Auf den Spuren des Thygyrill erkunde ich das bunte Dorf, dessen Häuser keines dem anderen gleicht. Und doch hat jedes einen kleinen Vorgarten, an dem eine nicht breite und auch nicht schmale Gasse vorbeiführt. Jeder Vorgarten ist dem Haus angepasst. Thygyrills weißes Haus, mit dem weißen Lattenzaun beherbergt einen weiß blühenden Garten. Links daneben steht ein schlossartiger Bau mit lauter kleinen Türmchen und einer breiten Treppe, links und rechts begehbar zum Eingangstor. Alles in zartem Rosa gehalten und randweise in Gold. In diesem Garten blühen stets penibel gepflegte rosarote Rosen. Es gibt nicht nur einfarbige Häuser, deren Bauten sich natürlich auch vom Stil unterscheiden. Gegenüber und links zwei Gebäude weiter befindet sich ein typisches Einfamilienhaus, dessen Wände in den Regenbogenfarben gestrichen sind. Selbstverständlich sieht auch der Vorgarten dementsprechend bunt aus.
Ich weiß nicht mehr, wann sich die Szenerie verändert hat und ich mich in diesem Dorf befinde, anstatt am See der für Leuchtende Wesen lebensspendenden Quelle. Aber ich nehme an, es dürfte sich um denselben Ort handeln und nur um eine andere Wahrnehmung. Das heißt, ich befinde mich gleichzeitig am See, wie auch in Thygyrills Dorf, kann aber nur das Dorf wahrnehmen, weil meine Sinne anscheinend zwei unterschiedliche Wahrnehmungen nicht erfassen können. Falls ich es noch nicht erwähnt habe, es dürfte durchaus Lebewesen geben, denen zwei und noch mehr Wahrnehmungen gleichzeitig möglich sind. Was für eine Vorstellung!
Das letzte Haus am Ende der Gasse. Was wäre das für ein schöner Titel für eine neue Geschichte! Wie lege ich sie an? Ich möchte weg von diesem ständig esoterischen oder pseudophilosophischen oder stümperhaft möchtegernwissenschaftlichen Hauch. Es soll reine Phantasie sein und niemals diese hintergründigen Gedanken, dass es ja eventuell doch so sein könnte. Was sind Theorien wert, die nicht bewiesen werden können? Nicht einmal einen Furz, würde Arima sagen, der immer so pragmatisch war und sich nie auf irgendwelche absonderliche Aussagen einließ. Als er noch Kim (und noch nicht mit Maria körperlich und geistig vereint als Arima) war, meinte er, als Maria ihn fragte, ob er an Gott oder viel mehr an etwas Übersinnliches glaube: „Es gibt nichts Übersinnliches, Maria. Es gibt nur Dinge, die uns fremd sind und mit denen wir uns zu wenig auseinander setzen.“
Er würde auch, wenn ich frage, welche Wirklichkeit sich aus den eingerollten Mikrodimensionen entwickeln werden, wenn sie sich endlich ausrollen und zu Makrodimensionen werden wie unser jetziges Universum, sagen, dass dies wohl dem Zufall überlassen sein wird. Und gleichzeitig würde er sagen, dass es so was wie einen Zufall nur bedingt gibt, da man nicht sagen, dass zwei Personen, die sich zufällig an einem bestimmten Punkt treffen, nur zufällig aus dem Haus gegangen sind. Sie hatten etwas vor. Der eine musste etwas einkaufen. Der andere hatte einfach Lust auf einen Spaziergang. Das einzige, was man hier eventuell, aber wirklich nur eventuell Zufall nennen kann, ist der Treffpunkt. Na ja, vielleicht nicht einmal das. Und jetzt würde Kim lachend den Kopf schütteln, sich abwenden und von dannen gehen. Auf derartige Gespräche lässt er sich nur ungern ein. Aber er hat Jahrzehnte dabei mit gemacht. Er hat sich darauf eingelassen, der Geduldige.
Und schon wieder schweife ich in Ausmaße ab, die absolut sinnlos sind. Dennoch: Was macht schon Sinn, wenn in hundert Jahren ohnehin kein Stein mehr auf dem anderen liegt? Je unsinniger etwas ist, umso besser! Und umso bewusster uns dies ist, umso besser! So können wir nichts mehr ernst nehmen und brauchen das, wofür wir ach, so tapfer einstehen, nicht mehr verteidigen. Das mag konträr zu dem Text sein, den ich weiter oben aus dem Buch des Sängers Manuel Sendero zitiert habe. Man soll voll und ganz zu dem stehen, was man sich denkt und dies auch sagen und tun. Meine Rede! Sag ich doch auch! Aber ich sage nicht, dass ich nur Gutes denke. Also seid gefasst auf meine Reden! Hütet euch vor meiner spitzen Zunge!
Thygyrill lächelt und kommt mir mit beschwingtem Gang entgegen, als ich mich gerade in das letzte Haus am Ende der Gasse begeben möchte. Vielleicht wird ja nun daraus eine Geschichte ohne esoterischen Humbug und Pseudophilosophie. Vielleicht wird daraus ein Krimi, da in dem letzten Haus am Ende der Gasse ein Mord geschehen ist? Oder eine Geistergeschichte? Niemand wagt, in dieses letzte Haus einzuziehen, da in ihm ein Poltergeist sein Unwesen treibt und die Bewohner zu seltsamen Dingen zwingt.

Selbst die andere Geschichte, die ich „Neue Städte braucht das Land“ nenne, könnte spannender geschrieben sein. Vor allem könnte sie ausführlicher geschrieben sein. So ganz vom Anfang an, als die erste Familie in diese Versuchsstadt zog und ihre unmittelbaren Nachbarn kennen lernte. Eine ganz normale Familie: Vater, Mutter und zwei Kinder, ein sechsjähriges Mädchen und ein achtjähriger Junge. Das war die Familie Rosenbaum. Und sie wohnten im letzten Haus am Ende der Gasse. Es war wirklich eine Gasse, eine so genannte Wohngasse. Und es waren Mehrfamilienhäuser. In einem dieser Häuser, es waren acht in dieser Gasse, wo sich je zwei gegenüberstanden, lebten sechs Familien. Familie Rosenbaum wohnte also im letzten Haus, wobei auch das gegenüberliegende Haus das letzte Haus war. Familie Rosenbaum lebte im Parterre, gerade aus, wenn man den Eingang betritt. Links davon wohnte Familie Hasenfuß. Sie hatten schnell Beine.
Es fehlte in der Geschichte das langsame kennen lernen und die Boshaftigkeit der Kinder, die vielleicht gar nicht so boshaft sind, wie wir Erwachsene das sehen wollen. Kinder sind einfach nur neugierig und möchten wissen, wie weit sie wirklich gehen können.
Aber ich will, trotz meines Ausschmückens eines jeden Gedankens, dennoch stets schnell auf den Punkt kommen. Der Punkt war, dass sich die Menschheit durch diese Experimente selbst ausgerottet hat. Aber der absolute Punkt war, dass sich die Natur wieder neue Menschen erschaffen hat. Ganz neue Menschen. Und selbst dann kam ich zu schnell auf den Punkt und beschrieb nur ungenau, wie diese neuen Menschen lebten. Anscheinend waren sie besonders intelligent. Vielleicht hatte der dümmste unter diesen Menschen gerade mal einen IQ von 300. Das wäre schon was. Wir würden Menschen mit einem IQ von 300 dringend brauchen. Oder vielleicht auch nicht, da meine Meinung stets war, dass uns die Intelligenz nirgendwohin brachte, außer ins Verderben. Es gibt aber auch andere Meinungen. Und man möchte es nicht glauben, ich habe nicht nur eine Meinung. Ich kann ein und dasselbe „Ding“ auf unterschiedliche Arten wahrnehmen und mir deshalb auch mehrere, wie auch unterschiedliche Meinungen bilden. Unsere Intelligenz war zu wenig, um so intelligent zu leben, wie diese neuen Menschen. So war das! Und das heißt, dass wir noch immer zu blöd sind, um wirklich leben zu können. Ja, wirklich leben! Kein Wunder, wenn so viele sagen, dass das Leben nur ein Traum ist. In diesem Fall tappen wir tatsächlich nur in der Dunkelheit unserer Lebensnacht. Der Lebenstag muss erst erwachen.
„Willst du gar nicht wissen, wie das mit meinem Vater war, - wie wir uns immer näher kamen und er schließlich mein Drachenreiterlehrer wurde?“
Nicht jetzt, Thygyrill. Jetzt träume ich von einer ganz anderen Welt, in der es Menschen gibt, die sich, jeder einzelne, mehrere Meinungen gleichzeitig bilden und deshalb niemals streiten, geschweige denn Kriege führen oder sich für so etwas wie Krieg rüsten. Die einzigen Werkzeuge, die sie bauen, sind Garten- und Feldwerkzeuge. Sie nutzen den Erdboden, auf dem sie pflanzen, nicht aus. Jahr für Jahr werden die Felder unterschiedlich bebaut und manche gar nicht wieder, dass wieder heilsames Gras über die wunde Erdenarbe wachsen kann. Diese Menschen entschuldigen sich bei Mutter Erde, wenn sie ihr eine Narbe zufügen und bedanken sich für jede Frucht, die aus Mutter Erde hervor kommt. Das sind ihre Rituale und mitunter feiern sie deshalb fröhliche Feste.
„Mein Vater erzählte mir oft von diesen Menschen.“
Brauche ich denn diese Bestätigung? Nein, denn es ist MEINE Phantasie. Hörst du, Thygyrill? Ihr könnt nicht alles immer für euch beanspruchen. Ich bin es, die schreibt. Und ich bin es, deren Phantasie sich über all diese beschriebenen Blätter ergießt.
„Aber dann wurde es immer enger auf der Erde und er musste sie mit seinem Fleisch als roter Wolf retten.“
Das, Thygyrill, war etwas ganz anderes. Das waren die letzten Menschen, die sich zu Leuchtenden Wesen entwickelten und das durch die Kraft des Fleisches deines Vaters. Mein Gott, es war wie eine Hostie und so sehr mit Joshuas angeblicher Geschichte des Christentums vergleichbar. Die Kannibalen! So etwas wollte Joshua niemals. Aber Kim tat es aus Liebe zu den Menschen. Natürlich! Ich wollte, dass mir Jesus erscheint und dann kam Kim, in der Phantasiegestalt eines perfekten jungen Mannes, eigentlich noch Jungen, da er damals erst 18 war. Ist man mit 18 schon ein Mann, eine Frau?
Aber diese Geschichte ist eine ganz andere, Thygyrill. Sie handelt von wahren Menschen, wie sie hätten sein sollen. Leider sind die Menschen, in der Zeit, in der ich lebe, ganz anders. Sie sind ihre eigenen Sklaven und machen sich von allem, von dem sie glauben, es erleichtere ihr Leben, abhängig. Und sie vergessen mehr und mehr auf das Wesentliche.
„Was ist das Wesentliche?“
Unsinn, Thygyrill, Unsinn.

Was schrieb ich anfangs? Zeit und Raum seien Illusion? Und gestern hörte ich, dass ausgerechnet die Zeit das einzig Wahre im Universum sei. Ja, klar! Materie braucht Zeit und Raum. Und was war zuerst da? Huhn oder Ei? Materie oder Zeit und Raum? Zahlen und Buchstaben sind Erfindungen der Menschheit und nichts wert.
Siehst du, Thygyrill, genau das meine ich mit Unsinn. Denken, bis das Hirn raucht. Malen und schreiben, bis die Finger brechen. Musizieren, bis die Ohren taub werden und selbst dann weitermachen, wie man doch an Beethoven bestätigt weiß. Oder täuschte er seine Taubheit nur vor?
Gestern hörte ich auch, dass wir nur 10% unserer Hirnkapazität nutzen (können) und plötzlich war da jemand, der 20% nutzte, wie (angeblich) Delphine es tun. Übrigens sind Delphine (angeblich) die einzigen Lebewesen, die mehr Hirnkapazität nutzen als Menschen. Weiß ich das oder muss ich das glauben, weil es so gesagt wird? Und wenn ich das weiß oder glaube, was habe ich davon? Nichts!
Siehst du, Thygyrill, auch das meine ich mit Unsinn. Lesen oder zuhören, was andere so von sich geben, kann durchaus ein Abenteuer sein. So blicken wir in ein anderes Universum. Vor allem dann, wenn wir viel Geduld haben und uns nicht allzu sehr wichtig nehmen. Wenn wir endlich einmal nicht denken, dass wir alles besser wissen und können.
„Ich war meinem Vater nie böse, falls du das denkst.“
Es kann dir doch egal sein, was ich denke, Thygyrill. Zugegeben, es war ein Zukunftsfilm (Si-Fi genannt), aber doch sehr beeindruckend, dass man denken könnte, so könnte es durchaus sein. Und es stimmt ja auch (angeblich), dass der Mensch sein Gehirn nicht vollkommen nutzt oder nicht nutzen kann. Es dürfte an zu wenig Energie liegen. Deshalb meinte Freund Carlos auch, dass wir mit der Energie sparsam umgehen sollten. Würden wir mit der Energie sparsam umgehen, könnten wir anders wahrnehmen, die Welt anders wahrnehmen und nicht nur auf unsere alltägliche gewohnte Art.
Letztens erzählte ich von den neuen Menschen, die einen IQ von mehr als 300 haben. Die neuen Menschen, eine natürliche Weiterentwicklung der Idioten von heute. So muss es fast sein, denn so kann es nicht weiter gehen. Warum wird in den Schulen nicht von Anfang an Unsinn gelehrt? Warum all diese wichtigen Dinge, die die meisten ihr Leben lang eh nicht brauchen.
„Und noch was! Ich wollte meinen Vater nie leiden sehen, wie du das geschrieben hast. Oder glaubst du, ich hätte ihm die Schuld an meinem Versagen gegeben?“
Wie? Was? Welche Schuld?
„Weil ich meine Welt in Stich gelassen habe. Das war mein Versagen. Ich habe zugelassen, dass wilde Monster kommen und die Stadt, samt Bewohner zerstören. Das war ganz alleine meine Schuld, weil ich mir selbst nicht vertraute.“
Du hast deiner Kraft nicht vertraut. Das war alles.
„Es ist nicht einfach, zu glauben, dass immer alles von einem selbst abhängt, wenn doch auch andere mit spielen. Was ist mit den anderen? Haben die nichts zu sagen?“
Die leben in ihren eigenen Welten, Thygyrill.
„Das tun sie eben nicht. Siehst du nicht all diese Schichten hinter und vor der Stadt? Im Moment stehst du nicht nur vor dem Haus am Ende der Gasse, sondern mitten in einem kleinen Teich, in dem Seesterne schwimmen und auch auf einem Bergplateau, ziemlich nah an der Klippe, die mehrere tausend Meter in die Tiefe blicken lässt und an einem Ort, den ich nur schwer beschreiben kann. All diese Welten, die wir uns hier auf der Leuchtenden Welt schaffen, sind auf einmal da. Siehst du das nicht?“
Nein, Thygyrill. Ich gehöre noch zu den eindimensional wahrnehmenden Lebewesen.
„Eindimensional?“
Versteh mich nicht falsch, damit meine ich nicht die Dimensionen oben, unten, links und rechts und auch nicht die so genannte fünfte Dimension, die Zeit. Ich meine die Wahrnehmung an sich. Unser Gehirn kann sich nur auf eine Wahrnehmung einlassen, die wir Wirklichkeit nennen. Dass es auch andere Wirklichkeiten gibt, will anscheinend niemand wahr haben. Und wenn es einmal jemanden gibt, der das wahrhaben will, wird er ins Irrenhaus gesperrt. Du, Thygyrill, du schaffst dir deine eigenen Welten, während wir uns als Opfer einer Realität wahrnehmen, die es gar nicht gibt. Siehst du, Thygyrill, selbst das meine ich mit Unsinn. Das ist sogar Unsinn pur, ohne Salz- oder Zuckerzusatz.

„Die einzige Wirklichkeit ist die Wahrnehmung.“
Arima (oder ist es Kim?) hockt im Schneidersitz auf einer bunten Indianerdecke. Es ist jene Decke, die er mal während einer Tournee (Kim war damals der berühmteste Rockstar aller Zeiten) von einem alten Indianer bekommen hat. Damals war Kim mein Nagual, mein Schamane, der mich andere Wirklichkeiten lehrte, die ich heute noch nicht begreife.
„Wirklichkeiten lassen sich nicht begreifen, sondern nur wahrnehmen.“
Die bunte Decke, mit den seltsamen Stickereien darauf, waren ein Kraftgeschenk. Wer sich darauf setzte, brauchte kein LSD zu sich nehmen, wie es Manola damals tat. Ihr Vater führte sie vorbildlich durch einen, im wahrsten Sinn der Worte, berauschenden Psychedelic-Trip.
Dort hockt er nun, auf der Decke, auf dem Plateau und ich stehe ziemlich nah an der Klippe und blicke eben in den Abgrund, der gar nicht so tief ist, wie Thygyrill es darstellte.
„Für ihn ist der Abgrund mehrere tausend Meter tief.“
Ich kann verstehen, warum das so ist. Manola hatte auch ihre Probleme mit dem, was sie am Abgrund sah. Habe ich darüber geschrieben? In Manolas Tagebuch? Es war so etwas in der Art, denn sie konnte die beiden nur schwer auseinander halten. Der Eine hatte ein Muttermal unter dem linken Auge, der Andere hatte kein Muttermal. Und manchmal hatte der Andere Hörner an der Stirn und schwarze Flügel. Luzifer schwingt den schweren Hammer, um ein Schwert zu schmieden, dem er später einen besonderen Namen gibt und mit dem er noch später gegen die Finsternis kämpft. Überall glimmen kleine Feuerstellen, an denen andere seltsame Lebewesen etwas schmieden. Rauch steigt hoch und vernebelt die Szenerie. Luzifer, der Gott des Lichts und des Feuers. Nicht nur im alten und neuen Testament der Bibel gibt es Teufel. Sie gab es bereits zu Urzeiten. Und später Prometheus und vielleicht auch Thor in einem. Immerhin schwingt auch Thor den Hammer und Prometheus brachte Licht in die Dunkelheit, die besser dunkel geblieben wäre.
„Nicht schon wieder dieses Geklage!“
Oh, man drückt sich heute aber fein aus. Das ist absolut kein Geklage. Du wolltest doch auch kein Licht, also könntest du durchaus mit mir klagen. Außerdem habe ich ohnehin vorgehabt eine kleine Krimigeschichte zu schreiben, da sich in dem Haus am Ende der Gasse ein Toter befindet. Man weiß noch nicht, ob er ermordet wurde oder nicht.
„Er ist nicht tot. Er schläft nur ziemlich tief.“
Man kann nicht so einfach sagen, dass die einzige Wirklichkeit die Wahrnehmung ist. Noch dazu die eigene Wahrnehmung. Entweder ist er tot oder er schläft nur tief. Aber beides gleichzeitig kann nicht möglich sein und doch könnte ich es mir so vorstellen.
„Verwechsle Wirklichkeit nicht mit Wahrheit.“
Wahrheit? Gibt es sie denn?
„Natürlich, aber sie ist noch sehr weit weg.“
Schon wieder so ein Unsinn pur. Ich nehme an, der tiefe Schläfer bist du und Thygyrill wird dich. wie der Prinz das Schneewittchen, mit einem Kuss erwecken.
Jetzt weiß ich, was wir alle gemeinsam haben. Wir alle sind nicht für immer hier. Das fiel mir plötzlich ein, als ich an Schneewittchen dachte. Sie ist schon ziemlich lange hier, wenn man bedenkt, wann sie das erste Mal erwähnt wurde. Solange nichts vergessen wird, ist es hier. Märchen und Mythen halten sich am allerlängsten.
Manchmal erscheinen mir die Geschichten in Bücher lebendiger als die Menschen um mich her. Lebendiger und wirklicher. Weißt du noch, als wir uns über Bücher und gewisse Textstellen unterhalten haben? Wir haben sie „Phantastische Reisen“ genannt und das sind sie in der Tat.
Thygyrill begibt sich ins Haus am Ende der Gasse. Es ist ein fast unscheinbares Haus, ein ganz gewöhnliches Haus, was man sich nun mal unter Haus vorstellt. Ein viereckiges Gebäude, mit nicht zu spitzem Dach, an drei Seiten zwei Fenster, mit dunkelbraunen Holzbalken. Auch der Zaun besteht aus braunen Holzbalken und der kleine Garten vor dem Haus aus Rasen, in dem zwei Rosenbüsche stehen, - ein roter und ein weißer. (Schneeweißchen und Rosenrot befinden sich auch schon sehr lange hier.) Vor dem Eingang und links und rechts davon befinden sich etwas kleinere Fenster als an den drei Seiten. Die Farbe des Hauses ist ebenso unscheinbar, - vielleicht ein helles Graubraun, oder Ocker oder so ähnlich. Das Dach besteht aus Dachziegeln, wie man sie früher einmal hatte. Ich kann alles von hier aus, vom Plateau aus beobachten. Thygyrill öffnet die dunkelbraune Holzeingangstür und prallt zurück. Ich sehe noch, wie er die Hände vors Gesicht schlägt, dann wende ich mich wieder Kim zu, der noch immer auf der bunten Indianerdecke wie ein Indianer hockt. Das lange, blauschwarze Haar, gebändigt mit einem bunt verzierten Indianerstirnband, weht im sanften Wind. Er sieht mich mit seinen schocktürkisfarbenen Augen durchdringend an. Nein, er sieht durch mich hindurch. Mich sieht er nicht. Ich sehe ihn auch nicht. Ich stelle mir nur vor, ihn zu sehen.
Man darf Wahrnehmung niemals mit Vorstellung verwechseln. Das kann nämlich ganz gefährlich enden und genau darum sperren sie manche Menschen in Irrenhäuser. Nicht, weil sie etwas anderes wahrnehmen, sondern wie sie sich etwas anderes vorstellen. Und das hat absolut nichts mit freier Meinung zu tun. Es gibt sie noch bei uns, aber manchmal ist auch sie gefährlich. Genauso gefährlich wie die Viper, die sich langsam der bunten Indianerdecke nähert, auf der Kim hockt. Oder ist es doch schon Arima? Man weiß es nicht. Man wird es nie wissen, wenn ich es nicht schreibe. Und noch immer erhebt sich die Frage: Sind wir wirklich die Schöpfer unserer Realität oder doch eher die Opfer?

Engel werden mit Flügel und Menschen mit Särgen auf ihren Rücken geboren. Visuell lassen sie sich nicht unterscheiden, da die Flügel oder Särge unsichtbar sind. Engel jedoch sind Schöpfer und Menschen Opfer deren Schöpfung.
„Und wie nennst du Leuchtende Wesen?“
Eine Weiterentwicklung der Menschen, wobei sie vielleicht mit den jetzigen Menschen gar nichts gemeinsam haben. Vor allem dann nicht, wenn ich an meine andere Geschichte denke, in der sich die Menschheit ausrottet und nach vielen, vielen Jahrtausenden abermals eine Menschheit entsteht. Eine vollkommen neue, intelligentere, die alles Bisherige in den Schatten stellt. Aus diesen Menschen könnten durchaus Leuchtende Wesen werden.
Thygyrill wagt wieder einen Blick durch die Eingangstür. Meine Augen zoomen die Szenerie näher heran, fast so, als wäre ich Thygyrills Schatten. Was sich da drinnen abspielt, ist grotesk. Es ist wie in einer anderen Welt, die Tür zu einer anderen Welt, zu einer Urwelt, in der erst alles entstehen muss. Wasserwelt, aber nicht, weil sie aus Wasser besteht, sondern weil alles wässerig wirkt. Schwammig, ständig neu verformbar, fremdartig und unbestimmbar. Wir kommen aus der Wasserwelt, wir alle. Wir sind dort entstanden und haben uns für irgendeine Welt entschieden. Wir?
„Ich nicht!“ platzt Manola laut heraus, die am Ufer des Sees hockt und sich an die Schulter ihres Vaters lehnt. Ja, er ist bei ihr und er ist bei mir, hinter mir, auf seiner bunten, indianischen Kraftdecke. Aber nicht nur auf ihr kann er sich vervielfältigen. Er kann es auch ohne Decke, denn in ihm steckt eine Menge Kraft, die niemals versiegt.
„Aber du weißt, dass ich so nie werden wollte.“
Ich weiß, Kim. Ich weiß, Arima.
In dem Haus gibt es keinen Toten. Und vor allem keinen Mann, sonst verfällt man wieder in den irrigen Gedanken, Gott sei ein Mann. Außerdem würde er nicht tot sein, denn diese Welt, die sich in diesem Haus befindet, wird erst geboren. Es ist eine Mikrowelt in einer Mikrowelt. Oder ist in diesem Haus die so genannte Zündung für die neue Welt, die Zündung zum Entrollen der Dimensionen? Es werden mehrere Dimensionen in einer sein, denn nicht nur die Lebewesen, sondern auch die Umgebungen, in denen künftige Lebewesen existieren werden, entwickeln sich weiter und werden wie die Lebewesen immer verrückter.
„Verrückter?“ fragt Thygyrill und betritt langsam das Haus.
Euch ist schon klar, wenn hier alles explodiert, ihr in unzählige Einzelteile zerstreut werdet? Die Existenz, wie ihr sie jetzt noch kennt, wird es dann nicht mehr geben. Eure Existenz wird multidimensional sein. Jedes kleinste Teilchen von euch wird individuell und doch werden alle eure Teilchen, die jetzt noch eine Person bilden, eine Gemeinsamkeit spüren. Verstehst du, was ich meine, Thygyrill? Oder soll es dir dein Vater erklären? Fast hätte ich Thygyrill „mein Vater ist doch schon multidimensional“ sagen lassen. Statt dessen lass ich ihn: „Die Ganzheit des Selbst?“ fragen.
Ja, so ähnlich könnte ich es mir vorstellen. Nur vergesst nie, - die Ganzheiten des Selbst, die aus der Quelle hervorgehen, sind Geist, Seele, oder wie auch immer, nur keine Materie, nicht mal feinstofflichste Materie. Dazu sind sie zu rein. Selbst Engel erscheinen daneben dreckig und wenn du mich fragst und ich dir ganz ehrlich antworte, sage ich, dass Engel wahrlich dreckig sind. Dreckig und gemein. Sie verurteilen uns zu Opfer, zu einem Leben, das wir nie gewollt haben. Sie haben uns verarscht, diese Engel und heute wollen sie, dass wir sie anbeten. Mitnichten! Einen Tritt in den Allerwertesten können sie haben. Nieder mit all diesen veralteten Märchen und Mythen, die noch immer unser Leben bestimmen wollen.
„Aber, aber!“
Kims, Arimas Stimme besänftigt immer. Auf seine Art ist er ja auch ein Engel. Engel und Mensch zugleich. Etwas, was er nie wollte sein. Oder sein wollte. Wie auch immer. Ich weiß schon, dass ich es war, die ihm diese Rolle gab. Von Anfang an. Da war dieser Junge, der aus einem Vorort von London mit seinem Freund nach Frankfurt floh und schließlich in der Nähe von Wien in einer Herberge ankam. Er war ein sehr seltsamer Junge. Und Sarah war das erste Mädchen, von dem ich wusste, das sich in ihn verguckt hatte. Nicht nur Sarah, denn dieser seltsame Junge machte alle Menschen mit seiner Ausstrahlung verrückt. Keine Angst, ich erzähle diese Geschichte nicht mehr. Aber so fing alles an. Und ich konnte es nicht mehr stoppen. Bis heute nicht. Bis zu diesem jetzigen Moment, als Manola mit Arima am Ufer des Sees hockt, Kim hinter mir auf einem Plateau, auf einer bunten Indianerdecke und Thygyrill, der eben ins Haus geht und höchstwahrscheinlich keine (KEINE!!!!) Explosion auslösen wird, denn sonst wäre die Geschichte aus.

Sarah wurde zum Leuchtenden Wesen. Durch Kim. Durch wen sonst? Durch mich! Durch die Autorin selbstverständlich! Wer etwas anderes beim Lesen denkt, dürfte nicht ganz richtig im Oberstübchen sein. Kim heilte sie (Sarah) mit seinem Blut von der Alkoholsucht und machte sie zu einem menschlichen Leuchtenden Wesen. Es gab einige menschliche Leuchtende Wesen durch Kim, bzw. durch mich, die Autorin. Melanie wurde auch eines. Mir fällt auf, dass beide Frauen eine ganz besondere Beziehung zu Kim hatten, was natürlich auch an mir lag, liegt. Als Kim in mein Leben kam, in diesem Moment, als er mit Ian, seinem Freund, in der Herberge, nähe Wien, auftauchte, war Sarah die erste, von der ich wusste. Später, als ich über Kims Leben schrieb und auch ihn selbst über sein Leben erzählen ließ (in der veröffentlichten Version viel zu viel heraus gestrichen), gab es vor dem Eintreffen in der Herberge natürlich mehr Menschen, die sich seines Körpers bedienten. Und bevor Kim mit Maria, seiner einzig großen Liebe, zusammen kam, war Melanie seine letzte Bettgenossin. Sozusagen war Sarah (von der ich damals wusste) die erste und Melanie die letzte und beide wurden zu menschlichen Leuchtenden Wesen.
So richtig durchdacht war/ist das Ganze sicher nicht. Ich meine damit nicht die Beziehung der beiden Frauen zu Kim, sondern wie es möglich sein soll, so schnell zu einem Leuchtenden Wesen zu werden. Oder aber Kim hatte die Macht, der so weit entfernten Zukunft ein Schnippchen zu schlagen. Man erkenne, wie sehr Zeit mit Raum zusammen hängt. Eine weit entfernte Zeit. Weit entfernt sind Worte des Raumes und nicht der Zeit. Sozusagen räumliche Benennungen. Und doch sind wir Menschen so weit entfernt, das Phänomen „Zeit“ in den Griff zu bekommen. Vielleicht gibt es bereits einige, die nahe dran sind, aber für die Mehrheit bleibt „Zeit“ wohl ein ewiges Geheimnis oder nichts anderes als ein Blick auf eine Uhr. Ich war es, die das Ganze nicht wirklich durchdacht hat. Und diesmal möchte ich es richtig machen, dass nie Fragen auftauchen oder Vorhaltungen, dass ich dies oder das doch genauer beschreiben hätte können und nicht so viele Wiederholungen und nicht immer nur Kim, Kim, Kim. Nein, diesmal ist es Arima, Arima, Arima!
Es gab keine Explosion, als Thygyrill das Haus betrat. Selbst wenn es eine gegeben hätte, wäre die Geschichte nicht zu Ende gewesen. Es sei denn, mich hätte während des Schreibens der Schlag getroffen, oder ich hätte einen Herzinfarkt gehabt oder wäre auf andere Art und Weise tot vom Sessel gefallen. Dann, wirklich erst dann, wäre die Geschichte aus und vorbei gewesen. Es wäre nur so gewesen, dass ein neues Universum entstanden wäre. Die Explosion hätte bewirkt, dass sich diese winzig, winzigste Mikrowelt, dieses kleinste, aberkleinste Teilchen eines Staubkörnchens, entrollt, entfaltet hätte und zu einer Makrowelt geworden wäre. Makrowelt ist gleich Universum. Verstanden? Und all die noch lebenden Wesen rund um hätte es ebenso zerrissen, zerfetzt oder wie auch immer und in alle Richtungen des neuen Universums zerstreut. In allen Einzelteilchen, wie ich es oben bereits erwähnt habe. Die Entwicklung des neuen Universums wäre phänomenal gewesen. Schier unbeschreiblich. Und neu. Vor allem neu. Also, wozu eine Explosion, wenn ich über das neue Universum eh nicht schreiben kann, da es meine (und nicht nur meine!) Vorstellungen überschreitet?
So gesehen wäre es ja doch das Ende dieser Geschichte gewesen. Und besser auch. Damit sich die möglichen Leser nicht mehr langweilen müssen. Die meisten werden ohnehin schon bei Seite drei oder fünf das Büchlein weglegen, wenn es denn eines gäbe. Es gibt keines, weil dies hier nicht veröffentlicht wird. Und es gibt auch keine Leser. Non, nada, niente, no. Es gibt nichts, was hier zu bestaunen oder zu loben wäre. Leider, denke ich mir oft. Ach, wenn jetzt einige diese oder jene Textstelle lesen, möchte ich als kleines Mäuschen dabei sein und sie beobachten, wie sich ihre Augen weiten, oder wie sie verständlich nicken, theatralisch auf die Seite des Büchleins klopfen, so als eine Art Applaus, sich wundern über die Phantasie der Autorin und und und. Wer versteht ein und dieselbe Textstelle denn auf ein und dieselbe Art? Kein Schwein! Sicher, Schweine können nicht lesen und wenn, dann nur in irgendwelchen Geschichten, die sich irgendwann einmal doch bewahrheiten können. Zuerst die Idee, dann? Oder ist es noch doch umgekehrt, dass Materie dafür verantwortlich ist, dass der Mensch zu denken begonnen hat? Und durch das Denken erdachte sich der Mensch Ideen, erdachte sich das Bewusstsein, erdachte sich Gott und Götter, Geschichten und Lügen. Lügen? Ja, Lügen! Und dabei bemerkt der Mensch gar nicht, wie er sich damit selbst belügt, mit all den Worten, die einst nur leise Gedanken waren. Das Gehirn ist die Hölle. Ich sag es euch! Genau das ist die Hölle. Denn würden wir nicht so denken, wie wir denken, wären wir noch immer im Paradies. Moment! Jetzt beißt sich die Schlange abermals in den Schwanz. Das Paradies ist ja auch nur ein Vorgang des Denkens und somit nicht real. Und was ist real?
Schon wieder weiche ich vom Grundgedanken ab. Ich wollte mich doch darüber beschweren, oder viel mehr mich bemitleiden, weil es für diese Geschichte hier, diese echt so genial geschriebene Geschichte keine Leser gibt und auch nie geben wird. Manchmal braucht man Bestätigung, selbst wenn sie gelogen ist. Ja, selbst dann! Nein, so ist es gar nicht mehr, weil ich ja weiß, dass wir alle zwar unter einem einzigen Himmel leben, aber doch jeder Einzelne in einem eigenen Universum. Niemand wird diese Geschichte so lesen und so darüber denke, wie ich es tue. Also ist es vollkommen egal, ob sie gelesen wird oder nicht. Und ich kann mich wieder getrost zurück lehnen und für mich selbst, weil ich es so gerne tue, weiter schreiben.
Und jetzt wenden wir (ich sehe mich bereits multidimensional) uns lieber Thygyrill zu und dem, was er wirklich im Haus entdeckt.

Übrigens stimmt es gar nicht, dass ich mein Schreiben für genial halte. Ja, vielleicht kurz danach, wenn ich über meine Gedanken staune, wobei nicht gesagt ist, dass es ein positives Staunen ist. Es ist eher ein erschrecktes Staunen. Und Tage, vielleicht Monate später, falls mir mein Schreiben zufällig gegenübertritt, kommt der wahre Schock. Was hast du da nur wieder für einen Schwachsinn verzapft!
Aber zu einem stehe ich, dass das Denken die Hölle ist, denn nur denkende Menschen erkennen, wie sehr unsere Welt im Arsch ist.
„Gehört das wirklich hier her? Ich stehe hier schon seit Stunden, vielleicht Tage oder Monate deiner Zeitrechnung nach und nichts tut sich. Betrete ich nun das Haus oder habe ich es bereits betreten? Ich weiß gar nicht mehr, welche Rolle du mir zuschreibst.“
Thygyrill, fasse dich in Geduld. Ich muss es auch, denn endlich kam ich (wenigstens schriftlich) wieder einmal zu dem Punkt meines Denkens, alles los zu lassen, jeglichen Glauben, jegliches angebliche Wissen und könnte ganz zum Anfang zurückkehren. Alles Erdachte ist Humbug und demnach kann es gar keine Götter oder ähnliches geben. Nicht mal die ewige Quelle der Kraft, aus der alles hervor geht und in der alles enthalten ist.
„Energie! Es gibt nur Energie!“
Und woher wissen wir das, Thygyrill? Fakt ist, dass wir nichts wissen.
„Du weißt nichts, aber frag da mal einen Wissenschaftler, z. B. einen Physiker. Der kann dir sehr schnell erklären, dass alles – wirklich alles, bis auf die kleinste Zelle, - Energie ist.“
Also doch kein geistiges Reich und gegenüber das materielle Reich?
„Schau mal, mein Vater hat es dir sicher schon mehr als tausendmal erklärt, aber du hörst ja nicht zu. Dein Denken in deinem Sturschädel ist dazu viel zu laut. Also, Frage: was ist Materie?“
Energie?
„Ja! Und was ist Geist? Ich meine damit, welche Substanz hat Geist, wenn es so was wie Geist überhaupt gibt und er nichts anderes als ein Gedankenkonstrukt ist?“
Keine Substanz. Und wahrscheinlich nicht einmal Energie, auch wenn ich stets „reine Energie“ hörte.
„Hörte? Du hast nichts gehört! Mein Vater sagte, man kann es mit keiner euch bekannten Energie vergleichen und es hat auch nichts mit einer euch bekannten Energie zu tun. Aber da es keine Benennung dafür gibt, nennt er es eben reine Energie. Wie ist das mit dem Tao oder dem Zen? Kann man es benennen? Was ist also ist es?“
Ein Gedankenkonstrukt?
„Mag sein. Wenn du schon so davon überzeugt bist, nichts zu wissen und an nichts glauben zu können, dann lass es sein. Und jetzt mach mal hier weiter. Ich stehe mir schon die Füße in den Bauch.“
Du hast keine Füße und auch keinen Bauch. Du bist auch nur ein Gedanke.
„Na, wenn schon? Auch Gedanken haben Bedürfnisse.“
Dann geh halt auf die Toilette und lass mich weiter denken. Aber im Grunde genommen gibt es nichts mehr zu denken. Einfach los schreiben. Das war es schon immer, wenn auch dazu ein bisschen Denken notwendig ist. Aber nicht so verbissen! Verbissen kann niemand auf den Punkt kommen. Es braucht Ruhe und Geduld. Vor allem Geduld.
Der Nebel oder Rauch oder was immer die verschwommene oder aufgeschwemmte Wasserwelt war, hat sich im Haus verzogen oder sich ganz einfach in Nichts aufgelöst. In Nichts aufgelöst, wie wir einmal, wenn es uns nicht mehr gibt. Wenn unsere Körper in der Erde verrotten oder im Feuer zu Asche werden. Nichts.
„Hallo! Ich warte!“
Das Vorzimmer ist spärlich eingerichtet. Eine niedrige Kommode links und darüber ein zerschlagener Spiegel. Man sieht seltsam aus, wenn man in einen zerschlagenen Spiegel blickt. Selbst irgendwie zerschlagen. Aber das Muster ist schön. In der Mitte der Mittelpunkt.
„Na, wo sonst?“
Und von dort aus die Strahlen, bis an den Rand. Wenn ich daran tippen würde, würde der Spiegel ganz zerbrechen und mit ihm mein Gesicht.
„Wer ist nun im Haus? Du oder ich?“
Wir beide, Thygyrill. Ich bin immer dort, wovon ich schreibe.
„Dann hast du etwas mit meinem Vater gemeinsam. Er kann auch an verschiedenen Orten gleichzeitig sein.“
Nicht ganz. Wir haben doch schon erwähnt, dass ich im Gegensatz zu deinem Vater nur ein eindimensional wahrnehmendes Lebewesen bin, was heißt, dass ich nur einen Ort wahrnehmen kann, auch wenn es so sein sollte, dass ich an verschiedenen Orten gleichzeitig bin. Mann, diese Wiederholungen nerven echt!
Am Boden liegt ein Läufer…
„Ist er tot?“
Wie, bitte?
„Der Läufer! Ob er tot ist?“
Thygyrill, der Läufer ist kein Lebewesen. Er ist eine Art schmaler Teppich. Läufer befinden sich meistens in Vorräume.
„Ach!“
Ja, ach! Rechts befindet sich die Türe zur Küche, wo sich niemand, außer eine eingebaute Küche, ein Tisch, mit vier Sesseln und ein Fenster befinden. Nach der Kommode eine geschlossene Tür, auf der ein Schild ist. Auf dem Schild steht: WC. Ich höre ein Rauschen dahinter, also dürfte Thygyrill tatsächlich auf der Toilette gewesen sein.
„Leuchtende Wesen haben diese Bedürfnisse nicht! In uns ist nichts, was verdaut. Schon vergessen?“
Gerade aus dürfte das Wohnzimmer sein. Die Tür steht offen und es ist tatsächlich das Wohnzimmer. Aber wie es da aussieht! Man dürfte nach etwas gesucht haben. Jedes Türchen des Schranks und der Kommode ist offen. Der Fernseher liegt zertrümmert am Boden, der Glastisch in tausend Scherben und auf der Wohnlandschaft liegen zwei menschliche Wesen. Ein Mann und eine Frau. Sie sind tot.
„Wer sind sie? Sind es Bekannte oder Fremde?“
Sie sind dein Vater und deine Mutter, Thygyrill.

Dennoch frage ich mich, in welche Richtung diese Geschichte gehen soll. Wird es nun doch ein Krimi? Oder wäre es nicht besser, über die Welt der Drachenflieger zu berichten? Aber war es nicht erschreckend, Kims und Marias Leiche im Wohnzimmer des Hauses am Ende der Gasse vorzufinden? Natürlich könnte ich sie wieder auferstehen lassen und das habe ich auch getan, indem beide zu einer Wesenheit verschmolzen sind.
„Aber es blieb nichts zurück.“
Du bliebst zurück, Thygyrill. Das einzige, was zurück blieb, warst du, ihr einziger Sohn auf der Leuchtenden Welt, obwohl Kim stets sagte, Maria könne keine Kinder mehr bekommen.
„Wenn sie sich für immer mit Kim vereinigt, kann sie noch ein Kind bekommen. Und das war ihr sehnlichster Wunsch. Sie wollte einen Erben auf die Leuchtende Welt setzen. Irgendwie hat sich nicht nur meine Mutter aufgegeben, sondern beide und doch ging von beiden nicht wirklich etwas verloren.“
Ist das wahr, Thygyrill?
Blöde Frage. Sicher ist es wahr, sonst würde ich es nicht schreiben. Es ist natürlich nicht vergleichbar mit anderen Wahrheiten, da es sich (und da muss ich mich wiederholen!) um Phantasie handelt, also nur um irgendeine Geschichte, die irgendeine Autorin gerade zusammen schustert.
Aber was wenn diese Geschichten, die Kim-Saga und all mein Geschreibe von Kim und seiner Welt, der Leuchtenden Welt, mal in – sagen wir es mal so: in falsche Hände kommt? Was, wenn daraus so etwas wie eine Religion entsteht, ein neuer Kult und riesige Häuser gebaut werden, um der Quelle der Kraft, Kims wahrer Göttin, zu huldigen?
Ich denke, nichts anderes ist bei den anderen Religionen, genannt Weltreligionen, passiert. Noch dazu hat einer vom anderen (oder vielleicht auch eine von der anderen) abgeschrieben, wenn man bedenkt, dass sich der Mitraskult kaum von der Geschichte (und einigen anderen derartigen Geschichten) des gekreuzigten und auferstandenen Joshua unterscheidet.
Was also, wenn sich die Menschheit in einem Wahn befindet? Man bedenke, was im Namen aller Kirchen und derartigen Institutionen alles passiert ist und noch immer passiert. Dabei geht es nicht um Kriege und derartige menschliche Spinnereien, denn wenn es die Religionen nicht geben würde, würde man sich eben eine andere Arena zum kämpfen aussuchen. Der Mensch ist nun mal ein aggressives Lebewesen und braucht das. Es geht um etwas ganz anderes: Bedenkt, ihr nicht vorhandenen Leser, was in Menschen vorgehen würde, wenn es auf einmal weltweit heißt, dass es keinen Gott, keine Götter gibt und die Priester, Popen und wie sich all diese Sippschaft nennen mag, euch Jahrhunderte lang angeschwindelt hat, um die Kontrolle über euch zu haben. Na? Selbst eingefleischte Atheisten würden kollabieren.
„Es ist doch nichts neues, dass die Menschheit im Wahn lebt.“
Thygyrill, woher willst du denn das wissen?
„Mein Vater hat es dir immer gesagt. Was meinst du, warum er dir stets riet, allen Glauben fahren zu lassen und auf dein Herz zu hören. Und selbst das wäre schon zuviel gewesen, - auf dein Herz zu hören, da auch die Herzen der Menschheit ziemlich verseucht sind.“ Wahrscheinlich wird es wirklich so sein, dass sich diese Menschheit selbst ausrottet, um der Evolution eine neue Chance zu geben, eine bessere Menschheit hervor zu bringen. Und falls einer der nicht vorhandenen Leser jetzt einwendet will, dass die Mehrheit eh okay ist und es nur ein paar Idioten gibt, muss ich widersprechen, denn die Idioten sind jene, die sich ständig verarschen lassen und nichts dagegen unternehmen.
„Also, was soll ich nun mit den Leichen anstellen? Sie vergraben?“
Wer hat sie getötet, Thygyrill? Wir müssen den Mörder finden.
„Na, ich war es! Ich habe sie durch meine Geburt getötet. Übrig blieb eine einzige Wesenheit, die sich Arima nennt und damals behauptete, meine Mutter und mein Vater zugleich zu sein.“
Das ist auch so ein Thema. Mutter und Vater zugleich sein. Manche Kinder haben heutzutage zwei Mütter oder zwei Väter. Natürlich sind das nur adoptierte Kinder. Darüber machen sie sich die Köpfe schwer, was aber wirklich nur für die Betroffenen wichtig wäre. Außerdem denke ich mir, Mensch ist Mensch und solange ein Mensch nicht plötzlich verlangt, seinen Hund oder seine Katze heiraten zu dürfen, würde ich sagen, es ist schon okay so.
„Was jetzt?“
Wir gehen zurück zum See, wo dein Vater und deine Schwester auf uns warten und dann begeben wir uns ins Drachenland.

Welch Panorama! Ein klarer, türkisfarbener See, umrandet mit Bergen, die zum wandern einladen und sogar ein Häuschen am See. Es ist ein Häuschen, wie einst manche in alten Bergdörfern standen. Aus dunkelbraunem Holz, mit grünen Holzläden an den Fenstern, in die Herzchen geschnitzt sind und ein langer Balkon an der Vorderseite, auf dem Blumenwannen aufgehängt sind. Darin befindet sich eine Blumenpracht in allen möglichen Farben. Dieses herrliche Panorama! Wie es einst die alten Maler aus ihren Pinseln zauberten. Jetzt fehlt nur noch, dass Arima in der Lederhose und Manola im Dirndl am Seeufer hocken.
„So weit wird es nie kommen“, vernehme ich Kims Stimme.
Gibt es eigentlich einen Unterschied zwischen Religion, Kultur oder Politik? All das in den Gehirnen von Menschen erdacht worden. All das gab es nicht, bevor der Mensch in Erscheinung trat.
„Das ist nichts Neues. Schon Watzlawick erzählte in seinen Büchern über die konstruierte Wirklichkeit der Menschheit.“
„Nicht schon wieder solche Dialoge!“ jammert Thygyrill, als wir uns neben Vater und Tochter setzen. Thygyrill neben Manola an die linke Seite und ich neben Arima an die rechte Seite.
Aber das passt doch gut hierher. Woraus sonst bestehen die Restbestände einer Zivilisation?
„Aus diesen Restbeständen lässt sich keine neue Welt erschaffen“, kontert Manola, „Ich habe noch erlebt, wie Menschen sein können und das war nichts im Gegensatz zu deiner Zeit.“
Irgendwie habe ich das Gefühl, es ist bereits sehr ungut auf unserer Erde und das zu meiner Zeit. Aus irgendwelchen Beständen muss doch das Neue entstehen. Aus Nichts wird nichts. So ist es doch.
„Das Universum ist aus dem Nichts entstanden.“
Jetzt sage aber ich: Nicht schon wieder solche Dialoge.
Das hier ist also die Drachenwelt. Und statt den Kühen und Schafen grasen Drachen auf den Almen, die sich rings um den See befinden. Ich kann unter ihnen auch die mir bereits bekannten drei Drachen erkennen. Arimas goldene Lady, namens Graziella, Thygyrills schwarze Göttin, Lady Ferryn und Manolas grünes Monster, Sir Izmyr.
„Ruf sie niemals nur nach ihren Namen. Sie bestehen darauf, Lady oder Sir genannt zu werden. Und denk nicht einmal daran, dir einen Drachen auszusuchen, denn es sind die Drachen, die dich aussuchen.“
Nicht einmal du hast dir deine goldene Lady ausgesucht, Arima?
„Nicht einmal ich.“
Das war jetzt aber mehr als ironisch von ihm gesagt und ich denke schon wieder an die konstruierte Welt der Menschen, die so verwundbar und so leicht zerbrechlich ist. Gerade jetzt, wo diese Welt vorwiegend am Stromnetz hängt. Kein Wunder, wenn die Psychiaterliegen ständig belegt sind. Wer redet denn da von artgerecht? Hängt die Kühe im Stall nicht mehr an! Lasst die Schweine in die Wälder! Und die Hühner? Man kann sie sogar in der Stube halten. Und die Pferde? Sie dienen dem Sport und der Tradition. Artgerecht? Menschen entarten alles, auch sich selbst.
„Warum fährst du immer so drüber?“
Arima meint damit, warum ich ständig über die Menschheit schimpfe. Ja, ist es denn ein Wunder? So ein Leben wollte ich nie. Es ist ein Leben voller Angst. Man kann nicht mal mehr auf die Straße gehen, ohne davor Angst zu haben, überfahren zu werden. Neben meiner Tante, im Altersheim, lag eine Frau, die mir, wenn ich mich verabschiedet habe, stets sagte: „Pass auf, wenn du über die Straße gehst, dass sie dich nicht überfahren!“ Recht hatte sie, denn heute sind alle so unaufmerksam. Aufmerksam aber starren sie auf ein kleines Gerät, das einst Handy genannt wurde und jetzt schon viele andere Namen hat, von denen ich nichts mehr wissen will. Deswegen gibt es auf den Straßen, am Boden, Ampeln, weil die Menschen nicht mehr hochblicken können, wo einst die Ampeln waren.
„Und das nennen sie nicht verrückt?“
Nein, Thygyrill, das nennen sie vollkommen normal. Früher, viel früher, hätten sie es sicher verrückt genannt. Manchmal sieht man das Gerät gar nicht, sondern nur feine Drähte aus den Ohren und etwas Kleines vor dem Mund. Und dann reden sie mit sich selbst und lachen laut. Es sieht wirklich verrückt aus und oft denke ich, jetzt müsste ein Mensch hier sein, der vor hundert Jahren gelebt hat. Dieser Mensch würde glauben, man habe alle Irren aus sämtlichen Irrenhäusern entlassen. Aber genau das ist Zeit. Alles hat seine Zeit. Und wenn es nicht Zeit hat, muss es warten, bis es Zeit hat. Früher hätte das Heute keine Zeit gehabt.
Kann mir irgendwer folgen?
„Ja, ich komme mit!“
Arima steht auf und wir gehen zusammen zu der nahen Almwiese, die sich hinter dem schmucken Haus befindet, wo die Drachen friedlich zusammen grasen.

Andererseits glaube ich, dass jedes Lebewesen seine ganz spezielle Zeit hat und sich seine eigene Welt sozusagen erschafft. Oder ist es dieses Erschaffen die Art und Weise, wie jedes Lebewesen die Welt wahrnimmt? Es mögen vielleicht sehr naive Gedanken sein. Und kein Aber! Es sind eben sehr naive Gedanken. Habe ich je behauptet klug oder gar ein Genie zu sein? Nein! Mir genügt diese Denkfähigkeit, die ich habe und meist ist sie mir schon zu viel.
Aber die Frage beschäftigt mich. Warum hat sich der Mensch eine derartige Welt geschaffen? Oder hat er sie so geschaffen, weil er sie einfach so wahrnimmt? Nach seinem Bilde? Nicht nach seinem Ebenbilde! Vielleicht kann ich mir morgen diesen Gedanken gar nicht mehr folgen und ich kann sie auch nicht zu Ende denken, weil es bei Gedanken kein Ende gibt.
„Auch keinen Anfang“, meint Arima und ich stelle fest, dass wir uns mitten unter riesigen Drachen, mit unterschiedlichen Farben und auch Formen, befinden. Groß sind sie alle, aber einige haben längere Hälse, andere wieder kürzere Beine, kleinere Flügel, kürzere Schwänze, nettere Gesichter. Ja, sie haben Gesichter, so wie Hunde oder Katzen oder andere Tiere auch Gesichter haben. Menschen sind die bösartigsten Tiere. Das nur, weil es vielleicht besser gewesen wäre, statt Tiere Lebewesen zu schreiben.
Und was jetzt, Arima?
„Abwarten, ob sich dir ein Drache oder vielleicht sogar eine Drachin nähert.“
Drachin?
„Wiederholungen?“
Ich weiß schon noch, dass sich Drachen Frauen als Reiter und weibliche Drachen Männer als Reiter aussuchen. Es geht um das Wort „Drachin“. Es dürfte nicht korrekt sein.
Arima dreht stumm die Augen über. Übrigens trägt er keine Lederhosen! Ich kann gar nicht sagen, wie er aussieht. He looks like. Ja, wie? Egal, in welcher Sprache ich es ausdrücken würde, nichts würde passen. Dasselbe trifft auf Thygyrill und Manola zu. Man kann sie nicht beschreiben. Nicht mehr so, wie ich es damals noch konnte, als es sich um Menschen handelte. Sicher sind es noch immer humanoide Lebewesen und noch keine Geister, die man gar nicht sehen kann. Lassen sich Geister überhaupt wahrnehmen, wenn sie doch aus nichts bestehen, nichts sind? Vielleicht nicht mit unseren gewohnten Sinnen. Geister kann man nicht sehen, nicht hören, nicht riechen, nicht schmecken, nicht berühren. Ein sechster Sinn? Seht ihr, ihr nicht vorhandenen Leser, das ist es, woran ich absolut nicht glauben kann, auch wenn die Möglichkeit besteht, dass es Menschen gibt, die mehr als 10% ihrer Gehirnkapazität nutzen. Wenn es mehr sind, dann vielleicht um 1 oder 2% mehr. Wären es 20%, würden sie im Wasser leben und sich Delphine nennen.
Parapsychologie! Dabei dürfte es sich um den größten Schwindel der Menschheit handeln. Und wenn die Tests positiv ausfielen, muss es Zufall gewesen sein, wenn Versuchsperson B die Karten von Versuchsperson A im anderen Raum richtig deutete. Oder die beiden waren gute Freunde. Sehr oft haben mein Mann und ich ein und denselben Gedanken. Deswegen neigen wir nicht zu Telepathie, sondern kennen uns besonders gut. Immerhin sind wir bereits mehr als 35 Jahre zusammen.
„Meine Güte, Mädchen! Und wenn schon?“
Was und wenn schon?
„Lass den Menschen ihren Spaß und ihre Geheimnisse.“
Sie in ihren Wahn weiterleben und ihr wahres Potential links liegen lassen?
„Was ist ihr wahres Potential?“
Das Leben selbst, Arima. Das Leben selbst. Im Grunde genommen weiß ich es nicht, aber ich fühle, dass es da etwas gibt, was uns die Oberen verschweigen, woran sie uns, das blöde Volk, nicht teilhaben lassen. Vielleicht war das mit der Parapsychologie und Esoterik (was ja nichts anderes als „Geheimlehre“ heißt) nur so eine Art Zuckerl und nicht mal 1% des Gesamtwissens, was sie uns zukommen ließen, lassen.
„Bist du vielleicht ein wenig paranoid geworden? Oder glaubst du an Verschwörungstheorien?“
Das ist das nächste Übel! Ja, die Verschwörungstheorien! Das ist derselbe Scheiß, wie all diese Pseudolehren, die sie uns vorsetzen. Wir müssen, jeder einzelne von uns, selbst dahinter kommen, was es mit dieser Welt und unserem Leben auf sich hat. Warum, zum Teufel, bin ich hier? Genau das ist die relevante Frage, die sich jeder stellen sollte.
„Schau mal, wer da kommt“, macht mich Kim auf einen mittelgroßen (und doch riesigen) Drachen aufmerksam, der sich mir langsam auf seinen kurzen Stummelbeinen, mit furchterregenden Krallen, nähert. Sein Gesicht ist putzig. Runde Schnauze, weite Nüstern und schwarze, kugelrunde Augen. Alles an ihm ist rund, bis auf den spitzen orangefarbenen Kamm, der sich von seinem Kopf (sieht aus wie eine Irokesenfrisur) bis zum sehr langen Schwanz fortsetzt. Wurde man dessen gewahr, dass der Kamm orangefarben ist? Ja? Denn der Rest, bis auf die schwarzen, großen Kulleraugen ist pink. Pink! Eine Art rosarote Farbe. Und dabei laufen hier so wunderschöne Drachen herum, sogar schwarze, wie Thygyrills Lady Ferryn. Ich wäre sogar mit einem schmutzig braunen einverstanden gewesen, wie den dort drüben, der gerade zu mir herüber blickt. Ach, hat der aber schöne gelbe Katzenaugen! Keine schwarzen Kulleraugen, bei denen man kaum das Weiße sehen kann. Irgendwie sieht das pinke Riesending vor mir wie eine Comicfigur aus. Und plötzlich, es ist wie Zauberei, nehme ich in mir, tief drinnen, eine angenehm dunkle, liebevolle Stimme wahr: „Sir Laurence steht dir zu Diensten.“

Warum bin ich hier? Ehrlich? Es ist mir scheißegal! Sollen sich jüngere darüber den Kopf zerbrechen und nicht ständig über die Alten schimpfen, die angeblich daran schuld haben, dass die Welt so beschissen ist wie sie nun mal ist. Auch wir waren einmal jung, genauso unzufrieden und haben die Alten angeklagt, weil sie uns eine derart verkorkste Welt hinterlassen haben. Jede Generation hat ihre Leiden. Wirklich jede!
Und ja, ich bin eine alte, verbitterte Vettel, die ständig am schimpfen ist und sich am liebsten vor der gesamten Menschheit verstecken würde. Wichtiger erscheint mir heutzutage (für mich) die Frage: Wer oder was will ich sein? Und da erscheint im Dunkel meines ausgetrockneten Gehirns eine lustige Alte. Sie ist jene aus dem Film „Harold and Maud“. Ja, ich gebe es offen zu, ich hab’s mit Filmen. Aber (für mich) gute Filme. Nein, nicht nur für mich! Es sind allgemein gute Filme und dieser, zugegeben, alte Film ist trotz seines Alters gut. Ein sehr junger Mann verliebt sich in eine sehr alte Frau und die beiden erleben zusammen im wahrsten Sinne der Worte – das pure Leben. Schaut euch den Film einmal an, ihr nicht vorhandenen Leser und auch wenn ihr, jeder für sich, anders wahrnehmt, wird euch dieser Film irgendwie berühren. Diese Alte ist lebensfroh und scheißt sich überhaupt nichts, das zu tun, was sie tun will. Selbst die Filmmusik ist berührend und besonders passend. Von Cat Stevens, den ich damals als märchenhaft empfand. Heute auch noch, aber nur ein bisschen. Auch wenn sich die Alte am Ende selbst ins Jenseits befördert, da sie sich ihren Todeszeitpunkt selbst aussuchen will, - oder vielleicht ist er Film gerade deshalb so gut und nicht auch wenn, usw. Auf jeden Fall möchte ich so wie diese Alte sein. Bin ich aber nicht. Basta!
„Was soll jetzt das Ganze? Sir Laurence erwartet deine Antwort.“
Welche Antwort?
„Stell dich ihm mit deinem ganze Namen und deinem ganzen Sein vor und zwar hurtig!“
Hurtig? Muss das sein? Das ist doch peinlich, Arima. Ich meine damit meinen Namen. Mein Name ist peinlich. Mein voller Name ist so was von peinlich.
„Es muss sein!“
Na gut! Also, lieber, netter Sir Laurence, mein Name, mein voller Name ist Auguste Aglaia Amanda von Hohensitz an der Blase. Kein Scherz! Leider kein Scherz. Und ich weiß, dass nur Leuchtende Wesen und andere Phantasiefiguren Drachenreiter sein oder werden können. Gerne würde ich in einen für immer jungen und vielleicht auch unsterblichen Leib schlüpfen. Aber es wäre zu vermessen, eine Fee oder eine Elfe zu sein. Also entscheide ich mich für die Gestalt einer alten, fiesen Hexe. Wie sie aussieht? Gar nicht bucklig, sondern wie die neuen über 60jährigen heutzutage nun mal aussehen: Durchtrainiert, da sie entweder Yoga oder Pilates oder sonst welche Verrenkungen machen. Sie sind auf jeden Fall total buckel- und faltenlos und haben auch keine Hakennasen, mit Warzen drauf. Meine Hexengestalt ist also auch so eine jung gebliebene über 60jährige.
„Ich wollte einmal mit Pegasus fliegen. Er ließ mich nicht einmal in seine Nähe.“
Manola nähert sich und blickt zum strahlend blauen Himmel hoch, in dem sich nur vereinzelt kleine Wölkchen finden lassen. Als ich hoch sehe, kann ich gerade noch ein geflügeltes Pferd erkennen, das im rasend schnellen Tempo herab stürzt und direkt vor mir landet. Es bläst seine Nüstern auf, rollt seine Augen und schließlich schreit es mich mit einer derartigen Intensität an, dass ich in die Knie gehe.
„Du sollst nicht lügen und niemals nach Aufmerksamkeit heischen hier in dieser Gegend!“
Weder lüge ich, noch heische ich. Dass Pferde aber auch so schrille, laute Stimmen haben.
„Ich bin kein Pferd!“
Arima wendet sich diskret ab und streichelt, eine lustige Melodie pfeifend, Sir Laurence den Hals. Nur Manola ist mutig. „Hab dich nicht so, alter Gaul.“
Alter Gaul? Ja, das war mehr als mutig.
„Thygyrill hat ihn eingefangen und für mich festgehalten. Als ich aufsteigen wollte, hat er sich in etwas ganz anderes verwandelt.“
Warum erzählst du mir das, Manola?
„Weil ich fühle, dass dir Pegasus etwas bedeutet. Übrigens ist das hier nicht der originale Pegasus, sondern eine sehr billige Kopie.“
Er würde mir auf jeden Fall besser gefallen als dieser lächerliche Comicdrache.
Das hätte ich jetzt besser nicht sagen sollen, denn Sir Laurence hat es mit bekommen. Seine großen Kulleraugen werden ganz langsam feucht und schließlich tropft die erste Träne aus seinem linken Auge und dann die zweite aus seinem rechten, bis schlussendlich zwei Ströme Wasser wie aus zwei Wasserleitungen fließen, die man ziemlich stark aufgedreht hat.
„Wenn du nicht sofort bei Sir Laurence entschuldigt, gibt es hier eine Überschwemmung. Oder willst du, dass diese wunderbare Landschaft im Wasser versinkt?“
Niemals, Arima. Niemals möchte ich, dass diese wunderbare Landschaft im Wasser versinkt. Andererseits könnte ich mir so ein Land unter Wasser auch gut vorstellen. Und dann fällt mir ein, Manola nach dem echten Pegasus zu fragen und wie diese billige Kopie mir unterstellt, zu lügen und nach Aufmerksam zu heischen.

Aber zuerst frage ich mich, warum wir unterscheiden und beurteilen, obwohl wir absolut nichts über die Personen oder die Dinge wissen, über die wir urteilen und die wir versuchen zu unterscheiden, obwohl jede Person und jedes Ding, selbst wenn es sich noch so ähnlich ist, Individualität besitzt und ein Unikat ist. Kein Ei gleich dem anderen. Und doch vergleichen wir, was ja kaum was anderes als unterscheiden oder beurteilen bedeutet. Ganz schlimm ist es ja, wenn wir über eine Person urteilen, die wir gar nicht kennen. Aber wir tun es, weil sie jemandem ähnlich schaut, der uns irgendwann einmal auf die Palme gebracht oder uns Angst gemacht hat. Wut und Angst sind die beiden Negativträger der Menschheit und gehören zusammen wie Pech und Schwefel. Und sie stinken auch genauso. Die Frage aber ist, ob dieses Vergleichen schon immer ein Teil unserer Urgene war, ob es notwendig war, um Gefahren voraus zu sehen. Und ich denke, genau deshalb unterscheiden wir. Aber wozu jetzt noch immer, wo doch die Menschheit in Frieden leben könnte, wo das Leben immer nur aus Friede, Freude, Eierkuchen oder eben andere bevorzugte Kuchenstücke bestehen könnte? Lasst uns was Neues beginnen! Lasst uns eine neue Welt erschaffen, wo es kein Leid, keine Wut und keine Angst mehr gibt!
Im Hintergrund höre ich Manola und Arima tratschen.
Manola: „Ist sie immer so?“
Arima: „Ja. Sie will den Dingen auf den Grund gehen.“
Manola: „Ich denke eher, sie will die besten Happen der Restbestände einer Zivilisation heraus picken.“
Arima: „Anders wird es wohl nicht funktionieren.“
Manola: „Wie meinst du das?“
Arima: „Ich habe ihr einst einen Floh ins Ohr gesetzt. Natürlich nicht wortwörtlich. Das ist nur eine Redewendung und eine besonders dumme noch dazu…“
Manola: „Daddy, ich weiß, was diese Redewendung bedeutet. Also, sprich ganz normal weiter, bevor auch du dich in einen Strudel begibst.“
Arima: „Vergiss nicht, hier vor dir befindet sich nicht nur dein Daddy, sondern auch deine Mummy.“
Manola: „Mummy habe ich sie nie genannt. Wenn, dann Mama oder Mami. Dennoch höre ich stets dich, wenn du etwas mitteilst und ich sehe stets dich, wenn ich dich ansehe…“
Arima: „Sie hat darauf bestanden, Manola. Ich konnte nichts dagegen tun. Damals war ich wirklich machtlos.“
Manola: „Gegen sie warst du immer machtlos.“
Arima: „Ach, die alte Eifersucht?“
Manola lacht laut auf. Es erinnert mich an das gackernde Lachen einer alten Hexe.
Manola: „Also, was hat es mit dem Floh nun auf sich.“
Arima: „Dass man von ganz neu beginnen kann, ohne nur irgendetwas vom altem mit zu nehmen. Ich sagte, vergiss alles, was du…“
Manola: „Das hast du ihr ja auch vor kurzem noch gesagt, oder?“
Arima: „Mag schon sein, aber vielmehr glaube ich, dass sie sich stets daran erinnert und mir gewisse Worte in den Mund legt.“
Manola: „Das tut sie sowieso. Erkennst du nicht, dass wir aufgeschmissen sind? Wir sind ihre Marionetten. Sie bewegt uns wohin sie will und sie lässt uns sagen was sie sagen will.“
Arima: „Ganz so ist es nicht. Ein wenig haben wir durchaus mit zu reden, nur bemerkt sie das kaum. Und selbst für uns erscheint es sehr subtil. Es ist ähnlich wie bei ihr, denn sie zweifelt sehr oft daran, zu glauben, eine quasi mystische Erfahrung gemacht zu haben. Quasi deshalb, weil eine mystische Erfahrung meist… Na ja, lassen wir das.“
Manola: „Heraus damit! Und ich weiß auch schon, was du sagen willst. Es gibt keine mystischen Erfahrungen. Alles Einbildung, Halluzination oder Hysterie. Es ist ja auch klar ersichtlich gewesen bei den Menschen, die von sich behaupteten, mystische Erfahrungen zu haben. Entweder nahmen sie Drogen, was in der Natur leicht zu finden ist, die es damals noch gab, oder sie bringen sich durch rituelles Tanzen oder rituelle Mantas in Ekstase. Also ist das alles durch sie selbst entstanden und weder irgendein Gott, noch irgendein Engel oder Dämon hatte etwas damit zu tun.“
Arima: „Das ist schon richtig. Aber vergiss nicht, worum es wirklich geht, nämlich um nichts anderes als um die eigene Wahrnehmung. Wer will behaupten, dass es keine mystischen Erfahrungen gibt, wenn ich sie ja doch wahrnehmen kann. Und egal, wodurch, ich kann sie wahrnehmen und deshalb gibt es sie auch für mich.“
Manola: „Tatsächlich? Du hast mystische Wahrnehmungen?“
Arima: „Ja, wir hatten sie durchaus. Oder wie willst du es nennen, wenn dein Geist in andere Dimensionen vorstoßt?“
Es ist mir egal, was mit dem echten Pegasus ist, denn ganz plötzlich habe ich tiefstes Mitleid mit dem heulenden Sir Laurence und nähere mich ihm demütig. Er spürt, was ich fühle und er hört augenblicklich zu weinen auf. In diesem Moment, als er seufzt und mich treuherzig wie ein Dackel anblickt, liebe ich ihn sogar und bin froh, dass er sich für mich entschieden hat und nicht der Schwarze dort drüben mit seinen bösartigen, gelben Augen. Dieser könnte nie so lieb schauen wie mein Sir Laurence. Sanft streichle ich seinen Hals und über seine rechte Wange, auf der noch eine kleine Träne in der wieder aufgehenden Sonne glitzert. Sir Laurence schnurrt wie eine Katze.

„Gefühle sind ja doch nicht unnötig, wie manche zu meinen glauben.“
Wer sagt das, Arima? Es geht doch nicht um allgemeine Gefühle, sondern viel mehr um Eigendünkel und Selbstmitleid. Und ja, ich weiß, dass es ein ganz bestimmtes Gefühl für ganz bestimmte Wahrnehmungen braucht, die du vorhin angesprochen hast.
„Weißt du was?“ Arimas Stimme klingt ziemlich scharfstreng. „Deine Ausführungen sind überheblicher, arroganter, hochmütiger und all diese Worte, die ich nur ungern ausspreche, denke oder was auch immer, als wenn du sagen würdest, dass nur der Mensch und sonst nichts und niemand Einblick in so genannte universelle Geheimnisse hat.“
Jetzt ist er wirklich böse.
„Hör nicht auf die Benennungen. Das sind blinde Äußerlichkeiten. Ob dies nun Christentum, Buddhismus, Hinduismus, irgendeine Philosophie, von mir aus auch Pseudophilosophie oder irgendeine Art der Esoterik genannt wird, - es ist scheißegal. Es geht einzig und allein darum, dass es wahrgenommen wurde. Es ist auch scheißegal, von wem es wahrgenommen wurde. Verstehst du, warum ich stets meinte, lass alles fahren und hör nur in dich hinein. Dort drinnen sind wahre Schätze verborgen. Und weißt du warum? Nicht, weil deine Seele so besonders rein ist.“
Das war jetzt wieder mehr als sarkastisch.
„Und auch nicht, weil du einen so besonderen Draht zur Geisterwelt hast. Sondern weil dort drinnen, wobei auch das Wort ‚drinnen’ verunsichert, wenn man es wörtlich nimmt, - sondern weil es das Unterbewusstsein ist, was die besten Ideen speichert und jedem zur Verfügung stellt. Das Unterbewusstsein hat Zugang zu dem, was einige die Akasha-Chronik nennen. Auch wieder eine Benennung, der du keine Bedeutung geben sollst. Und ja, selbst das Wort Unterbewusstsein sollte man vergessen. Für mich ist es die Quelle der Kraft, in der alles enthalten ist, wirklich alles und deren Teile wir alle sind. Alles ist ständig mit ihr verbunden. Warum also sollte sie uns nicht etwas zukommen lassen? Und ich denke, du weißt, wie ich all das meine, denn immerhin kommt ja auch das, was du mich und alle anderen hier sagen willst, teilweise aus deinem Unterbewusstsein oder zumindest daraus, was kluge Menschen damit meinen.“
Kluge Menschen?
„Ja, stell dir vor! So was soll es auch geben!“
Benennungen müssen sein, um weiter erklärt zu werden.
„Siehst du! Genau darum geht es. Schweig darüber wie ein Grab! Hüte es wie ein mächtiges Geheimnis, das niemals ausgesprochen werden darf, denn wenn, würde das Universum mit einem Schlag verschwinden.“
Und wenn ich es nur für mich ausspreche, ausschreibe?
„Und deine nicht vorhandenen Leser, die du herbei sehnst, um bewundert zu werden? Es ist genauso, wie du weiter, viel weiter oben erwähnt hast. Da schreibt einer und viele Jahre später wird sein Buch zur Weltreligion. Wenn er bereits gestorben ist, bleibt ihm vieles erspart. Wenn er jedoch noch lebt, was meinst du, wie er diese Macht ausnützen würde? Natürlich kommt es auf den Menschen an. Vielleicht ist es einer, der sofort in die Berge flieht und sich nie wieder blicken lässt. Schlimm steht es dann aber für die Menschenmenge, die seinem Buch huldigt. Sie verhungern im Geiste, weil sie selbst nichts erforschen und glauben, dieser eine mit seinem Buch habe die Weisheit mit dem Löffel gefressen.
Denke an Castanedas Don Juan, wie er sich der Kraft ergeben hat. Da war kein – ‚ich habe dies von der Kraft empfangen, deshalb bin ich heilig’, oder – ‚bete mich an, weil ich den Draht zum großen Geist habe’. Don Juan erhob sich nie über andere und er buckelte auch vor niemandem. Augenhöhe mit allem, das war seine Devise. Und zwar wirklich mit allem. Zumindest gehe ich so weit, dass ich auch ein Staubkörnchen, in dem viele kein Leben erkennen mögen, mir ebenbürtig erkenne.“
Weil du Welten in ihm erkennst?
„In der Tat. Es sind Welten, wie du sie auch beschreibst oder umschreibst, um sie für deinen Empfang verständlich zu erkennen. Der Empfang muss natürlich passen, - er muss angepasst werden.“
Lass uns Drachenfliegen. Sir Laurence warten schon und stupst mit seiner runden Knollennase an meine Schulter. Ich will weg von hier. Zumindest für eine Weile und alles vergessen. Nicht mehr philosophieren. Nicht mehr rätseln, ob es andere Welten gibt. Ja, warum sollte es keine anderen Welten geben. Der Mensch ist nicht das Maß aller Dinge. Auch wenn er im Stande ist, Geheimnisse aufzudecken und damit meine ich nicht nur wissenschaftlich bewiesene. Arima hat schon recht, wenn er mich anmaßend nennt. Andererseits gibt es aber auch viele Schwindler. Aber darum geht es ihm nicht. Ihm geht es um Selbsterkenntnis und das ist das ganze Geheimnis.
Sie Laurence ist ein sehr geduldiger Drache, der mit einem seiner Beine sogar hilft, auf seinen Nacken zu klettern. Drachen reitet man nicht auf ihren Rücken, sondern auf ihren Nacken, wo sie eine kleine Mulde haben, in die man sich bequem und sicher setzen kann. Und festhalten kann man sich am Kamm, der weicher und biegsamer ist, als er im ersten Blick erscheint. Man muss also genau hinschauen, genau hinhören, sonst wird es eine Fehlwahrnehmung, mit der man sich selbst verarscht.
„Ja, soll vorkommen!“
Arima, halt die Klappe! Dennoch wäre ich neugierig, warum geschwiegen werden muss? Weil sich das meiste aus dem geistigen Reich, aus der ewigen, unendlichen Quelle der Kraft, nicht beweisen lässt? Oder weil jedes Individuum ein ganz besonderes Geheimnis der Quelle hütet und kein anderes das Selbe, sodass alle zusammen das berühmte Universalpuzzle bilden?
Man muss glauben!
Das sagte schon Freund Carlos. Oder war es Don Juan? Egal! Komm, Sir Laurence, lass uns abheben und ins erholsame Regenbogenland fliegen. Für eine Weile alles vergessen und nur beobachten und genießen. Eben das tun, was man tagtäglich das gesamte Leben lang tun sollte: beobachten und genießen.

Da erinnerte ich mich, dass der große Krieger Arjuna und sein – und bis vor wenigen Jahren auch mein – Mentor Krishna einmal ohne jede Veranlassung oder Provokation den ganzen Khandava-Wald samt all seinen Bewohnern niedergebrannt hatten. Es war eine der seltsamsten Episoden im Mahabharata, mir bis heute trotz allem Nachdenken vollkommen unverständlich und unbegreiflich. Aber vielleicht war gerade das die Lehre, die das große Epos uns dadurch vermitteln wollte: dass das Leben an sich unerklärlich ist und sich jeder rationalen Wertung entzieht, dass es zu einem gewissen Teil – wenn nicht zur Gänze – sinnlos ist.
Schreibt Kiran Nagarkar in seinem Buch „Krishnas Schatten“ und ich erinnere mich an diese Textstelle, als Sir Laurence mit mir über ein so wunderschönes Land fliegt, das nur schwer zu beschreiben ist. Vielleicht wäre Paradies etwas zu übertrieben, denn ich kann menschenähnliche Wesen erkennen, die sich jedoch sehr friedlich benehmen. Manche halten einander an den Händen und tanzen Reigen wie kleine Kinder. Andere hocken am Strand und bauen wundervolle Skulpturen aus Sand, was mich abermals zu besagter Textstelle bringt, was die Sinnlosigkeit betrifft. Und wieder andere arbeiten singend und hüftschwingend auf einem Feld oder in einem der vielen Obstgärten. Wir fliegen etwas über zweitausend Meter über den Boden – aus Vorsicht, da der höchste Berg dort unten etwa 1500 Meter hoch ist. Irgendwie, ich weiß aber nicht wie, macht mich Sir Laurence auf ein hohes Gebäude, eine Art Turm, am Ende des Dorfes aufmerksam, aus dem Rauchwolken schweben, die sich langsam, aber stetig über das Dorf und die nahe Umgebung ausbreiten.
„Der Rauch macht sie willig und nebenbei ziemlich fröhlich. Ich könnte mit einem Feuerstoß dieses ganze Elend auslöschen. Das würde außerdem die Steuerzahler der anderen Städte und Dörfer im Land entlasten, aber das Gesetz will es nun mal so, dass Schwerverbrecher in einem eingezäunten Dorf wie Familien zusammen leben dürfen und Friede, Freude, Eierkuchen vortäuschen.“
Warum vortäuschen? Sie wirken wie einst Hippies in den Sechzigerjahren.
„Du sagst es wahr. Sie wirken nur so, - sind es aber nicht. Dort unten laufen Schwerverbrecher herum, die unter anderem sogar kleine Kinder missbraucht und danach grausamst getötet haben. Was sie Tieren angetan haben, möchte ich lieber nicht erwähnen.“
Wie, bitte?
„Ich kann fühlen, dass du mit Tieren sehr verbunden bist, auch wenn du ab und zu etwas Fleisch in dich hinein würgst. Ich fühle auch, dass du mit Tieren mehr verbunden bist als mit Menschen und es nur sehr wenige Menschen gibt, denen du vertrauen würdest. Tieren vertraust du eher. Du würdest sogar lieber auf einen wilden Tiger zugehen, als auf einen fremden Menschen. Ehrlich gesagt, würde ich das Wahnsinn nennen.“
Schon gut, Sir Laurence. Was also hält dich davon ab, das gesamte Dorf mit einem Feuerstoß auszulöschen?
„Mich hält gar nichts davon ab. Ich halte es einfach für sinnlos, mich in die Geschicke der Menschen einzumischen. Sollen sie doch tun, was sie wollen.“
Oder hast du Angst, erwischt zu werden? Sir Laurence lacht hell auf. Es ist seltsam, wenn ein Drache lacht. Sein ganzer Körper vibriert und ich halte mich etwas fester an einer seiner Kammspitzen fest.
„Kein Mensch würde jemals einen Drachen erwischen. Die Zeiten sind vorbei. Es ist nur wenigen dieser bösartigen Rasse vorbehalten, uns edle Wesen wahrzunehmen. Die da unten können uns nicht sehen.“
Mich auch nicht?
„Dich auch nicht. Und wenn, würden sie nicht glauben, was sie sehen.“
Sehe ich so furchtbar aus?
„Du hast dich für den Körper einer Hexe entschieden. Was soll ich dazu noch sagen?“
Für den Körper einer jung gebliebenen Hexe ohne Falten.
„Träum weiter!“
Wir verlassen also dieses anfangs so paradiesische Dorf, das sich schließlich als Tragödie entpuppte und fliegen weiter, bis wir den gigantischen Regenbogen am Himmel sehen. Das Tor zum Regenbogenland!

Links und rechts davon halten zwei menschenähnliche Wesen Wache. Es sind Zwillinge. Oder Klone? Zumindest sehen sie einander ähnlich wie ein Ei dem anderen.
Wie muss das sein, wenn man mit einem Bruder oder einer Schwester aufwächst, der oder die einem wie das eigene Spiegelbild erscheint? Was passiert da mit der eigenen Individualität?
Jetzt gibt es uns zweimal. Okay, warum nicht? Ist es denn wirklich das Äußere, worauf wir so sehr Wert legen? Warum nicht viel mehr auf das Innere? Das, wie wir die Welt wahrnehmen. Das, wie wir auf die Welt reagieren. Das wäre doch echte Individualität! Aber wir verlegen uns auf das Äußere, beschimpfen es als Hölle auf Erden, wenn etwas nicht passt oder loben es als blühende Schönheit, wenn uns alles erfreut. Aber nie, wirklich nie oder zumindest höchst selten, kommen wir auf die Idee, dass es an uns selbst liegt, WIE wir die Welt wahrnehmen und WIE wir auf sie reagieren. Damit will ich nicht sagen, dass wir alles gleichmütig wahrnehmen und auf alles beherrscht reagieren sollen, was natürlich ein Ideal wäre. Viel mehr jedoch wäre uns damit gedient, wenn wir auf uns selbst eingehen würden, uns selbst fragen, wo denn der Hafer sticht. Lässt es sich ohne noch größeren Schaden abwenden, gut und wenn nicht, müssen wir nun mal damit klar kommen. Es geht eh alles vorbei. Wie heißt es so ernüchternd? Nach hundert Jahren kräht kein Hahn mehr nach dir.
“Denkst du immer so kompliziert?“
Was ist daran kompliziert?
„Zuerst einmal die beiden dort am Regenbogentor. Es sind Duplikate. Na und? Wozu musst du dir darüber Gedanken machen? Und – ja – ich weiß, was Zwillinge sind. Aber weder du noch ich haben einen Zwilling. Also, wozu sich darüber das Hirn aussaugen? Und dann stets dieses ‚Wir’. Bist du wir? Wer ist wir?“
Die Menschheit allgemein.
„Es gibt keine Menschheit allgemein. Es gibt Menschen. Es gibt Tiere. Es gibt Pflanzen. Es gibt noch vieles andere. Aber es gibt nichts Allgemeines. Das einzig Allgemeine oder Allumfassende lässt sich nicht erkennen. Man kann es erahnen und das ist schon alles. Also, was soll das Gefasel von Welt wahrnehmen und auf sie reagieren?“
Ich würde gerne darüber stehen.
„Darüber stehen? Gefühle abschalten und so?“
Nicht direkt. Ich möchte gelassener werden.
„Dann tu es wenn du das willst.“
Du sagst das so leicht, Sir Laurence.
„Wenn ich etwas will, dann tu ich es.“
Ohne Rücksicht auf Verluste?
„Das haben wir Drachen so an uns. Du kennst doch sicher einige Drachengeschichten, wo sie ganze Dörfer nieder brannten, wenn das Volk ihnen keine ihrer Jungfrauen gebracht hat. Einst war uns nach Jungfrauen und ich muss sagen, sie schmeckten echt hervorragend. So frisch und keineswegs zäh wie die alten Vetteln, die man uns später brachte, weil es keine Jungfrauen mehr gab. Das heißt, wir WOLLTEN Jungfrauen und bekamen sie auch, weil wir die dementsprechenden Mittel dazu hatten. Um ihr Dorf und sich selbst zu schützen, nahmen die Menschen es in Kauf eines ihrer Liebsten zu opfern. Wenn es auch mit viel Geschrei und Gejammer der Angehörigen der Opfer geschah.“
Das ist ja furchtbar.
„Warum? Wie gesagt, wenn du etwas willst, dann tu es.“
Ich glaube, man müsste schon auch an die Konsequenzen denken.
Sie Laurence lacht wieder. In diesem Moment durchqueren wir das Tor, welches die beiden identischen Wächter für uns öffnen.
„Menschen sind so halbherzig. Meinst du nicht, dass, wenn jeder auf sich selbst schauen würde, alles viel einfacher sein würde, als wenn jeder denkt, man müsse da und dort Rücksicht nehmen, denn es könnte ja verletzten und so weiter? Es würde auch viel mehr Ehrlichkeit geben und keine falsche Doppelmoral mehr.“
Es ist nicht so einfach, wie du denkst, Sir Laurence.
„Es ist einfach, Auguste Aglaia Amanda von Hohensitz an der Blase. Die Sache ist nur die, dass ihr es euch nun mal nicht einfach macht.“
Ich kann nun mal nicht rücksichtslos sein und denke zuerst nach, ob dies oder das verletzend für meine Mitmenschen ist. Wenn es das ist, verzichte ich auf das, was ich tun oder sagen will. Wozu auch? Es ist im Grunde genommen auch nichts wichtig, wenn eh in hundert Jahren alles vorbei ist und kein Hahn mehr nach mir kräht. Vielleicht komm ich so der Einstellung, die ich haben möchte, immer näher. Gelassenheit, komm näher!
„Jedem das seine“, murrt Sir Laurence und macht mich auf die Landschaft unter uns aufmerksam. Aber meine Gedanken schweben noch immer bei dem, was ich eigentlich sagen wollte, nämlich, dass die meisten Menschen wie Herdentiere handeln und sich nur selten auf ihre Individualität verlassen. So gesehen könnten sie sich alle auch äußerlich wie Zwillinge gleichen.