Die Landschaft unter uns ist halt eine Landschaft wie viele andere auch, die ich kenne. Es ist alles vorhanden, was ich kenne - Wiesen, Hügel, Berge, Felsen, Flüsse, Bäche, Seen, ein angrenzendes Meer, Städte, Dörfer, wie auch kleinere Siedlungen. Alles da. Von oben sieht ohnehin alles ein wenig anders aus. Was die Menschen betrifft, sie sind anders. Sie schlafen nie. Oder brauchen zumindest sehr, sehr wenige Ruhepausen. Mein Mann, bzw. seine Seele, dürfte einst hier eine Inkarnation verbracht haben, da er auch nur sehr wenig Schlaf braucht und stets sagt, dass schlafen eine Angewohnheit der Urmenschen sein müsse, die sich, wenn es nachts finster wurde, einfach hingelegt und die Augen geschlossen haben, weil sie in der Dunkelheit nichts tun konnten. Menschen brauchen Schlaf. Sagt man. Man sagt sogar, es sei erwiesen, bewiesen. Menschen ohne Schlaf würden wahnsinnig werden.
„Du fängst immer irgendwelche Geschichten an und hörst abrupt auf, ohne sie zu Ende zu spinnen. Was ist mit der Kriminalgeschichte, als Thygyrill zwei Leichen im Haus am Ende der Gasse entdeckte?“
Dies hier ist keine Geschichte, Sir Laurence. Dies hier ist der Versuch, die Restbestände einer Zivilisation für das nächste Universum zusammen zu tragen. Dies hier, wo wir uns aufhalten, ist ein eingerolltes, ungeborenes Universum, das sich erst entfaltet. Es ist millionenfach kleiner als das kleinste Staubkörnchen auf der Erde.
„Es könnte sich auch um ein vergangenes Universum handeln. Die rollen sich nämlich auch zusammen, wenn sie ausgedient haben. Das nur zu deiner Vermutung, dass die Seele deines Mannes einst eine Inkarnation hier verbracht hat.“
Ich wende mich wieder der Landschaft unter uns zu und kann noch immer nichts Besonderes feststellen. Keine weiteren Dimensionen, die mich in Erstaunen versetzen, wie etwa statt dem Himmel ein weiteres Land darüber, in dem die Reichen leben, während im Land „Unten“ die Arbeiter ihr hartes Dasein fristen. Gibt’s alles schon! Hab ich in einem kitschigen Hollywoodfilm gesehen. Es gibt auch die aufgerollten Dimensionen, die sich über das flache Land stülpen. Auch in einem Film.
Wir haben die Vergangenheit, wie auch die Zukunft in uns. Manchmal denke ich, in dieser Zeit muss ich gelebt haben, weil sie mich so fasziniert. Manche Zeiten ängstigen mich auch und ich wünsche mir, dass ich in diesen nicht gelebt habe. Nein, nicht ich, wie es mich jetzt als individuelle Person gibt, sondern das, was wandert. Man nennt es unter anderem auch Seele, wie vorhin erwähnt. Kim, bzw. Arima, sagt, wir, die Seelen, die Aspekte unserer Ganzheiten, leben alle Leben gleichzeitig. Deshalb erinnern wir uns an die Zukunft genauso wie an die Vergangenheit. Phantasien, Vorstellungen, die in Bücher oder Filme verpackt werden, sind nichts anderes als Erinnerungen an die Zukunft. Manchmal sind den Phantasien Grenzen gesetzt, da die Kapazitäten der Körperlichkeiten nicht ausreichen, um mehr zu erfassen.
Wenden wir uns wieder dem Land unter uns zu, dem wir uns langsam nähern. Sie Laurence will landen. Neben einem Wald, auf einer Wiese, auf der Tiere grasen. Hoffentlich sind sie nicht gefährlich, die Tiere.

Die Tiere, es sind Zwischendinge von Pferd und Kuh (falls das der Vorstellungskraft der nicht vorhandenen Lese weiterhilft), weichen einige Schritt vor uns zurück und grasen dann friedlich weiter. Im Wald neben uns höre ich Kuckucksrufe und Adlerschreie und anderes Vogelgezwitscher. Die Wiese grenzt links neben uns an den Wald und rechts reicht sie einen guten Kilometer weit bis zu sanften Hügeln, die in noch weiterer Ferne zu einem Gebirge erwachsen. Häuser oder ähnliche Bauten kann ich nicht entdecken. Von den Bewohnern, von denen ich sagte, sie würden nie schlafen, keine Spur, bis plötzlich, wie aus dem Nichts, ein kleiner Junge vor uns steht.
„Wir leben unterirdisch“, sagt er und streichelt Sir Laurence ohne Scheu über die runde Nase.
Und wie kommen wir dort hin?
Der kleine Junge, ein zartgliedriger Blondschopf in knielangen Jeans und einem hellblauen T-Shirt, auf dem „ich liebe Drachen“ steht, wobei das Wort „liebe“ durch ein rotes Herz ersetzt ist, bückt sich und hebt ein Stück Wiese wie eine Falltür hoch. Sir Laurence kann leider nicht mitkommen, denn für diese Tür ist er viel zu groß und viel zu dick. Aber wie so oft, lauert die Täuschung in der nächsten Kurve. Sir Laurence beginnt zu schrumpfen und schrumpfen und schrumpfen, bis er fast so klein ist wie ein Mops. Die Ähnlichkeit käme irgendwie hin. Nach diesem Gedanken wirft mir der kleine Sir Laurence einen verächtlichen Blick zu.
Über Treppen steigen wir hinunter und landen an derselben Stelle, von der wir gekommen sind. Über uns blauer, fast kitschig blauer Himmel, links der Wald, rechts die Wiese mit den sanften Pferdekühen und vor uns der kleine Junge.
Und jetzt?
„Wir leben unterirdisch“, sagt er und streichelt Sir Laurence, wieder im Großformat, ohne Scheu über die runde Nase.
Und wie kommen wir dort hin?
Ein und dieselbe Prozedur wiederholt sich etwa fünfmal, dann wird mir die Endlosschleife oder das Spiel „täglich grüßt das Murmeltier“ zuviel.
Es reicht! Was soll das? Wenn ihr euch vor uns verstecken wollt, auch gut. Dann richte uns das offen und ehrlich von deinen Leuten aus. Es ist uns egal. Wenn wir unerwünscht sind, fliegen wir eben weiter. Ich halte ohnehin nichts von Regenbogenländern, in denen Friede, Freude, Eierkuchen herrscht.
„Wir stecken in seinem Traum fest“, klärt mich Sir Laurence nach dem fünften Treppab auf.
In wessen Traum?
„Im Traum dieses Jungen. Er hat uns bereits in dem Moment hinein gezogen, als dir die Idee kam, dass hier Menschen leben, die nicht schlafen und nur kurze Ruhepausen brauchen. Er will nicht schlafen, denn wenn er einschläft, hat er Alpträume. Seine Eltern wurden vor seinen Augen getötet. Man hat sie wie Tiere abgeschlachtet. Und wenn er nun die Augen schließt, sieht er das ganze Elend abermals vor sich.“
Das ist ja furchtbar! Warum hilft ihm denn niemand?
„Es wird ihm geholfen. Das hier ist nur sein Traum.“
Also schläft er jetzt.
Sie Laurence dreht die Augen über.
„Nein! Er schläft nicht! Er will ja nicht schlafen!“
Und dennoch sind wir hier und jetzt in seinem Traum. Irgendwie missverstehen wir uns.
„Du verstehst nicht! Dieser kleine Junge hier träumt von einer Welt, in der er nicht schlafen muss, ohne Schäden davon zu tragen. Er hat sich in sich selbst eine Welt erschaffen, in die er uns mit hinein gezogen hat.“
Und warum uns und sonst niemanden?
„Vielleicht, weil wir uns angeboten haben?“
Haben wir das?
„In gewisser Hinsicht schon. Auf eine gewisse Weise hat es damit begonnen, als dir das Haus am Ende der Gasse aufgefallen ist. Dort wurden seine Eltern ermordet.“
Jetzt bin ich es, die lacht.
Ja, ja, klar! Das sagst du nur, weil du eine Geschichte aus all dem hier machen willst. Arima warnte mich bereits, dass Drachen mitunter sehr verschlagene Wesen sind und wenn man nicht aufpasst, vernebeln sie unsere Geister und ziehen uns in etwas hinein, was wir gar nicht wollen.
Im nächsten Moment spüre ich ein seltsames Ziehen, als würde mein Hexenleib auf einer Seite in eine ganz andere Szene geschoben, während die andere Seite auf der Wiese neben dem Wald und vor dem Jungen bleibt. Auf der einen Seite stehe ich noch immer vor Sir Laurence in dieser Alpengegend neben Arima, der mir gerade die wichtigsten Punkte der Drachenreiterei erklärt und darunter auch jenen Punkt, dass ich mich von Drachengedanken niemals einlullen lassen darf, da sie um einiges stärker sind als menschliche oder menschenähnliche Gedanken.
Jetzt haben wir den Salat! Was tun?
„Lass los. Lass dich einfach gehen. Lass die Gedanken wie Wolken gehen.“
Leichter gesagt als getan, Arima. Und als ich es doch schaffe, kann ich nicht anders und schlag dem vermaledeiten Drachen eins auf die runde Knollennase. Er jault nicht einmal auf. Es dürfte wie ein etwas festeres Streicheln für Sir Laurence gewesen sein.
Den will ich nicht! Ich will einen anderen Drachen oder gar keinen! Außerdem, was soll ich mit einem Drachen? Wozu auf Drachen reiten? Ich hätte es wissen müssen, als auf dem T-Shirt „ich liebe Drachen steht“ und dass es nicht der Junge war, der jemanden in etwas hinein gezogen hat, sondern ein ganz fieser Drache hat mich, nur mich, in etwas hinein gezogen. Das nennt man Gedankenvergewaltigung!
„Sei froh, dass es Sir Laurence ist. Ein anderer, etwa der, den du stets im Auge hast, den Schwarzen mit den gelben Augen, hätte dich gedanklich geschluckt, verdaut und wie Scheiße ausgeschieden. Und du hättest nichts dagegen tun können. Also, sei froh, dass es Sir Laurence ist und du es ohne weitere Hilfe geschafft hast, seinem Gedankenstrang zu entkommen.“