schreiben, das ich – obwohl es mehr als 300 Seiten hat – in zwei Tagen ausgelesen habe. Nun, worum geht es in diesem außergewöhnlichen Buch? Eigentlich nicht wirklich um ein bestimmtes Thema, sondern einfach um das Leben einer ganz gewöhnlichen Familie. Ja, es ist gleichzeitig ganz gewöhnlich geschrieben und doch ungewöhnlich. Es nahm mich gefangen, als hätte ich ebenso in dieser Familiengeschichte gelebt, die vom Großvater, als er noch jung war, beginnt und beim Urenkel endet, obwohl es natürlich nicht endet, denn es geht noch weiter, da der Urenkel seine schwangere Freundin heiratet und einer rosigen Zukunft entgegen blickt. Nur das Buch, das Geschriebene, endet, aber das Leben geht immer weiter. Unendlich und gleichzeitig endlich.
Noch dazu ist es wunderbar geschrieben, in einem Stil, der von einem wahrhaft guten Schriftsteller zeugt. Nichts in diesem Buch ist oberflächlich oder nicht wert, gelesen zu werden. Bei manchen Büchern kann man über Seiten hinweg lesen. Dergleichen miesen Stil mag ich ohnehin nicht lesen. Aber ich habe nur selten derartige Bücher erstanden. Aber dieses Buch – da ist jeder Satz, würde man vom Speisen schreiben, eine wahre Gaumenfreude. Ich glaube, wenn ich es erlebe, werde ich es beizeiten noch einmal lesen.
Auch das ist bemerkenswert. Es gibt Bücher, die kann man mehrmals lesen und immer wieder entdeckt man Neues in ihnen. Natürlich handelt es sich nicht um Krimis oder Bücher, wo die letzten Seiten ausschlaggebend sind, die man bereits kennt. Da geht es schon um andere Kaliber, wie etwa Philosophisches oder jene Bücher, die ich schon erwähnt habe, über alte indische Religion, die es bereits lange vor dem Christentum gab. Sehr gerne schmökere ich in diesen Büchern, von denen ich drei habe. Eines davon handelt von Gesprächen mit einem Weisen, der gar nicht Guru oder so was sein will, weil er alle Menschen für erleuchtet hält, nur mit dem Unterschied, dass sie meisten dies nicht wissen, weil sie sich zu sehr mit dem Ego und dem Körper identifizieren. Dieser Weise ist mitunter sehr lustig, sodass ich mehrmals laut über die Dummheit mancher Fragesteller auflachte.
Es gibt auch in diesen Büchern manches, das ich nicht nachvollziehen kann – fast so wie bei den Büchern, die mir Gerda manchmal zu lesen gibt, aber es handelt sich um uralte Schriften und ich denke, gewisse Leute, die sich Esoteriker oder so nennen, haben von diesen uralten Schriften einiges abgekupfert und dabei ziemlich missverstanden.
Aber egal, ich sag immer – jedem das Seine. Auf jeden Fall schwelge ich noch immer in diesen Lebensgeschichten und es hat mir fast das Herz weh getan, als ich die letzte Seite zu Ende gelesen habe. Wünscht sich noch jemand, der ein gutes Buch liest, dass es niemals eine letzte Seite in ihm geben soll? Ich bin mir sicher, den meisten wahren Bücherlesern geht es so.