Wenn ich in den Jahren als Falknerin eines gelernt habe, dann das: Man muss sich unsichtbar machen. Man muss unsichtbar sein, wenn man einen neuen Greifvogel auf der linken Faust hat, unter seinen Füßen ein Stück Nahrung, er selbst im Zustand wilder, defensiver Angst. Greifvögel sind keine geselligen Tiere wie Hunde oder Pferde; sie verstehen weder Zwang noch Bestrafung. Die einzige Möglichkeit, sie abzurichten, besteht in der positiven Verstärkung, das heißt in der Belohnung mit Futter. Der Greifvogel soll die Atzung (das Futter) auf dem Handschuh annehmen – der erste Schritt in einem Prozess, an dessen Ende Mensch und Vogel Jagdpartner sind. Doch der Abgrund zwischen Angst und Nahrung ist riesig, eine beinahe unüberbrückbare Kluft, die man gemeinsam überwinden muss.

...Um über den Abgrund aus Angst zur Nahrung zu gelangen und die beiden jetzt noch furchterstarrten Seelen schließlich in Einklang zu bringen, ist es dringend erforderlich, nicht da zu sein. Du leerst den Geist und wirst vollkommen ruhig. Du denkst an absolut nichts. Der Greifvogel wird zu einer seltsam hohlen Idee, einer Vorstellung, zweidimensional wie ein Bild oder eine schematisch Zeichnung, zugleich so wichtig für dein Schicksal wie ein zorniger Richter für den Angeklagten. Die behandschuhte Faust drückt das Fleisch ein ganz klein wenig zusammen; du spürst eine winzige Gewichtsverlagerung und siehst aus dem Augenwinkel, dass der Vogel auf das Fleisch geblickt hat. Du bleibst unsichtbar und machst das Futter zu dem einzigen Gegenstand, der sich außer dem Vogel noch im Raum befindet. Du selbst bist gar nicht da. Du hoffst darauf, dass er zu fressen beginnt; und wenn es so weit ist, kannst du dich ganz langsam wieder sichtbar machen. Selbst wenn du keinen Muskel bewegst und nur in eine entspannte, normale Gemütsverfassung zurückkehrst, merkt der Vogel das. Eine außergewöhnliche Erfahrung. Es dauert sehr lange, bis du mit einem neuen Greifvogel du selbst sein kannst.

(aus „H wie Habicht“ – von Helen Macdonald)

In den keltischen Mythen liegt die Unterwelt nicht tief im Inneren der Erde verborgen; sie ist vielmehr eine Anderswelt, nur einen Schritt von der unseren entfernt. Die Dinge können in beiden Welten gleichzeitig existieren und von der einen in die andere wechseln. Zu Beginn des Gedichts „Sir Orfeo“ schläft Heurodis in einen Garten unter einem Baum, einem veredelten Obstbaum, ein und träumt, dass sie am nächsten Tag vom Feenkönig entführt werden soll. Voller Furcht berichtet sie ihrem Mann, dem König, davon. Daraufhin versammelt Orfeo tausend Ritter um seine Frau, die sie jedoch auch nicht vor der Bedrohung aus der Anderswelt beschützen können: Vor den Augen aller verschwindet Heurodis.
Gramerfüllt legt Orfeo seine Krone nieder und flieht in die Wildnis. Zehn Jahre lebt er dort ein einsames, wildes Leben. Er gräbt Wurzeln aus, isst Blätter und Beeren und spielt auf seiner Harfe, mit der er die wilden Tiere um sich herum bezaubert. Sein Bart wird lang und ist verfilzt. Und obwohl er hin und wieder die prachtvollen Jagdgesellschaften des Feenkönigs im Wald beobachten kann, kann er ihm doch nicht in dessen Reich folgen. Eines Tages begegnen ihm sechzig Damen mit Falken auf der Faust, die zu Pferd nach Kormoranen, Stockenten und Reihern jagen. Als Orfeo dabei zusieht, wie die Falken die Beute schlagen, verändert sich plötzlich die Welt. Er lacht und erinnert sich voller Freude an die eigene Begeisterung für die Beizjagd. Er geht auf die Damen zu und erblickt unter ihnen seine Frau. Er ist in die Anderswelt gelangt und folgt den Damen nun zum Schloss des Feenkönigs, wo viele Menschen leben, die man fälschlicherweise tot glaubte. Er spielt dem Feenkönig auf seiner Harfe vor und überredet ihn, seine Frau gehen zu lassen. Erst durch den Flug der Falken und den Tod, den sie brachten, konnte Orfeo in die Anderswelt wechseln und seine verlorene geglaubte Frau finden. Die Vorstellung, dass Greifvögel fähig sind, Grenzen zu überschreiten, die Menschen nicht überschreiten können, geht auf eine Zeit weit vor den keltischen Mythen, weit vor dem Orpheus-Mythos zurück; in den alten schamanischen Traditionen in ganz Eurasien gelten Falken und andere Greifvögel als Mittler zwischen den Welten.

(aus „H wie Habicht“ – von Helen Macdonald)

In dieser Stadt herrschte überall Kummer, doch er war nicht etwa auf die Gräuel des Kriegs (2. Weltkrieg) zurückzuführen, nein, dieser Kummer rührte vielmehr daher, dass man Engländer war, Europäer, Weißer, und in jener Zivilisation der Schlecht-Geliebten, jener unwirklichen Realität lebte, in der es so sehr an Zärtlichkeit und Sanftheit mangelte. Das war unerträglich! Man hatte zwar eine Untergrundbahn gebaut, damit die arbeitende Bevölkerung sich schneller unter der Erde fortbewegen konnte, und auch Telefonkabel verlegt. Man glaubte an die Geschwindigkeit! Doch die Modernität erschöpfte sich in diesen vordergründigen Dringlichkeiten, die im Grunde genommen so lächerlich waren. Bei diesem Fest zu Ehren des Fortschritts hatte die Liebe keinen Platz...

...Für die Liebe war später noch Zeit! Immer wieder wurde sie auf später verschoben! Männer und Frauen – das war reine Privatsache! Sollen sich die Reichen doch unauffällig lieben, sollen sie sich doch, wenn wie genügend Geld und Zeit haben, in feinsinnigen Gefühlen ergehen! Die Armen? Weiterarbeiten!

...Statt sich zu küssen, strebten die meisten Londoner Rechtshänder schlafwandlerisch geradewegs auf ihr Ziel zu und führten ein von Leere erfülltes Dasein. Die Folge war schließlich, dass viele von ihnen nicht mehr sie selbst waren, als seien ihre Körper sich fremd geworden, als führten sie ein beliebig austauschbares Leben. Wenn man so lebte, konnte man nicht erfahren, was Verlangen bedeutet, man kannte nur ständige Hetze und verspürte eine dumpfe Traurigkeit im Herzen.

...Jeremy stellte voller Entsetzen fest, dass im Land der Rechtshänder die Arbeit alles und die Liebe ein feuchter Dreck war. Die anderen Leidenschaften hingegen - Raffgier, Herrschaft und Untergattungen – schienen eine wahre Inflation zu erleben...

...Jetzt wusste er, dass eine Rückkehr nach Europa für sie unmöglich war. Nie wieder würden sie sich an die Absurditäten des Londoner Lebens gewöhnen können, an diese von künstlichen Bedürfnissen verdorbene Bevölkerung. Jeremy war jetzt ein echter Linkshänder, der wie auf der anderen Seiten eines unsichtbaren Spiegels lebte, ja, er hatte gar die Geschicklichkeit der rechten Hand verloren.

(aus „Die Insel der Linkshänder“ von Alexandre Jardin)

„...Niemand käme je auf den Gedanken, wenn es um die Sippe geht, einen Mann um seine Meinung zu fragen. So ist es doch, oder? War es schon immer so?“
„Ja, Birkin, es war schon immer so. Den Frauen gab Udonn die Kinder und die Verantwortung, die Höhlen und die Feuer. Es ist nun einmal so, dass Männer kein Leben hervorbringen können. Dennoch gehören sie zum großen Ganzen der Großen Mutter, sie sorgt für sie und gibt ihnen alles, was sie benötigen. Dafür dienen sie ihr und den Frauen, in denen Udonns Kraft ist. Die jagen und bringen Fleisch. Sie machen die schweren Arbeiten, fällen beispielsweise Bäume oder schleppen Steinplatten für den Höhlenboden herbei. Die große Frau hat in ihrer Wahrheit dafür gesorgt, dass die Männer gerne jagen und gern Dinge machen. Du weißt ja, wie begeistert sie über ihre Werkzeuge reden!“
Birkin lächelte. Männergespräche waren für Frauen stets eine Quelle der Erheiterung.
„Männer haben viele gute Eigenschaften“, fuhr Marra fort, „sie sind für das Flechtwerk der Sippe nötig und verdienen Achtung. Doch eines fehlt ihnen völlig: Der Blick für das Ganze. Sie sind sehr nützlich, wenn es um einzelne Dinge geht. Sie denken an die Jagd des nächsten Tages und an einen guten Speer, sie haben sogar ihre Schamanen und Geheimnisse, aber sie sind nicht in der Lage, wie die Frauen, die Gesamtheit und das Zusammenwirken aller Dinge zu erfassen. Das können sie einfach nicht. Und deshalb darf das Wohlergehen der Menschen und der Sippen niemals in ihre Hände gelegt werden. Niemals! Das brächte große Gefahr für alle, ja, für die ganze heilige Erde, die Udonn ist. Die Verantwortung dafür, dass alle Dinge in der rechten Weise geschehen, muss bei den Frauen und besonders bei den erfahrenen Alten Müttern liege. Das hat Udonn so bestimmt, weil es für alle das Beste ist.“

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„Vielleicht stirbst du tatsächlich vor Angst. Oder du stirbst morgen, falls die Erde sich wieder bewegt. Vielleicht stirbst du aber auch erst, wenn du selbst eine uralte Frau geworden bist. Niemand weiß das. Aber ich sage dir eines: Sterben wirst du auf jeden Fall, du und jedes andere Mitglied dieser Sippe. Was also soll das Geschrei?“
Ravan schluckte und starrte sie verblüfft, dann wütend an...
„Sag doch selbst, Imtu, wie können wir weiterleben...mit all diesem schrecklichen Wissen?“
„Ich weiß, was du meinst. Aber wenn du denkst, dass die Große Frau immer nur gütig ist wie eine sorgende Mutter, dann musst du noch viel lernen. Sie ist unbegreiflich und unergründlich. Wir können sie nur um ihre Freundlichkeit bitten, aber was sie uns wirklich gibt, weiß von einem Tag zum anderen nur sie alleine. Manchmal glauben wir, ein wenig von ihr zu verstehen. Aber es kommen immer wieder Augenblicke, wo uns klar wird, dass wir überhaupt nichts wissen. Das müssen wir aushalten.“

(aus „Die Rabenfrau“ von Regine Leisner)

Mahatma Gandhi wurde einmal gefragt, ob das Prinzip der Aufopferung der eigenen Person verlange, dass man allen Besitz aufgebe. Er antwortete tatsächlich: „Sie müssen nichts davon aufgeben: Sie müssen den Besitzer aufgeben.“

(aus: Die Upanischaden: Eingeleitet und übersetzt von Eknath Easwaran)

„...Aber was heißt das eigentlich: sich verwirklichen?“
„Es ist ein philosophischer Begriff, ich kann es nicht anders ausdrücken. Für uns Schüler des Aristoteles und des heiligen Thomas ist der höchste aller Begriffe: das vollkommene ein. Das vollkommene Sein ist Gott. Alles andere, was ist, ist halb, ist teilweise, ist werdend, ist gemischt, besteht aus Möglichkeiten. Gott aber ist nicht gemischt, er ist eins, er hat keine Möglichkeiten, sondern ist gang und gar Wirklichkeit. Wir aber sind vergänglich, wir sind werdend, wir sind Möglichkeiten, es für uns keine Vollkommenheit, kein völliges Sein. Dort aber, wo wir von der Potenz zur Tat, von der Möglichkeit zur Verwirklichung schreiten, haben wir Teil am wahren Sein, werden dem Vollkommenen und Göttlichen um einen Grad ähnlicher. Das heißt sich verwirklichen...“

...hindere und quälte ihn der Gedanke, dass das Gebetsprechen am Ende eine kindische Bemühung um einen Gott sei, den es gar nicht gebe oder der ihm doch nicht helfen könne. Er (Goldmund) klagte es dem Freunde (Narziß).
„Fahre fort“, sagte Narziß, „du hast es versprochen und musst es halten. Du hast nicht darüber nachzudenken, ob Gott dein Gebet hört oder ob es den Gott, den du dir vorstellen magst, überhaupt gebe. Du hast auch nicht darüber nachzudenken, ob deine Bemühungen kindisch seien. Im Vergleich mit dem, an den unsere Gebete sich wenden, ist all unser Tun kindisch. Du sollst dir diese törichten Kleinkindergedanken während der Übung ganz und gar verbieten. Du sollst dein Paternoster und den Marienlied sprechen und sollst dich ihren Worten hingeben und dich mit ihnen erfüllen, so, wie du etwa beim Singen und Lautespielen auch nicht irgendwelchen klugen Gedanken und Spekulationen nachjagst, sondern einen Ton und einen Fingergriff um den anderen so rein und vollkommen wie möglich ausführst. Während man singt, denkt man nicht darüber nach, ob das Singen etwa nützlich sei oder nicht, sondern singt. Ebenso sollst du beten.“

(aus „Narziß und Goldmund“ von Hermann Hesse)

... ein Stein, ein Blatt, eine nicht gefundne Tür; von einem Stein, einem Blatt, einer Tür. Und von all den vergeßnen Gesichtern.

Nackt Und allein gerieten wir in Verbannung. Im Dunkel ihres Schoßes kannten wir unsrer Mutter Angesicht nicht. Aus dem Gefängnis ihres Fleischs sind wir ins deutungslose Gefängnis dieser Erde geraten.

Wer unter uns hat seinen Bruder gekannt? Wer unter uns hat in seines Vaters Herz gesehn? Wer unter uns ist nicht immer unterm Druck des Kerkers geblieben? Wer unter uns ist nicht immer ein Fremdling und allein?

O Öde aus Verlust: in heißen Wirrsälen verloren; unter hellen Sternen auf dieser müden, lichtlosen Schlacke verloren. Verloren! Uns wortlos erinnernd suchen wir die große vergeßne Sprache, das verlorne End eines Feldwegs in den Himmel, einen Stein, ein Blatt, eine nicht gefundne Tür. Wo? Wann?

O verlornes, vom Wind gekränktes Gespenst, kehre zurück!

Thomas Wolfe "Schau heimwärts, Engel!"

Damals wollte niemand den Geist sehen, dem Phaidros nachjagte, aber jetzt glaube ich, dass immer mehr Leute ihn sehen oder in schlimmen Augenblicken eine Andeutung von ihm wahrnehmen, einen Geist, der sich Rationalität nennt, aber nach außen hin als Zusammenhanglosigkeit und Sinnlosigkeit in Erscheinung tritt, woher es kommt, dass die aller normalsten alltäglichen Handlungen als leicht verrückt erscheinen - wegen ihrer Belanglosigkeit für alles andere. Das ist der Geist der normalen alltäglichen Anschauungen, der erklärt, dass der letzte Zweck des Lebens, der darin besteht, am Leben zu bleiben, zwar unmöglich zu erreichen ist, dass er dennoch der letzte Sinn des Leben sei, weshalb denn große Geister sich bemühen, Krankheiten zu heilen, damit Menschen länger leben, aber nur Verrückte nach dem Warum fragen. Man lebt länger,um länger zu leben. Einen anderen Sinn gibt es nicht. Das ist es, was dieser Geist besagt.

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Es ist korrekt, gewisse Institutionen des Staates und des Establishments als „das System“ zu bezeichnen, da diese Organisationen auf demselben strukturellen begrifflichen Beziehungen beruhen wie ein Motorrad. Sie werden selbst dann noch durch strukturelle Beziehungen aufrecht erhalten, wenn sie jeden anderen Sinn und Zweck verloren haben. Menschen gehen in eine Fabrik und führen von acht bis fünf ohne zu fragen eine völlig sinnlose Arbeit aus, weil die Struktur es so verlangt. Es gibt keinen Schurken, keinen fiesen Typ, der will, dass sie ein sinnloses Leben führen, es liegt nur daran, dass die Struktur, das System es verlangt und keiner bereit ist, sich der ungeheuren Aufgabe zu unterziehen, die Struktur zu verändern, bloß weil sie sinnlos ist.
Reißt man aber eine Fabrik ein oder revoltiert gegen eine Regierung oder unterlässt es, ein Motorrad zu reparieren, nur weil es sich dabei um ein System handelt, heißt das, Wirkungen anstelle von Ursachen anzugreifen; und so lange nur die Wirkungen angegriffen werden, ist keine Veränderung möglich. Das wahre System, das eigentliche System ist der derzeitige Aufbau unseres systematischen Denkens selbst, die Rationalität selbst, und wenn man eine Fabrik nieder reißt, jedoch die Rationalität, die sie hervor gebracht hat, stehen lässt, dann wird die Rationalität einfach eine neue Fabrik hervor bringen. Wenn eine Revolution eine systematische Regierung vernichtet, die systematischen Denkmuster, die diese Regierung hervor brachten, jedoch unangetastet lässt, dann werden sich diese Denkmuster in der nachfolgenden Regierung wiederholen. Es wird so viel über das System geredet. Und so wenig begriffen.

Aus „ZEN und die Kunst ein Motorrad zu warten“ von Robert M. Pirsig

...Ich sagte inneren Seelenfrieden. Er hat keine unmittelbare Beziehung zu äußeren Umständen. Er kann in einen meditierenden Mönch, in einen Soldaten mitten im härtesten Fronteinsatz oder in einen Facharbeiter einziehen, der gerade den letzten tausendstel Millimeter von einem Werkstück abhebt. Er setzt Selbstvergessenheit voraus, die zu einer vollständigen Identifikation mit den gegebenen Umständen führt, und es gibt zahllose Schichten dieser Identifikation und zahllose Ebenen der Ruhe, die genauso tief und genauso schwer zu erlangen sind wie die vertrauteren Schichten der Aktivität. Die Berge der Leistung sind Qualität, die nur in einer Richtung entdeckt wird, und sie sind relativ bedeutungslos und oft unerreichbar, wenn man sie nicht mit den Tiefseegräben der – vom Selbstbewusstsein so sehr verschiedenen – Selbsterkenntnis zusammenbringt, die aus dem inneren Seelenfrieden entsteht.
Dieser innere Seelenfrieden findet sich auf drei Ebenen. Physische Ruhe scheint am leichtesten zu erreichen, obwohl es auch hier zahlreiche Schichten gibt, wie es die indischen Mystiker durch ihre Fähigkeit beweisen, tagelang lebendig begraben zu liegen. Geistige Ruhe, in der man keinerlei ziellos umher schweifenden Gedanken mehr hat, scheint schon schwieriger, ist aber zu erreichen. Aber die Ruhe im Vitalen, das Freisein von Wertungen, wenn man keinerlei Wünschen mehr nachhängt, sondern einfach sein Leben lebt, die scheint am schwierigsten zu erlangen.

Aus „ZEN und die Kunst ein Motorrad zu warten“ von Robert M. Pirsig

„Gott ist in der Wandlung. Gott pulsiert im Wandel...
Die Menschen – die sich ja selbst immerfort wandeln - haben Angst vor allem, was unstet und ewig veränderlich ist, deshalb haben sie sich etwas ausgedacht, was nicht existiert, nämlich das Unwandelbare, und sie haben beschlossen, dass das Ewige und Unwandelbare vollkommen ist. Also haben sie Gott die Unwandelbarkeit zugeschrieben. Und auf diese Weise haben sie die Fähigkeit verloren, ihn zu verstehen."

Olga Tokarczuk „Ur und andere Zeiten“

In Ihrer Fähigkeit, Gefühle zu erleben, unterscheiden sich Lalka und Misia gar nicht.
Die Gefühle eines Tieres sind nur reiner, weil kein Gedanke sie trübt.
Lalka weiß, dass es Gott gibt. Sie sieht ihn unentwegt und nicht nur in seltenen Augenblicken, wie es bei den Menschen der Fall ist. Lalka wittert seinen Geruch im Gras, denn die Zeit trennt sie nicht von Gott. Deshalb hat Lalka ein Vertrauen zur Welt, wie kein Mensch es hat. Ein ähnliches Vertrauen hatte Jesus, als er am Kreuz hing.

Olga Tokarczuk „Ur und andere Zeiten“

Jetzt will ich an dich denken, Geliebte, die ganze Nacht nur an dich. Ich will nur an dich denken, nur so werde ich mich selbst fühlen, dich mitten in mir haben, wie einen Baum, mich allmählich vom Stamm lösen, der mich hält und mich leitet, vorsichtig dich umschweben, mit jedem Blatt die Luft abtastend (grüne Blätter, grüne, ich selbst und du selbst, Saft führender Stamm und grüne Blätter: grüne, grüne), ohne mich von dir zu entfernen, ohne zu erlauben, dass das andere sich zwischen dich und mich drängt, mich von dir trennt, mich eine Sekunde des Wissens beraubt, dass diese Nacht auf den Morgen zugeht und dass dort auf der anderen Seite, wo du lebst und schläfst, wieder Nacht sein wird...

Julio Cortazar "Erzählungen 2"

Der Vollkommene Weg kennt keine Schwierigkeiten,
Außer dass er jegliche Vorliebe ablehnt.
Nur wenn er von Hass und Liebe befreit ist,
Offenbart er sich ganz und unverhüllt.

Ein Unterschied von einem zehntel Zoll,
Und Himmel und Erde sind entzweit.
Wenn du ihn mit eigenen Augen sehen willst,
Hab keinerlei Gedanken für oder gegen ihn.

Das, was du magst, dem gegenüberstellen, was du nicht magst -
Das ist die Krankheit des Geistes.
Wenn der tiefe Sinn des Weges nicht verstanden wird,
Wird der innere Friede nutzlos gestört.

Geh nicht den äußeren Zerstreuungen nach,
Halte nicht an der inneren Leere fest.
Genieße die heitere Ruhe der Einheit aller Dinge,
Und die Zweiheit verschwindet von selbst.

Wenn du ruhig zu werden versuchst, indem du die Bewegung aufhältst,
Ist die Ruhe, die du gewinnst, ständig in Bewegung.
Solange du in dieser Zweiheit bleibst,
Wie kannst du das Einssein wahrnehmen?

Und wenn du das Einssein nicht wirklich verstehst,
Erlebst du zweierlei Verlust.
Wenn du die äußere Wirklichkeit leugnest, bestätigst du sie,
Und wenn du die Leere betonst, leugnest du sie

Änderungen in der leeren Welt, die uns umgibt,
Erscheint unserer Unwissenheit real.
Bemüh dich nicht um das Wahre,
Lass nur deine Vorstellungen fahren.

Die zwei bestehen wegen des Einen,
Aber halte nicht einmal an dem Einen fest.
Wenn dein Gemüt nicht gestört ist,
Machen die zehntausend Dinge dir keine Sorgen.

Wenn dein Auge nie einschläft,
Hören alle Träume von selbst auf.
Wenn der Allumfassende Geist absolut bleibt,
Bestehen die zehntausend Dinge aus einer Substanz.
Wenn das tiefe Geheimnis der einen „Soheit“ ausgelotet ist,
Vergessen wir plötzlich die äußeren Zerstreuungen.
Wenn die zehntausend Dinge in ihrem Einssein gesehen werden,
Kehren wir zum Ursprung zurück und bleiben, wo wir immer gewesen sind.

Eines in allem
Alles in Einem
Wenn du nur das wahrnimmst,
Machst du dir keine Gedanken mehr, ob du vollkommen bist!

Wenn der Allumfassende Geist und der glaubende Geist nicht getrennt sind
Und der glaubende Geist mit dem Allumfassenden Geist vereint ist,
Dann versagen die Worte,
Denn dann gibt es weder Vergangenheit noch Gegenwart, noch Zukunft.

(Der dritte Patriarch des Zen, auch Sosan genannt)

"Gammler, Zen und hohe Berge" von Jack Kerouac

Zusammen mit dem Dichter und Zenbuddhisten Japhy Ryder begibt sich der temperamentvolle junge Schriftsteller Ray Smith auf eine berauschende Reise: von den Partys und Poetry-Ses­sions in San Francisco bis in die einsamen Höhen der High Sierras- immer auf der Suche nach einem intensiven, sinnerfüllten Leben.

Kerouac, der gefeierte Autor der Beat-Genera­tion, verfasste mit diesem Buch das literarische Dokument einer Jugend, die für sich die Natur neu entdeckte und die Fesseln der zivilisatorischen Annehmlichkeiten abzuwerfen bereit war.

« In Kerouacs brillanten Naturbeschreibungen liegt eine berauschende Kraft und Originalität. » THE NEW YORK TIMES BOOK REVIEW

Jack Kerouac, am 12. März 1922 in Lowell/Massachusetts geboren, diente während des Zweiten Weltkriegs in der Handelsmarine, trampte später jahrelang als Gelegenheitsarbeiter kreuz und quer durch die USA und Mexiko und wurde neben William S. Burroughs und Allen Ginsberg der führende Autor der Beat Generation. Mit „On the Road“ schrieb er eines der berühmtesten Bücher des 20. Jahrhunderts. Er starb 1969 in St. Petersburg/Florida.

Textausschnitte:

Nun begannen sich die Berge rosa zu färben, ich will sagen, die Felsen blieben ganz einfach Felsen, solide und unverrückbar, bedeckt mit Atomen von Staub, die sich da seit zeitlosen Ewigkeiten angesammelt hatten. Wirklich, diese gezackten Ungeheuer, die uns umgaben und überragten, jagten mir Furcht ein.
„Sie sind so still“, sagte ich.
„Na klar, Mann. Ein Berg ist für mich ein Buddha, weißt du. Denk an die Geduld, Hunderttausende von Jahren nur so dazusitzen und völlig, völlig still zu sein und so auszusehen wie jemand, der in dieser Stille für alle lebenden Wesen betet und nur darauf wartet, dass wir mit all unserem Hasten und Jagen mal Schluss machen.“

Es war alles ganz und gar ernst, alles ganz und gar eine Illusion, und alles machte mich ganz und gar glücklich.

„Die Jakobsleiter“ von Maarten 't Hart ist ein unterhaltsames Buch ganz nach meinem Geschmack. Ein Junge, junger Mann, der gerne alleine ist und Menschenansammlungen gerne aus dem Weg geht , das Leben sinnlos findet und einen Großvater hat, der über die Bibel lästert.

„...Jesus steht vor Beginn seines Leidens und spricht dann ein solch langes Gebet. Einverstanden., aber wer hat es gehört und wer es sich gemerkt? Saß ein Stenograf neben ihm, als er dieses lange Gebet sprach?“
„Na, na“, sagte mein Vater.
„Tja“, erwiderte mein Großvater, „das sagst du so, aber stell dir doch mal vor, ich spräche so ein langes Gebet. Während ich bete, hältst du die Augen geschlossen, und folglich kannst du es auch gar nicht mitschreiben. Das muss später passiert sein. Aber wer hat es aufgeschrieben? Johannes? War der zugegen und fähig, dieses Gebet an Ort und Stelle mitzuschreiben? Hinzu kommt noch, dass manche Forscher meinen, das Johannes-Evangelium sei erst einhundert Jahre nach Christus entstanden. Hat Johannes sich dieses Gebet siebzig Jahre lang gemerkt?“

Klapptext

Es gibt Tage, die verändern das ganze Leben.
Immer am Deich entlang wandert der junge Adriaan, vorbei an Rapsfeldern und blühenden Klatschmohn. Zusammen mit seiner Cousine Klaske wird er einen paradiesischen Sommertag verbringen – doch an dessen Ende steht ein Unglück, das Adriaans Leben in eine neue Bahn lenkt.

ISBN 978-3-492-27452-4