Es ist ungefähr das Jahr 2200. Deshalb ungefähr, weil es keine genauen Angaben des Datums mehr gibt. Damit hatten die Menschen schon längst aufgehört, weil es nicht mehr wichtig war einen Tag, oder eine Zeit zu bestimmen. Das Ende der Kalender begann damals, als man die sogenannten Politiker mit Hilfe der tapferen Rebellen ein für allemal von ihren Ämtern „befreite“.
Aber wie geschrieben, - es ist ungefähr das Jahr 2200. Es ist nicht so, wie ihr euch das wahrscheinlich vorstellt, - mit supermodernen, superschnellen Raumschiffen, die einem statt altertümlichen Autos um die Ohren schwirren, wie Bienen, oder lästige Fliegen. Getier dieser Art gibt es nicht mehr. Es gibt auch keine Raumschiffe und keine modernen Bauten, in denen alles per Computer, oder ähnlichem technischen Zeug funktioniert. Es gibt nichts dieser Art, nicht einmal Autos, da Benzin nicht mehr erzeugt werden kann. Natürlich gab es vor langer, langer Zeit Wissenschaftler, die bereits andere Treibstoffe, die man gar nicht mehr Treibstoffe nennen kann, entwickelt haben. Damals waren sie nahe dran, Raumschiffe dieser Art herzustellen wie ich sie oben genannt habe.
Es gibt nichts, wirklich nichts, das einem Menschen unserer Zeit, - (ich schreibe dies im Jahre 1995) -das Leben im Jahr 2200 lebenswert erscheinen würde. Jeder von uns würde sich mit Abscheu abwenden und hoffen, niemals wieder geboren zu werden. Lieber würde man sich in die Vergangenheit zurück versetzen lassen, - lieber würde man in der Urzeit als Neandertaler leben. Es ist auch nicht viel anders als damals, als diese Art Menschen unseren Erdball bevölkerten, bis auf die Tatsache, daß man die wenigen Nahrungsmittel, die uns die Natur noch bietet, nur auf eigene Gefahr essen kann, da fast alles verseucht und vergiftet ist. Aber ein Großteil der Menschheit hat sich längst an diese Gifte gewöhnt und ist immun dagegen. Der Mensch ist nun mal ein Gewohnheitstier.
Um wieder auf die Neandertaler zurück zu kommen. Eigentlich hat sich seitdem am Menschen selbst nichts verändert, bis auf die Äußerlichkeiten natürlich. Er bekam einen etwas mehr aufrichtigen Gang, einen längeren Hals, ein Kinn, das nicht mehr fliehend war, wie beim Neandertaler, weniger Haare am Körper, u.s.w.
Sollte diese Entwicklung wirklich wichtig sein? Viele glauben wohl auch, daß sich der Mensch geistig ebenso entwickelt hat. Ich widersetze mich diesem Glauben und behaupte eher das Gegenteil. Der Mensch ist habgieriger, egoistischer und viel mehr noch, blind geworden, - blind für alle Natur. Er beseitigte die Natur, - er ignorierte sie und bekam überhaupt nicht mit, daß er sich bei all seiner zum Himmel stinkenden Eitelkeit fast selbst beseitigte und ignorierte. Er tat nichts für seinen Geist, - für sein „Herz“. Es waren immer nur die Äußerlichkeiten wichtig, weshalb er sich auch äußerlich so sehr veränderte. Eigentlich veränderte er sich ja kaum äußerlich, obwohl er das glaubt, wenn er sich im Spiegel betrachtet, denn das Wahre kann der Mensch bis heute nicht erkennen. Es gibt noch immer Menschen mit fliehendem Kinn, gebückter Körperhaltung und etwas mehr Behaarung am Körper. Aber all das ist nicht wichtig, und all das fühlten die Menschen nie, nie in dieser langen, langen Zeit, seit sie sich selbst als die Regenten der Erde gekrönt hatten, bis zu der Zeit, von der ich nun berichte, der Zeit, in der man ungefähr das Jahr 2200 schreibt.
Wie hätte sich der Mensch entwickeln sollen, werdet ihr jetzt fragen. Er hätte es geschafft, fliegen zu können wie ein Vogel. Er hätte es dadurch geschafft, daß er durch innere Kraft, die er in sich nie gespürt hat, seine Körperatome umwandelt und somit der natürlichen Anziehungskraft der Erde entkommen wäre. Ja, das wäre wahrscheinlich möglich gewesen, wie ich vom Hörensagen einer Physikprofessorin vernommen habe. Der Mensch wußte wirklich nie, welche inneren Kräfte ihm das Leben mitgegeben hat. Er wußte nie, daß er in sich selbst das Geheimnis des Universums und selbst Gott gefunden hätte, wäre er in sich gegangen, hätte er nur einmal versucht, sein Herz zu suchen. Dieses „Insichgehen“ läßt sich nicht wissenschaftlich erklären. Man kann nicht einmal eine Theorie darüber aufstellen, weil es bei jedem Menschen völlig verschieden ist, wie er seine wahren Kräfte entdecken kann. Es gibt keine Sekte, keine Religion, die euch das lehren kann. Man kann es nicht einmal mit Milliarden Dollar kaufen. Es ist nichts dergleichen, das sich wirklich lohnt, oder womit man vor seinen Freunden angeben kann, denn wenn ihr diese Kraft wirklich entdeckt, werdet ihr schweigen und genießen, manchmal echte Tränen weinen und manchmal echt lachen. Es ist eigentlich das, womit man den Menschen kaum beschreiben kann, denn es ist durchaus nicht menschlich. Fehler sind menschlich, -wie man so schön sagt. Nein sagen, - ist menschlich. Egoismus und Härte anderen gegenüber ist menschlich. Habgier und Neid ist menschlich. Ihr werdet dann kaum mehr menschlich sein, wenn ihr diese Kraft wirklich in euch entdeckt. Ich glaube, das wäre die wahre Weiterentwicklung vom Neandertaler bis zum heutigen Menschen gewesen. Der Mensch hatte ja wirklich genug Zeit dazu, - oder nicht? Wohl eher „oder nicht“, denn er beschäftigte sich viel mehr mit dem Äußeren und mit der Zeit, die ihm davon lief, weil er bis zu seinem Ende alles, was ihm in seiner Raffgier vorschwebte, ergattern wollte.
Das ist mein Lieblingsthema, deshalb belästige ich euch schon wieder damit. Aber es kann nicht oft genug gesagt werden, daß von Anfang an ein großer Wurm an unserer Entwicklung nagte, der sich bis heute in ein überdimensionales Ungeheuer verwandelt hat.
Die Menschen heute, die ungefähr im Jahr 2200 leben, haben einiges an Habgier verloren, weil es ja kaum mehr etwas zu besitzen gibt. Man muß sich mit dem begnügen, was man gerade findet. Nur wenige sind wirklich seßhaft. Die meisten Menschen sind bereits Nomaden geworden, wie damals, als es noch sehr viel Natur gab. Sie können sich aber nur mit einem kleinen Landstrich begnügen, denn lange Reisen sind meistens tödlich, weil die Menschen eher kraftlos und kaum widerstandsfähig gegen die Umweltprobleme sind, obwohl die meisten, wie schon erwähnt, gegen Vergiftungen immun sind.
Nun, wie sehen diese Menschen aus? Eigentlich nicht viel anders als wir, bloß, daß sie kaum Gewichtsprobleme haben. Sie sind eher zu mager und viel zu blaß. Ihre Haut ist fast gelblich weiß und durchsichtig, daß man die blauen Adern sehen kann. Auch ihr Haar hat an Farbe verloren, ist glanzlos und meist stumpf flachsblond. Nur wenige haben dunkles Haar. Schwarzes Haar gibt es überhaupt nicht mehr. Das soll nicht heißen, daß manche Menschenrassen ausgestorben sind, wie zum Beispiel asiatische Völker, Schwarze, oder gar Indianer, von denen es auch noch einzelne, wenige gibt, die man wirklich zählen kann. Um bei Indianer stehen zu bleiben, es sind nicht mehr diese Menschen, die sie einmal waren. Sie haben ihren Glauben und ihre Rituale schon längst aufgegeben und haben die Lebensweise ihrer Mörder und Unterdrücker angenommen. Jetzt werden sie nicht mehr unterdrückt.
Was ist nun aus diesen dunklen Rassen geworden? Sie sind heller geworden, ihre Haut wurde blasser und ihr Haar verlor diesen blauschwarzen, herrlichen Glanz und bekam statt dessen die Farbe eines öden, stumpf wirkenden Hell- bis Dunkelbraun. Manchmal kann man sie von den damaligen „Weißen“ genannten gar nicht mehr unterscheiden, denn viele von ihnen wurden sogar flachsblond und bekamen diese häßliche, durchsichtige Haut.
Natürlich gibt es noch schöne Menschen, wie die „Gesellschaft“ sagen würde, - Menschen, die in ihrer Zartheit und dem feinen, langen, Blondharr wie Elfen wirken. Ihre Gesichtszüge sind ebenfalls sehr zart, - große helle, meist wasserblaue Augen, kleine, zierliche Nasen und schmale, sanft geschwungene Lippen.
Aber es gibt auch häßliche Menschen, wie die „Gesellschaft“ abermals sagen würde, - Menschen mit Mißbildungen, wie zum Beispiel mit einem krummen Rücken, den man auch Buckel nennen kann, - oder Wucherungen im Gesicht, die bereits bei der Geburt vorhanden waren, daß man nicht so recht wußte, ob sich die Mutter nicht mit einem Tier gepaart hat, um Nachwuchs zu bekommen, weil ihr Mann bereits in jungen Jahren nicht mehr zeugungsfähig war. Natürlich ist es nicht möglich, daß sich die Mutter mit einem Tier gepaart hat, denn die Spermen eines männlichen Tieres können kein menschliches Ei befruchten. So weit sind die Wissenschaftler damals zum Glück noch nicht bekommen. Aber es ist möglich, daß junge Männer zeugungsunfähig sind, und das ist ein großes Problem für die Menschen dieser Zeit. Man sagt, das kommt daher, weil sich der Mensch an zu viele Gifte gewöhnt hat. Es ist auch möglich, daß sich die Frau nicht mehr befruchten läßt, da auch sie diesen Umweltgiften ausgesetzt ist. Daher hat ein Mann und genauso eine Frau, der, oder die ein Kind hat, hohes Ansehen. Das höchste Ansehen hat natürlich der Mann, die Frau, welcher, welche mehrere Kinder hat.
Tibor ist das einzige Kind. Seine Mutter und sein Vater sind sehr stolz darauf, denn in ihrer Umgebung gibt es nur vier Kinder. Tibor ist männlich, wie man sicher schon herausgehört hat. Die anderen vier Kinder der nahen Umgebung sind weiblich. Es zählt nicht, ob ein Kind männlich, oder weiblich ist. Wichtig ist, daß man Nachwuchs bekommt und nicht die Angst hat, auszusterben. Noch wichtiger ist natürlich, daß die Kinder gesund zur Welt kommen. Tibor und die vier kleinen Mädchen sind gesund. Auch ihre Eltern und die anderen Menschen in der nahen Umgebung sind gesund. Es ist auch ein halbwegs gesunder Landstrich, auf dem diese Menschen leben, aber es ist auch ein sehr einsamer Landstrich, wo sich kaum jemand Fremder längere Zeit niederlassen würde. Dieser Landstrich hat nämlich ein sehr rauhes Klima. Nein, es gibt keinen Schnee mehr, - schon lange nicht mehr. Rauhes Klima bedeutet drückende Hitze, - ständig drückende Hitze, kaum Wasser, da rund herum nur ausgetrocknete, aufgerissene, kahle Erde. Was soll daran gesund sein? Man kann das nicht mehr so genau nachprüfen, aber man sieht es doch an den Menschen, die dort leben und aufwachsen. Sie sind alle gesund und sogar etwas kräftiger, als die Menschen, die nördlicher leben, wo das eigentlich Ballungszentrum der Menschheit ist. Aber um dorthin zu gelangen, würde es einen Fußmarsch von gut 15 Jahren brauchen, wenn nicht mehr. Wie geschrieben, die Menschen sind nicht mehr so kräftig und ausdauernd, daß sie kilometerweit, ohne längere Rast, wandern können, - wenn auch diese Menschen, die hier auf diesem gesunden Landstrich im Süden leben, etwas kräftiger gebaut und auch etwas gesünder sind, als die Menschen im Ballungszentrum.
Wovon leben diese Menschen, wenn doch alles rund herum ausgetrocknet ist? Eine gute Frage! Man sagte damals, daß die Wüste lebt und daß man sich in der Wüste, wenn man nicht gerade ein Vielfraß ist, ganz gut ernähren kann. Es gibt noch immer Kakteen und ihre süßen, wohlschmeckenden Früchte. Es gibt auch noch
Kräuter, die den Disteln ähnlich sind, und es gibt Wasser, das man in diversen Höhlen der niedrigen Berge entdeckt hat. Nein, man kann diese Hügelkette eigentlich nicht Berge nennen. Es ist eine Hügelkette, - eine etwas lang gezogene Hügelkette, die als Wohnungen dient. Ziemlich ähnlich den Neandertalern, die sich auch in Höhlen ihre Wohnungen errichtet haben, nicht wahr?
So ziemlich jede Höhle (Wohnung) hat so ein kleines Wasserloch, das man wie einen Schatz hütet, daß es nicht austrocknet.
Was die Kleidung betrifft, es gibt in diesem dürren Landstrich so eine Art Gras, das dem damaligen Hanf ähnlich ist. Dieses Gras braucht kaum Flüssigkeit, im Gegensatz zum damaligen Hanf, der eher in sumpfigen Gebieten zu einer Pracht heran gewachsen ist. Wenn man nun dieses Gras trocknet, wird es weich, man kann es zu Garn spinnen und damit die schönsten Stoffe weben. Man kann es natürlich auch einfärben, denn bestimmte Kräuter gaben ein herrliches Blau und auch ein tiefes Rot, fast schon ein Violett ab.
Es gibt auch noch Tiere, wie zum Beispiel wild herum streunende Hunde, die man erschlägt, sie häutet und daraus Lendenschurze aus Pelz macht. Natürlich ist das bei dieser Affenhitze nicht angenehm, aber man nimmt, was man bekommen kann, wenn das Gras zu wenig ist.
Womit spinnen und weben diese Menschen? Der Erfinderdrang ist noch immer da, und keiner dieser Menschen scheut sich davor, alles der Natur zu entnehmen, was noch zu nehmen ist. Irgendwo wächst immer ein morscher Baum, dessen Holz man gebrauchen kann. Und irgendwo in den Höhlen findet man sicher Steine, oder Erze, die man mit Hilfe anderer harter Mineralien zu Werkzeuge verarbeiten kann. Sogesehen ist der Tagesablauf niemals langweilig, weil man immer etwas zu tun hat. Arbeit in diesem Sinn, wie es sie früher gab, gibt es nicht mehr. Man arbeitet hier für sich selbst. Man könnte diese Menschen, die so vereinzelt in den kargen Landstrichen leben, Aussteiger nennen, da sie sich für das Ballungszentrum überhaupt nicht interessieren. Sie wissen natürlich, wie das Leben dort oben ist, da schon viele Fremde vorbei gekommen sind, die darüber berichtet haben. Keinen von den Menschen hier interessiert so ein Leben, wo noch immer einzelne Menschen über andere Menschen bestimmen und ihnen sagen, was gut für sie ist. Nein, Politik in dem Sinn gibt es nicht mehr. Wie schon anfangs geschrieben, hat man diesen Politikern schon längst den Hahn zugedreht. Man könnte diese einzelnen Menschen im Ballungszentrum eher Anführer nennen, oder gar Häuptlinge, die sich kaum von den übrigen Menschen unterscheiden. Sie schreiben schon Gesetze aus und sagen somit, was erlaubt und was nicht erlaubt nicht, aber sie ziehen selbst kaum einen Nutzen daraus. Sie besitzen sozusagen genauso viel, oder genauso wenig, wie die „normalen“ Menschen, - also grob gesagt: wie ihre Untertanen. Ja, es sind Untertanen, denn wo irgendwo mehr als 100 Menschen zusammen leben, muß jemand sein, der ihnen sagt, was sie zu tun haben und was nicht. Das war nun mal menschlich, leider Gottes!
Es ist schon ein Wunder, daß sich 30 Menschen auf einem Haufen vertragen, wie das der Fall in dem Landstrich ist, wo Tibor mit seinen Eltern lebt. Das ist aber nur deshalb der Fall, weil eben diese Menschen das höheres Ansehen haben, welche Kinder zur Welt bringen. Und in diesem Fall sind das Tibors Eltern und die Eltern der vier kleinen Mädchen. Diese 10 Menschen haben sozusagen das Sagen, wenn irgendwo ein Problem auftaucht. Es leben nicht 30 Menschen auf diesem Landstrich, denn genau genommen sind es, mit den Kindern eingeschlossen, 42 Menschen, von denen der älteste ein Mann ist, der mit Tibors Eltern die Höhle teilt.
Dieser älteste Mann ist nicht Tibors Großvater, - er ist nicht einmal weitschichtig mit ihm verwandt. Er ist nur der eigentliche Besitzer dieser Höhle, und weil er nicht alleine leben wollte, nahm er vor einigen Jahren Tibors Eltern bei sich auf. Zwei Jahre später kam Tibor zur Welt. Der alte Mann war Geburtshelfer. Er kannte sich überall gut aus und lernte Tibors Eltern das Überleben auf diesem rauhen Landstrich. Nach und nach kamen Wanderer vorbei, genauso wie Tibors Eltern damals und machten sich in den Höhlen der Hügeln seßhaft.
Demnach könnte man meinen, daß der alte Mann das Sagen haben müßte, weil er ja der erste in diesem Landstrich war, dem ist aber nicht so, denn ein Kind zu gebären bedeutet mehr als ein alter Mann zu sein.
Es gibt kaum Streit unter diesen 42 Menschen, weil Tibors Vater, der sehr energisch sein kann, dem sofort ein Ende setzt. Manchmal ist er nicht sehr gerecht und handelt nach Sympathie. Also, wer ihm von den beiden Streithähnen lieber ist, dem gibt er recht, und der andere muß sich diesem Urteil beugen, sonst wird er dazu gezwungen, seine Wanderung fort zu setzen. Es sind rauhe Sitten, so wie das Klima.
Tibor fühlte sich immer wohl in dieser Gesellschaft, vor allem unter der Gesellschaft des alten Mannes, der sich Argon nennt. Nur heute ist Tibor traurig, weil der alte Mann krank geworden ist. Er war noch nie krank. Es war wohl das Alter, wie die anderen der Gruppe sagten. Sie sagten auch, daß es für alle einmal vorbei sein wird. Jeder von uns muß einmal sterben, - sagten sie, als Tibor an diesem Morgen völlig verstört aus der Höhle kam und rief, daß der alte Mann alleine nicht mehr aufstehen kann und ihm jemand helfen soll. Tibor wollte einfach nicht glauben, daß sein bester Freund heute nicht aufstehen kann und mit ihm nicht, wie gewohnt, einen Spaziergang macht, wie sonst auch immer. Sicher versuchten Tibors Eltern und auch einige der anderen Menschen, den alten Mann zum Aufstehen zu bewegen, aber der alte Mann blieb auf seinem Lager liegen und sagte, daß es nun Zeit sei in eine andere Dimension einzutreten. Tibor verstand kein einziges Wort davon. Er weinte nur an diesem Morgen.
Er weint auch jetzt. Jetzt ist es Abend und der alte Mann ist tot. Tibor sitzt in der Höhle vor dem Lager seines Freundes. Er ist alleine. Die anderen heben drüben, weit weg von den Höhlen, gerade ein Grab aus, um dem alten Mann die letzte Ruhestätte zu geben. Tibor weigerte sich mitzugehen, als ihn seine Eltern dazu aufforderten. Nicht einmal der energische Vater, der ihn sogar ziemlich hart am Arm packte und aus der Höhle zerren wollte, schaffte es, Tibor dazu zu bringen, dem alten Mann auf dem letzten Weg zu begleiten.
Es ist das erste Mal, daß Tibor mit dem Tod konfrontiert wird. Bis jetzt ist noch keiner der Menschen in diesem Landstrich gestorben.
Tibor ist erst 8 Jahre alt. Er weiß, daß er 8 Jahre alt ist. Nein, es gibt keinen Kalender mehr wie damals, aber die Menschen hier schreiben mit Kreide an den Wänden der Höhlen die Monate auf und erkennen so das Alter ihrer Kinder und auch ihr eigenes Alter. Sie erkennen es daran, wann Vollmond ist, - also, wenn Vollmond ist, ist ein Monat um, - 12 mal Vollmond bedeutete ein Jahr. Sozusagen sind 12 Striche an den Wänden der Höhlen ein Jahr. Tibors Vater hat neben Tibors Lager den Namen „Tibor“ mit Kreide geschrieben und darunter bereits 96 Striche gemacht.
Tibor wird dieses Jahr niemals vergessen. Es war das erste Jahr des Todes. Das erste Mal wurde ihm ein Mensch genommen, den er liebte. Das erste Mal das bittere Aus, gegen das sich niemand wehren kann.
Tibor brauchte lange, bis er halbwegs begreifen konnte, was der Tod ist. Richtig begreifen kann es ja niemand, nicht einmal Tibors Vater konnte erklären, was Argon damit gemeint hat, daß er nun in eine andere Dimension geht. Der Glaube eines einzelnen Menschen macht es aus, was der Tod ist, - hatte Tibors Vater gesagt, - und für Argon ist der Tod eben eine andere Dimension, - sozusagen ein Ort, den man nur durch den Tod erreichen kann und an dem eine Art Weiterleben möglich ist. Tibor meinte darauf, daß man, wenn man tot ist, nicht leben kann. Tibors Vater lachte mit seinen großen, breiten, etwas gelblichen Zähnen und schwieg. Er konnte nicht weiter sprechen, denn er konnte Tibor nicht sagen, wie er den Tod fühlen soll. Das kann man nur selbst heraus finden, wenn es so weit ist.
„Du hast ja gesehen, daß Argon nicht traurig war, als er starb. Er lächelte sogar und freute sich auf diese andere Dimension. Er dachte, daß er dort wieder geboren wird und ein völlig neues, völlig anderes Leben leben wird“, sagt Tibors Vater am nächsten Morgen, als er seinen kleinen, schmächtigen Sohn wieder weinend an Argons Lager sitzen sieht. „Es ist egoistisch von dir, wenn du weinst, obwohl Argon jetzt glücklich ist. Argon würde das sehr mißfallen, was du hier machst.“
Tibor sieht mit tränenverschleierten Augen zu seinem Vater hoch.
„Du meinst, er wäre traurig, weil ich ihn vermisse? Ich finde, das wäre egoistisch, wenn ich es einfach so hinnehmen würde und nichts dabei empfinden würde. Es tut weh, Vater! Es tut verdammt weh!“, schreit Tibor und rennt laut aufweinend aus der Höhle.
Er weiß nicht, wohin ihn seine dürren Beinchen tragen, als er fast wutentbrannt auf der aufgerissenen, bereits heißen Erde läuft, die seine Fußsohlen noch härter macht, als sie ohnehin schon waren. Schuhwerk kennt man hier nicht.
Und plötzlich steht er vor den Grab Argons. Er kann es nicht fassen und sieht es fast als Omen an, daß ihn seine Beine völlig unbewußt an diese Stelle führten. Tibor kniet nieder. Seine Tränen versiegen. Er blickt nicht auf das Grab, sondern zum Himmel hoch, wo sich die Sonne eben den Weg von Osten her nach oben bahnt. Tibor fragt sich, ob Argon dort oben irgendwo sein könnte. Am Abend, wenn er manchmal mit Argon vor der Höhle saß und sie die wenigen Sterne, die bei dieser vergifteten Nebendecke noch zu sehen waren, betrachteten, sagte Argon oft, daß er einmal zu so einen Stern fliegen möchte. War Argon jetzt dort oben? Nein, das konnte nicht sein, denn der Tod ist viel tiefer. Man kann diese Dimensionen von hier aus nicht sehen.
Tibor erhebt sich wieder und schlendert langsam zur Höhle zurück, um das gewohnte Leben auf zu nehmen.
Es war nicht einfach, aber Tibor war stark genug.
Tibors Vater machte wieder viele Striche unter dem Namen Tibor. Es hatte sich in der Zwischenzeit nicht viel verändert. Kein Toter, kein Zuwanderer, nichts.
Tibor zählt nun 11 Jahre. An diesem Morgen kann man die Sonne nicht sehen. Die Wolkendecke ist zu dick. Auch der Blick zum Horizont ist nicht sehr weit. Die Hitze spiegelt sich im Nebel.
Als Tibor gerade am Höhleneingang sitzt und seiner Mutter zusieht, wie sie an ihrem selbstgebastelten Webstuhl gerade ein neues Hemd für Tibor webt, vernimmt er fremde Geräusche. Es ist wie bellen, - wie das Bellen eines streunenden Hundes, und doch klingt es anders.
„Ein Wanderer!“, ruft der Nachbar neben Tibors Höhle und zeigt mit dem Arm geradeaus, wo sich eben aus
dem Nebel eine hagere, gebückte Gestalt entpuppt.
Der Fremde kommt schleppend näher und mit ihm die bellenden Geräusche, die man Husten nennt. Es ist selten, daß hier jemand hustet, geschweige denn nur ein bißchen krank wird. Das kennt man hier nicht, - aber man kennt es vom Hörensagen.
„Er ist krank und braucht Hilfe“, sagt der Nachbar und eilt im nächsten Moment auf den Fremden zu.
Schon sind auch die anderen zur Stelle und helfen dem Wanderer in Tibors Höhle, wo ja noch immer Argons Lager bereit ist.
Tibor bleibt außerhalb der Höhle, genauso wie die meisten der Menschen. Es haben ja nur 6, oder 7 Leute Platz in der engen Behausung. Tibor ist mißtrauisch Fremden gegenüber. Es paßt ihm überhaupt nicht, daß man diesen Fremden ausgerechnet in seine Höhle gebracht hat, noch dazu auf das Lager seines besten Freundes gebettet hat. Tibor schmollt und sieht verärgert aus. Aber andererseits, denkt er sich, wäre er auch froh, wenn es ihm einmal so dreckig gehen würde, daß man sich seiner erbarmt und ihm sogar ein Lager anbietet. Bei diesen Gedanken hellt sich sein Gesicht sofort auf, und er drängt sich in die Höhle, wo sich seine Eltern, der Nachbar und noch zwei Männer um den Fremden kümmern.
Tibor hält sich noch im Hintergrund. Er will den Fremden nur ansehen. Seine Augen sind leicht gerötet und glanzlos. Diese Augen erinnern Tibor an Argon, als er an diesem Morgen nicht mehr aufstehen wollte. Tibor fröstelt, obwohl es stickig heiß ist. Fast unmerklich geht ein Zittern durch seinen schmalen Knabenkörper. Er hat Angst, das fühlt er nun ganz gewiß, - Angst vor, - er weiß es nicht. Ist es der Tod? Das zweite Mal der Tod?
Wie von weit weg vernimmt er die gebrochene Stimme des Fremden, die sagt, daß er es satt hat, im Ballungszentrum zu leben, wo Gesetze herrschen, die überhaupt nicht mehr menschlich sind. An jedem Eck muß man Angst haben, um nicht auf Verbrecher, oder Gesetzeshüter zu stoßen. Es ist ja kaum mehr ein Unterschied zwischen diesen beiden. Ein jeder will dich einschränken und über dich bestimmen.
Als Tibor die Worte „an jedem Eck“ hört, erinnert er sich, daß ihm Argon einmal vom Ballungszentrum erzählt hat, daß die Menschen dort in Häuser wohnen, die sie sich selbst gebaut haben, weil sie noch Kenntnis davon haben, wie man das früher gemacht hat. Rohstoffe gab es ja noch. Und diese Häuser haben Ecken.
Aber viel mehr macht sich Tibor Gedanken darüber, wie es in diesem Ballungszentrum zugeht, daß es dort Menschen gibt, die über andere bestimmen, - ja, sogar bestimmen müssen, weil sich die Menschen untereinander einfach nicht vertragen können.
Es ist das erste Mal, daß sich Tibor nun wirklich ernsthafte Gedanken darüber macht, sich das erste Mal bewußt wird, wofür und warum er lebt. Nein, nicht nur diesen Menschen mußte etwas gesagt werden, die über andere bestimmen, sondern viel mehr den Menschen, über denen bestimmt wird.
Der Fremde stirbt. Er erstickt an seinem Husten. Tibor weint diesmal nicht über den Tod und wundert sich auch nicht einmal darüber. Er kannte ja diesen Fremden nicht. Sein Gesicht ist deshalb so ernst, weil ihn noch immer diese Gedanken plagen. Argon hat ihm ja schon vieles über das Ballungszentrum erzählt. Argon war dort geboren worden und wanderte, als er 15 war, bis hierher. Diese Wanderung dauerte fast 15 Jahre und war sehr beschwerlich. Was Argon während dieser Wanderung erlebte, wäre ein Buch wert gewesen. Tibor hat keine Geschichte davon vergessen. Er hat sich sogar die verschiedenen Wege gemerkt, die ihm Argon genau erklärt hat. „Du mußt dich nur an die Lichter am Himmel halten, - oder an bestimmte Zeichen auf der Erde, dann kannst du dich niemals verirren“, sagte Argon damals und erklärte Tibor alles noch genauer. Schon damals hätte Tibor den Weg zum Ballungszentrum geschafft, so genau erklärte der alte Mann dem Jungen den Weg.
Das nächste Jahr wurde schwer für Tibor. Der Fremde mit seinem Husten hatte eine unbekannte Seuche eingeschleppt. Tibors Eltern wurden krank, - auch der Nachbar wurde krank und einige der Mitbewohner wurden krank. Niemand konnte etwas dagegen tun. Der Husten dieser Menschen wurde immer schlimmer, und am Ende starben sie alle an Erstickung.
Heute sitzt Tibor weinend am Grab seiner Eltern. Er fragt sich nicht mehr, wo diese andere Dimension ist. Er fühlt nur Leere in sich, - häßliche, schmerzende Leere, die seine Tränen niemals versiegen lassen werden.
Als die Nacht herein bricht, sitzt Tibor noch immer weinend am Grab seiner Eltern. Er ist doch erst 12, noch immer ein Kind. Wohin soll er nun gehen? Was soll er alleine tun? Er war doch so hilflos und wußte nicht wirklich, wie man sich Kleidung und Essen beschafft. Klar, er hatte seine Eltern immer dabei beobachtet, aber selbst hat er so etwas nie gemacht. Das sind seine ersten Sorgen, nachdem die Tränen ja doch noch versiegen.
Der nächste Gedanke gilt Argon und seinen Erzählungen vom Ballungszentrum.
In diesem Jahr der Sorge hatte sich Tibor noch mehr Gedanken über die Menschen im Ballungszentrum gemacht. Es war ja so, daß dort der Großteil der Menschheit lebt. Diejenigen, die so wie er vereinzelnd irgendwo leben, waren eigentlich in Ordnung. Denen mußte man nichts beibringen, denn sie leben füreinander
und miteinander. Natürlich gab es auch Anführer, oder Berater, wie sein Vater einer war. Nun ja, das, oder so etwas ähnliches müßte man den Menschen im Ballungszentrum klar machen.
Tibor fühlt sich plötzlich zu etwas auserkoren. Er fühlt sich wie ein Messias und erhebt sich fast königlich vom Grab seiner Eltern. Nun, das Energische hat er von seinem Vater geerbt, und was die Macht angeht, die er über Menschen haben würde, das hat er von seiner Mutter geerbt. Sie hatte Macht über seinen Vater und ihn. Nein, sie war nicht herrschsüchtig, - sie ließ ihre Macht sehr bezaubernd und vor allem charismatisch über alle ergehen. Sogar die Mitbewohner dieses Landstriches erkannten das neidlos. Tibors Eltern waren große Persönlichkeiten, wenn auch nicht immer gerecht, aber doch beliebt bei allen, die hier wohnen.
Tibor lächelt jetzt sogar und denkt, daß er immer gerecht sein wird.
In dieser Nacht schläft Tibor sehr unruhig. Immer wieder träumt er vom Ballungszentrum, von den Menschen dort, die unzufrieden und streitsüchtig sind. Er sieht sich im Traum auf einem großen, steinernen Thron sitzen, - in der rechten Hand einen langen Stab, mit Federn und Ringen verziert. Auf seinem Haupt sitzt eine goldene Krone mit Edelsteinen. Vor dem Thron knien Menschen, - Menschenmengen, - alle Menschen dieser Erde, und sie alle rufen Tibor zu. „Tibor, König der Menschheit!“
Am Morgen fühlt sich Tibor wie gerädert. Es ist ja nicht schlecht, wenn man ein gewissen Ansehen hat, - denkt er bei sich, - aber einen Thron, eine Krone und eine auf Knien jubelnde Menschenmenge, - das ist ganz und gar nicht in Tibors Sinn. Er will der Freund der Menschheit werden, nur der Freund.
Tibor nimmt von seinen Mitbewohnern nicht Abschied. Für Tibor wäre es wie Sterben, wie der Tod. Er weiß, daß er diese Menschen nie wieder sehen wird. So, als ob er nur kurz spazieren gehen würde, entfernt er sich von seiner Höhle. Um die knochige Schulter hängt ein Leinenbündel mit den nötigsten Vorräten für die Reise. Tibor wird schon weitersehen, wenn die Nahrung ausgeht. Er ist ja schon kräftig genug, um anderen Menschen bei der Arbeit zu helfen. Dann würde er schon Nahrung für die Weiterreise bekommen.
Tibor dreht sich nicht mehr um. Er geht entschlossen weiter und sagt zu sich selbst:“Eine lange Reise beginnt.“
Sorgfältig überlegt er fast jeden Schritt und erinnert sich dabei an Argons Worte. Damals ging er mit Argon oft den Weg, der in Richtung Ballungszentrum führt. Es war aber nur ein ganz kurzes Stück, denn sie wollten sich nie zu weit von der Hügelkette entfernen. Tibor weiß, daß es eine lange Reise wird, aber er kann sich nicht wirklich vorstellen, wie weit und beschwerlich diese Reise werden wird.
Tibor war nun beinahe ein Jahr unterwegs. Natürlich ging seine Nahrung, die er in einem Leinensack um die Schulter gehängt hatte, schnell aus. Er hungerte aber nicht lange, und er hielt sich auch nie lange bei seinen Lebensrettern aus, bei denen er sich Nahrung erbettelt hatte. Anfangs war es gar nicht einfach für Tibor, diese Menschen zu bitten, ob sie nicht einen Schluck Wasser und ein kleines bißchen Nahrung für ihn übrig haben. Es war der angeborene Stolz, der ihm diese Bitte schwer machte. Aber Tibor hatte Glück, daß er ausnahmslos immer freundliche Menschen traf, die ihm sofort Nahrung, Wasser und auch eine Liegestatt zum Ausruhen anboten. Diese Menschen lebten wie er damals. Einige lebten in Höhlen, andere in Zelte aus Leinen.
Tibor vergaß auch nicht, bei jedem Vollmond Striche zu machen. Er ritzte sie in einen flachen Stein, den er in seine Leinentasche gepackt hatte. Er machte eigentlich keine Striche, sondern Punkte, da Striche diesen eher kleinen Stein sofort voll gemacht hätten. Tibor wußte, daß seine Reise sehr lange sein wird. Er wußte auch, trotz der Punkte, daß er irgendwann einen neuen Stein finden muß, auf dem er seine Monate einritzen wird.
Wie geschrieben, - Tibor war nun beinahe ein Jahr unterwegs.
Jetzt sind wir wieder bei Tibor, begleiten ihn als unsichtbare Schatten. Ich, die Schreiberin dieser Zeilen, und sie, die Leser dieser Zeilen. Ich könnte auch „du“ sagen, „dich“, den Leser anreden, aber ich hoffe, daß es mehrere Leser geben wird, - nein, nicht gleichzeitig, das ist mir auch klar, - aber so nacheinander, - deshalb rede ich euch alle an. Nun, wir sind wieder in der Gegenwart und begleiten Tibor, der beinahe 13 Jahre alt ist, auf seinem langen, beschwerlichen Weg. Das letzte Jahr der Wanderung hat Tibor fast erwachsen werden lassen. Er sieht nicht aus wie ein 13jähriger Junge. Dadurch, daß er täglich der gefährlichen Sonne ausgesetzt ist, wurde seine zarte, blasse Haut bräunlich und wirkt nun wie Leder. Im Gegensatz zu seiner jetzt dunklen Haut ist sein Haar heller geworden, beinahe weiß. Von der Nase bis zu den Mundwinkeln ziehen sich leichte Falten, wie um den sehr hellen, wasserblauen Augen. Tibor ist nicht unbedingt eine Schönheit, aber er ist auch nicht häßlich. Er sieht nur ein bißchen anders aus, als die anderen Menschen seiner Zeit. Das ist nun bedingt durch die Sonne, der er nun täglich ausgesetzt ist. Früher verbarg er sich tagsüber lieber vor der Sonne. Bloß am frühen Morgen, als die Sonne noch nicht so hoch am Himmel stand, spazierte er ein bißchen durch die Gegend. Viele Menschen schlafen tagsüber und machen die Nacht zum Tag, weil es da ungefährlich ist, sich vor der Behausung aufzuhalten. Licht hat man, denn Feuer ist überall dort, wo Menschen sind. Man muß ja auch manche Dinge kochen, und das macht man über dem Feuer. Wieder einmal sehr ähnlich den Neandertalern.
Reiseproviant hat Tibor nun genug in seinem Leinenbeutel, der beinahe schwer zu tragen ist. Die Menschen, bei denen Tibor letztens eine Nacht geschlafen hat, waren überaus nett und auch sehr besorgt um den Jungen, der sich ganz alleine auf so eine weite Reise wagt. Sie packten ihm wirklich mehr als genug ein, daß er sich jetzt einige Tage und Nächte keine Sorgen um Nahrung machen muß. Tibor wurde in diesem letzten Jahr auch sehr genügsam und teilte sich seine Nahrung sehr gewissenhaft ein. Das tut er jetzt ebenso, fast noch genügsamer, fast schon asketisch. Trotzdem ist Tibor nicht mager, sondern ganz besonders muskulös und auch sehr groß gewachsen für einen Jungen seines Alters. Die Menschen dieser Zeit sind alle eher groß gewachsen, aber Tibor würde einmal einer von den ganz großgewachsenen Menschen sein, wenn er so weiter wächst. Tibors Füße schmerzen ein wenig, weil der Boden ziemlich hart und steinig ist. Die Umgebung ist genauso öd und sonnenverbrannt wie in dem Landstrich, wo er gewohnt hat. Es gibt nicht viel neues für Tibor zu sehen. Auch die Pflanzen, die er auf dem Weg sieht, kennt er von seinem damaligen Zuhause. Durch den körperlichen Schmerz steigt auch der seelische Schmerz in Tibors Brust hoch. Er denkt wieder an seine Eltern, an die kleine Höhle, in der er gewohnt hat und so glücklich war. Fast unbemerkt drängen sich kleine Tränen aus seinen Augen und rollen über seine ausgetrockneten Wangen, auf das fast knielange, blau eingefärbte, langärmelige Hemd, das Tibor fast bis zu den Schultern aufgestrickt hat. Es ist unerträglich heiß geworden. Es muß Mittag sein, denn die Sonne brennt erbarmungslos von ganz oben auf den Jungen herab. Sein weißblondes Haar ist schweißnaß und kräuselt sich strähnig über den Rücken. Tibor hat sehr langes Haar, - fast bis zu den Hüften. Tibor hat sich nicht nur sein Hemd aufgestrickt, auch seine Hosen, die normal bis zu den Knöcheln reichen, hat er bis zu den Knien aufgestrickt. Die Hosen sind auch eingefärbt. Sie haben eine wunderschöne, nicht zu dunkle violette Farbe. Diese Kleidung hat er von Menschen geschenkt bekommen, die er unterwegs getroffen hat. Es waren auch Wanderer, wie er nun. Sie sahen Tibor mitleidig an, als er an ihnen mit zerrissenem Hemd und viel zu kurzen Hosen vorbei gehen wollte. Einer von ihnen, - ein Mann mittleren Alters, - hielt ihn am Arm zurück. Er faßte in seinen Leinenbeutel, zog ein Hemd und eine Hose heraus und gab sie Tibor wortlos. Tibor war auch wortlos, - vor lauter Freude, vor Überraschung, daß es so gute Menschen gibt. Er kam nicht einmal dazu, sich zu bedanken, so schnell waren die Wanderer wieder weg. Es mußten Engel gewesen sein, - dachte Tibor lächelnd.

Jetzt denkt Tibor wieder an diese Wanderer, um seinen Schmerz zu verdrängen. Und er denkt daran, daß er sie für Engel gehalten hat. Dabei durchzuckt ihn wieder ein leichter Schmerz, denn er muß an Argon denken, der ihm einmal gesagt hat, was Engel sind. „Engel sind Tiere, Tibor“, sagte Argon. „Engel sind wirklich Tiere. Sie sind sanftmütig und dem Menschen untertan. Sie haben untereinander Gesetze, die wir Menschen nicht verstehen und deshalb als brutal verdammen. Wir Menschen erkennen diese natürlichen Gesetze nicht, deshalb verdammen wir sie.“
„Was ist mit Tiere, welche die Menschen angreifen?“, fragte Tibor damals.
„Vielleicht ist es notwendig, um diese Menschen aufzufordern, einen anderen Lebensstil zu führen. Es könnte durchaus eine Warnung der Engel sein, wenn sie Menschen angreifen.
Weißt du, als die Welt noch nicht war, gab es nur Gott und viele, viele Engel. Und Gott sagte, daß er die Welt erschaffen wird und dazu auch viele Menschen. Gott sagte zu den Engeln, daß sie den Menschen untertan sein müssen. Jeder Engel beugte sich diesem Gesetz, bis auf einem. Dieser eine Engel war entrüstet und sagte zu Gott, er werde sich niemals dem Menschen beugen, der ja viel zu wenig weiß und keine Macht hat. Gott verstieß diesen Engel aus seinem Reich. Dieser Engel ist nun kein Engel mehr, - er ist der Satan. Vielleicht treffen wir Satan in der Gestalt eines Tieres, das uns angreift. Das könnte ja auch sein. Weißt du, Tibor“, sprach Argon weiter. „Die Menschen glaubten immer, daß sich Tiere ihrer Kraft nicht bewußt sind, aber das sind sie durchaus. Tiere wissen viel mehr über sich selbst, als der Mensch über sich selbst weiß. Und Tiere können mit ihrer Kraft etwas anfangen, was wir Menschen nicht können. Wir benutzen unsere Kräfte meist negativ, aber Tiere sind uns in diesen Dingen weit voraus. Sie können, wenn sie wollen, sich selbst heilen, - sie können fliegen, - sich unsichtbar machen und sogar zaubern. Aber für unsere Augen ist das nicht erkennbar. Tiere sehen natürlich auch viel mehr. Sie leben nach ihren Herzen und haben das gesamte Universum in sich. Sie müssen nicht forschen und auch nicht arbeiten, wie wir Menschen, denn Gott hat versprochen, immer für sie zu sorgen.“
„Aber Tiere sterben, Argon. Manchmal töten wir Hunde, um ihr Fell zu verarbeiten“, sagte Tibor.
„Sie sterben nicht wirklich, Tibor. Sie dienen uns nur. Sie wissen, daß wir ihr Fell brauchen und bieten sich als Opfer an.“
Tibor schüttelt bei diesen Gedanken seinen Kopf und lächelt. Manche Geschichten, die Argon damals erzählte, waren schon sehr eigenartig. Aber irgendwie könnte es schon so sein, daß Tiere Engel sind.
Langsam beginnt sich die Sonne zu senken. Nachts wird es zum Glück etwas kühler, aber auch nicht kalt, daß
man mehr Kleidung braucht. Es genügt, daß sich Tibor die Hemdsärmel und Hosen herunter strickt.
Tibor hält Ausschau nach einem Unterschlupf für die Rast. Heute ist er wirklich müde, denn meistens rastet er um die Mittagszeit, um der heißen Sonne nicht zu sehr ausgesetzt zu sein. Heute hat er den ganzen Tag nicht gerastet. Er möchte so schnell wie möglich ans Ziel kommen, aber er weiß, daß er bis jetzt nicht einmal ein Viertel seines Weges geschafft hat. Aber wo sollte er einen Lagerplatz finden, wenn überall nur endlos weite Ebene ist? Nicht einmal ein kleiner Hügel ist zu sehen, wo er eine Höhle hätte finden können. Sich einfach am Weg hinlegen war zu gefährlich, denn die Menschen, bei denen Tibor zuletzt war, warnten ihn vor bestimmten Wanderern, die nur auf plündern und morden aus waren. Sie sagten Tibor, daß diese Menschen sogar Menschenfleisch essen. Tibor hat bis jetzt noch nie Fleisch gegessen. Bei den Gedanken, Menschenfleisch zu essen, steigt ihm ein leichter Brechreiz auf. Aber noch besser Menschenfleisch zu essen, als Engelfleisch, denkt er sich und lächelt leicht.
Es hilft nichts, Tibor muß weiter wandern, bis er einen geeigneten Schlafplatz findet. Die Weite scheint endlos zu sein. Es ist fast hoffnungslos. Tibor will sich nur einen Augenblick hinsetzen, um seine müden, wie zu schwerem Blei gewordenen Beine etwas auszurasten. Mit schmerzverzerrtem Gesicht betrachtet er seine Fußsohlen, die tiefe, blutige Risse haben. Wenn nur ein Engel vorbeikommen würde, der ihm sein Fell anbieten würde. Mit diesem Fell würde er seine Füße einbinden, dann wäre auch die Wanderung viel leichter. Tibor hat schon einige Wanderer gesehen, die ihre Füße mit Fell eingebunden hatten. Der Junge stellt seine Beine hoch und legt sich zurück auf den Rücken. Wieder spürt er die Tränen hoch kommen, als er zum Himmel blickt, der immer dunkler wird. Irgendwie verliert sich Tibors Blick in dem dunklen Blaugrau, in dem vereinzelt einige helle Punkte zu sehen sind. Es sind Sterne, - sagt sich Tibor und schluckt seine Tränen tapfer.
Tibor bemerkt nicht, wie ihm die schweren Lider zufallen. Noch immer sieht er die dunkle Himmelsdecke mit den wenigen hellen Punkten. Fast scheint ihm, als würde sein Körper hochgehoben, empor zu diesen hellen Punkten, die nun immer größer werden. Einladend leuchten sie Tibor ins Gesicht. Sie sind nicht heiß, sondern angenehm warm und sehr, sehr tröstend. Ich kann fliegen, - denkt sich Tibor und lächelt im Schlaf. Er weiß jetzt noch nicht, daß er vor Müdigkeit und Erschöpfung eingeschlafen ist und bereits träumt.
Tibor kann sich vieler seiner Träume erinnern. Manchmal waren sie lustig, - eigentlich waren sie meistens lustig, denn Tibor träumte immer von bestimmten Erlebnissen, die er tagsüber hatte. Er hatte bis jetzt noch nie Probleme. In seiner Höhle war er geborgen und er wußte, daß sich seine Eltern immer um ihn kümmern werden. Böse Träume hatte er nie, - höchstens, wenn sein Vater einmal mit ihm schimpfte, wenn er Nachbarn ärgerte. Aber das waren auch keine bösen Träume in dem Sinn, denn er träumte nur davon, daß sein Vater mit ihm schimpfte und Tibor im Traum seine Schuldlosigkeit glaubhaft machen konnte. Das konnte er im wachen Zustand nie, denn Vater glaubte nie so recht an die Schuldlosigkeit seines so aufgeweckten Sohnes.
Aber so einen Traum wie jetzt hatte Tibor noch nie. Bis jetzt ist er im Traum noch nie zu den Sternen geflogen. Tibor hat keine Angst, als er den Sternen immer näher kommt und dann sogar auf einem landet. Es ist ein wunderschöner Stern, der nicht nur von weitem leuchtet. Er leuchtet auch jetzt, als Tibor auf den weichen Boden steht und um sich blickt. Und plötzlich, wie mit einem Schlag, ist sich Tibor im Traum, - also in gewisser Weise im Unterbewußtsein, - bewußt, daß er nicht nur Tibor ist. Er ist ein ganz anderer, der plötzlich ein ganz anderes Wissen in sich hat, - ein so gewaltiges Wissen, daß ihm momentan der Schädel brummt. Aber das ist nur ein kurzer Moment. Tibor fühlt jetzt, daß er ein Teil eines sehr mächtigen Wesens ist, - ein minimal kleiner Teil, der kaum erwähnenswert ist. Aber er fühlt sich wohl in diesem Wesen, - so wohl, als wäre er für ewig und immer zu Hause. Es ist wie sterben, denkt sich Tibor und lächelt mit dem Gesicht des mächtigen Wesens. Wie sehe ich nun aus? - fragt sich Tibor und tastet mit einer Hand über sein Gesicht. Es fühlt sich weich und zart an. Es muß wunderschön sein. Tibor ist jetzt überglücklich und sich seines Traumes noch immer nicht bewußt. Er will sich seines Traumes auch nicht bewußt sein, denn aus Träumen wachst du immer wieder auf. Tibor will nicht mehr aufwachen. Wie er schwebt, - wie leichtfüßig er seinen herrlich aussehenden Körper über den weichen, leuchtenden Boden trägt, - fast schwerelos und mit einer Eleganz, die kaum zu beschreiben ist. Jetzt ist Tibor ganz und gar dieses wunderschöne, mächtige Wesen, dessen Name er zu gerne wissen möchte. Zielstrebig schwebt er einen nahen Felsen zu, der ebenso weich wie der Boden ist. Als seine langen, schlanken Finger den Felsen berühren, ertönt eine zauberhafte Musik. Tibor selbst kennt Musik nicht, aber er weiß von Argons Erzählungen, was Musik ist. Und jetzt weiß es Tibor noch genauer, denn er ist ja dieses wunderschöne, mächtige Wesen, das diese Musik macht. Tibor wendet seinen Kopf. In diesem Moment erstarrt er, denn er sieht ein Wesen vor sich, daß wohl tausendmal schöner sein muß als er, obwohl er sich in dieser Gestalt schon wie ein Gott fühlt. Herzklopfend blickt er an dem herrlich leuchtenden Körper, der vor ihm steht, hinab. Es ist eine Frau, - eine wunderschöne, junge Frau, mit bodenlangem, goldblonden Haar, einem Gesicht wie ein Engel und eine Gestalt, wie er sie noch nie gesehen hat. Tibor weiß natürlich, wie Frauen gebaut sind, daß sie Brüste haben und andere Geschlechtsteile als er, aber diese Frau scheint mit Brüsten ausgestattet zu sein, wie er sie noch nie gesehen hat. Er möchte diese prallen Rundungen am liebsten berühren, so verlangend strecken sie sich ihm entgegen. Tibor schließt seine Augen, denn diese Art von Gefühlsregung ist ihm fremd. Tibor, dieser kleine Teil in diesem Wesen, hebt sich nun hervor und öffnet wieder zaghaft seine Augen. Gibt es Liebe auf dem ersten Blick, - fragt er sich und lächelt der traumhaft schönen Frau zu. Sie erwidert sein Lächeln und streichelt sanft über seine rechte Wange. Diese Berührung läßt Tibor einen Herzschlag vergessen, aber sofort danach setzt der Herzschlag trommelnd ein, und das Blut pocht in seinen Schläfen. Nicht nur in seinen Schläfen, denn Tibor verspürt etwas ganz Fremdes in seinen jungfräulichen Lenden. Etwas, was er wirklich noch nicht kennt. Argon hat ihm einmal erzählt, daß er eine Frau hatte und daß es nichts Schöneres gibt, als neben einer Frau zu liegen und sie zu lieben. Das war ein paar Tage bevor Argon starb. Tibor konnte sich nicht vorstellen, daß es das Schönste sei, eine Frau zu lieben. Aber jetzt in diesem Moment wünschte er es sich mehr als alles andere. Die lange Wanderung war vergessen, als er die leuchtende Schönheit in seine Arme nimmt und mit dem ganzen Körper in ihren Körper eindringt.
Von so einer Liebe hat Tibor noch nie etwas gehört. Argon sagte, daß man nur mit einem bestimmten Körperteil in eine Frau eindringt, aber niemals mit dem ganzen Körper.
Tibor fröstelt einen Moment lang. Der Boden unter ihm ist hart, nicht mehr weich. Erschrocken fährt er hoch und öffnet urplötzlich seine Augen. Er sieht nichts, denn rund um ihn ist tiefste Nacht. Nicht einmal die paar Sterne geben Licht. Der Mond ist nicht zu sehen. Es ist Neumond. Tibor faßt sich zögernd zwischen die Beine. Er ist naß. Er wird sich doch nicht angemacht haben? In diesem Alter! Tibor springt auf und faßt sich in die Hose. Seine Finger sind etwas klebrig. Er versteht sofort und lächelt stolz. Er ist erwachsen geworden. Eben in dieser Nacht ist er erwachsen geworden und ist nun fähig eine Frau zu befruchten. Mit 13 Jahren! Vor Freude beginnt er auf der Stelle zu springen und wirft seine Arme hoch.
„Ich bin ein Mann! Ich bin ein Mann!“, ruft er und besinnt sich nachher schnell seiner Lage. Grinsend setzt er sich wieder auf den Boden. Nach einer Weile besinnt er sich des seltsamen Traums. Er hatte schon einmal einen seltsamen Traum. Das war bevor er seine Wanderung begann. Es war die letzte Nacht in seiner Höhle. Damals träumte er, daß er auf einem Thron sitzt und eine riesige Menschenmenge ihm huldigt. Aber dieser Traum eben, der wollte Tibor nicht so recht in den Kopf. Er versteht nichts davon, was er eben geträumt hat. Er erinnert sich an das seltsame Gefühl zu den Sternen zu fliegen und daran, daß er auf einem Stern gelandet ist. Aber was passierte weiter? Er kann sich einfach nicht mehr erinnern. Tibor ist zornig, denn er will sich erinnern. Er fühlt, daß es etwas Wunderschönes war, das er geträumt hat. Der Zorn verwandelt sich in Traurigkeit, und Tränen bahnen sich einen Weg über die gebräunten, ledernen Wangen. Diese plötzlichen Gefühlsschwankungen versteht Tibor noch weniger. Eben war er überglücklich, weil er zum Mann geworden ist, dann war er zornig, weil er sich nicht mehr richtig an den Traum erinnern kann und jetzt ist er auf einmal zu Tode betrübt. Er unterdrückt die Tränen nicht. Er wehrt sich nicht gegen diese Traurigkeit. Er führt sie einfach darauf zurück, weil er noch immer sehr, sehr müde ist und sich wie gerädert fühlt. Trotzdem steht er auf, legt seinen Leinenbeutel über die Schulter und wandert weiter.
Ganz vorne über dem Horizont sieht er einen etwas größeren Stern. Diesem muß er folgen. Nur so kann er nicht vom Weg abkommen, der ihn zum Balllungszentrum führen soll. Er wird die ganze Nacht weiter gehen und erst am Tag, wenn die Sonne ganz hoch steht, eine längere Rast machen. Ja, so wird er es machen, - denkt Tibor und wandert wie unter Trance weiter. Er ist mit den Gedanken ganz wo anders, obwohl er den hellen Stern beim Gehen kaum aus den Augen läßt. Seine Gedanken sind noch immer beim Traum, den er sich krampfhaft erinnern will.
Es wird langsam hell. Als Tibor zur Seite blickt, sieht er die Sonne am Horizont. Es ist ein herrlicher Anblick, dieses satte Rot, das den ausgetrockneten Boden fast orange färbt. Es ist wie im Traum, - fährt es Tibor plötzlich durch den Kopf. Ja, im Traum war der Boden auch orange, - manchmal auch gelb und am Horizont war er fast violett. Tibor bleibt kurz stehen und wischt sich über die Stirn, die ihm ein bißchen schmerzt. Das kommt sicher vom vielen Nachdenken. Tibor will die Gedanken an seinen Traum wegwischen, aber er schafft es nicht. Ein eigenartiger Schmerz sitzt in seiner Brust. Es ist nicht der selbe Schmerz, den er gefühlt hat, als Argon starb, - als seine Eltern starben, - oder als er sich auf seiner Wanderung einsam gefühlt hat. Es ist ein Schmerz wie Verlangen, - wie ein Wunsch nach etwas, was man niemals haben kann. Es ist mit einem Wort Sehnsucht. Tibor sehnt sich nach seinem Traum zurück. Er fühlt plötzlich, daß dieser Traum das Wahre ist, daß dieser Traum sein eigentliches Leben ist und nicht diese Wanderung, dieses Ziel, Menschen verändern zu wollen, daß sie endlich friedlich zusammen leben können. Nein, dieser Traum ist das Wahre, in dem sich Tibor so gefühlt hat, als wäre er wirklich er selbst, zu dem es nichts mehr hinzuzufügen gäbe.
Tibor blickt zur anderen Seite, die noch ein bißchen im Dunkel der vergangenen Nacht liegt. Dort kann er viele
Bäume erkennen, - immens hohe Bäume, wie er sie noch nie gesehen hat. Sie tragen sogar große, dunkle, fast braune Blätter, wie er von weitem erkennen kann. Zielstrebig geht er auf sie zu und spürt in diesem Moment nicht einmal den Schmerz seiner Fußsohlen.
Als er endlich vor den vielen Bäumen steht, - der Weg war gar nicht einmal so kurz, wie er gedacht hat, - kommt Tibor aus dem Staunen nicht mehr heraus. Sein Genick schmerzt fast, weil er den Kopf so weit zurück biegen muß, um bis zu den Baumkronen zu sehen, so riesig sind diese Bäume. Und ihre Blätter sind gar nicht dunkelbraun, sondern grün. Es sind seltsame lange Blätter, von denen manche sogar bis zum Boden reichen. Manche dieser Bäume sind etwas krumm. Das ist wahrscheinlich deshalb, weil die Baumkronen so schwer sind. Tibor lächelt, weil die Bäume irgendwie wie Menschenköpfe aussehen, die auf einem langen, dünnen Hals gewachsen sind. Die Blätter die von oben kreisrund bis zum Boden hängen, sehen aus wie struppiges Haar. Als Tibor ein Blatt an der Spitze berührt, fährt er zurück. Er betrachtet seinen Zeigefinger. Blut! Er hat sich an diesem seltsamen, sehr großen, sehr langen Blatt gestochen! Hoffentlich ist es nicht giftig, - denkt sich Tibor und sieht sich die seltsamen Bäume wieder an. Die Stämme sind ja auch ganz anders, als die, die er kennt. Sie sind schon rauh und haben auch eine Rinde, aber sie wachsen fächerartig nach oben zu.
Tibor geht weiter bis er rundherum von diesen seltsamen Bäumen umgeben ist. Sie wären ein guter Schutz, wo ihn sicher niemand sehen kann, wenn er hier schlafen würde. Aber es ist noch zu früh zum Schlafen. Tibor wollte doch erst gegen Mittag einen Schlafplatz finden. Jetzt ist es erst Morgen. Was soll´s,- denkt sich Tibor, - müde bin ich ja noch immer und meine Füße schmerzen auch noch immer, also schlafe ich doch jetzt.
Insgeheim denkt Tibor auch an seinen Traum und wünscht sich wieder dort hin zurück. Aber noch geht er ein Stück weiter. Er möchte genau in der Mitte dieser vielen Bäume seinen Schlafplatz finden. Und wie er so weitergeht zwischen diesen gewaltigen Riesen, sieht er vor sich ein Glitzern. Es ist Wasser, - ein winzig kleiner See! So viel Glück hat Tibor nicht erwartet. Hoffentlich ist dieses Wasser genießbar, dann könnte er sich gleich seine kleine Tonflasche auffüllen, die ohnehin nur mehr halbvoll ist. Aber wenigstens waschen könnte er sich, denn mit dem klebrigen Zeug zwischen seinen Beinen fühlt er sich nicht besonders wohl. Tibor mußte sich andauernd kratzen, während er zu den Bäumen ging. Rasch entledigt er sich seinem Hemd und der klebrigen Hose, packt alles in seine Arme und springt laut jubelnd in den kleinen See. Das Wasser ist nicht tief. Es reicht Tibor kaum bis zu den Knien. Er legt sich in den See, der wirklich klein ist, denn wenn Tibor seine Hand ausstreckt, kann er das andere Ufer erreichen, während seine Füße das gegenüber liegende Ufer erreichen. Der See ist rund. Auch als sich Tibor im Wasser dreht, erreichen seine Füße das gegenüber liegende Ufer und die ausgestreckte Hand das andere Ufer. Das Wasser riecht frisch, also muß es genießbar sein. Tibor taucht mit dem Kopf unter und trinkt das kühle Naß. Es ist wirklich kühl. Anscheinend ist es unter diesen riesigen Bäumen vor der Hitze der Sonne geschützt. Nach dem Bad und dem Wäschewaschen geht Tibor nackt, mit dem Leinenbeutel um seiner Schulter, in dem die nun vollgefüllte Wasserflasche sorgfältig eingepackt ist, ein Stückchen weiter, um einen geeigneten Schlafplatz zu finden. Tibor will sich nicht zu weit von dem kleinen See entfernen, da er sich nach dem Schlaf noch einmal erfrischen möchte.
Genau zwischen zwei Riesen scheint der Boden ziemlich weich zu sein. Tibor probiert ihn aus. Wie gepolstert fühlt es sich an, als er am Rücken liegt und zu den mächtigen Baumkronen empor sieht. Tibor faßt in den weichen Sand neben sich, der sich seinem Körper anpaßt. So bequem hat er nicht einmal in seiner Höhle auf seinem Lager gelegen. Tibor seufzt zufrieden und schließt seine Augen. Er wartet auf den Traum. Er sehnt sich regelrecht danach. In seiner Erwartung dreht er sich einmal auf die rechte Seite, einmal auf die linke Seite, dann wieder auf den Rücken und manchmal sogar auf den Bauch. Aber der Traum will nicht kommen, - nicht einmal der Schlaf, trotz dieser quälenden Müdigkeit, will kommen. Tibor schließt seine Augen noch fester, - so fest, daß sich tiefe Falten im ganzen Gesicht bilden. Nach einer Weile wird es Tibor zu blöd. Es tut ihm auch schon alles weh vom vielen Herumdrehen, obwohl das Lager wirklich weich ist. Tibor setzt sich auf, zieht seine Beine an und legt seine Stirn auf die Knie. Vielleicht sollte er sich nicht wünschen, daß er diesen Traum wieder träumt? Vielleicht sollte er sich völlig ahnungslos niederlegen und einfach so einschlafen wie immer? Tibor ist sich sicher, daß es nur so funktionieren kann. Also versucht er es noch einmal, - legt sich auf den Rücken, schließt die Augen und fühlt sich völlig ahnungslos. Aber im Hintergedanken sitzt der Wunsch nach dem Traum und läßt Tibor nicht los. Wieder beginnt das quälende Herumwälzen von einer Seite zur anderen, vom Rücken auf den Bauch und wieder von einer Seite zur anderen. Tibor springt mit einem wutentbrannten Aufschrei hoch. Verärgert zieht er seine noch nassen Kleider an, hängt sich den Leinenbeutel um und geht weiter. Er gähnt. Vor Müdigkeit schießen ihm Tränen in die Augen. Er kann kaum mehr schauen, so müde fühlt er sich. Trotzdem kann er nicht schlafen, und das ärgert ihn furchtbar. Wahrscheinlich kann er nie wieder schlafen, - fürchtet Tibor und erzittert bei diesen Gedanken.
Langsam läßt er die riesigen Bäume hinter sich und setzt seinen Weg fort. Natürlich tut es ihm um diesen Schlafplatz leid, aber vielleicht würde er einen noch besseren finden, - vielleicht sogar eine Höhle.
Bald spürt Tibor seine Füße nicht mehr, - nicht einmal seine Beine. Er wandert wieder wie unter Trance unermüdlich seinem noch sehr weit entfernten Ziel entgegen. Kaum, daß er die Umgebung wahr nimmt, die sich nun beinahe Meter um Meter sichtbar verändert. Der Boden wird immer weicher, fast so weich wie unter den riesigen Bäumen, aber noch nicht mit so viel Sand. Rund herum wachsen dornige Sträucher mit saftigen Beeren, welche richtig zum Essen einladen. Tibor sieht sie nicht. Man kann nicht sagen, daß er geht, denn er strauchelt fast, hebt kaum mehr die Füße, weil sie bereits viel zu schwer sind. Tibor hinterläßt sogar eine Blutspur, so offen sind seine Füße schon, - fleischig offen. Es dauert nicht lange, und Tibor stürzt. Völlig unvorbereitet, ohne sich mit den Armen abzufangen, stürzt Tibor voll aufs Gesicht zu Boden. Er spürt das Blut nicht, das von der Stirn über die Nase bis zu seinen Lippen rinnt. Tibor hatte sich an einem Stein aufgeschlagen und ist ohnmächtig geworden.
Als Tibor zu sich kommt, findet er sich in einer Höhle wieder. Er hatte beim stolpernden Gehen nicht mehr bemerkt, daß sich vor ihm massive Gebirgszüge aufbäumen, die seine Wanderung ziemlich erschweren werden. Teile dieser Gebirgszüge werden von Menschen bewohnt, - sie wohnen in Höhlen, wie er damals. In einer dieser Höhlen, auf einem sehr bequemen, mit Pelz ausgestatteten Liegeplatz liegt Tibor nun und fühlt einen stechenden Schmerz im Kopf. Aufstöhnend faßt er sich an die Stirn. Aber da war keine Stirn mehr, - keine lederne Haut, - da war etwas Weichen um seine Stirn gebunden, - so etwas wie Leinen. Tibors Blick bleibt vorerst nach oben gerichtet, wodurch er erkennt, daß er sich wirklich in einer Höhle befindet. Nur ganz langsam senkt sich sein Blick. Vor seinem Lager, - direkt am Ende seiner Beine, steht eine ältere Frau und lächelt. Tibor läßt seinen glasigen Blick langsam zur rechten Seite wandern, - links von ihm ist ja nur Höhlenwand. Dort, an seiner rechten Seite, kniet auch eine Frau, aber eine viel jüngere, - die, so überlegt Tibor mit schmerzender Stirn, in seinem Alter sein müßte, - vielleicht sogar etwas älter. Sie hält sogar seine Hand und streichelt ganz sanft seinen rauhen Handrücken. Sie lächelt nicht, sondern sieht Tibor eher besorgt in die Augen. Tibor errötet unter diesem Blick. Fast mit lähmendem Entsetzen stellt er fest, daß diese junge Frau sehr schön ist. Sie hat sogar dunkles Haar, das wunderbar lockig über runde Schultern fällt. Dunkles Haar ist äußerst selten und deshalb auch sehr begehrenswert. Die junge Frau sieht auch wirklich begehrenswert aus, - stellt Tibor noch immer mit lähmendem Entsetzen fest. Er schluckt. Seine Kehle ist trocken, und er muß husten. Die junge Frau läßt sehr zum Mißfallen Tibors seine Hand aus, steht auf, holt etwas vom anderen Ende der Höhle und kniet sich dann wieder an seine Seite. Dieses Etwas, das sie Tibor nun an die Lippen hält, wobei sie ganz sanft ihre andere Hand unter seinen Nacken schiebt und ihm hilft, sich etwas aufzurichten, ist eine tiefe Schale mit Wasser. Tibor weiß nicht, was ihm mehr behagt, - die sanfte Hand im Nacken, oder das erfrischende, heiß ersehnte Naß in seinem ausgetrockneten Mund und seiner ausgetrockneten Kehle.
„Wir haben dich unten in der Ebene gefunden. Du warst ohnmächtig und hattest eine Wunde an der Stirn. Hat dich jemand überfallen?“
Verklärt lauscht Tibor der angenehmen Stimme des Mädchens, die sofort von einer weniger angenehmen, eher forschen, befehlerischen Stimme unterbrochen wird.
„Laß ihn erst einmal schlafen, Karja. Du siehst doch, daß er noch immer verwirrt ist.“
„Ja, Mutter.“
Karja, - ertönt es noch einmal, wie ein Echo, in Tibors Ohren. Aber das Echo ist sanfter, weicher und klingt fast wie ein Engelschor. Karja, Karja....
Tibor schläft die ganze Nacht und den ganzen nächsten Vormittag. Der Schlaf scheint traumlos gewesen zu sein, denn Tibor kann sich an nichts erinnern, als er die Augen aufschlägt und erkennt, daß er nun alleine in der Höhle ist. Aber er erinnert sich an etwas anderes. Er erinnert sich an Karja, an ein wunderschönes Mädchen, mit langem, lockigen, dunklen Haar, einer fast weißen, zarten Haut und verträumten, dunkelblauen, großen Augen, mit langen, seidigen Wimpern.
Noch etwas schlaftrunken steht Tibor auf und streckt sich durch. Sein Rücken schmerzt vom langen Liegen. Er faßt sich an die Stirn. Der Verband ist noch da. Vorsichtig nimmt ihn Tibor ab und tastet über die bereits kleine Kruste. Es scheint nicht schlimm zu sein. Tibor erinnert sich, daß er nicht überfallen wurde. Er war so müde, daß er gar nicht mehr bemerkte, daß er noch immer wandert. In seiner Unachtsamkeit stürzte er und fiel mit der Stirn auf einen Stein. Ja, er erinnert sich wirklich.
Tibor ist wieder voll da, als er vorsichtig aus der Höhle blickt. Die Gegend hier beeindruckt ihn. Überall steiniges, hohes Gebirge, das bis in den Himmel zu ragen scheint. Als Tibor etwas aus der Höhle tritt, erschrickt er fast. Nur wenige Schritte, und er wäre abgestürzt. Tibor wagt sich nur zaghaft nach vor und blickt nach unten zur Ebene, wie es Karja genannt hat.
„Hallo“, vernimmt Tibor eine Stimme von oben. Am Dach der Höhle steht ein Mann und winkt Tibor zu. „Du kannst hier an der Seite ganz bequem hoch gehen.“
Tibor wendet sich nach links, wohin die Hand des Mannes gezeigt hat. Da ist wirklich ein bequemer, wenn auch steiler Weg. Als Tibor oben ist, wundert er sich noch mehr. Da war nichts mehr steinig, sondern bester Ackerboden, wie ihn Argon einmal beschrieben hat. Große Pflanzen und Obstbäume wachsen da in strotzend scheinender Gesundheit. Diese Menschen haben es wirklich leicht, - denkt sich Tibor, - unsere Leute mußten immer weit gehen, um Nahrung und Gras für das Leinen zu finden. Die hier pflanzen alles selbst an und haben es gewissermaßen vor der Haustür. Nun, sie haben auch diesen fruchtbaren Ackerboden zwischen all diesem wilden Gestein. Unsere Leute hatten nur ausgetrockneten, dürren Boden, auf dem kaum etwas anzubauen war.
„Wenn du ganz bei Kräften bist, kannst du mithelfen, die Ernte in die Höhlen zu bringen“, sagt der Mann und klopft Tibor freundlich lächelnd auf die nackte Schulter. Tibor hat nur seine Hosen an.
Sein Blick sucht Karja unter diesen vielen Menschen, die sich am Acker tummeln und wie der Mann sagte, die Ernte von den weiten, riesigen Felder in die Höhlen bringen. Aber er kann sie nirgends entdecken.
„Wie viele Menschen leben hier?“, fragt Tibor mit etwas erstickter Stimme. Immerhin hat er schon lange nicht mehr gesprochen.
„Wir sind so ungefähr an die 60 Leute. Hier unten, von wo du eben hochgekommen bist, sind unsere Wohnungen. Sie sind irgendwie terrassenartig angelegt, nicht wahr? Kennst du Terrassen?“
Tibor zieht unwissend die Brauen hoch und sieht dabei etwas dümmlich aus. Der Mann lacht auch deswegen und klopft ihm noch mal auf die nackte Schulter.
„Du kommst wohl nicht aus dem Ballungszentrum, was?“
„Nein, aber ich will dort hin.“
„Was!? Du willst dort hin? Das ist ja mal etwas ganz anderes. Ich kenne nur Menschen, die von dort weg wollen. Noch nie habe ich jemanden getroffen, der dort hin will.“
„Was haben Terrassen mit dem Ballungszentrum zu tun?“, fragt Tibor völlig unbeeindruckt und sieht nun eher klug aus, indem er seine Brauen tief herunter zieht, daß sie in der Mitte fast zusammen stoßen.
„Nun, die Menschen bauen sich dort Häuser mit Terrassen. Stell es dir so vor“, sagt der Mann, hockt sich nieder, nimmt einen Klumpen Erde und formt ihn zu einem Würfel. „Das soll ein Haus sein“, erklärt er weiter, nimmt noch einen Klumpen, knetet ihn mit Spucke weich, macht ihn flach und drückt ihn auf einer Seite in den Würfel, so daß die Fläche über den Boden schwebt. „Und das ist eine Terrasse, wo sich die Menschen im Ballungszentrum gerne aufhalten, um auf die Straßen zu sehen. Kennst du Straßen? Wohl auch nicht, was?“
„Ich habe davon gehört“, sagt Tibor etwas ärgerlich, weil er sich von diesem Mann ziemlich verarscht vorkommt. Der will hier wohl den ganz Klugen spielen, - denkt sich Tibor und wendet sich ab, um weiter in den Acker zu gehen und um Karja, oder deren Mutter zu sehen, denen er sicher helfen würde, die Ernte in die Höhle zu bringen. Für diesen Mann, diesen Angeber, würde er keinen Finger krumm machen.
„Wohin gehst du?“, ruft ihm der Mann nach, aber Tibor schenkt ihm keine Aufmerksamkeit mehr.
Er geht sicher mehr als 200 Schritte, als er Karja und ihre Mutter neben einem Obstbaum stehen sieht. Sie scheinen sich gerade auszuruhen. Karja winkt ihm schon von weitem zu. Neben dem Obstbaum steht ein prall gefüllter Leinensack, wahrscheinlich mit Früchten gefüllt.
„Bist du wirklich gesund?“, fragt Karja, als Tibor vor ihr steht und sie staunend lächelnd ansieht. Tibor ist noch immer von ihrer außergewöhnlichen Schönheit fasziniert.
Er nickt nur stumm und blickt zum Baum hoch, an dem nur mehr ganz oben runde, rot-gelb gefärbte Früchte hängen.
„Bist du so gesund, daß du auf diesen Baum klettern kannst, um die letzten Früchte herunter zu holen?“, fragt Karjas Mutter forsch.
Tibor nickt wieder stumm und macht sich an die Arbeit. Wie ein Affe erklimmt er den Baum bis zur Krone, reißt die Früchte ab und wirft sie zu Boden. Karja und ihre Mutter sammeln sie ein und geben sie zu den anderen Früchten im Sack.
„Du hast jetzt sicher Hunger“, sagt Karjas Mutter, hakt sich an Tibors Arm unter und geht mit ihm den Weg zur Höhle zurück.
Tibor wendet sich andauernd um, in der Hoffnung, daß ihnen Karja folgt, aber sie bleibt bei den anderen, die sich in einen Halbkreis sitzend formen und dort eine kleine Jause einnehmen.
„Warum kann ich nicht mit ihnen essen?“, fragt Tibor Karjas Mutter, als sie am Dach der Höhle stehen, wo auch der Mann noch immer hockend verweilt und sich sein Kunstwerk von Haus mit Terrasse lächelnd betrachtet.
„Du brauchst etwas Warmes, - etwas Kräftiges“, sagt Karjas Mutter wie nebenbei und wendet sich energisch dem Mann zu. „Was machst du hier? Du solltest deiner Frau bei der Ernte helfen, statt dessen spielst du hier wie ein kleines Kind in der Erde.“
„Jana ist kräftig genug, um den Rest alleine zu schaffen. Ich habe übrigens schon vor Sonnenaufgang gearbeitet und das meiste in unsere Höhle geräumt, Mutter.“
Tibor sieht den Mann wie elektrisiert an. Mutter, - hat er gesagt, also muß er Karjas älterer Bruder sein. Tibor kann nicht glauben, daß Karja so ein Ekel von Bruder hat. Karjas Mutter scheint Tibors Gedanken zu lesen. Sie lächelt und führt Tibor den steilen Weg hinunter zur Höhle.
„Gil ist nicht so, wie du denkst. Er hat sehr viel von seinem Vater gelernt, der ihm lesen, schreiben und sogar Mathematik beigebracht hat. Wir haben früher im Ballungszentrum gelebt. Als Gil ungefähr 5 Jahre alt war, sind wir weggezogen, weil wir dieses Leben nicht mehr ausgehalten haben. Es war ein Glück, daß wir hier her gefunden haben, wo uns nichts mehr abgeht. Nach 3 Jahren wurde ich wieder schwanger. Dann kam Karja, unser Engel, zur Welt. Leider ist mein Mann vor zwei Jahren gestorben. Ich weiß nicht woran. Lieber Himmel, ich weiß es wirklich nicht. Auf jeden Fall ist er eines Morgens nicht mehr aufgewacht. Er ist einfach eingeschlafen und nicht mehr aufgewacht“, erzählt Karjas Mutter, während sie vor der Höhle Feuer macht.
„Wie seid ihr auf die Idee gekommen, hier oben einen Acker zu bauen?“, fragt Tibor.
Karjas Mutter lacht auf.
„Wir haben die Wiese, die dort oben schon war, als wir hergekommen sind, einfach aufgegraben, - mit Spaten, die wir vom Ballungszentrum mitgeschleppt haben. Du hättest uns sehen sollen, wie bepackt wir waren. Es war eine wirklich beschwerliche Reise. So viel Zeug haben wir mitgenommen, daß uns bei jedem Schritt das Kreuz schmerzte. Außerdem mußten wir Gil abwechselnd tragen, weil der Kleine damals ja nicht so lange marschieren konnte. Ja, wirklich, wir hatten Glück, daß wir diese Gegend gefunden haben. Dieses Plateau mitten im Gebirge ist wirklich ein Goldschatz für uns. Es wächst einfach alles, was wir anbauen. Wasser haben wir hier auch in Übermenge. Es kommt drüben vom Gebirgsbach. Wir kennen auch die Quelle dieses Baches, wo das Wasser besonders köstlich ist. Ich glaube, die Natur regeneriert sich wieder, - und ebenso die Menschen.“
„Gibt es denn Kranke hier?“, fragt Tibor, während Karjas Mutter einen Tontopf holt, ihn mit Wasser füllt und aufs Feuer stellt.
„Natürlich gibt es auch Kranke hier. Erst vor zwei Tagen ist ein kleiner Junge gestorben. Ich weiß nicht woran. Medizin gibt es ja nicht, - höchstens Heilkräuter, aber die helfen nur wenig.“
„Bei uns gab es nie Kranke“, sagt Tibor. „Nur einmal, als ein Fremder kam und eine Krankheit mitbrachte,- da starben einige Menschen, darunter auch meine Eltern.“
Karjas Mutter hält von ihrer Arbeit inne, richtet sich auf und sieht Tibor mitleidig an.
„Armer Junge“, sagte sie leise und seufzt. „Ja, das Leben ist hart. Wie heißt du eigentlich?“
„Tibor.“
„Tibor? Ein schöner Name. Ich bin Taskja. Du kannst mich ruhig so nennen“, sagt Karjas Mutter, geht in die Höhle und kommt mit einem hellen Stück Fleisch zurück, das sie in den Topf legt. Dazu gibt sie einige Kräuter und ein weißes Gewürz.
„Was machst du da, Taskja? Willst du mir Fleisch zu essen geben?“
„Das macht stark, Tibor. Du hast doch schon Fleisch gegessen, oder nicht?“
„Nein, noch nie. Wir lebten von Kräutern, Beeren und Früchten. Ich glaube nicht, daß ich Fleisch mag. Wahrscheinlich bekommt euch das Fleisch nicht. Deshalb werdet ihr krank.“
„Rede keinen Unsinn, Junge. Das ist Kaninchen, - ein besonders wohlschmeckendes Fleisch. Hier im Gebirge gibt es viele Kaninchen. Wir stellen Fallen auf und fangen damit täglich Kaninchen. Manchmal auch Ratten. Die sind auch sehr köstlich.“
„Ratten?!“, fährt Tibor entsetzt auf.
„Ich gebe dir schon keine Ratte, Tibor“, lacht Taskja und rührt mit einem Stück Holz, das sehr kunstvoll zu einem Löffel geschnitzt wurde, im Topf.
Als das Essen fertig ist, setzen sich Tibor und Taskja in die Höhle und essen zusammen das gekochte Stück Fleisch mit den Kräutern. Tibor ekelt anfangs vor dem Fleisch. Es riecht auch nicht besonders gut. Tibor hält sich mit einer Hand die Nasenlöcher zu, mit der anderen schiebt er vorsichtig ein kleines Stück Fleisch zwischen die Lippen. Taskja lacht nur. Sie ißt das kleinere Stück Fleisch fast mit Heißhunger. Das größere Stück hat sie Tibor überlassen, der es ihrer Meinung nach eher braucht. Je mehr Tibor vom Fleisch ißt, um so mehr schmeckt es ihm. Es ist wirklich nicht schlecht, - denkt er sich, - und es riecht auch gar nicht mehr so schlecht.
„Nun? Was sagen deine Geschmacksnerven? Es war doch köstlich, oder?“, fragt Taskja, als sie die Töpfe vor der Höhle auswäscht.
„Fürs erste Mal war es gut, - ja, es war wirklich köstlich. Danke, Taskja. Übrigens, - war es wirklich Kaninchen?“
Taskja lacht und schüttelt den Kopf.
„Du bist wohl einer von der mißtrauischen Sorte, was? Natürlich war es Kaninchen!“
Als Taskja mit der Arbeit fertig ist, geht sie in die Höhle und nimmt von einer Nische eine Flasche, die in Leinen eingehüllt ist. Sorgfältig wickelt sie das Leinen ab, füllt ein bißchen vom Inhalt in ein kleines, tiefes Tongeschirr und reicht es Tibor.
„Was ist das?“, fragt er und riecht an der seltsam bräunlichen Flüssigkeit.
„Gegorener Obstsaft. Es ist ein bißchen Alkohol, der uns fröhlich macht.“

„Alkohol? Jetzt verstehe ich, warum ihr nicht alt werdet. Ihr eßt Fleisch, trinkt Alkohol, - alles ungesundes Zeug“, sagt Tibor verächtlich, aber er trinkt trotzdem.
„Hm!“, macht er dann und wischt sich die Lippen mit dem Handrücken ab. „Ungesundes Zeug schmeckt aber gut.“
„Das will ich auch meinen. Willst du noch etwas?“
„Nein, danke, Taskja. Ich möchte nicht alkoholkrank werden.“
„Betrunken nennt man das, Tibor, - betrunken“, lacht Taskja.
Als Tibor am frühen Abend vor der Höhle sitzt, sieht er die Menschen vom Acker herunter kommen. Jeder von ihnen hat mindesten zwei volle Säcke in den Armen, die er in seine Höhle schleppt. Wie Reihenhäuser sind die Höhlen nebeneinander über der Anhöhe, von wo der Ausblick wirklich schön ist.
Auch Karja und Taskja kommen herunter und lächeln Tibor freundlich zu, der zwar seine Hilfe angeboten hat, aber Taskja meinte, er wäre noch zu schwach dafür. Immerhin wäre die Ernte nun erledigt und die Arbeit alle getan. Tibor dachte eigentlich noch nicht an ein Weiterwandern. Irgendwie hat er nun sein Ziel verdrängt. Vor allem dann, wenn ihn Karja sehr sanft anlächelt, wie jetzt eben, drängt er sein Ziel besonders weit weg.
„Wie seid ihr in die Ebene hinunter gekommen, als ihr mich dort unten liegen gesehen habt?“, fragt Tibor, als sie alle drei in der Höhle am Boden auf weichen Fellen sitzen.
„Wir haben uns damals, als wir hierher gekommen sind, - wir waren ungefähr 40 Leute, die vom Ballungszentrum hier her gewandert sind, - einen Weg hinunter gebaut. Du mußt zum Acker hoch, einige Schritte nach links, dann siehst du den Weg. Er ist gar nicht einmal so steil, wie du denken magst. Immerhin leben auch alte Menschen hier, welche einen steilen Weg nicht mehr schaffen würden“, erklärt Taskja.
„Wozu braucht ihr diesen Weg, wenn ihr doch alle Nahrung hier habt?“
„Man kann nie wissen. Manchmal gehen wir auch in die Ebene hinunter, um neue Kräuter zu finden, die wir dann hier anbauen“, sagt Taskja, während Karja Tibor ununterbrochen ansieht.
„Warum lebt Gil mit seiner Frau nicht hier? Die Höhle wäre doch groß genug. Sie ist viel größer, als die Höhle, in der ich lebte. Und in dieser kleinen Höhle lebten meine Eltern, ein alter Mann und ich. Ihr seid nur zwei Leute und eure Höhle ist doppelt so groß.“
„Gil hat mit seiner Frau eine eigene Höhle, Tibor“, läßt Karja nun ihre sanfte, helle Stimme erklingen. „Außerdem brauchen wir Platz für unsere Nahrung, was ihr nicht hattet.“
„Wir hatten für die Nahrung eine eigene Höhle, - eine sogenannte Vorratskammer. Wir haben immer zusammen geerntet. Jeden von uns gehörte die Nahrung. Wir haben sie immer gerecht aufgeteilt. Wie ist das bei euch? Gehört euch dieser Obstbaum, von dem ihr geerntet habt, oder gehört dieser Obstbaum allen?“, fragt Tibor.
„Er gehört natürlich uns“, sagt Taskja fast entrüstet. „Immerhin schuften wir ja auch dafür. Wie kommen wir dazu, für andere zu schuften?“
„Schuften?“, fragt Tibor.
„Arbeiten, mein Junge, arbeiten!“, sagt Taskja ein bißchen lauter und nimmt einen Schluck aus ihrer Schale, die fast randvoll mit gegorenem Obstsaft ist. Man kann sagen, sie ist schon leicht beschwipst.
Natürlich hat sie Tibor auch eine Schale abgeboten, aber Tibor lehnte dankend ab.
„Aber ihr arbeitet doch auch für euch selbst, wenn ihr alles gemeinsam macht und dann auch alles gemeinsam teilt. Was passiert, wenn bei einer Familie die Ernte nicht so gut ausfällt, wie bei euch und diese Familie größer ist? Sie müßte dann doch hungern, während ihr im Überfluß Nahrung habt.“
„Ach, Tibor, du machst dir zu viele Gedanken über andere. Was gehen mich andere an? Ich arbeite, ich ernte, also esse ich auch. Es ist eben Pech, wenn bei anderen die Ernte nicht so gut ausfällt. Schicksal, - Kismet, - Karma, - oder so. Ach, mein Mann, - er war ja so gebildet. Was der alles wußte, Tibor, - das kannst du dir gar nicht vorstellen. Er sagte immer, - das, was du dir selbst erarbeitest, - das kann dir niemand wegnehmen. Du mußt es nur gewissenhaft machen, - dann ist dir dein Schicksal wohl gesinnt. Vielleicht arbeiten die anderen nicht gewissenhaft, - wer weiß?“
Taskja lächelt etwas seltsam in sich hinein und nimmt wieder einen kräftigen Schluck aus ihrer Schale.
„Du solltest nicht so viel trinken, Mutter“, sagt Karja zaghaft.
„Was geht dich das an?! Du hast mir nichts zu sagen!“, schreit Taskja hysterisch auf, daß sich ihre Stimme überschlägt. Aber bald darauf lächelt sie wieder und zwinkert Tibor zu. „Sie gefällt dir wohl, meine kleine Karja, was? Nun, ihr beide wärt auch ein hübsches Paar....“
„Mutter!“, wirft Karja entrüstet ein.
„Ach, was, Mädchen! Er gefällt dir doch auch. Gib es zu! Es ist doch viel besser, wenn man gleich ehrlich zueinander ist. Wozu diese Geheimnistuerei? Sag ihm, daß du ihn willst, bevor es zu spät ist. Sag es ihm sofort, denn er will weiter wandern. Er will ins Ballungszentrum, dieser Narr.“
Zu Tibor gewandt, mit schon sehr glasigem Blick und lallenden Worten, sagt Taskja:“Was willst du eigentlich dort? Jeder ist froh, wenn er dieser Hölle entkommen kann. Dort mußt du arbeiten, um Nahrung zu bekommen. Nicht so, wie wir hier, - dort mußt du für andere arbeiten, - in Fabriken, wo sie schon wieder Rohstoffe verarbeiten, - Mist machen und dann im Mist ersticken, - so wie vor langer Zeit unsere Vorfahren. Sie wollen wieder Wissenschaftler züchten und so Zeug. Ach, Scheiße! Was willst du an diesem Ort, Junge?“
„Ich weiß es noch nicht, Taskja“, sagt Tibor völlig ruhig, im Gegensatz zu Taskjas schriller Stimme. „Ich möchte mal sehen, wie es dort wirklich zugeht.“
„Wie es dort zugeht?! Das kann ich dir sagen, Junge. Wenn du dort ankommst, werden sie dich sofort verhaften und in den Kerker werfen. Weißt du, was ein Kerker ist?“
„Ich nehme an, daß dort Gesetzesbrecher untergebracht sind.“
„Genau, - Gesetzesbrecher nennen sie diese armen Menschen, die eigentlich nur ihr Recht wollen. Also, du wirst zuerst in den Kerker geworfen, dann untersuchen sie dich ganz genau und bestimmen für dich eine Arbeit. Nimmst du sie an, ist es gut, - nimmst du sie nicht an, bleibst du im Kerker und wirst dort nicht länger als ein Jahr überleben, weil du nämlich krank werden wirst in diesen feuchten Gemäuern, die von Ratten übersät sind. Weißt du, reinlich sind sie nämlich auch nicht im Ballungszentrum. Dort gibt es so viel Dreck, wie du es dir nicht vorstellen kannst. Sogar auf den Straßen liegt der Dreck, daß du kaum rein kommst ins Ballungszentrum. Die Oberschädeln bestimmen über die gesamte Menschheit, die dort lebt. Sie stellen Gesetze auf, bestimmen deine Arbeitszeit, deinen Lohn und so weiter. Als Lohn bekommst du Papier, wo sie drauf schreiben, wie viel es wert ist. Dieses Papier kannst du dann gegen Nahrungsmittel eintauschen. Es ist wie damals, als es noch dieses, - wie hieß das, - ach ja, - dieses Geld gab. Nun, sie passen schon halbwegs gut auf dich auf, - diese Oberschädel, aber der Zwang, - dieses tägliche Arbeiten, - von morgens bis abends. Erst abends hast du dann deine Ruhe. Erst dann kannst du tun was du willst. Nun, was du willst, - das stimmt auch wieder nicht, denn die Gesetze sind sehr streng. Um Mitternacht solltest du eher nicht auf der Straße sein.“
„Was passiert, wenn ich um Mitternacht auf der Straße bin?“, fragt Tibor.
Taskja lacht auf und trinkt ihre Schale aus.
„Es könnte sein, daß sie dich verhaften, weil sie dich in Verdacht haben, du könntest irgendwo einbrechen. Die Nahrungsmittel sind ziemlich knapp, weißt du, - und dann ist es irgendwie verlockend für diese Menschen, irgendwo einzubrechen, um Nahrung zu stehlen. Es gibt sehr viele Diebe im Ballungszentrum. Jeder ist in Verdacht, der sich um und nach Mitternacht noch nicht in seine Wohnung befindet.“
„Haben die Menschen Angst, daß sie verhungern müssen?“, fragt Tibor.
„Das nicht, - es bekommt jeder seine Ration. Manchen ist es eben zu wenig, das ist alles. Verstehst du, sie sehen es als ungerecht an, weil sie den ganzen Tag schuften müssen, und obwohl sie dieses Papier haben, ja doch nicht all zu viel einkaufen dürfen, weil für jeden immer nur eine bestimme Ration vorgeschrieben ist. Jeder Bürger, - so nennen sie die Menschen im Ballungszentrum, - ist eingetragen.“
„Eingetragen?“, unterbricht Tibor.
„Nun, in jedem Geschäft, - das sind Häuser, wo du Nahrung, Kleidung, Möbel, und so weiter, zu kaufen bekommst, - ist eine Liste, wo dein Name draufsteht. In diese Liste tragen die Verkäufer, - übrigens, du könntest Verkäufer werden. Das ist ein guter Job. Also, in diese Liste tragen die Verkäufer alles ein, was du einkaufst und können so kontrollieren, ob du deine Ration nicht überziehst. Tust du das, wirst du bestraft, - entweder mit Kerker, oder Wertstrafen, indem sie dir einige Papiere abnehmen.“
„Das ist doch eine gute Kontrolle, Taskja“, sagt Tibor. „Damit teilen sie alles sehr gerecht auf.“
Taskja wiegt ihren Kopf hin und her.
„Schon, - ja, es ist irgendwie auch eine gute Sache, denn auch die oberen Schädel kommen auf die Liste und haben die selben Rechte wie die Bürger. Ja, gerecht ist es schon.“
Die letzten Worte murmelt Taskja nur mehr, dann sinkt sie langsam, wie in Zeitlupe zurück. Sekunden später schnarcht sie.
Karja schüttelt den Kopf und steht auf.
„Hilf mir, sie auf das Lager zu legen“, sagt sie seufzend und sieht Tibor flehend, fast entschuldigend an.
„Es tut mir leid, Tibor, daß du das sehen mußt, aber mit Mutter läuft es nicht mehr so gut, seit Vater tot ist. Sie hat seinen Tod noch immer nicht verkraftet.“
„Das verstehe ich doch, Karja. Aber man sollte ihr trotzdem öfters sagen, daß sie nicht so viel trinken darf.“
„Das hilft nichts. Du hast ja gesehen, wie böse sie dann wird. Glaub nicht, daß sie die einzige ist, die dieses Zeug so massenhaft in sich hinein schüttet. Es gibt hier genug Menschen, die sich täglich betrinken, obwohl sie keinen wirklichen Kummer haben.“
Nachdem Taskja zufrieden auf ihrem Lager schnarcht, gehen Tibor und Karja ein bißchen vor die Höhle und setzen sich nieder.
„Willst du wirklich ins Ballungszentrum?“, fragt Karja leise, fast flüsternd, um die Nachbarn nicht auf sich aufmerksam zu machen.
„Ja, ich möchte einmal sehen, wir es dort zugeht. So schlimm kann es ja auch wieder nicht sein. Das Ballungszentrum hat sicher auch seine guten Seiten, nicht nur schlechte“, sagt Tibor ebenso flüsternd.
„Da hast du sicher recht. Würde es dir hier nicht gefallen?“
Tibor zuckt mit den Schultern.
„Es ist nicht schlecht hier, Karja, aber es würde nicht mein Leben sein. Wie wäre es, wenn du mitkommst?“
Über diese Frage ist Tibor noch im selben Moment erschrocken, als er sie stellt.
Karja lacht leise auf.
„Du mußt das nicht sagen, nur weil meine Mutter gesagt hat, daß du mir gefällst. Natürlich gefällst du mir, aber was weiß ich schon von dir. Du scheinst ein netter, junger Mann zu sein, - aber...“
Karja stockt und spielt mit den Fingern im Sand, den der Wind von der Ebene hoch geweht hat.
„Was aber?“, fragt Tibor.
„Ich glaube, ich bin noch zu jung, um eine Familie zu gründen. Ich wurde erst vor kurzem eine richtige Frau, wenn du weißt, was ich meine.“
Karja ist rot geworden, aber Tibor, dessen Wangen sich ebenso gerötet haben, kann es wegen der Dunkelheit nicht sehen.
„Du hast deine Blutungen bekommen. Meinst du das?“
„Ja.“, sagt Karja heiser flüsternd.
„Ich bin auch erst vor kurzem ein Mann geworden, wenn du weißt, was ich meine.“
„Ich glaube, ich weiß, was du meinst. Du kannst nun eine Frau mit deinem Samen befruchten.“
Tibor nickt nur.
Es folgt bedrückendes Schweigen. Beide, Tibor wie Karja, suchen verkrampft nach einem neuen Thema, aber es will ihnen nichts einfallen. Erst nach einigen Minuten erhebt sich Karja und sagt flüsternd, daß sie nun schlafen geht. Er, Tibor, würde ja wissen, wo sein Lager ist. Tibor nickt und wünscht Karja eine angenehme Nachtruhe. Er wartet noch ein bißchen vor der Höhle, bis auch er, mit vorsichtigen Schritten, in die finstere Höhle zu seinem Lager geht.
Tibor liegt nicht lange wach. Von Karja hört er kaum etwas, aber Karjas Mutter schnarcht kräftig und sehr gleichmäßig. Dieses Geräusch stört Tibor nicht, - im Gegenteil, es bringt ihn dem Schlaf näher.
Tibor träumt wieder. Diesmal fliegt er den Sternen nicht entgegen, sondern befindet sich sofort auf dem selben Stern, von dem er schon einmal geträumt hat. Tibor dachte nicht mehr an seinen Traum. Er hatte auch nicht mehr den Wunsch ihn zu träumen, da es ihm sinnlos erschien, sich etwas zu wünschen, was es ohnehin nicht wirklich gibt. Aber nun befindet sich Tibor wieder auf diesem leuchtenden Stern und blickt an sich hinunter. Er ist wieder dieses wunderschöne, mächtige Wesen, und neben ihm, auf dem weichen Boden steht das andere, wunderschöne Wesen, - diese wunderschöne Frau, an deren Anblick sich Tibor nicht satt sehen kann. Jetzt im Traum fällt ihm alles wieder ein. Er weiß jetzt, daß er schon einmal hier war und er weiß, daß diese wunderschöne Frau seine Frau ist, - seine einzige Geliebte. Diesmal wartet Tibor nicht auf die Berührung seiner Geliebten, - diesmal tut er den ersten Schritt. Lächelnd streckt er seine Arme aus und drückt das wunderbar weiche Wesen sanft an sich. Es wehrt sich nicht dagegen, - es drückt sich sogar fester an Tibor, bis sich beide Körper wieder vereinen, - eins sind. Das Gefühl, das Tibor empfindet, läßt sich nicht beschreiben. Es ist wohl das Höchste, was ein Lebewesen jemals empfinden kann. Er möchte dieses Gefühl niemals verlieren. Er zögert es so lange wie möglich hinaus, - eine Ewigkeit, - für immer....
Als Tibor mitten in der Nacht munter wird, ist er wieder naß zwischen den Beinen. Diesmal weiß er, was er geträumt hat. Er weiß jetzt auch, was er das letzte Mal geträumt. Und er weiß, daß er diese wunderschöne Frau niemals vergessen wird. Er fühlt, daß es diese Frau wirklich gibt. Tibor wird sie suchen, und wenn es sein ganzes Leben dauern wird, bis er sie gefunden hat. Er kennt nun ihr zauberhaftes Gesicht und ihre aufregende Gestalt. Es kann nur eine ihrer Art geben, - denkt sich Tibor, - nur eine einzige Frau, die nur für mich alleine geboren wurde. Karjas Schönheit verblaßt neben dieser Frau, die eine einzigartige Ausstrahlung besitzt, wie sie wohl kaum ein Mensch haben kann.
Ganz leise, um Karja und deren Mutter nicht zu wecken, steht Tibor auf. Er hat seine Kleidung an, und er weiß, wo sein Leinenbeutel liegt. Schnell huscht er in die andere Ecke, wo die Nahrungsmittel sind, nimmt sich schnell ein paar Früchte und Kräuter, packt sie in seine Leinentasche und schleicht aus der Höhle. Es ist ziemlich dunkel. Tibor braucht etwas Zeit, um seine Augen an die Dunkelheit zu gewöhnen. Erst dann schlägt er den steilen Weg zum Acker hoch ein. Argon hat ihm gesagt, daß er zweimal übers Gebirge muß. Tibor kennt den Weg aus den Erzählungen. Er weiß, daß er über den Acker muß, um weiter ins Gebirge hinein zu kommen. Dort wird er auch den Gebirgsbach finden, - vielleicht sogar die Quelle, wo er dann seine Tonflasche füllen kann, um genug Reiseproviant zu haben. Nein, er stiehlt sich nicht weg, - er kann nur Abschiede nicht ausstehen. Er weiß, daß er früher, oder später ohnehin weiter gewandert wäre. Besser früher, als später. Karja war nicht diese Frau, von der er geträumt hat.
Wieder ist ein Jahr vergangen - und dann noch ein Jahr und dann wieder ein Jahr. Drei Jahre war Tibor nun unterwegs, seit er bei Karja und deren Mutter zwei Nächte und zwei Tage geblieben war. Tibor war nicht mehr gewachsen. Er würde diese Größe behalten. Nun, er war ja auch groß genug, - wenn auch nicht einer der größten, aber groß genug, - eben durchschnittlich groß, - und ebenso durchschnittlich war auch sein Aussehen geworden. Es ist nicht erwähnenswert, was Tibor inzwischen alles erlebt hat. Natürlich lernte er wieder Menschen kennen, übernachtete einige Male in Höhlen bei ihnen, manchmal auch in Zelte und stahl sich dann meistens am frühen Morgen ohne Abschied davon. Inzwischen hat Tibor auch Schuhwerk aus Leinen, - mit einer Sohle aus Leder. Seine Fußsohlen waren hart, aber nicht mehr rissig und blutig. Es ging auch viel schneller voran mit Schuhwerk. Die drei Jahre verliefen problemlos. Nahrung hatte Tibor immer genug. Oftmals erntete er unterwegs Kräuter und Beeren und fand auch genug Wasser, um seine Flasche immer rechtzeitig zu füllen. Was die Träume angeht, - Tibor träumte sehr oft von diesem leuchtenden Stern. Er war dann immer dieses wunderschöne, mächtige Wesen, und an seiner Seite war immer diese wunderschöne Frau, die sich in jedem Traum von ihm lieben ließ. Unterwegs sah er nie so eine Frau. Keine von ihnen hatte nicht einmal die geringste Ähnlichkeit mit dieser leuchtenden Schönheit. Die Umgebung hatte sich auch nicht all zu viel verändert, obwohl der Boden weicher und fruchtbarer wurde, aber die Hitze blieb.
Jetzt wandert Tibor durch einen Wald mit hohen Bäumen, die ziemlich kahl sind. Unterwegs pflückt er Beeren, von denen er bereits weiß, daß sie genießbar sind. Wasser hat er noch genug in seiner Flasche. Bald sieht er eine Lichtung vor sich. Der Wald endet und vor sich breitet sich eine schier unendlich scheinende Gegend aus, die wie eine Sandwüste aussieht. Es sind Dünen aus Sand, - die reinste Wüstengegend. Tibor weiß davon, denn Argon hat ihn vor dieser Gegend gewarnt. „Nur wenn du den richtigen Weg gehst, kannst du diesen Streifen lebend verlassen. Nur der richtige Weg führt dich zu der einzigen Oase, wo du deine Wasserflasche wieder füllen kannst“, hatte ihm Argon gesagt.
Tibor erinnert er sich noch immer an jedes Wort von Argon und wandert ziemlich sicher weiter. Er wird sich das Wasser und die Nahrung schon gut einteilen. Er ist ja wirklich schon ein Asket, der mit undenkbar wenig Nahrung viele Tage überleben kann.
Er schafft es wirklich, diese Wüste zu durchqueren, wobei ihn die Oase wirklich fast im letzten Moment das Leben gerettet hat. Tibor kroch schon auf allen Vieren. Überall sah er schon das Glitzern des Wasserlochs, das keines war. Aber doch, schon als er aufgeben wollte, streckte er seine rechte Hand müde nach vor und spürte das kühle Naß.
Tibor wandert nun auf härterem Boden, auf dem ziemlich wenig Gras wächst. Nur vereinzelnt stehen einige Sträucher und kahle Bäume in der Gegend herum. Es sieht auch hier nicht sehr einladend aus. Ob hier Menschen leben?, - fragt sich Tibor. Weit und breit scheint nichts darauf hinzuweisen.
Als sich die Sonne senkt, befindet sich Tibor auf einem hügeligen Gelände, wo sogar ein einzelner Berg vor ihm aufragt. Und da ist auch eine Höhle, - eine unbewohnte Höhle, wo Tibor diese Nacht schlafen kann.
Der Schlaf ist traumlos, - zumindest Tibor fühlt das so, weil er sich am Morgen an nichts erinnern kann. Als er aus der Höhle tritt, vernimmt er in der Nähe ein Plätschern. Also muß es einen Bach hier geben. Tibor folgt dem Geräusch. Er muß nicht all zu weit gehen und steht nun an einem ziemlich breiten Fluß, der gar nicht einmal so langsam dahin rauscht. Tibor muß ziemlich gut das Gleichgewicht halten, als er sich am Ufer wäscht, um von den Wassermassen nicht mitgerissen zu werden. Sorgfältig füllt er seine Flasche und wandert weiter, - dem Fluß entlang, aber flußaufwärts, - wie Argon ihm gesagt hat.
Heute scheint ein seltsamer Tag zu sein. Der Himmel ist noch immer ziemlich dunkel, obwohl die Sonne längst aufgegangen ist. Es ist auch kühler. Tibor strickt sich die Hemdsärmel herunter und fröstelt ein bißchen. Tibor hat übrigens wieder ein neues Hemd, da das alte bereits durchlöchert war. Er hat auch eine neue Hose. Sie stammen nicht von Wanderern, sondern von Menschen, die in Höhlen leben, - bei denen Tibor eine Nacht verbracht hat. Das Hemd, wie die Hose, war aus groben, etwas wärmeren Leinen. Es war nicht eingefärbt, sondern naturbeige. Tibor bekam das Gewand zusammen mit dem Schuhwerk. In seinem neuen Leinenbeutel, der um einiges größer war, als der alte, hat Tibor eine Decke gepackt, - aus Wolle. Tibor hat unterwegs einige Schafzüchter getroffen, die ihm dieses Stück gerne geschenkt haben. Ja, es gibt sogar noch Schafe, - genauso wie es Kaninchen, Hühner und auch noch Rinder gibt. Natürlich laufen auch noch immer streunende Hunde in der Gegend herum. Die Natur scheint sich wirklich wieder zu regenerieren. Aber trotzdem, heute ist es seltsam. Auch die Luft ist nicht so stickig. Irgendwie wirkt das Ganze bedrohlich. Tibor fühlt etwas Angst aufsteigen, was er schon lange nicht mehr gefühlt hat. Von weiter Ferne vernimmt Tibor ein dumpfes Grollen. Es scheint von oben, von der grauen Himmelsdecke zu kommen. Und schon spürt Tibor die ersten Regentropfen seines Lebens. Er weiß was Regen ist. Er weiß auch was ein Gewitter ist, - von Argon natürlich. Tibor weiß ebenso, daß er sich schnellstens einen Unterschlupf suchen sollte. Am besten wäre eine Höhle, aber die hat er bereits weit hinter sich gelassen. Klar, er könnte umkehren, was wohl am besten wäre, aber Tibor hat auch einen Dickschädel und will von seiner kostbaren Zeit nichts vergeuden. Er will ja so schnell wie möglich ins Ballungszentrum kommen. Also wandert er mit seiner unheimlichen Angst weiter. Die Regentropfen werden immer dichter, und das dumpfe Grollen kommt näher. Vorne am Horizont sieht Tibor vom Himmel grelle Blitze zum Boden herunter zischen. Tibors Angst wächst, aber noch immer kehrt er nicht um, um in der sicheren Höhle Schutz zu suchen. Das Gelände ist noch immer etwas hügelig, aber Berge mit Höhlen sind nirgendwo zu sehen. Tibor ist bereits klitschnaß. Von seinem langen, weißblonden Haar tropft Wasser zu Boden. Sein Hemd und seine Hosen kleben an der feuchten Haut. Tibor fröstelt wieder. Es hätte keinen Sinn, die Wolldecke umzuhängen, da auch sie bald klitschnaß wäre. Tibor sehnt sich nach der Hitze, die er von seiner „Heimat“ gewohnt ist. Hier ist keine Hitze mehr, sondern feuchte Kälte, die Tibor nun arg zusetzt. Bald kommt das Gewitter näher. Die Wassertropfen spritzen vom Boden hoch, so wild zischt der Regen nun herab. Auch der Fluß, dem Tibor entlang geht, schäumt bereits und tritt langsam aus seinem Ufer. Einige Blitze fahren neben Tibor in den Fluß ein. Beim ersten Blitz wirft sich Tibor aufschreiend zu Boden. Der gewaltige Donner zerreißt ihm fast das Trommelfell. Die Regentropfen knallen hart auf Tibors Körper, der ihnen schutzlos ausgeliefert ist. Fast schon erschöpft rappelt sich Tibor auf und entfernt sich etwas schneller vom Fluß. Es scheint gefährlich zu sein neben dem Wasser, da die meisten Blitze dort einfahren. Bäume sind auch gefährlich, - hatte ihm Argon gesagt. Auch dort fahren die Blitze gerne ein. Als Tibor zum Himmel hoch blickt, ist das öde Grau schwarz geworden. Auch rund um ist es ziemlich dunkel, als ob die Nacht nicht mehr weit wäre. Tibor kann kaum mehr etwas sehen, so dicht ist der Regen bereits geworden. Es ist der Weltuntergang, - denkt sich Tibor. Alles wird vom Regen ertränkt, - von den Blitzen erschlagen. Bald wird auch ihn ein Blitz treffen. Jetzt ist es zu spät, umzukehren und in der Höhle, in der er geschlafen hatte, Schutz zu suchen. Noch immer wandert Tibor weiter, wenn auch sehr langsam, denn nun beginnt auch der Wind, der sich bald in einen wilden Sturm verwandelt, daß Tibors Schritte noch langsamer werden. Er kämpft richtig gegen diese enormen Naturgewalten. Am schlimmsten ist die Kälte, die nun eisig seinen schmächtigen, aber doch muskulösen Körper umhüllt. Der Regen läßt nicht nach. Als ob der Himmel völlig offen wäre, läßt er sein Wasser erbarmungslos auf die Erde herab donnern. Auch der Sturm läßt nicht nach, der Tibor oftmals auf die Knie zwingt. Selbst die Blitze fahren noch immer dicht neben Tibor ein. Auch sie werfen den Jungen zu Boden, der dann erschreckt zur Seite blickt, wo sich tiefe Krater bilden. Das viele Donnern hat Tibor bereits fast taub gemacht. Seine Ohren dröhnen, und sein ganzer Körper zittert vor Angst und Kälte, als er sich abermals aufrappelt und sich tapfer weiter schleppt. Es gäbe jetzt nur mehr eine Rettung. Das wären Menschen, die hier in der Nähe leben und Tibor sehen und vor dem Unwetter retten würden. Aber hier scheinen keine Menschen zu leben. Nicht einmal Wanderer würden jetzt vorbei kommen, und wenn, dann wären sie in der selben miesen Situation wie er. Es scheint wirklich das Ende seiner Wanderung und wohl auch seines Lebens zu sein. Als der wilde Sturm Tibor wieder in die Knie zwingt, bleibt er liegen. Er drückt sich auf den Bauch und schützt mit den Händen seinen Kopf. Die Stirn drückt sich in den nassen, schlammigen Boden. Salzige Tränen vermischen sich mit den Regenwasser. Tibor gibt auf und betet, daß ihn endlich ein Blitz erschlägt, dann hätte diese grausige Angst und diese quälende Kälte endlich ein Ende. Wieder fährt unmittelbar neben Tibor ein Blitz ein. Der gewaltige Donner läßt den Jungen zusammen zucken. Jetzt weint er laut. Er heult fast wie ein Wolf, aber noch immer drückt er die Stirn fest in den Boden und seine Hände über den Kopf. Noch einmal nimmt er all seinen Mut und seine Kraft zusammen, rappelt sich hoch und geht langsam weiter. Mit seinen Armen umarmt er sich selbst, um sich so vor der zunehmenden Kälte zu schützen. Er versucht sogar zu laufen, obwohl ihm das noch mehr Kraft kostet. Als er zur Seite blickt, sieht er vor sich ein Gebirge. Berge! Da müssen doch Höhlen sein. Das ist die Rettung. Aber gerade in diesem Moment fährt wieder ein Blitz neben Tibor ein, - genau in das Gebirge. Der Junge stürzt. Über sich hört er nicht nur das Grollen des Donners. Es sind auch Felsstücke, die der Blitz gelöst hat, und die nun erbarmungslos auf Tibor herab stürzten. Einer dieser Felsstücke trifft sein Bein. Es ist ein gewaltiges Felsstück, - man kann sagen, daß es sogar ein Fels ist, der auf Tibors zerschmettertem Bein liegen bleibt. Tibor schreit vor Schmerz auf und windet sich am Boden. Er zerrt an seinem rechten Bein, das zwischen Boden und Fels eingeklemmt ist. Hoffnungslos! Weder der Fels, noch das Bein bewegt sich. Tibor liegt in einer Falle. Wieder Blitze, - diesmal sind es mehrere. Und wieder Felsblöcke, die vom Gebirge herabdonnern. Diesmal ist es nur ein kleinerer Fels, der Tibor genau zwischen den Schulterblättern trifft. Tibor keucht nur mehr stöhnend auf, dann wird es völlig dunkel um ihn. Er ist ohnmächtig geworden.
Es sind sicher gute zwei Stunden, bis Tibor seine Augen wieder aufschlägt. Der erste Moment ist gewaltig. Schmerzen durchzucken seinen ganzen Körper. Es ist nicht mehr so sehr die eisige Kälte, viel mehr die klaffende Rißwunde zwischen seinen Schulterblättern und das zerschmetterte Bein, das noch immer unter dem Fels eingeklemmt ist. Tibor schreit laut auf. Er schreit so lange, bis seine Stimme nur mehr ein Krächzen hervor bringt. Niemand scheint ihn zu hören. Weit und breit keine Menschen, die ihn aus dieser hoffnungslosen Lage befreien könnten. Bei jeder Bewegung, wo er versucht, sein Bein heraus zu ziehen, durchzuckt ihn ein mächtiger Schmerz. Es muß gehen, - er muß sich alleine aus dieser Falle befreien können, sonst würde er hier qualvoll sterben. So einen Tod würde sich Tibor nicht wünschen. Wenn, dann sehr schnell, - oder einfach einschlafen und nicht mehr aufwachen. Ach, hätte ihn dieser Felsblock doch am Schädel getroffen, dann wäre alles überstanden. Tibor legt seine Hände übers Gesicht und weint wieder. Es ist nicht nur vor Schmerz, sondern auch aus Selbstmitleid. So früh mußte er seine Eltern verlieren, und jetzt muß er alleine so weit wandern. Er ist die Einsamkeit selbst, und jetzt auch noch diese Qualen. Plötzlich wird Tibor bewußt, daß der Regen aufgehört hat und bereits die Sonne wieder scheint. Aber seine Kleider sind noch immer naß, und der Boden ist schlammig und voll riesigen Wasserpfützen. Der Leinenbeutel hängt nicht mehr um Tibors Schulter. Er liegt irgendwo unter einem Felsblock. Tibor kann nur einen Zipfel davon erkennen. Er streckt sich, um diesen Zipfel zu erreichen. Dabei fährt wieder ein brennender Schmerz durch seinen Körper. Es ist das Bein und wohl auch die Wunde am Rücken. Tibor quält nun auch der Hunger. Er hat noch einige Kräuter und Beeren in seinem Leinenbeutel. Aber seine Hände können ihn nicht erreichen. Wahrscheinlich würde er ihn unter diesem Felsblock nie wieder hervor bekommen. Und mit größter Wahrscheinlichkeit ist auch seine Tonflasche zerbrochen. Womit könnte er sich nun Wasservorrat beschaffen? Wasser ist eigentlich kein Problem. Tibor braucht nur seinen Kopf zu senken, denn vor ihm ist eine riesige Wasserpfütze. Das tut Tibor auch, und schon fühlt er sich etwas besser. Nur nicht aufgeben, - sagt sich Tibor und zerrt wieder an seinem verletzten Bein. Du mußt den Schmerz vergessen, - nicht daran denken, - die Zähne zusammen beißen und so lange ziehen, bis du das Bein frei hast, - sagt sich Tibor und zerrt wirklich so lange an seinem Bein, bis sich der Fels doch noch bewegt und er ein Stückchen frei kommt. Tibor kann bereits sein blutiges Knie sehen. Er unterdrückt den Schrei, als er abermals kämpft, sich vorbeugt und mit den Händen versucht, den Fels auf die Seite zu schieben. Es ist eine Heidenarbeit. Tibor ist auch nicht mehr kalt, - im Gegenteil, - Schweiß tropft von seiner Stirn. Endlich ist es geschafft, - das Bein ist frei. Tibor liegt am Rücken, - die Hände wieder aufs Gesicht gedrückt, um die Schmerzensschreie zu unterdrücken. Er keucht, er atmete nicht mehr. Sein Brustkorb hebt und senkt sich wild. Er kämpft gegen die Ohnmacht an, die wieder kommen will. Er darf nicht mehr ohnmächtig werden, denn sein Bein muß geschient werden. Aber womit? Dort drüben, - einige Meter von ihm entfernt, sieht er einen Strauch mit langen, geraden Ästen. Das wäre schon etwas. Mit zusammen gebissenen Zähnen und schmerzverzerrtem Gesicht robbt Tibor hinüber. Als er beim Strauch ankommt, muß er feststellen, daß an den Ästen Dornen sind, - ziemlich dicht gewachsene Dornen. Aber es ist nun mal weit und breit der einzige Strauch. So viel Pech auf einmal kann auch nicht normal sein, -denkt sich Tibor und läßt sich mit dem Oberkörper erschöpft auf den Boden fallen. Nur nicht aufgeben, - sagt Tibor laut zu sich selbst und richtet sich wieder unter gewaltigen Schmerzen auf. Er umfaßt einen Ast. Er spürt, wie sich die Dornen in seine Hände graben. Er spürt das Blut an den Händen, sieht, wie es an seinem Arm herunter tropft. Trotz allem bricht er den Ast ab. Er braucht noch einen, um das Bein richtig zu schienen. Wieder umfaßt er mit der blutigen Hand einen Ast und bricht ihn ab. Jetzt muß er nur noch die Dornen entfernen. Auch das schafft Tibor nach einer Weile. Einige bricht er mit der gesunden Hand ab, einige beißt er mit den Zähnen ab. Dann robbt Tibor, schluchzend vor Schmerz, zurück, wo unter einem Fels sein Leinenbeutel liegt. Wenn er sein Bein frei bekommen hat, würde er auch seinen Leinenbeutel frei bekommen. Und wirklich, Tibors Kraft ist einmalig. Er wirft die Scherben seiner Tonflasche zur Seite und zieht die Wolldecke heraus. Davon reißt er einige Streifen herunter, um damit die zum Glück festen, geraden Äste an sein Bein zu binden. Es dauert lange, bis Tibor sein Bein gut geschient hat. Er mußte es ja auch wieder gerade biegen, und das unter unvorstellbaren Schmerzen. Als Tibor fertig ist, legt er sich erschöpft zurück. Er schließt seine Augen und atmet gleichmäßig. Er ist müde geworden. Jetzt schläft er, - traumlos.
Als Tibor munter wird, ist es Nacht. Wieder quält ihn der Hunger. Tibor faßt in seine Tasche. Die Kräuter sind noch heil, aber aus den Beeren ist Mus geworden. Egal, - wenn man Hunger hat, ißt man alles. Tibor schlingt es aber nicht gierig hinein. Er weiß, er muß sich dieses bißchen Essen gut einteilen, denn jetzt würde er nur langsam weiter kommen, um wieder Vorrat zu finden. Um Wasser macht er sich keine Sorgen, denn er würde sich zum Fluß zurück schleppen, wo er am Ufer trinken kann, wenn ihn dürstet. Er muß ja flußaufwärts weiter wandern.
Tibor versucht aufzustehen, - vergebens. Sobald er mit dem gebrochenen Bein den Boden berührt, schreit er vor Schmerz auf und sinkt zurück. Er kann nur robben, - am Boden kriechend sich vorwärts bewegen, wie ein halb zertretener Wurm. Endlich ist er am Ufer des Flusses. Tibor läßt seinen heißen Kopf ins kühle Wasser hängen. Er dürfte auch Fieber haben. Er spürt das auch, denn sein Körper ist ziemlich schwach, und alles tut ihm weh, - zwar nicht so sehr weh wie das Bein und die Wunde am Rücken. Als Tibor seinen Kopf aus dem Wasser hebt, sieht er neben sich einen langen Ast. Der Fluß hat ihn ans Ufer gespült. Tibor faßt nach dem Ast, der sich gut als Gehstock verwenden ließe. So müßte er nicht mit seinem gebrochenen Bein aufsteigen und könnte sich auf den Stock stützen. Tibor versucht es sofort. Der Stock ist sogar wunderbar geformt, - hat eine Gabel an einem Ende, die er unter die Schulter drücken kann. Der Stock ist wie eine Krücke, - wie ein Ersatz für sein krankes Bein. Man kann ja nicht nur Pech haben, - denkt sich Tibor und lächelt nun sogar unter Schmerzen. So wandert der tapfere Held im Dunkel der Nacht langsam weiter.
Bald ist es Morgen, und Tibor ist ziemlich geschwächt. Das Fieber macht ihn zu schaffen. Er hustet auch ein bißchen. Klar, die Kälte, die nassen Kleider, die nun zwar wieder trocken sind, - aber doch, das hält der stärkste Kerl nicht aus, ohne einen Schaden davon zu tragen. Tibor weiß noch nicht, daß sich eine gewaltige Lungenentzündung anbahnt. Auch das noch!
Tibor will noch immer nicht anhalten, - sich wenigstens ein bißchen ausruhen. Mit dem Stock als Krücke unter der Achsel humpelt er unermüdlich weiter, obwohl ihm die Hitze und die Schmerzen plagen. Auch der Husten wird ärger und schmerzt in der Brust. Es ist nicht so heiß, wie Tibor es fühlt. Hier gibt es diese Hitze nicht mehr, wie sie Tibor aus seiner „Heimat“ kennt. Es ist das Fieber, das Tibor fühlt, - hohes, gefährliches Fieber.
Bald wird das Humpeln kraftloser und langsamer. Tibor kann sich gerade noch mit einer Hand abfangen, als er stürzt, um sich nicht wieder einmal den Kopf aufzuschlagen. Er stöhnt, als er am Boden liegt. Dann ist er wieder weg, - ohnmächtig vor Fieber und Schmerz.
Abermals wacht Tibor auf. Der Tod will und will nicht kommen, obwohl es sich der Junge jetzt so sehr wünscht. Er hält die Schmerzen einfach nicht mehr aus. Die festen Äste am Bein drücken und tun noch mehr weh. Am liebsten möchte er sie lösen, aber er weiß, daß er das nicht tun darf, sonst würde das Bein nicht mehr richtig zusammen wachsen, und er würde für immer ein Krüppel bleiben. Auch seine Brust schmerzt jetzt bei jedem Atemzug, daß Tibor versucht ist, seinen Atem anzuhalten. Jetzt möchte er sogar ersticken, obwohl er weiß, wie qualvoll das ist. Er hat es ja bei seinen Eltern gesehen, die am Husten erstickt sind. Ihre Augen quollen hervor, ihre Gesichter wurden fast blau. Sie röchelten und ihre Körper krampften sich zusammen, bis endlich, nach langen, äußerst qualvollen Minuten der Tod sie erlöste. Würde es bei Tibor auch so weit kommen? Er hat ja auch Husten, - und was für einen! Nicht einmal das Bellen eines Hundes ist so arg.
Tibors Augen sind glasig, als er zum Himmel hoch blickt. Er kann nicht mehr weinen. Er ist beinahe wieder ohnmächtig, aber doch noch etwas bei Sinnen, daß er fühlt, daß er am Boden liegt und sich die Sonne bald hoch erheben und seinen Körper noch mehr erhitzen wird. Vielleicht ist das sogar gut, - denkt sich Tibor mit seinen letzten Sinnen, die noch bei ihm sind. Er faßt mit letzten Kräften in seinen Leinenbeutel, zieht die Wolldecke heraus und legt sie über seinen Körper. Ja, schwitzen ist sicher gesund. Damit kommen die bösen Krankheiten aus dem Körper wieder heraus. Noch einmal faßt Tibor mit einer Hand in das rettende Wasser, an dessen Ufer er liegt. Er benetzt seine ausgetrockneten Lippen und ergattert sogar einen Schluck aus der hohlen Handfläche. Dann legt er seinen heißen Kopf zurück und schließt die Augen. Seine Gedanken sind bei seiner Mutter, die ihn als kleines Kind sehr oft in den Armen wiegte und an sich drückte. Es war ein schönes Gefühl, - so viel Geborgenheit und Liebe. Jetzt wünscht er sich diese Zeit zurück. Er will nicht mehr erwachsen sein, - nicht mehr wandern. Tibor möchte jetzt ein kleiner Junge sein, - geschützt von Mutterliebe und deren Geborgenheit. Nichts soll sich verändern, - die Zeit soll einfach still stehen, - für immer.

„Mutter?“, - flüstert Tibor heiser im Fieber und fühlt die weichen Arme, wie sie ihn an sich drücken.
Tibor lächelt und schaukelt mit dem Körper am Boden hin und her. Auch sein Kopf bewegt sich hin und her.
Jetzt sieht er sogar seinen Vater, der sich besorgt über ihn beugt. Hinter Vater steht Argon. Der lächelt und meint: „Das wird schon wieder. An so einer kleinen Erkältung ist noch keiner gestorben.“ Tibor seufzt beruhigt und nickt wieder, wobei sein Kopf hin und her fällt. Den Husten, der seinen Körper wild durch schüttelt, spürt Tibor nicht. Er spürt auch sein Bein nicht mehr, - auch nicht die Wunde am Rücken, die bereits verkrustet ist. Selbst seine von Dornen durchstochene Hand ist bereits verheilt. Tibor liegt im hohen Fieber. Der Schweiß rinnt von seiner Stirn. Auch sein Körper ist schweißnaß und mit ihm seine Kleider. Selbst die Wolldecke dampft bereits, wobei nun auch die Sonne hoch am Himmel steht.
Es ist wieder Nacht. Tibors Körper ist ruhiger geworden. Sein Atem geht röchelnd und stoßweise. Manchmal blickt Tibor glasig auf, aber so richtig ist er nicht da. Instinktiv faßt er immer wieder zur Seite ans Ufer in das Wasser, benetzt seine Lippen und trinkt ein paar Schluck. Es scheint ein Engel zu sein, der ihn zu diesen Bewegungen veranlaßt.
Der nächste Tag und die darauffolgende Nacht vergehen. Tibor liegt noch immer am Ufer. Er verspürt Hunger, als die Sonne aufgeht. In seinem Leinensack sind noch immer einige wenige Kräuter und Beerenmus. Als Tibor langsam kaut, verspürt er keinen Geschmack. Es tut alles nach nichts, - wie das Wasser, das er zwischendurch trinkt. Als er wieder hustet, tut es nicht mehr so weh in der Brust. Es scheint, als habe Tibor den Höhepunkt seiner Krankheit überwunden. Aber er ist kraftlos, - nicht fähig, sich aufzurichten, um weiter zu wandern. Erschöpft sinkt er wieder zu Boden und schließt die müden Augen. Vielleicht bringt ihm der Schlaf die alten Kräfte wieder zurück.
Sekunden später ist Tibor eingeschlafen. Er träumt wieder von seinem leuchtenden Stern. Schon fühlt er den weichen Boden unter sich und ist sich gewiß, dieses wunderschöne, mächtige Wesen zu sein. Tibor blickt um sich. Es ist wirklich eine herrliche Gegend. Die weichen, warmen Farben, - vom hellen Gelb, bis zum dunklen Rotviolett, - dieser leicht hügeligen Landschaft beflügeln seine Seele. Vor ihm breitet sich ein großer See aus, der die Farben der Landschaft widerspiegelt. An der linken Seite erhebt sich massives, rotes Gebirge, von wo ein tosender Wasserfall in den See fällt. Der Himmel über ihm ist rot, - überzogen mit rosaroten Schäfchenwolken. Es muß das Paradies sein, - denkt sich Tibor lächelnd und läßt sich am Ufer des Sees nieder. Er kreuzt seine Beine zum Türkensitz, drückt seinen Rücken gerade durch und hebt stolz seinen Kopf, um das Farbenspiel des Wasserfalls zu betrachten. Plötzlich hört er, wie ihn jemand ruft. Er weiß, daß er damit gemeint ist, obwohl die weiche, zauberhafte Stimme nicht „Tibor“ ruft. Er wendet seinen Kopf und lächelt. Es ist seine Geliebte, die ihn ruft. Tibor winkt ihr zu und deutet ihr an, sich zum ihm zu setzen.
„Eigentlich ist das die schönste Stelle der Leuchtenden Welt, - findest du nicht?“, fragt er seine Geliebte und blickt wieder verzückt zum Wasserfall.
Es ist das erste Mal, das er mit ihr spricht.
„Könnte man sagen. Komm, wir schwimmen zum Wasserfall“, sagt die Geliebte, nimmt Tibors Hand und zieht ihn hoch.
Zusammen steigen sie ins Wasser, das angenehm warm ist. Bald wird der See tief, und Tibor und seine Geliebte müssen schwimmen. Nichts hier zerrt an der Kraft. Alles ist so leicht und einfach, - fast schwerelos. Selbst beim Gehen fühlt Tibor, als ob er schweben würde und jetzt, als er schwimmt, scheint es ebenso wie von selbst zu gehen. Die beiden sind ziemlich schnell beim Wasserfall und tauchen jetzt durch die herabstürzenden Wassermassen durch. Hier ist das Wasser wieder seicht. Tibor und seine Geliebte stehen auf, lehnen sich an den weichen Felsen hinter sich und starren wie Kinder zum Wasserfall hoch. Hier ist das Farbenspiel noch prächtiger als von draußen.
„Es ist herrlich, nicht wahr? Kein Maler auf der Erde konnte solche Farben auf Papier bringen“, sagt Tibor.
Er weiß eigentlich nicht wirklich, warum er das sagt, und was er da überhaupt sagt. Es kommt ihm einfach in den Sinn, daß er diese Worte sagen muß, und in dem Moment, als er sie ausspricht, weiß er sehr wohl, was er damit meint. Nur jetzt, in diesem kurzen Moment, ist es ihm etwas schleierhaft. Aber Tibor lächelt und sieht seine Geliebte stolz an. Ja, er ist stolz, daß sie hier bei ihm ist und mit ihm zusammen dieses herrliche Schauspiel betrachtet. Nicht nur darauf ist er stolz, - nein, viel mehr noch, weil er in den Augen seiner Geliebten sehen kann, daß sie das selbe für ihn empfindet, wie er für sie. In ihren Augen kann er seine eigene Schönheit erkennen, - kann fühlen, daß eigentlich er das schönste Wesen des Universums ist, dem nicht einmal sie, - obwohl auch sie von gewaltiger Schönheit ist, - das Wasser reichen kann. Ja, selbst sie verblaßt ein wenig neben seiner außergewöhnlichen Schönheit. Tibor möchte am liebsten laut aufjubeln vor lauter Glück. Aber er lächelt nur und blickt wieder zum Wasserfall hoch. Gerade in dem Moment, als sich die Geliebte an ihn drückt, wacht Tibor auf.
Er spürt Tränen an seinen Wangen. Er kann sich gegen das Aufschluchzen, das aus seiner Kehle dringt, nicht wehren. Tibor schließt seine Augen und wünscht sich wieder zurück auf „seinen“ Stern. Er wollte nicht so schnell aufwachen, - er wollte überhaupt nicht mehr aufwachen. Dort auf seinem Stern war er wieder gesund. Sein Bein war geheilt und sein Husten war gut, der ihn eben jetzt wieder quält. Selbst sein Name war ein anderer, der ihm nun nicht einfallen will, so sehr er sich auch bemüht. Er hört zwar noch immer den Klang der Stimme, wie sie ihn rief, aber der Name, - er war ausradiert, - einfach weg.
Ächzend erhebt sich Tibor. Wenigstens das schafft er. Seufzend drückt er den Stock unter die Achsel, hängt sich den Leinenbeutel um die andere Schulter und humpelt weiter. Er spürt zwar noch immer ein wenig das Fieber, aber die Schmerzen sind nicht mehr so arg. Was jetzt wichtig war, war Nahrung zu finden, denn im Leinenbeutel war nur mehr eine Ration. Tibor versucht schneller zu humpeln, indem er mit dem Stock weiter ausholt und sein krankes Bein mit einem schnellen Schwung nach zieht. Es funktioniert! Es scheint wirklich so zu sein, daß Tibor diesen Tiefpunkt seiner Reise überstanden hat. Jetzt fühlt er auch, daß es, je weiter er nach Norden kommt, immer kühler wird. Nein, nicht kalt, aber doch nicht mehr so stickig heiß, wie früher. Hier scheint es öfter zu regnen, - vor allem öfter Gewitter zu geben. Jetzt weiß Tibor, daß er sich beim ersten Anzeichen eines Gewitters sofort in eine Höhle verziehen wird, - auch wenn er wieder retour gehen muß. Ein Unterschlupf läßt sich sicher immer wieder finden.
Tibor wanderte zwei Tage und zwei Nächte weiter. Geschlafen hat er nicht viel, - höchstens zwei Stunden um die Mittagszeit. Er weiß, daß er schon viel Zeit verloren hat. Er möchte ja noch jung und kraftvoll sein, wenn er ins Ballungszentrum kommt, denn seine Aufgabe, die er sich dort vorgenommen hat, kann auch nicht von einem Tag auf den anderen geschafft werden. Das würde auch wieder Jahre dauern. Nahrung hat er auch genug gefunden, - nur Menschen nicht. Diese Gegend hier scheint völlig unbewohnt zu sein.
Der Fluß neben Tibor wird immer breiter. Die Landschaft verändert sich auch ein wenig, - sie wird flacher und sandiger. Der Boden ist bald so ähnlich wie die Wüstengegend, die er durchquert hat.
Und dann staunt Tibor. Er steht plötzlich vor einem riesigen See. Vom Ufer aus kann er nicht einmal das andere Ufer erkennen. Überall nur Wasser, - tiefblaues Wasser! Argon hat ihm gesagt, daß er ans Meer kommen wird. Das ist also das Meer.
„Der Fluß, an dem du flußaufwärts gehen mußt, mündet in das Meer“, hatte Argon gesagt. „Wenn du vor dem Meer stehst, darfst du nicht über den Fluß, sondern mußt an der anderen Seite weiter gehen. Es ist noch ein weiter Weg. Du darfst die Geduld nicht verlieren. Dann kommst du an eine Stelle, wo hohes Gebirge das Ufer des Meeres säumt. Du mußt nach einem Höhleneingang suchen. Er wurde vor langer Zeit von Menschen gebaut und ist bis heute erhalten geblieben. Dieser Höhleneingang ist eigentlich ein Tunnel. Er führt unter dem Meer durch. Nur so kannst du zum anderen Land hinüber kommen. Der Tunnel ist unheimlich lang, und natürlich ist es dort auch stockdunkel. Eigentlich brauchst du kein Licht, wenn du dich an den Wänden entlang tastest. Aber es ist nicht gut für deine Augen, so lange ohne Licht zu sein. Also such zuerst Steine, mit denen du Feuer machen kannst, - und natürlich auch Holz, - am besten Kienspan, - das brennt wie eine Fackel, und dann hast du immer Licht. Diese Art Holz findest du am Gebirge.“
Das alles hat Tibor nun getan. Jetzt ist er bereits einige Tage und Nächte im Tunnel unterwegs. Aber noch spart er seine Fackeln, denn Argon hatte gesagt, daß der Tunnel sehr, sehr lang ist und Tibor sicher einige Tage und Nächte unterwegs sein wird. Also auch Nahrung und Wasser einpacken. Das mit dem Wasser war nicht einfach, denn Tibor hatte keine Tonflasche mehr. Aber mit Tibor schien nun das Glück zu sein, denn als er im Gebirge am Meeresufer nach dem Holz suchte, fand er eine alte Tonflasche, die wirklich noch dicht war, und er fand auch eine Gebirgsquelle, mit deren Wasser er die Tonflasche füllen konnte.
Erst jetzt holt Tibor das erste Stück Holz aus seiner Leinentasche. Er hockt sich an die Mauer gelehnt nieder, natürlich das noch immer geschiente Bein ausgestreckt, reibt die zwei Steine aneinander, die er ebenfalls eingepackt hatte, drückt das Holz dazwischen, und nach einigen Sekunden schon steigt Rauch auf. Tibor bläst eifrig auf das Holz, bis es endlich Feuer fängt. Schon hält er die Fackel stolz in seiner Hand. Im ersten Moment blendet sie ein bißchen seine Augen, aber Tibor gewöhnt sich rasch an das wieder gefundene Licht.
Er geht wieder weiter. An seiner rechten Seite ist eine Tunnelabzweigung. Tibor geht gerade aus, denn Argon hatte ihm gesagt, daß er immer gerade aus gehen muß, da diese Tunnelabzweigungen nirgend wohin führen. „Sie sind eine Art Sackgasse“, hatte Argon damals lachend gesagt.
Plötzlich spürt Tibor einen mächtigen Schlag auf dem Kopf. Er sackt zusammen und ist ohnmächtig.
Als er zu sich kommt, fühlt er Schmerz an seinen Armen und Schultern. Vorsichtig öffnet er die Augen. Es flimmert ein bißchen vor ihm. Das scheint von den Kopfschmerzen kommen, - von dem Schlag auf dem Kopf, an dem sich Tibor schlagartig erinnert. Er spürt keinen Boden unter seinen Beinen, aber noch immer die ziehenden Schmerzen an seinen Armen und Schultern. An seinen Handgelenken drückt etwas. Er blickt hoch.
Er hängt an Ketten. Um seine Handgelenke sind ebenfalls Ketten. Man hat Tibor an die Wand gekettet.
Als er menschliches Lachen hört, blickt er nach vor. Da stehen zwei Männer und eine Frau vor ihm und lachen ihn aus. Vorerst will Tibor schweigen und keine Fragen stellen. Die Situation wird sich ja bald aufklären, obwohl es ihn drängt, die drei Menschen zu bitten, die Ketten zu lösen, weil es bereits ziemlich schmerzt.
Hinter den drei Menschen sieht Tibor eine Feuerstelle. Bald darauf spürt er sie auch, denn der Rauch beißt ziemlich in den Augen. Hier im Tunnel ist ja nirgendwo ein Abzug. Also, wohin soll der Rauch?
Einer der Männer kommt nun auf Tibor zu. Er hat ein Messer in seiner Hand. Mit dem Messer kann er die Ketten wohl kaum durchschneiden, - denkt sich Tibor und fühlt eine ungewisse Angst in sich aufsteigen. Der Mann hat etwas ganz anderes im Sinn. Bald schon spürt Tibor den brennenden Schmerz, als das Messer tief in seine schmalen Hüften sticht und ein Stück Fleisch heraus schneidet. Tibor beißt die Zähne zusammen. Kein Schmerzenslaut kommt über seine Lippen. Schmerzen sind ja nun nichts Unbekanntes mehr für ihn. Lange genug spürte er sein gebrochenes Bein, - die quälende Hustenkrankheit. Plötzlich dämmert es Tibor, daß er Schmerzen eigentlich schon immer kannte. Nein, es war nicht in seiner Kindheit, - nicht in dieser Kindheit. Aber woher? Tibor spürt wieder die Ketten an seinen Handgelenken, wie sie sich in die Haut reiben und das Blut an den Armen herunter tropft. Ja, Ketten an seinen Handgelenken, - das schien auch nichts Neues für Tibor zu sein. Wieder vernimmt er wie von weit weg die Stimme seiner Traumgeliebten, - dieser Name, er will ihm einfach nicht einfallen. Im Traum ist er doch dieses Wesen. Nein, er ist nur ein Teil dieses Wesens, - denn dieses Wesen ist viel mehr. Dieses Wesen hat mehr als ein Leben hinter sich. Tibor schließt ganz fest seine Augen, - nicht vor Schmerz, sondern wegen seiner seltsamen Gedanken, die ihn befürchten lassen, daß er bald verrückt wird. Der Geruch von verbranntem Fleisch läßt ihn seine Augen wieder öffnen. Er sieht, daß die zwei Männer und die Frau das Fleisch, das sie ihm aus der Hüfte geschnitten haben, über dem Feuer rösten. Schon kommt der zweite Mann, ebenfalls mit einem Messer in der Hand, auf Tibor zu. Tibor ist der Ohnmacht nahe. Er ist verloren. Diese drei Menschen werden ihn jetzt Stück für Stück auseinander nehmen, über dem Feuer rösten und essen. Er kann einfach nicht glauben, daß es so etwas gibt. In seiner bereits ohnmächtigen Todesangst beginnt Tibor zu schreien. Es ist viel mehr ein Brüllen, - wie das Brüllen eines Tieres, das eben geschlachtet wird. Im nächsten Moment spürt Tibor die Faust des Mannes in seinem Gesicht. Seine Wange wird aufgeschlagen und blutet. Tibor brüllt wieder. Wieder ein Schlag. Diesmal trifft der Mann Tibors Kinn. Tibors Kopf sinkt auf seine Brust. Er ist ohnmächtig.
Als er zu sich kommt, spürt er die Ketten nicht mehr. Er liegt auf dem Boden. Um ihn knien einige Menschen, - Männer und Frauen, wie Tibor mit glasigem Blick erkennen kann.
„Armer Junge, wenn wir ihn nicht gehört hätten, und nicht zufällig hier vorbei gekommen wären, hätten ihn diese Bestien wirklich aufgegessen. Menschenfresser sind ja in dieser Zeit wirklich das schlimmste Übel“, hört Tibor eine weibliche Stimme sagen.
Tibor faßt sich geschmerzt an den Kopf und richtet sich vorsichtig auf. Er blickt an seinem Körper hinab. Um den Hüften ist ein dicker Verband aus Leinen gebunden. Sein Bein ist neu geschient worden und tut überhaupt nicht mehr weh. Wieder sieht er sich in der Runde um. Es müssen so an die 10 Menschen sein. Als er an einer älteren Frau vorbei blickt, kann er seine drei Folterknechte am Boden liegen sehen. Unter ihnen, am Boden, sind Blutlachen. Tibor unterdrückt einen Schrei und wirft sich die Hände vors Gesicht.
„Sie können dir nichts mehr tun, Junge“, sagt ein Mann und legt beruhigend einen Arm auf Tibors Schulter. „Wir haben sie mit ihren eigenen Waffen unschädlich gemacht. Sie wollten mit ihren Messern auch auf uns losgehen, aber wir haben ihnen die Messer aus den Händen schlagen können und sie damit abgestochen, wie es für diese Art von Menschen notwendig ist.“
Langsam nimmt Tibor seine Hände wieder vom Gesicht und sieht den Mann ungläubig an.
„Ihr hättet sie nicht töten dürfen. Das waren verzweifelte Menschen, die am verhungern waren. Sie hatten wohl keine andere Möglichkeit mehr zu überleben, als Menschen anzufallen und sie zu essen“, sagt Tibor mit gebrochener Stimme.
„Und du meist, wenn wir ihnen diese Worte gesagt hätten, daß sie dich dann gehen lassen hätten?“, fragt ein anderer Mann lachend.
Tibor schüttelt seinen Kopf und seufzt nur. Sein Blick bleibt an einer jungen Frau hängen, die ihn mit hellen Augen prüfend ansieht. Sie hat fast das selbe helle Haar wie er. Auch ihr Gesicht und ihre Hände sind fast so gebräunt wie seine Haut. Ihr Körper steckt in einem bodenlangen rot gefärbten Leinenkleid, das sie in der Mitte mit einem Ledergürtel gebunden trägt. Das helle Haar ist zu einem langen Zopf geflochten, der an der rechten Schulter nach vor über ihrer Brust hängt.
Tibor versucht mühsam aufzustehen. Der Mann, der ihm vorhin seinen Arm auf die Schulter legte, hilft ihm dabei.
„Dein Bein scheint mehrfach gebrochen zu sein. Wann und wie ist das passiert?“, fragt er.
Tibor erzählt mit wenigen Worten vom Gewitter und dem Felsblock, der ihm das Bein zerschmettert hat.
„Es sieht aber nicht schlecht aus. Du hast das einzig Richtige getan, Junge. Du wirst die Schienen bald nicht mehr brauchen, und dein Bein wird dann genauso sein, wie vor dem Unfall“, sagt der Mann tröstend.
„Wohin wanderst du?“, fragt plötzlich die junge Frau mit dem Zopf.
„Ich möchte ins Ballungszentrum.“
Allgemeines Gelächter ertönt, - nur nicht von der jungen Frau, die Tibor noch immer forsch in die Augen blickt.
„Wir kommen vom Ballungszentrum. Wir suchen hinter dem Meer nach einem guten Platz, wo wir leben können. Hast du während deiner Reise irgendwo einen guten Platz gesehen?“, fragt die junge Frau.
„Direkt vorm Meer wäre es nicht schlecht. Es ist im Gebirge. Ich habe zwar keine Höhlen gesehen, aber mit Glück könntet ihr sicher welche finden. Im Gebirge wachsen viele Kräuter, und Kaninchen gibt es dort wohl auch. Ich habe auch eine Quelle dort gefunden. Das Wasser ist wirklich köstlich“, erzählt Tibor eifrig.
„Es gibt sicher noch bessere Orte, wo ihr leben könnt. Aber das dürfte ein weiterer Weg sein. Geht aber nicht zu weit, denn ich habe auch eine Wüste durchquert. Wenn man den Weg nicht genau kennt, der zur einzigen Oase führt, kann es lebensgefährlich werden. Trotz allem würde ich sagen, daß hinter der Wüste die wohl besten Plätze zum Leben sind. Ich habe dort einige Menschen kennen gelernt, die sich in Höhlen nieder gelassen haben. Ich habe aber auch Menschen kennen gelernt, die in selbstgebauten Zelten leben.“
„Du hast schon viel erlebt, nicht wahr?“, fragt die junge Frau und sieht Tibor bewundernd an.
„Das kann man wohl sagen“, meint Tibor und seufzt aus tiefster Kehle. „Warum habt ihr das Ballungszentrum verlassen?“, wendet er sich an den Mann neben sich.
„Aus reiner Abenteuerlust. Wir hatten diese tägliche Routine einfach satt und möchten selbst etwas auf die Beine stellen. Wenn nichts daraus wird, können wir noch immer zurück. Aber ich glaube, das will keiner von uns. Wir möchten frei sein und unseren Tagesablauf selbst bestimmen. Weißt du, wenn du im Ballungszentrum keine Arbeit machst, lassen sie dich glatt verhungern, oder werfen dich in den Kerker, wo du ohnehin bald verhungerst“, sagt der Mann.
„Ist das Leben wirklich so arg dort?“, fragt Tibor.
„Es wird dir vorgeschrieben, was du tun sollst“, meldet sich ein anderer Mann. „Morgens früh aufstehen, zur Arbeit gehen, - abends mit der Arbeit aufhören, - nach Hause zur Familie, - essen, schlafen, - morgens wieder früh aufstehen - und so weiter. So geht das sechs Tage lang. Einen Tag hast du dann frei, und am nächsten Tag geht es wieder weiter mit morgens früh aufstehen und und und.“
„Wir wären dieses Leben eigentlich gewohnt, weil wir ja im Ballungszentrum aufgewachsen sind. Aber unsere Großeltern, die leider alle schon verstorben sind, haben uns von einer Zeit erzählt, wo man nicht täglich für andere arbeiten mußte, um überleben zu können. Sie waren auch einmal Wanderer und zogen von einem Ort zum anderen. Sie ernährten sich von dem was die Natur noch übrig gelassen hat. Damals war es noch schlimmer als heute, weil damals noch viel mehr verseucht und vergiftet war. Heute hat sich die Natur ja schon etwas beruhigt. Bäume wachsen wieder, und Tiere laufen auch wieder frei herum. Von all dem können wir uns jetzt selbst ernähren, ohne arbeiten zu gehen und dann mit einem Stück Papier die Lebensmittel zu kaufen“, sagt der Mann neben Tibor.
„Aber das Ballungszentrum gibt es doch schon so lange“, sagt Tibor.
„Sicher gibt es das Ballungszentrum schon lange, aber damals war es noch nicht so groß wie jetzt. Es wird sogar immer größer. Die Menschen bauen wieder kräftig und betonieren die Erde abermals zu, so wie vor vielen, vielen Jahren, als unsere Urururgroßeltern noch klein waren. Sie machen den selben Fehler wieder, und diesen Fehler wollen wir nicht mitmachen. Wir möchten mit der Natur leben, - in und von der Natur, ohne sie rücksichtslos auszubeuten und zubetonieren. Wir nehmen uns von der Natur wirklich nur das, was wir zum Überleben brauchen, - nicht mehr und nicht weniger. Das haben wir uns geschworen, als wir losgezogen sind. Wir wollen eins mit der Natur werden. Wir wollen von ihr nehmen, ihr aber auch geben. Wenn wir von Bäumen ernten, werden wir auch neue Bäume pflanzen, - und so weiter“, sagt eine Frau aus der Mitte.
„Das ist ein schöner Gedanke“, sagt Tibor leise.
„Komm doch mit. Das Leben wird dir im Ballungszentrum sicher nicht gefallen. Du bist einer, der nur Freiheit und Wildnis kennt. Was willst du in der Zivilisation? Sie verdirbt dich nur. In deinen Augen sieht man so richtig die Natur. Wenn du die Augen der Menschen im Ballungszentrum siehst, - sie sind leer und trüb“, sagt wieder die Frau aus der Mitte.
„Vielleicht kann ich die Menschen mit meinen Augen anstecken?“, sagt Tibor lächelnd.
„Ich glaube, wir werden uns hier zur Rast nieder lassen. Aber vorerst räumen wir diese Leichen weg“, sagt ein etwas klein geratener Mann und macht sich sofort daran, einen der Toten, sich über die Schulter zu legen. So klein er auch ist, - er scheint sehr kräftig zu sein.
Nachdem die Toten weggeschafft sind, - Tibor weiß nicht, wohin man sie getragen hat, - wahrscheinlich bis zur nächsten Tunnelabzweigung, - machen es sich die Menschen und er neben dem Feuer, das noch immer brennt, bequem. Sie essen und trinken gemeinsam, - tauschen einige Nahrungsmittel untereinander aus, - auch mit Tibor, der ihnen köstliche Beeren anbietet und von ihnen ein großes Stück Brot dafür bekommt.
Bald legen sich einige der Menschen auf ihren mitgebrachten Wolldecken zum Schlafen nieder. Die junge Frau, mit dem langen Zopf, rückt ganz nah zu Tibor. „Laß uns etwas weiter vor gehen. Komm mit“, sagt sie, nimmt ihre Wolldecke, Tibors Hand und hilft ihm hoch. Tibor drückt sich noch schnell seine Krücke unter die Achsel und geht mit dem Mädchen ein Stück nach vor, wo sie im Schein des Feuers ganz dunkel den Haupttunnel sehen können. Dort legt das Mädchen ihre Decke nieder und deutet Tibor an, sich zu ihr zu setzen, was Tibor auch tut.
„Du hast wirklich schöne Augen. Wie heißt du?“, fragt das Mädchen leise.
„Ich heiße Tibor. Und du?“
„Anna, - ein ganz, ganz alter Name. Meine Mutter hieß so, meine Großmutter hieß so, meine Urgroßmutter hieß so. Ich glaube, alle unsere weiblichen Vorfahren hießen Anna“, sagt das Mädchen lachend.
„Ist deine Mutter tot?“
„Ja, sie starb, als sie meinen Bruder bekam. Und mein Bruder starb, als er erst ein Jahr alt war.“
„Und dein Vater?“
„Mein Vater kam vor einem Jahr bei einem Arbeitsunfall ums Leben.“
„Bist du ganz alleine mit diesen Leuten mitgegangen?“
„Nein, der Bruder meiner Mutter ist dabei. Aber glaub mir, das wäre auch nicht nötig, denn ich bin alt genug, um auf eigenen Beinen zu stehen. Ich bin schon 18. Wie alt bist du?“
„Ich werde auch bald 18.“
„17 also. Du siehst älter aus, Tibor. Wie lange bist du schon unterwegs?“
„Ich war 12, als ich meine Heimat verließ. Meine Eltern starben an Husten. Mich hat nichts mehr zu Hause gehalten. Ich mußte einfach weg. Ich hätte diese Leere, die meine Eltern hinterlassen haben, nicht ertragen.“
„Du hast wirklich schon viel erlebt, - nein, nicht erlebt, eher erlitten, du armer Junge“, flüstert Anna und streichelt Tibor sanft über die blutunterlaufene Wange, die vom Schlag dieses Menschenfressers noch ein wenig weh tut.
Annas Hand bleibt nicht auf Tibors Wange. Sie sucht sich ganz langsam und tastend den Weg an seinem Hals herunter, bis zur Brust, zu dem Leinenverband und rutscht dann plötzlich in seine Hosen. Tibors Atem wird schneller. Ihm wird ganz heiß, daß er sich vorerst einmal zurück legen muß, um endlich wieder normal atmen zu können. Anna legt sich sofort zu ihm und sucht mit ihren Lippen seinen Mund. Gierig preßt sie ihre Lippen auf seine und öffnet sie fordernd mit ihrer Zunge. Instinktiv erwidert Tibor diese Liebkosung und drückt seine Zunge ebenso in Annas Mund, während sie noch immer seinen steif gewordenen Penis massiert. Tibors Herz beginnt zu rasen, seinen Lenden brennen, aber noch im letzten Moment packt er Annas Hand, reißt sie aus seiner Hose und sieht sie mit brennenden Augen an. In diesem Moment ist Tibor direkt eine Schönheit. Anna erstarrt unter seinem leidenschaftlichen Blick. Sie spürt seinen heißen Atem, als er sich über sie beugt und ihr wieder einen Zungenkuß schenkt. Ganz vorsichtig, - wegen seines geschienten Beins, - legt sich Tibor auf das Mädchen, das ganz schnell ihr Kleid hochhebt, daß Tibor endlich in sie eindringen kann. Tibor weiß, was er zu tun hat. Er umfaßt mit einer Hand seinen noch immer höchst erregten Penis und berührt damit die Geschlechtsteile des Mädchens. In dem Moment zuckt er zurück, gleitet von Anna und dreht sich auf die Seite. Er drückt mit beiden Händen auf seinen Penis. Er will dieses Gefühl nicht. Es ist nicht so angenehm, wie Argon ihm gesagt hat. Es ist nicht das, wovon er träumt. Anna ist auch nicht diese Frau, von der er träumt. Nur in sie kann er eindringen, - und das nicht nur mit seinem Geschlechtsteil, sondern mit seinem ganzen Körper. Die Erregung ist plötzlich weg. Schamröte steigt in sein Gesicht, und sein ganzer Körper zittert. Er spürt Annas Hand an seiner Schulter. Sie beugt sich über ihn, um sein Gesicht zu sehen.
„Du hattest wohl noch nie eine Frau, was?“, fragt sie mit sanfter, leiser Stimme.
„Nein“, antwortet Tibor heiser und schließt seine Augen, um seine aufsteigenden Tränen zu verbergen.
„Das macht doch nichts, Tibor. Vielleicht bin ich nicht die richtige dafür. Es tut mir leid, weil ich dich so überfallen habe.“
Tibor dreht sich auf den Rücken und blickt Anna in die Augen.
„Du bist sehr hübsch, Anna, - wirklich. Ich würde dich nie belügen. Du gefällst mir, - ganz ehrlich, aber...“
Tibor stockt. Er weiß nicht, was er Anna als Entschuldigung sagen soll. Von seinem Traum kann er ihr nicht erzählen. Sie würde ihn für verrückt halten und auslachen. Das will er nicht. Er will auch nicht, daß sie womöglich denkt, er hätte sich diese Geschichte nur ausgedacht, obwohl ihm jetzt eigentlich alles egal ist, was Anna über ihn denken würde. Eigentlich ist der einzige Grund, warum er ihr von seinem Traum nichts erzählen will, daß er niemandem jemals von diesem Traum erzählen wird. Doch, einer wird er davon erzählen, wenn er sie gefunden hat, - seiner Traumfrau.
„Du mußt dich nicht entschuldigen, Tibor. Vergessen wir das Ganze einfach, und laß uns schlafen, als ob es gar nicht passiert wäre. Darf ich meinen Kopf auf deine Brust legen?“
„Natürlich darfst du das, Anna“, sagt Tibor lächelnd, und seine Gesichtsröte verschwindet.
Zärtlich streichelt er über Annas Kopf, bis er an ihren gleichmäßigen Atemzügen erkennt, daß sie eingeschlafen ist. Bald darauf schläft auch er ein.
Am Morgen, - wahrscheinlich ist es morgen, - hier unten im Tunnel kann man es ja nicht mehr unterscheiden, - werden die beiden von den anderen Menschen geweckt.
„Da schau an, - ein Liebespaar“, hört Tibor einen Mann sagen, als er seine Augen aufschlägt.
Die beiden liegen noch immer so, wie sie eingeschlafen sind. Nun hebt auch Anna ihren Kopf und sieht schlaftrunken zu den Menschen hoch. Sie errötet ein bißchen, als sie aufsteht und Tibor hoch hilft.
„Dann kommst du ja doch mit uns mit, oder?“, fragt der Mann.
„Es ist nicht so, wie es scheint. Ich habe Anna nichts getan, - wirklich nicht. Es war nichts zwischen uns. Wir haben nur geredet und sind dann eingeschlafen“, rechtfertigt sich Tibor etwas hastig.
„Es ist wahr, Onkel. Wenn es dich auch nichts angeht, aber es ist wirklich so. Tibor wird nicht mit uns kommen. Er will ins Ballungszentrum, und wir sollten ihm Glück auf seinem noch sehr weiten Weg wünschen“, sagt Anna edel und drückt Tibors Hand, während sie ihm einen Kuß auf die Wange gibt.
Dann geht Anna, allen voran, weiter, ohne sich noch einmal nach Tibor umzudrehen. Jeder einzelne drückt Tibors Arm, oder Hand und wünscht ihm Glück. Tibor bedankt sich bei jedem für die großartige Lebensrettung. Er geht bis zur Biegung mit und sieht den Menschen so lange nach, bis sie mit ihren Fackeln in der Dunkelheit verschwunden sind. Erst dann geht Tibor im Finsteren des Tunnels weiter.
Der restliche Weg durch den Tunnel verlief problemlos. Tibor traf keine Menschen, keine Tiere, - nichts. Ganz alleine wanderte er weiter, entfachte nur einmal eine Fackel und schlief auch nur einmal einige Stunden. Er träumte nichts, - zumindest kam es Tibor so vor, weil er ziemlich müde war. Bevor er den Tunnel verließ, entledigte er sich der Schienen seines Beines. Es war geheilt. Tibor humpelte zwar noch ein bißchen, aber wie durch ein Wunder konnte er sein Bein bereits schmerzlos abbiegen. Der Tunnel endete mitten in einem Gebirge. Tibor stand hoch oben auf einem Felsen und blickte zum Meer hinunter. Es war wieder ein herrlicher Anblick. Aber Tibor mußte sich davon losreißen, denn er hatte keine Nahrung mehr in seinem Leinenbeutel. Also mußte er sich auf die Suche nach Eßbarem und Wasser machen. Tibor fand zuerst eine Gebirgsquelle, an der er sich wusch und erfrischte und seine Tonflasche auffüllte. Dann suchte er nach Kräuter und Beeren und füllte auch damit seine Leinentasche voll. Er sah auch ein Kaninchen, das ganz nah an ihn heran kam. Er hätte nur ganz schnell seine Hand ausstrecken müssen, dann hätte er auch Fleisch gehabt. Aber Tibor brachte das nicht übers Herz, als er in die sanften, dunklen Augen des „Engels“ blickte.
Wieder wanderte er rastlos weiter. Tibor brauchte nicht mehr so viel Schlaf wie anfangs. Er hatte sich angewöhnt nur mehr zwei bis drei Stunden um die Mittagszeit zu schlafen. Die restlichen Tage und Nächte wanderte er durch. Er träumte nicht mehr von seinem Stern, was ihn ziemlich traurig machte. Aber Tibor hatte Geduld. Er wußte, daß man diesen Traum nicht erzwingen kann. Wichtiger war es ihm ohnehin, schon bald ins Ballungszentrum zu kommen. Es konnte dort nicht gar so schlimm sein, wie er von anderen Menschen gehört hatte, denn bei seiner letzten Begegnung mit Menschen, die im Tunnel war, hörte er eigentlich nur heraus, daß sie arbeiten müssen, um Nahrung zu bekommen. Für Tibor war das so, als ob eine Hand die andere wäscht, - wie er von Argon einmal dieses Sprichwort gehört hatte. Diese Menschen arbeiten ja nicht nur für andere, sondern auch für sich selbst, indem sie Dinge herstellen, die sie selbst auch brauchen, indem sie sie dann mit den Wertpapieren einkaufen. Auch die Oberen müssen diese Dinge kaufen. Also läuft dort ja alles ziemlich gerecht herunter. Es müßte nur einmal jemand kommen, der ihnen das auch sagt. Eigentlich müßten das die Menschen schon selbst erkennen. Klar, es ist nicht immer angenehm, Tag für Tag die selbe Arbeit zu machen, aber auch da würde man Abhilfe schaffen. Man könnte es so anstellen, daß einmal einer diese Arbeit macht, dann der andere jene, - bis jeder alle Arbeit getan hat, die anfällt, dann würde keine Langeweile aufkommen. Sicher wäre das zeitraubend, denn man müßte die Menschen bei jeder Arbeit neu anlernen. Aber was ist schon Zeit? Niemand kann dir sagen, wann deine Zeit um ist, - es kann ja schon in der nächsten Sekunde sein, obwohl du dich jetzt noch so gesund wie noch nie fühlst.
Tibor kam bei seiner weiteren Wanderung an einem Termitenbau vorbei. Er saß ziemlich lange dort und beobachtete die fleißigen Tierchen. Tibor war fasziniert von dem prächtigen Bau und der intelligenten Arbeitseinteilung. Ja, so müßte es im Ballungszentrum auch sein. Alle für einen, - einer für alle, aber nur dann, wenn auch der eine seine Arbeit wirklich macht. Dieser Termitenbau funktionierte hervorragend. Jedes der Tiere wußte, was es zu tun hat. Es sah auch aus, als ob sie ihre Arbeit mit Eifer und Freude und sogar mit dem Einsatz ihres Lebens machen. Es schien ihnen bewußt zu sein, daß nur so jeder einzelne überleben kann. Dieses Bewußtsein müßten die Menschen einmal haben. Sie müßten sich wirklich bewußt werden, daß sie eigentlich eine Einheit sind, - eine einzige Kraft, die erst durch Gemeinschaft so stark werden kann, daß sie alles überwinden kann. Aber nicht nur dieses Bewußtsein muß den Menschen gelehrt werden, - auch das Bewußtsein der Liebe, denn nur mit Liebe zum nächsten, wie zu sich selbst, kann diese Kraft zustande kommen. Auch das erkannte Tibor am Termitenbau.
Tibor war nun schon 9 Jahre unterwegs. Er traf kaum mehr Menschen, - nur einige wenige, die vom Ballungszentrum wegwanderten, und ihm kaum Beachtung schenkten. Tibor sah schon ziemlich herunter gekommen aus. Seine alten Hosen waren zerrissen, - noch immer von dem Steinschlag, der ihm damals sein Bein zerschmettert hatte. Auch sein Hemd sah schon mehr wie ein Fetzen aus. Ebenso die Wolldecke, die um seinen Schultern hing. Sein Haar war ausgefranst und hing strähnig über seinen Rücken. Die Haut wirkte noch mehr wie Leder und hatte eine stumpfe graubraune Farbe. Nur seine Augen leuchteten noch hell und voll neuer Lebenslust. Nahrung und Wasser fand er genug. Er aß aber noch immer nur Gemüse und Obst. Es widersprach seinem Herzen, Fleisch zu essen, obwohl er sich bewußt war, daß auch Gemüse und Obst Leben in sich haben. Aber dieses Leben war ihm zu fremd, um Mitleid, oder Liebe dafür zu empfinden. Er dankte dem Gemüse und dem Obst zwar, wenn er es erntete, aber mehr konnte er nicht tun.

Jetzt befindet sich Tibor auf einem ausgetretenen Weg, der rechts und links mit Steinen markiert war. Er weiß, daß ihn dieser Weg zum Ballungszentrum führen wird. Er weiß auch, daß sein Ziel noch immer nicht so nah ist, wie er es gerne möchte. Es würde noch einige Vollmonde geben, bis er das Ballungszentrum von weitem erkennen wird. Die Gegend ist ziemlich eben, nur an der rechten Seite, ganz weit drüben, erhebt sich ein mittelhohes Gebirge, in dem auch Höhlen sind. In einer dieser Höhlen wird sich Tibor nun ausruhen. Bereits mit müden Schritten ändert er die Richtung und marschiert auf das Gebirge zu. Er muß weit hinein gehen, - über einige Felsen klettern, bis er endlich eine kleine Höhle entdeckt, in der er es sich bequem machen kann. Tagsüber ist es angenehm warm, - nur nachts ist es meistens kühl. Tibor macht diese Kälte nichts mehr aus. Er scheint gegen jede Temperatur immun geworden zu sein. Den Leinenbeutel legt er sich als Kopfunterlage zurecht, und die zerschlissene Wolldecke, in die er sich einhüllt, dient zugleich als Körperunterlage. Tibor ist müde, - fast unbewußt schläft er sofort ein, nachdem er seine Augen schließt.
Bis heute hatte er keinen Traum mehr von seinem Stern. Aber heute träumt er wieder. Tibor lächelt im Schlaf, als er sich auf dem weichen Boden befindet. Diesmal ist er nicht an dem See, sondern in einer Höhle, die er erst einmal genau betrachten muß. Sie ist genauso eine Farbenpracht wie der Wasserfall am See. Die Wände haben ein warmes Rot. Von oben herab hängen bunte Zapfen, - von gelb bis rotviolett. Der Boden ist fast schwarz, scheint aber an manchen Stellen dunkelrot zu leuchten. Tibor hockt an einer Nische auf dem weichen Boden, - die Beine mit beiden Händen an den Körper gezogen. Ihm gegenüber sitzt seine Geliebte. Sie hält ein Buch in ihrer Hand und schreibt darin. Tibor sieht ihr atemlos zu.
„Worüber schreibst du gerade?“, fragt er.
Natürlich ist sich Tibor dieser Worte nicht wirklich bewußt, - aber das Wesen, in das er geschlüpft ist, - das er in diesem Fall ist, weiß sehr wohl, was es da sagt.
„Ich schreibe gerade über unser letztes Erlebnis, als wir bei den Kinas waren. Du erzählst mir eben von deiner Traumfrau“, sagt die Geliebte lächelnd.
Tibor lächelt auch. In dem Moment weiß er, daß er immer nur eine Geliebte in seinem Leben hatte, - und nur mit ihr wirklich glücklich sein kann.
„Daß du nicht selbst darauf gekommen bist, enttäuscht mich wirklich“, sagt er leise mit seinen Augen.
Tibor spricht nicht wirklich, - er läßt einfach seine Gefühle aus den Augen. Seine Geliebte nimmt sie auf und spricht ebenfalls mit ihren Augen, - ihren Gefühlen, zu ihm.
„Vielleicht bin ich selbst darauf gekommen? Ich hatte eben Angst. Nein, nicht Angst, - es war einfach ein Gefühl, das mir selbst nicht erlaubte, das zu denken, - oder zu wissen. Vielleicht wäre ich bei dieser Gewißheit größenwahnsinnig geworden?“
„Bei der Gewißheit, daß ich nur dich liebe, hättest du größenwahnsinnig werden können?“, fragt Tibor lachend. „Was ist jetzt? Warum wirst du jetzt nicht größenwahnsinnig?“
„Es ist eine andere Zeit. Wir beide haben uns erweitert, - innerlich erweitert. Jetzt, wo alles fast grenzenlos scheint, - wo auch unsere Liebe keine Grenzen mehr hat, - ist es leicht, diese einzigartige, wahre Liebe wirklich zu erkennen, - anzuerkennen. Hast du nicht auch daran gezweifelt, daß ich nur dich liebe?“
„Anfangs sicher, aber dann sah ich in deinen Augen die wahre Liebe. Ich zweifelte nicht mehr, und ich hatte auch keine Angst größenwahnsinnig zu werden, - obwohl ich sehr, sehr stolz war und es noch immer bin, daß mich die einzigartigste Frau des Universums mehr als ihr Leben liebt.“
„Du bist mehr als ich“, sagt die Geliebte und senkt ihren Blick.
„Jetzt noch“, sagt Tibor lächelnd und streckt seine Hand aus.
Die Geliebte sieht ihn wieder an und nimmt seine Hand. Ganz sanft zieht Tibor sie an sich. Beide knien nun am Boden und umarmen sich innig, bis sie eins sind. Tibor kann kaum mehr atmen, so überwältigt ihn dieses herrliche Gefühl.
Tibor wacht wieder auf. Er ist naß zwischen seinen Beinen. Noch schlaftrunken richtet er seinen Oberkörper auf und zieht seine Hosen aus. Dann wickelt er wieder die Decke um sich und umarmt sich selbst. Langsam streicheln seine Hände an den Seiten bis zu den Lenden hinab. Er möchte dieses Gefühl noch einmal erleben. Aber es ist nicht das, was er im Traum gefühlt hat, als er sich selbst streichelt, so wie es Anna damals im Tunnel gemacht hat. Selbst als er abermals naß wird und ein angenehmes Gefühl durch seinen ganzen Körper schießt, ist es nur ein kleiner Teil des Gefühls, das er hat, wenn er sich im Traum mit seiner Geliebten vereint. Aber Befriedigung ist es trotzdem. Tibor ist 21. Er ist ein Mann, - ein Mensch mit den selben Bedürfnissen, wie jeder andere auch. Er kann es nun mal nicht heraus schwitzen. In diesem Moment sehnt er sich nach einer Frau, - egal wie sie aussieht, - egal wer sie ist. Tibor erinnert sich an Anna, - an dieses schmerzhafte Brennen, als sein Penis ihre Geschlechtsteile berührte. Vielleicht tut es das erste Mal weh? Nein, Argon hat gesagt, daß es für einen Mann immer gut ist. Nur, wenn die Frau das erste Mal liebt, tut es ihr ein bißchen weh, weil das Jungfernhäutchen zuerst reißen muß. Männer haben so etwas nicht. Es tut ja auch nicht weh, wenn er selbst die Vorhaut zurück zieht, - also, sich selbst befriedigt.
Tibor zieht auch sein Hemd aus. Er nimmt das Hemd und die Hose, wickelt die Wolldecke um seinen Körper, hängt sich die Leinentasche um und sucht nach einem Bach, oder einer Quelle im Gebirge, um sich zu waschen. Wenige Meter, über der Höhle, windet sich ein kleiner Bach zur anderen Seite hinab. Tibor steigt ins kalte Wasser, hockt sich nieder und trinkt zuerst aus der hohlen Hand. Das Wasser ist köstlich. Dann wäscht er sich und seine Hosen. Langsam geht er wieder zur Höhle zurück. Vor der Höhle entfacht er ein kleines Feuer. Etwas Holz hat er auf dem Weg zurück gesammelt. Nun trocknet er seine Hosen über dem Feuer. Erst dann zieht er sie wieder an, löscht das Feuer mit Steinen und wandert wieder weiter.
Seine Gedanken sind irgendwie leer. Die Lebenslust scheint verloren, - ebenso die Kraft, die er bis jetzt immer in sich spürte. Es ist wohl dieser Traum, oder gar das Verlangen nach Liebe, - nach Berührung. Sich immer nur selbst zu berühren, - daraus kann das Leben ja auch nicht bestehen. Tibor hat Sehnsucht. Diese Leere schmerzt in der Brust. Tibor hat schon so lange nicht mehr geweint. Jetzt kullern wieder Tränen über seine Wangen. Er scheint mit diesem neuen Gefühl nicht klar zu kommen. So lange ging alles gut, - kein Traum, kein Verlangen, - nichts, - nur wandern, Nahrung suchen, ein bißchen ausruhen, wieder wandern, Nahrung suchen. Aber jetzt ist der Traum wieder da, - das Gesicht dieser wunderschönen Frau, wo er sich nun sicher ist, daß er sie nie finden wird. Sie ist nur auf diesem Stern. Sie kann nicht auf dieser Erde leben. Die Menschen hier sehen ja alle ganz anders aus. Nein, es ist nicht nur dieses Leuchten, - es ist einfach nur dieses Gesicht, - dieses ebenmäßige, wie aus Feuer gemeißelte Gesicht. Und erst der Körper! Tibor schüttelt sich ab. Er will nicht daran denken. Es macht ihn nur traurig und leer.
Als er so trübselig und gedankenlos dahin schlendert, bemerkt er gar nicht, daß eine Frau seinen Weg entlang kommt. Erst als sie wenige Meter vor ihm geht, zuckt er zusammen und erschrickt fast. Die Frau lacht auf.
„Schläfst du, während du gehst?“, fragt sie und ganz nah vor ihm stehend, daß er ihren Atem in seinem Gesicht spüren kann.
Tibors Herz klopft, als ob es ihm aus der Brust springen will. Die Frau ist nicht gerade eine Schönheit, aber sie ist jung und eben eine Frau.
„Ich möchte dich lieben“, sagt Tibor wie unter Eingebung. Er wundert sich nicht einmal über seine forschen und schon eher frechen Worte.
Die Frau lacht wieder.
„Du gehst ja schön ran“, sagt sie dann und betrachtet Tibor von oben bis unten.
„Ich will nicht mit dir leben. Ich möchte dich nur lieben. Was dann weiter passiert, - geht uns beide nichts mehr an. Du gehst deinen Weg weiter, ich meinen. Also, was ist?“
„Willst du mich dafür bezahlen?“, fragt die Frau.
„Ich habe nichts, was ich dir geben kann. In meiner Leinentasche sind nur Nahrungsmittel, die ich auf dem Weg brauche. Das andere, was ich habe, trage ich auf meinem Körper. Du wirst kaum an meinen zerrissenen Kleidern interessiert sein.“
„Aber du willst etwas von mir, - also mußt du mir auch etwas geben“, sagt die Frau.
„Wir geben uns gegenseitig etwas, - Liebe“, sagt Tibor.
„Liebe nennst du das? Junger Mann, - das, was du willst, ist Sex. Das hat mit Liebe überhaupt nichts zu tun. Liebe ist, wenn du einen Menschen brauchst, - wenn du dein Leben mit ihm teilen willst, - wenn du für immer für ihn da sein willst. Das ist Liebe. Die Beine breit machen und Schwänze einführen, - das hat mit Liebe nur wenig zu tun.“
Tibor schluckt wegen der Offenheit der Frau. Er schämt sich plötzlich.
„Es tut mir leid“, sagt er leise, beinahe flüsternd und will weiter gehen.
Aber die Frau hält ihn zurück.
„Ich will nichts von dir“, sagt sie. „Wir können Sex machen, wenn du es schon so nötig hast. Komm, ich weiß einen guten Platz.“
Sie nimmt Tibors Hand und geht mit ihm ein Stück des Weges weiter, - in die Richtung, in die Tibor gegangen ist. Weiter vorne biegen sie vom Weg ab. Dort drüben stehen viele Bäume. Es ist ein Wald mit großen, etwas dürren Nadelbäumen. Am Boden ist weiches Moos. Die Frau setzt sich auf dieses Moos und blickt zu Tibor hoch, der etwas unbeholfen und schüchtern da steht.
„Nun komm schon, und zeig mir was du drauf hast“, sagt sie lächelnd und klopft neben sich, um Tibor damit anzudeuten, daß er sich zu ihr setzen soll.
Tibor zögert ein bißchen, dann setzt er sich und wagt nicht, die Frau anzusehen.
„Ich hatte noch nie eine Frau“, sagt er leise, den Blick eisern nach vorne gerichtet. „Einmal wollte mich ein Mädchen. Ich war gerade vorm Eindringen, - aber dann konnte ich nicht. Ich war schon bereit, aber trotzdem konnte ich nicht. Es tat irgendwie weh. Ich weiß nicht, ob ich es bei dir kann. Ich möchte, - ich möchte es wirklich so sehr, aber ich weiß nicht, ob ich es kann.“
Die Frau ist für eine Weile still. Dann nimmt sie Tibors Gesicht zwischen ihre Hände und zwingt ihn, sie anzusehen.
„Du bist ja ein ganz seltsamer Mann. Du möchtest also nur versuchen, ob du Sex machen kannst?“
Tibor nickt stumm. Die Frau nimmt ihre Hände wieder herunter. Langsam steht sie auf und zieht ihr Kleid ebenso langsam aus. Darunter ist sie nackt. Tibor sieht sie an. Es rührt sich eigentlich nichts bei ihm, - weder Herzklopfen, noch das bestimmte Brennen in den Lenden. Die Frau hockt sich zu ihm und zieht ihm das Hemd aus. Ganz zärtlich streichelt sie über seine Brust, zu seinen Lenden hinunter und in die Hose, - so wie es Anna gemacht hat. Auch sie streichelt seinen Penis. Tibor legt sich zurück und schließt seine Augen. Er denkt an seine Geliebte, - an seine Traumfrau. Jetzt klopft das Herz schon schneller, -auch sein Penis füllt sich prall mit Blut. Tibor macht seine Augen nicht auf, als er sich selbst die Hosen auszieht, die Frau packt, sie auf den Rücken wirft und sich auf sie legt. Er küßt sie leidenschaftlich, - streichelt ihren Körper, - vor allem ihre prallen, schön geformten Brüste, - berührt auch ihre feuchten Geschlechtsteile. Sie stöhnt voller Begehren, - auch Tibor stöhnt und wünscht sich dieses Gefühl vom Traum zurück. Noch immer sind seine Augen geschlossen, - in seinen Gedanken sieht er das wunderschöne, leuchtende Gesicht vor sich, - den herrlichen Körper. Tibor faßt seinen Penis und berührt damit die Geschlechtsteile der Frau. Ein brennender Schmerz durchzuckt seinen Körper. Er macht die Augen auf und sieht das Gesicht einer Frau vor sich, die er nicht kennt. Sie hat wasserblaue Augen, eine spitze, etwas zu große Nase, schmale Lippen, die geöffnet sind, wo man sehen kann, daß ihr genau vorne zwei Zähne fehlen. Man kann sehen, daß sie jung ist. Ihr Haar ist strähnig und flachsblond. Es ist nicht sehr lang, höchstens bis zu den Schultern. Um die Stirn trägt sie ein blaues Leinenband. Mit einem lauten Aufschrei gleitet Tibor von ihrem Körper, drückt sich am Bauch zu Boden und weint. Er weint laut, - er heult fast wie ein Wolf. Als er die Hand der Frau auf seinem Rücken spürt, fährt er hoch und faucht sie an: „Verschwinde! Verschwinde und laß mich in Ruhe!“
Die Frau schüttelt ihren Kopf, zieht rasch ihr Kleid an und eilt im Laufschritt davon. Tibor drückt sich wieder am Bauch zu Boden, - fest, ganz fest, daß er dabei seinen noch immer erregten Penis fest am Boden reiben kann. Seinen Bewegungen werden immer wilder, bis er mit der Hand noch etwas nachhilft. Erst dann lösen sich die inneren Spannungen seines Körpers. Tibor keucht. Er dreht sich auf den Rücken und starrt mit tränenverschleierten Augen zu den Baumkronen hoch, bis in den Himmel. Jetzt weiß er, daß er nie eine Frau lieben kann. Er wird alleine bleiben, - für immer alleine bleiben. Nur die Träume, wenn sie wieder kommen, werden seine Sehnsucht stillen.
Tibor reinigt sich mit der Erde vom Boden, zieht sich wieder an und wandert weiter. Die Frau kann er nirgendwo sehen. Es ist auch gut so. Es tut ihm leid, was er getan hat. Aber er weiß, daß es nie wieder vorkommen wird. Es war gemein von ihm, was er getan hat. Es war Mißbrauch. Er hat einen Menschen mißbraucht, nur um sein Verlangen zu stillen, was ihm ja auch versagt wurde. In diesem Moment haßt sich
Tibor selbst. Dieser Haß tut mehr weh als sein Verlangen nach wahrer Liebe.
Unterwegs nimmt er seine Tonflasche aus dem Leinenbeutel und trinkt einen Schluck daraus. Er ißt auch ein wenig von den Beeren, die er im Gebirge gepflückt hat. Nebenbei wünscht er sich, daß er diese Frau nie wieder sieht. Er würde sich zu Tode schämen, wenn sie ihm in die Augen sehen würde. Er möchte auch Anna nie wieder sehen. Auch vor ihr würde er sich schämen. Selbst Karja möchte er nie wieder sehen, die ihm einmal sehr gut gefallen hat. Zum Glück passierte ihm bei ihr nicht dieses Mißgeschick. Trotzdem, gedacht hat er ja daran. Man darf Menschen nicht mißbrauchen. Man darf sie nicht an Stelle eines anderen benutzen. Es gibt immer ein böses Erwachen, wenn man die Augen schließt und nicht sieht, wer wirklich vor einem steht, - oder liegt, wie das bei ihm der Fall war. Es ist nun mal so, daß sich Tibor in einen Traum verliebt hat. Dem muß er sich fügen, - so schwer das auch ist.
Tibor wandert wieder unermüdlich weiter. Tage und Nächte, - wieder nur mit wenigen Stunden Schlaf, - traumlos. Das ist auch gut so, denn zur Zeit will Tibor auch von seinem Traum nichts wissen. Er könnte mit diesen Gedanken niemals seiner Traumfrau gegenüber treten. Er würde sich auch vor ihr schämen, weil er diese Menschen mißbrauchen wollte. Es war wie ein Treuebruch ihr gegenüber. Bei diesen Gedanken weint Tibor wieder. Wie könnte er das alles wieder gut machen? Das Verlangen war da. Er wollte doch eine Frau, egal, wie sie aussieht und wer sie ist. Das war doch ein Treuebruch ihr gegenüber. Wollte er wirklich eine Frau, oder war es nur das natürliche Verlangen eines Mannes, der schon so lange keine Befriedigung hatte? Immerhin ist er ein Mensch wie jeder andere. Argon hatte gesagt, daß das des Menschen schönste Beschäftigung ist. Aber was ist Tibor auf diesem Stern? Ist er da auch ein Mensch? An wessen Stelle tritt er dort? Er ist ein Teil von diesem Wesen, - das fühlt er ganz sicher, wenn er dieses Wesen ist. Aber viel mehr kann er von diesem Wesen nicht erkennen. Es scheint ein Wissen in sich zu haben, von dem er mehr als weit entfernt ist. Aber doch scheint es seine Neigungen und seinen Charakter zu haben.
Ach, es ist ja nur ein verdammter Traum, - wehrt Tibor kopfschüttelnd ab und stapft fast trotzig weiter. Warum Schuldgefühle wegen eines verdammten Traums haben? Das ist irr, - das ist wahnsinnig. Nein, er darf nicht wahnsinnig werden, denn er hat noch so viel vor. Es wäre besser, sich langsam Gedanken zu machen, was er tun wird, wenn er ins Ballungszentrum kommt. Diesen körperlichen Trieb wird er auch noch unter Kontrolle bringen können. Immerhin kann er auch ganz gut mit Hunger und Durst umgehen, genauso gut mit Müdigkeit, - also wird das auch bald kein Problem mehr sein. Tibor ist stolz auf seinen Willen, mit dem er seinen Körper bereits zu Höchstleistungen gebracht hat. Kaum ein anderer Mensch dieser Zeit hätte all das überlebt, was er schon geschafft hat. Tibor kommt nur mit kaum einer Handvoll Nahrung und wenigen Schlucken Wasser am Tag aus. Nachts braucht er überhaupt nichts, - außer zwei bis drei Schluck Wasser während der Wanderung, und tagsüber wenige Stunden Schlaf. Sein Körper ist kräftig, - zwar mager und fast ausgemergelt, - aber doch von innerer Kraft, die man ihm kaum ansieht. Mit dieser Kraft und diesem eisernen Willen wird er seinen gesamten Körper bald unter Kontrolle haben. Und dann steht seiner Aufgabe nichts mehr im Weg, - nichts, was ihn davon abhalten wird, die Menschen zu führen. Dieser Traum ist wichtig, - dieser Traum, den er geträumt hat, bevor er seine Wanderung begann. Als er auf dem steinernen Thron saß und ihm die Menschenmenge auf den Knien zujubelte. Sie sollen ihm zujubeln, - aber nicht kniend. An seiner Seite sollen sie stehen, - mit ihm jubeln und mit ihm eine Einheit bilden.
Als Tibor von weitem das Ballungszentrum sieht, bleibt er stehen. Er kann es kaum glauben, daß er es geschafft hat. 10 Jahre Reise hat er nun hinter sich. Tibor hockt sich nieder, faßt in seine Tasche nach den Steinen, auf denen er die Monde in Punkte eingeritzt hatte. Er wirft die Steine in alle Richtungen und behält nur einen, auf dem er einen großen, dicken Punkt einritzt, der sein 22. Lebensjahr bedeuten soll. Tibor kann gut zählen. Er hat es von Argon gelernt. Er hat auch ein bißchen Schreiben gelernt. Tibor kennt alle Buchstaben, aber noch nicht alle Wörter. Er wird auch das noch lernen. Das muß er auch, wenn er alle Menschen einmal anführen will. Tibor atmet tief durch und blickt zum Horizont, wo er die vielen hohen und niedrigen Bauten erkennen kann. Es ist eine riesige Stadt, die sich fast so gewaltig vor ihm ausbreitet wie das Meer, das er gesehen hat. 10 Jahre, - sagt sich Tibor leise, und erinnert sich daran, als er aufbrach, - was er alles erlebte. Alles ging ihm nun durch den Kopf. Dabei kullerten wieder Tränen über seine Wangen. Es waren teils Freudentränen, teils Tränen der Trauer. Wenn ihn Argon nur sehen könnte, - wenn ihn seine Eltern sehen könnten, - sie wären sicher sehr stolz auf ihn, daß er diese Wanderung überstanden hat. Tibor schließt seine Augen und seufzt. Er muß sich noch einmal selbst ins Bewußtsein reden, daß er am Ziel ist. Immer wieder hämmert es in seinen Gedanken: „Du hast es geschafft. Du bist am Ziel.“
Ganz langsam erhebt sich Tibor. Er blickt an sich hinunter. Mit seiner ausgefransten, zerrissenen Kleidung sieht er aus wie ein Bettler. Egal, er wird sich sofort nach Arbeit umsehen. Er ist ja noch immer kräftig genug.
Zögernd geht Tibor weiter. Die letzten Schritte bis zum Ballungszentrum. Der Weg unter seinen Füßen wird fester, - sieht wie betoniert aus. Die Steine an den beiden Seiten des Weges liegen nun enger zusammen und scheinen richtig eingebaut zu sein. Der Weg wird auch etwas breiter. Tibor kann die Häuser schon richtig sehen. Aus einigen von ihnen, den besonders hohen und großen, ragen Rohre, aus denen dunkler Rauch kommt. Das müssen die Fabriken sein, - denkt sich Tibor. Die Menschen entwickeln ja schon wieder viele Dinge, die er kaum kennt, - aber wenigstens vom Hörensagen. Rohöl wurde auch wieder gefunden. Tibor kann die Türme an der linken Seite sehen, von denen unter der Erde das Rohöl direkt in die Fabriken gepumpt wird, um verarbeitet zu werden. Tibor hört nun auch den Lärm des Ballungszentrums. Vereinzelt kann er auch Menschenstimmen wahrnehmen. Schon türmt sich vor ihm das erste Haus auf. Noch einen Schritt, - denkt sich Tibor, - und ich bin am Ende meiner Reise. Diesen letzten Schritt macht Tibor gewissenhaft. Ja, jetzt er hat es geschafft. Er ist im Ballungszentrum.

(2.Teil)

Tibor kommt aus dem Staunen nicht mehr heraus. Links und rechts von ihm türmen sich Häuser verschiedener Bauarten auf. Manche sind ganz einfach aus Lehm, oder Steine, die wie ein Mosaik wirken, andere aus Beton, oder Ziegel, die außen mit Pastellfarben verputzt sind. Der Weg, auf dem er geht, ist hart, - nicht betoniert, wie er zuerst dachte, sondern mit Kopfsteinpflastern ausgelegt. Es sieht nicht unbedingt sauber aus, aber auch nicht so voll Müll, wie er einmal von Menschen gehört hat. Einige Häuser sind außen beschriftet. Auf einem steht „Gemeindehaus“. Tibor sieht es sich genauer an. Es ist eines der höchsten Häuser aus grauem Beton. Die Fenster sind groß, - aus Glas natürlich. Tibor hat so etwas noch nie gesehen. Seine Augen starren weit offen nach oben. Auch sein Mund ist offen. Ganz unten, direkt vor Tibor ist ein großes Holztor, das bunt angemalt ist. Ganz oben, über dem Tor ist ein seltsames Gebilde gemalt. Es sieht aus wie ein Adler, der in seinen Krallen eine Flagge hält. Die Farbe der Flagge ist blau, mit einigen weißen Sternen, die im Halbkreis genau in der Mitte der Flagge nach unten zeigen. Als plötzlich das Tor aufgeht, zuckt Tibor zusammen. Er sieht schon einige Menschen auf der Straße, die mit Taschen in ihren Händen in Häuser gehen, aus Häuser kommen, - und die ihn genauso anstarren, wie er die Häuser anstarrt. Einige schütteln ihre Köpfe und murmeln abstoßende Worte. Sie machen auch einen großen Bogen um Tibor, als ob er eine ansteckende Krankheit hätte. Aber der Mensch, der plötzlich aus dem großen Tor kommt, sieht ganz anders aus, als diese Menschen auf der Straße. Nein, er ist natürlich der selbe Typ, - das selbe stumpfe blonde Haar, die selbe blasse Haut, - aber die Kleidung unterscheidet ihn sehr von den anderen Menschen. Er trägt einen seltsamen Umhang, der bis zum Boden reicht. Auch eine Kopfbedeckung hat er auf, was die anderen Menschen nicht haben. Es ist etwas viereckiges Schwarzes. Diese viereckige, schwarze Kopfbedeckung ist ziemlich tief in die Stirn gezogen. Vorne, an der Stirn der Kopfbedeckung ist die selbe Flagge, - bloß viel, viel kleiner, als über dem Tor, - aufgenäht. Der bodenlange Umhang ist auch schwarz. Was der Mann darunter trägt, kann Tibor nicht sehen, da der Umhang vorne mit blauen Bändern verschnürt ist. Aber Tibor kann die Schuhe sehen. Sie sind auch schwarz und sehen sehr derb aus. Nicht nur die Sohle ist aus Leder, auch das Obermaterial. Die anderen Menschen sind bunt gekleidet. Die Männer haben lange Hosen an, meistens in den Farben blau, oder grau. Darüber tragen sie Hemden, aber viel dickere als Tibor sie kennt. Selbst unter dieser Hemden tragen sie Hemden. Diese scheinen aus Leinen zu sein, - wie sie Tibor kennt. Manche Frauen tragen auch Hosen, aber die meisten haben Kleider, oder Röcke an. Darüber tragen sie auch Hemden, - dicke Hemden. Es sind Jacken, wie Tibor etwas später erfahren wird, - Jacken aus gewebtem, oder gewirktem Wollstoff. Über die Schuhe muß Tibor insgeheim lächeln. Manche sehen ja wirklich komisch und vor allem unbequem aus, - besonders die mancher Frauen, die unter den Fersen hohe Absätze haben. Jetzt hat Tibor keine Zeit mehr, die Menschen zu betrachten, - jetzt richtet sich sein Blick auf den Mann im schwarzen Umhang, der ihn von oben bis unten mit strengem Blick mustert.
„Du bist nicht einer von uns. Woher kommst du?“, fragt er eisig, noch immer mit strengem Blick.
Tibor kann vorerst nicht antworten. Zu viele Gedanken gehen ihm durch den Kopf. Sie werden dich in den Kerker werfen und verhungern lassen! Die Zivilisation wird dich verderben! - All diese Warnungen steigen nun in Tibor hoch, - und mit ihnen auch Angst.
„Woher kommst du? Kannst du nicht sprechen? Verstehst du mich nicht?“, fragt der Mann abermals.
Tibor nickt nur stumm und sieht den Mann voller Furcht an.
„Du kannst also sprechen, und du verstehst mich auch. Also, warum antwortest du dann nicht?“, fragt der Mann ungeduldig.
Tibor atmete erst einmal tief durch, um sich innerlich ein wenig zu beruhigen. Er möchte ja trotz seiner abgewetzten und durchlöcherten Kleidung einen guten Eindruck machen.
„Ich komme von weit her“, sagt er ganz langsam und ruhig. „Meine Wanderung dauerte 10 Jahre. Ich bin durch den Tunnel gewandert, der unter dem Meer durch führt. Mein Wunsch war, ins Ballungszentrum zu kommen, wo ich mir nun Arbeit suchen will.“
Der Mann sieht Tibor wieder abschätzend von oben bis unten an.
„Ja, ich weiß, meine Kleidung ist nicht mehr die beste“, sagt Tibor und lächelt. „Die Wanderung war sehr hart. Ich hatte nichts, womit ich mir Kleidung kaufen konnte. Unterwegs gab es keine Geschäfte, wie hier.“
Der Mann lächelt. Tibor scheint das Eis zwischen ihn und ihm durchbrochen zu haben.
„Das leuchtet mir ein, junger Mann. Sozusagen brauchst du erst einmal ein Bad, einen Friseur und neue Kleider, bevor du dich um Arbeit bewerben kannst“, sagt er noch immer lächelnd und deutet Tibor an, mit ihm zu kommen.
Nur zögernd folgt Tibor im Abstand von drei bis vier Schritten dem Mann mit dem schwarzen, langen Umhang. Sie gehen nicht weit. Vor einem Haus, das etwas kleiner und mit gelber Farbe verputzt ist, bleiben sie stehen. Der Mann faßt in die Tasche seines Umhangs und zieht ein seltsames Metallstück hervor. Es ist klein,

Seite 33
TIBOR

länglich und spitz. Vorne an der Spitze hat es einige Einkerbungen. Erst jetzt sieht Tibor in der Mitte der Tür des gelben Hauses einen Metallknopf und darunter ein kleines Loch. In dieses kleine Loch steckt der Mann nun das kleine Metallstück, - mit der Spitze voran, wo die Einkerbungen sind, - hinein.
„Wozu ist das?“, fragt Tibor.
„Was?“
„Dieses Metallstück und dieses Loch.“
Der Mann lacht wieder.
„Das ist ein Schlüssel“, sagt er und hält Tibor das Metallstück vors Gesicht. „Und das hier...“, spricht der Mann weiter und zeigt auf das Loch. „...ist ein Schloß. Wir müssen unsere Häuser immer absperren, sonst kommen unwillkommene Gäste.“
„Was sind unwillkommene Gäste?“, fragt Tibor nun völlig verwirrt.
„Man könnte auch Diebe sagen, junger Mann. Das sind Menschen, die in Häuser eindringen und Dinge heraustragen, die ihnen nicht gehören.“
„Gibt es hier viele Diebe?“
„Mehr als uns lieb ist.“
Der Mann öffnet die Tür und bittet Tibor hinein. Jetzt befinden sich beide im Vorraum. Das ist der Raum, wo der Mann seinen schwarzen Umhang auszieht und ihn an einen Haken an die Wand hängt. Nun kann Tibor seine Kleidung sehen. Er trägt ebenso Hosen, wie die anderen Männer, die er auf der Straße gesehen hat, - und auch ein Hemd, - ein weißes Leinenhemd und blaue Hosen.
„Du kannst deinen Leinenbeutel auf einen Haken hängen. Ich habe abgesperrt. Es kann niemand herein. Und glaube mir, ich werde dich nicht bestehlen“, sagt der Mann aufmunternd.
Als Tibor das getan hat, sieht der Mann wieder an ihm hinunter.
„Es wäre auch besser, wenn du diese Dinge, die du da an deinen nackten Füßen trägst, hier draußen laßt. Meine Frau ist ziemlich reinlich und sieht es gar nicht gerne, wenn man mit schmutzigen Schuhen in die Wohnung kommt. Ich ziehe meine Schuhe auch aus.“
Tibor tut, was ihm geheißen wird. Auch der Mann zieht seine schwarzen Lederschuhe aus und schlüpft in Leinenpantoffel. Dann öffnet er einen kleinen Schrank und nimmt für Tibor ebensolche Leinenpantoffel heraus. Eben als Tibor in sie hineinschlüpft, öffnet sich eine der drei Türen, die sich im Vorraum befinden, und eine ältere Frau kommt heraus. Sie scheint im selben Alter zu sein wie der Mann. Tibor fährt zusammen, als sie einen spitzen Schrei ausstößt. Dieser spitze Schrei gilt Tibor, der für diese Frau wie ein Wilder aussehen muß. Seine gebräunte Lederhaut, das zerrissene Gewand, das lange, bis zu den Hüften, strähnige, fast weiße Haar und seine hellen stahlblauen Augen, die förmlich in seinem braungebrannten Gesicht leuchten, - so einen Menschen sieht man hier nicht. Er muß ein Wilder für diese Menschen hier sein.
„Keine Angst Magda, er ist weit gewandert und möchte hier im Ballungszentrum bleiben. Er ist ein guter Junge“, besänftigt der Mann seine Frau und begrüßt sie mit einem Kuß auf die Wange.
Magda betrachtet Tibor etwas mißtrauisch.
„Willst du ihn hier behalten?“, fragt sie etwas streng und abweisend.
„Vorerst einmal. Sieh ihn dir doch an. Er braucht dringend ein warmes Bad und auch etwas zu essen. Wenn ihn ein anderer Gemeinderat sieht, stecken sie ihn doch sofort in den Kerker. Ich glaube, der junge Mann hat sehr viel hinter sich. Das können wir ihm doch nicht antun.“
Tibor wird dieser ältere Mann immer sympathischer. Den strengen Blick, den er anfangs gesehen hat, sieht er jetzt nicht mehr. Jetzt blickt er in sanfte, vertrauensvolle Augen. Wenn dieser Mann nicht so kurzes, gepflegtes Haar hätte und nicht so glatt rasiert wäre, hätte er beinahe Ähnlichkeit mit Argon. Argon hatte auch so sanfte, vertrauensvolle Augen. Selbst die weißen, buschigen Brauen stimmen.
„Magda, laß doch ein Bad für ihn ein. Ich kümmere mich dann schon weiter um ihn“, sagt er zu seiner Frau und wendet sich dann an Tibor. „Hast du auch einen Namen?“
„Ich heiße Tibor.“
„Nur Tibor? Hast du keinen Nachnamen?“
Tibor denkt angestrengt nach. Natürlich gab es auch Nachnamen in seiner „Heimat“, aber die meisten wurden vergessen. Auch sein Nachname wurde vergessen. Es war ja nicht wichtig. Tibor zuckt mit den Schultern.
„Also gut, dann heißt du eben vorübergehend nur Tibor. Mir wird schon etwas einfallen“, sagt der Mann und wartet mit Tibor im Vorraum, bis Magda aus der Tür tritt, in der das Badezimmer zu sein scheint.
„Das Bad ist eingelassen“, sagt sie und sieht Tibor wieder abschätzend an.
„Komm mit“, sagt der Mann und winkt Tibor ins Badezimmer.
Tibor staunt wieder, als er in diesem etwas kleineren Zimmer steht. Seine Augen sehen viele Dinge, die er überhaupt nicht kennt. Da ist eine Badewanne, in der Wasser dampft, - an einer Wand ist eine Waschmuschel, über der, wie auch über der Badewanne, Metallrohre zu sehen sind, - mit Knöpfen, wo man die Temperatur des Wassers, das aus den Rohren kommt, einstellen kann. Tibor sieht auch einen Spiegel. Bis jetzt hat er sich immer nur im Wasserspiegel betrachten können. Aber was er nun sieht, erschrickt auch ihn. Er sieht ja wirklich zum fürchten aus!
Der Mann lacht wieder, als Tibor vor dem Spiegel erschrickt.
„Nun, so schlimm siehst du auch wieder nicht aus. Warte, bis wir dich zurecht gemacht haben, dann wirst du nicht mehr vor deinem Spiegelbild erschrecken. Und nun komm und zieh deine Fetzen endlich aus, und steig in die Badewanne.“
Tibor schämt sich nicht seiner Nacktheit. Diese Art Scham kennt er nicht. Er weiß noch von seiner Heimat, daß sich die Menschen dort immer zusammen gewaschen haben. Sie hatten auch einen Trog, zwar aus Ton, in dem sie sich an bestimmten Tagen am ganzen Körper wuschen. Männer, Frauen und Kinder standen dann nackt am Platz, wo der Tontrog aufgestellt wurde. Natürlich wurde auch das Wasser nach jeder Familie frisch gewechselt. Aber man mußte sparsam mit Wasser umgehen, - nicht so wie hier, daß für einen einzelnen so viel Wasser verbraucht wird.
Als Tibor in die Wanne steigt, bleibt ihm erst mal der Atem weg. Es ist fast zu heiß. Tibor sieht den Mann etwas ängstlich an.
„Es muß so heiß sein, sonst bekommen wir diesen Schmutz von deinem Körper nie herunter“, sagt der Mann und drückt Tibor an den Schultern hinunter, daß er sich setzen muß.
Dann öffnet er ein Kästchen unter der Waschmuschel und hält wieder ein seltsames Stück Metall in der Hand.
„Das ist eine Schere. Damit werde ich dir erst einmal ein schönes Stück deiner Haarpracht abschneiden. Dein Haar ist ja richtig verfilzt. Das kann man nur mehr abschneiden. Magda wird dir dann einen schönen Schnitt verpassen. Sie kann das sehr gut. Sie schneidet auch mein Haar, wenn es zu lang wird.“
Tibor fügt sich allem. Er läßt sich mit Seife waschen, - nur an seiner männlichsten Stelle muß er es selbst machen, - wie der Mann sagt. Dann wird er von ihm mit einem weichen, großen Baumwolltuch abgetrocknet, darf in einen weichen, hellblauen Bademantel schlüpfen und wird anschließend, - auch im Badezimmer, - von Magda haaregeschnitten und rasiert. Als Tibor dann in den Spiegel sieht, erkennt er sich nicht wieder.
„Bin das wirklich ich?“, fragt er.
Dann lacht nicht nur der Mann, auch Magda lacht und nun scheint auch zwischen ihr und Tibor das Eis geschmolzen zu sein.
„Und jetzt laß uns etwas essen und trinken“, sagt der Mann und führt Tibor mit Magda zusammen ins sogenannte Wohnzimmer, das auch als Eßzimmer dient.
Auch hier muß Tibor wieder staunen. Es ist das erste Mal, daß er einen richtigen Tisch und Sessel sieht. Das erste Mal setzt er sich nun auf einem Sessel an den gedeckten Tisch. Natürlich ist ihm auch dieses seltsame Besteck etwas fremd. Klar, er kennt schon ein Messer, - auch Gabeln, und Löffeln, aber so schönes Besteck hat er wirklich noch nie gesehen. In seiner Heimat machte man das aus Holz, - hier ist alles aus Metall und glänzt silbern. Auch die Teller sind wunderschön verziert und ebenmäßig, nicht so, wie er sie kennt, - aus Ton und grob mit dicken Rändern.
Es ist für Tibor wirklich fast so, als ob man einen Neandertaler von heute auf morgen in die sogenannte Zivilisation einführen würde. Irgendwie erleidet Tibor in diesen Momenten eine Kulturschock. Bis er das alles wirklich begreift und für ihn zur Routine wird, würde es wohl noch einige Wochen dauern.
Der Mann, der sich Tibor am Tisch mit dem Namen Rufus vorstellt, muß ihm auch zeigen, wie man mit diesem Besteck richtig umgeht. Tibor ist nur froh, daß es kein Fleisch gibt. Magda klärt ihn auf, daß er eben gebackenen Käse mit grünem Salat ißt. Als Nachspeise gibt es Schokoladepudding. Tibor freut sich wie ein kleines Kind, als er den Pudding auf seinem Dessertteller wackeln sieht.
„Jetzt müssen wir uns nur noch um Kleidung für dich kümmern“, sagt Rufus, als Magda nach dem wohlschmeckenden Essen den Tisch abräumt.
Tibor hört das eigentlich nur nebenbei, denn seine Augen folgen Magda in die Küche, von wo er durch die offene Tür Einblick hat.
„Ach, die Küche“, sagt Rufus lachend. „Na, komm und sieht sie dir an. Ich werde dir alle Geräte erklären.“
Tibor staunt abermals. Noch versteht er das Ganze nicht richtig, - wie die verschiedenen Geräte wirklich funktionieren, - was Strom ist, wie er erzeugt wird und so weiter. Aber Rufus versucht es mit aller Geduld.
Wie gesagt, - es wird noch eine Weile dauern, bis Tibor diesen Kulturschock überwunden hat.
„Eigentlich ist das alles ziemlich altertümlich, wenn ich daran denke, was unsere Vorfahren alles hatten. Wir mußten alles wieder neu aufbauen, - eigentlich, alles wieder neu erfinden. Vor vielen Jahren war diese Gegend hier der reinste Trümmerhaufen. Damals konnte sich niemand vorstellen, daß hier einmal Städte waren, in denen modernste Technik verwendet wurde. Ja, hier überall in der Gegend reihte sich eine Stadt an die andere. Es gab Autos, Züge, Flugzeuge und was weiß ich noch alles. Leider wurde damit die gesamte Natur zerstört. Natürlich gab es massenhaft Fabriken, wo Dinge erzeugt wurden, die noch viel schlimmeres angerichtet haben. Durch diese Dinge wurde die Natur vergiftet, daß kaum mehr etwas wachsen konnte. Heute ist es wieder viel besser. Die Natur regeneriert sich wieder und wir können aus ihr schöpfen.“
„Bis ihr sie wieder zerstört“, sagt Tibor leise und sieht Rufus fast strafend an.
„Mag sein. Aber wovon soll der Mensch sonst leben? Erzähl doch einmal, wie du gelebt hast“, sagt Rufus.
Tibor erzählt ein bißchen von seiner Heimat, - vom Tagesablauf, - von den Menschen dort, wie genügsam sie waren und wie glücklich sie dabei waren. Magda und Rufus hören gebannt zu. Manchmal drücken Tibor die Tränen, weil er sich durch seine Erzählung fast zurück versetzt fühlt in eine glückliche Zeit, wo seine Eltern noch bei ihm waren, - wo es kaum Probleme gab. Er erzählt auch von seinen Eltern, - daß er sie sehr früh verloren hat, - erzählt von den Zeichen, die sie machten, um das Alter eines Menschen festzustellen. Und dann erzählt Tibor auch ein bißchen von seiner langen Reise und den Menschen, die er unterwegs getroffen hat, und die sehr über das Ballungszentrum geschimpft haben.
„Warum wolltest du unbedingt ins Ballungszentrum?“, fragt Magda dann.
Tibor sieht die beiden älteren Menschen prüfend an. Er überlegt, ob er wirklich den Grund sagen soll. Immerhin weiß er nun, daß Rufus zum Gemeindehaus gehört und sozusagen ein hoher Politiker ist, der für die Menschen hier Gesetze aufstellt. Tibor zögert, obwohl ihm die sanften Augen seines neuen Freundes bereits vertraut sind.
„Darüber können wir ja morgen auch noch reden“, sagt Magda, die Tibors leichte Unruhe spürt. „Ich glaube, du hast es jetzt nötiger, dich erst einmal richtig auszuruhen.“
Zu Rufus gewandt sagt sie: „Wir werden Tibor heute unter Schlafzimmer überlassen. Wir können ja hier auf der Couch schlafen.“
„Ist das nicht zu klein für zwei Menschen?“, fragt Tibor und betrachtet die Couch, wie es Magda genannt hat, auf der bloß ein Mensch liegen könnte.
Rufus steht von seinem Sessel auf, geht zur Couch, faßt ganz unten an und zieht an etwas, das wie eine Lade aussieht. Tibor kommt gar nicht so schnell zum schauen, wie Rufus aus einer Couch plötzlich zwei macht. Ja, es sind zwei bequeme Liegeflächen.
„Das ist auch ein ziemlich altertümliches Ding, Tibor. Wir sind genügsam geworden“, sagt Magda lächelnd.
Tibor schüttelt nur verwundert seinen Kopf. Er blickt zum Fenster hinaus, wo er nichts mehr erkennen kann. Als sie bei Tisch aßen, sah er noch auf die Straße hinaus, wo einige Menschen noch immer mit Einkaufen beschäftigt waren. Jetzt ist es dunkel, also Nacht geworden, - Zeit zum Schlafen.
„Wir haben schon noch ein Zimmer“, erklärt Rufus. „Es wäre das Kinderzimmer gewesen, aber leider konnten wir nie Kinder bekommen. Magda hat es als Arbeitszimmer eingerichtet, wo sie die ganze Wäsche und auch einen Teil der Nahrung unterbringt. Vielleicht gefällt es dir bei uns, und du möchtest vorübergehend bei uns bleiben. Dann würden wir das Zimmer für dich einrichten. Wo solltest du sonst bleiben? Immerhin hast du keine Wertpapiere, um dir eine Wohnung, oder gar ein Haus zu kaufen. Zuallererst müssen wir ja auch eine Arbeit für dich finden. Morgen bekommst du erst einmal Kleidung, dann sehen wir weiter.“
Als Tibor in dem Schlafzimmer auf dem großen Bett liegt, gehen noch immer wirre Gedanken durch seinen Kopf. Er ist sich seines Glücks noch nicht bewußt, daß er ausgerechnet Rufus, den nettesten Politiker im Ballungszentrum über dem Weg gelaufen ist. Er kann sich für diese außergewöhnliche Gastfreundschaft nicht einmal bedanken, weil all das wirklich mehr als neu für ihn ist.
Tibor liegt lange wach und findet lange keinen Schlaf, so aufgeregt ist er heute.
Als er aufwacht, ist es bereits hell im Zimmer. Durch die zugemachten Holzbalken des Fensters scheint die Sonne. Im ersten Moment ist sich Tibor nicht bewußt, wo er sich befindet, aber im nächsten Moment kommen die Ereignisse des letzten Tages wieder zurück. Tibor erhebt sich vom Bett und zieht den hellblauen Bademantel an, den er vorne sorgfältig zubindet, wie ihm Rufus es gezeigt hat. Zuerst wagt er sich nicht aus dem Zimmer und fragt sich, ob er darauf warten soll, bis Rufus, oder Magda ihn holen. Er hört auch keine Geräusche, die ihm sagen könnten, daß die beiden Leute schon wach sind. Vielleicht schlafen sie noch?
Ganz leise und vorsichtig öffnet Tibor die Tür und steckt seinen Kopf heraus. Die Couch ist wieder aufgeräumt und nur für einen Liegeplatz gemacht. Auf dem Tisch steht ein Gedeck, - bestehend aus einem Dessertteller, einer tiefen Schale und Besteck. In der Mitte des Tisches liegt in einem Strohgefäß ein großer Laib Brot, der köstlich duftet. Tibor hört aus der Küche Geräusche. Das muß Magda sein, - denkt er sich. Mit leisen Schritten, - seine Füße stecken in den Leinenpantoffeln, - wagt er sich bis zur offenen Tür der Küche. Magda steht an der Abwasch, die so ähnlich wie das Waschbecken im Badezimmer aussieht. Sie wendet sich eben um, als Tibor in der offenen Tür steht.
„Guten Morgen, Tibor!“, ruft sie erfreut. „Du hast sicher Hunger. Aber zuerst solltest du dich waschen gehen. Rufus wird bald zurück sein. Er wird dir Kleidung mitbringen.“
„Muß ich wieder baden?“, fragt Tibor und fährt sich mit einer Hand durch das zentimeterkurze, weißblonde Haar, womit er sich eher nackt fühlt, als wenn er ohne Bademantel vor Magda gestanden wäre.
„Nein, baden mußt du nicht“, sagt Magda lächelnd. „Komm, ich zeige dir alles.“
Dann wird Tibor in die routinemäßige Morgenpflege, - wie Gesicht und Hände waschen, Zähne putzen und Haare kämmen, - eingeführt. Erst dann darf er sich an den Tisch setzen, wo ihn Magda mit warmer Milch, dem frischen Brot und Butter und Erdbeermarmelade bedient.
Etwas später kommt Rufus nach Hause. In beiden Händen trägt er Taschen, voll mit Kleidung für Tibor. Es sind Unterwäsche, zwei Hosen, zwei Hemden, eine Jacke, zwei Paar Schuhe und ein leichter Baumwollmantel.
Alles paßt Tibor wie angegossen, - wie Magda feststellt, als er all diese Dinge anprobiert.
Aber dann wird Tibor nachdenklich. Er weiß von den Menschen, die er unterwegs getroffen hat, daß auch die Oberen mit ihren Wertpapieren sparsam umgehen müssen.
„Werden die Wertpapiere dann für euch auch noch reichen?“, fragt er kleinlaut.
„Ich habe dich vorhin eintragen lassen, Tibor“, sagt Rufus. „Wenn du nichts dagegen hast, kannst du unser Sohn sein. Vorerst habe ich das so arrangiert. Wir beide, Magda und ich, haben dich sozusagen adoptiert. Das soll nicht heißen, daß du jetzt unser Gefangener bist“, setzt Rufus schnell hinzu, weil ihn Tibor ziemlich entsetzt anblickt. „Du kannst tun und lassen, was du willst. Wenn du dich gut eingearbeitet hast und genug Wertpapiere hast, kannst du dir eine eigene Wohnung suchen. Wir, Magda und ich, dachten eben, daß es anfangs so leichter für dich ist.“
„Ich weiß nicht, was ich sagen soll“, stottert Tibor und fühlt, wie Tränen in seiner Kehle aufsteigen. Jetzt ist er sich seines Glücks bewußt, und Dankbarkeit, - satte, überwältigende Dankbarkeit strömt in sein Herz.
„Sag nichts, mein Junge“, sagt Magda lächelnd und faßt Tibors Hand. „Wir haben dich in deiner Hilflosigkeit und deiner Natürlichkeit, mit der du uns vieles voraus hast, einfach liebgewonnen. Ja, ich habe dich anfangs entsetzt angestarrt, - aber das legte sich sofort. Wir wollten immer einen Sohn haben, weißt du, - und jetzt scheint es das Schicksal ja doch noch gut mit uns zu meinen, und hat uns einen jungen Mann ins Haus gebracht, der wirklich unser Sohn sein könnte. Es macht uns glücklich, wenn wir etwas für dich tun können, Tibor.“
Tibor schluckt, aber er kann seine Tränen nicht mehr verbergen. Aufschluchzend wirft er sich Magda an den Hals, die ein bißchen kleiner ist als er. Es ist wohltuend, als er die mütterlichen Hände auf seinem Rücken spürt. Auch Magda hat Tränen in ihren Augen, als sich beide voneinander lösen. Selbst Rufus wendet sich gerührt ab.
Nach einer Weile sieht Rufus seinem neuen Sohn prüfend in die Augen.
„Welche Arbeit hast du dir vorgestellt, Tibor?“, fragt er leise.
„Verkäufer?“, sagt Tibor fragend und erinnert sich an Taskja, die ihm das vorgeschlagen hat.
„Kannst du rechnen und schreiben?“, fragt Rufus.
„Ein bißchen. Ich kenne viele Zahlen, - ich kenne auch alle Buchstaben, aber nicht alle Worte.“
„Das bekommen wir schon hin. Du scheinst ja klug zu sein und auch schnell von Auffassungsgabe. Was hältst du davon, wenn ich dich erst einmal ins Gemeindehaus mitnehme. Wir könnten dort einen Mann brauchen, der die gesamten Papiere ordnet und für uns Einkäufe besorgt. Und nebenbei werde ich dir alle wichtigen Dinge beibringen, die du noch nicht kennst. Du wirst anfangs nicht viele Wertpapiere bekommen, - aber für den Eigengebrauch wird es dir schon genügen. Essen und schlafen hast du ja bei uns, - darum brauchst du dir als Sohn keine Sorgen zu machen. Was hältst du davon?“
Tibors Herz setzt für einen Schlag aus. Ins Gemeindehaus! Das kann nicht mit rechten Dingen zugehen, wie viel Glück er auf einmal hat. Es scheint wie ein Omen zu sein, - daß der Weg für ihn fast geebnet ist, um seinen Traum Wirklichkeit werden zu lassen.
Tibor schluckt und nickt nur stumm.
Die ersten Tage sind für Tibor nicht einfach. Die Menschen im Gemeindehaus behandeln ihn nicht besonders gut. Sie sehen in ihm eine Art Laufburschen und befehlen ihm die meisten Dinge mit strengen, unfreundlichen Worten. Tibor muß auch einige Räume säubern, - mit Strohbesen den Boden kehren, - mit Leinentüchern die Möbel abwischen, - sogar die Glasfenster muß er putzen. Tibor hat kaum Zeit, sich einige Minuten auszuruhen, - schon ruft ihn wieder jemand und befiehlt ihm weitere Arbeiten, die mit Politik, wie er es sich erträumt hat, nichts zu tun haben. Aber nebenbei lernt Tibor sehr viel, was ihm Rufus beibringt. Er hat jetzt schon sein eigenes Zimmer, in dem fast die ganze Nacht das kleine Licht brennt, unter dem Tibor eifrig alles lernt, bis er wirklich richtig schreiben, lesen und sogar schwerere Rechnungen beherrscht. Tibor braucht ja nicht viel Schlaf, - auch nicht viel Nahrung, was Magda und Rufus anfangs wunderte. Tibor hilft auch im Haus sehr viel mit und kennt sich bald mit allen Geräten, die ihm anfangs fremd waren, aus. Er lernt wirklich schnell und stellt oftmals auch sehr kluge Fragen, die seine hohe Intelligenz bezeugen.
Bald läßt sich Tibor nicht mehr so herum stoßen, wie anfangs und erkennt bald seine Rechte im Gemeindehaus, was auch die Menschen dort sehr beeindruckend finden. Tibor ist niemals frech, oder rebellisch, - nein, er spricht immer sanft, aber doch mit Nachdruck mit den Menschen, die ihn dann wirklich besser behandeln, wobei er bei jeder Arbeit, die er für einen anderen verrichtet, auch das kleine Wörtchen „Danke“ erhält.
Nachdem Tibor die wichtigsten Dinge gelernt hat, wird er auf Rufus´ Arbeit neugierig. Er möchte genau wissen, wie Gesetzte aufgestellt werden, - wie die Wirtschaft im Ballungszentrum funktioniert, - wo weitere Wohnungen gebaut werden, und so weiter. Viele Dinge heißt Tibor gut, andere würde er abschaffen, und sie durch bessere Gesetze, oder Arbeitsvorgänge ersetzen. Aber das behält Tibor noch für sich. Noch ist es nicht so weit, daß er sich äußern dürfte, - geschweige denn über diese oberen Herren hinweg setzten könnte. Noch ist Tibor eine Hilfskraft, die eigentlich in Politik keinen Einblick haben dürfte.
Bei Magda und Rufus fühlt er sich wohl und denkt eigentlich gar nicht daran, sich eine andere Wohnung zu suchen. Er weiß, daß er bei ihnen bleiben wird. Die Wertpapiere, die er durch seine Arbeit bekommt, behält Tibor nicht für sich selbst. Er gibt sie Magda, die sie anfangs nicht annehmen wollte.
„Ich brauche nichts, Magda. Ich habe alles, was ich mir wünsche, bei euch,“, sagt Tibor jedesmal, wenn er seine Wertpapiere in Magdas Hände drückt.
Wie gesagt, Tibor ist noch immer genügsam und wird es auch immer bleiben.
Nun ist Tibor beinahe 1 Jahr im Ballungszentrum und hat seinen „Kulturschock“ überwunden. Man kann nicht sagen, daß er in allen Dingen bereits Routine hat, - aber erschrecken kann ihn bestimmt kaum mehr etwas. Seine Arbeit ist auch etwas leichter geworden. Er muß nicht mehr den Laufburschen für alle machen. Er darf nun in Rufus´ Arbeitszimmer sein, und ihm leichtere Schreibarbeiten abnehmen. So bekommt er ganz langsam Einblick in die Politik und macht bereits einige Vorschläge, wie er dies und jenes anders machen würde. Rufus ist über manche Dinge beinahe überrascht, wie zum Beispiel, als Tibor sagt, daß die Eintragungen in den Kaufhäusern eigentlich wegfallen könnten, weil die Menschen von selbst so klug sein müßten, und nur das kaufen sollen, was sie wirklich brauchen. Sie würden sich ja selbst schaden, da ihre Gemeinde sonst ein Chaos werden würde. Man müßte das den Menschen schonend beibringen. Dabei erzählt Tibor Rufus auch von dem Termitenbau, den er unterwegs beobachtet hat, wo jeder für jeden da ist.
„Es ist ein alter Traum der Menschheit, Tibor, - aber leider gibt es schwarze Schafe unter den Menschen, die diese Art Leben wohl nie begreifen werden“, sagt Rufus.
„Dann müssen eben die Strafen für diese Menschen ärger werden. Man müßte ihnen den Tod vor Augen halten.“
„Tibor, meinst du damit die Todesstrafe?“
„Wenn es nicht anders möglich ist, muß man die Menschen mit dieser Art Strafe abschrecken. Es muß ja nicht wirklich geschehen. Ihr sperrt diese Gesetzesbrecher in Einzelhaft, daß sie niemand sehen kann, - und den Bürgern sagt ihr, daß ihr die Todesstrafe über sie verhängt habt. Die Menschen in der Einzelhaft werden Tag und Nacht ihrem Tod entgegen zittern, und die Bürger werden es sich gut überlegen, ob sie das Gesetz abermals übertreten.“
„Du bist ziemlich radikal, Tibor. Ich wußte gar nicht, daß du zu solchen Gedanken fähig bist“, sagt Rufus.
„Es ist das Gesetz der Natur, Rufus. Wenn du in der Natur ein Rudel Tiere beobachtest, kann du auch sehen, daß sich jedes dem Gesetz des Anführers beugt. Wenn es das nicht macht, kann es sein, daß es von den anderen sogar getötet wird. Ausgestoßen wird es auf jeden Fall, was ja auch gewissermaßen den Tod bedeutet. Kein einziges Tier, das die Herde gewohnt ist, kann alleine überleben. Genauso ist es bei den Termiten. Zusammen sind sie eine Macht, aber eine einzelne Termite würde sterben. Man müßte den Menschen langsam klar machen, daß auch sie ein Teil der Natur sind. Sie stehen nicht über der Natur, - können niemals über die Natur bestimmen, - also müssen sie sich fügen. Wir sind nur ein kleiner Teil der Natur, Rufus, und wir haben nicht das Recht, die Natur abermals mit Füßen zu treten. Das, was ihr aus dem Rohöl macht, - was ihr in verschiedenen Fabriken erzeugt, - das tötet die Natur. Das Rohöl sollte bleiben, wo es ist. Ihr macht bloß unnötigen Müll, der den Boden verseucht. Ihr macht nichts anderes, als eure Vorfahren, die ja gewaltig draufgezahlt haben. Arbeit gibt es für die einzelnen Menschen noch immer genug. Aber das sollte eine sinnvolle Arbeit sein, - eine Arbeit, wo der Mensch sieht, daß er nicht nur für andere etwas tut, sondern auch für sich selbst. Ihr, die Oberen des Ballungszentrums, solltet euch nicht über die Menschen hier stellen, sondern euch neben sie stellen. Ihr solltet zusammen umdenken, - und euch gemeinsam zu einem kleiner Teil der Natur bekennen.“
Tibors Rede war gewaltig. Er bemerkte gar nicht, daß er nicht nur vor Rufus so gesprochen hat, denn auch andere „Obere“ hörten vor der offenen Tür des Büros Tibors Worte, die dann neugierig stehen blieben und aufmerksam zuhörten.
Jetzt murmeln alle durcheinander. Plötzlich befinden sich an die 10 Menschen in Rufus´ Büro, und das Murmeln wird lauter. Manche schimpfen erbost, andere lachen, - nur wenige heißem Tibors Rede gut.
„Was hast du uns da eingeschleppt, Rufus?“, sagt ein Mann nach diesem Stimmendurcheinander. „Wir sollten ihn lieber wieder putzen lassen und ihn von unseren Geschäften fern halten.“
„Nehmt das nicht so ernst“, sagt Rufus lächelnd. „Es sind nur die Träume eines jungen Mannes, der von dieser Arbeit nichts versteht.“
Tibor ist enttäuscht, als die Menschen das Büro lachend verlassen. Er sitzt an seinem kleinen Tisch, senkt seinen Kopf und hat Herzklopfen. Rufus steht auf und schließt die Tür. Dann geht er auf Tibor zu und bleibt vor ihm stehen.
„Du solltest ein bißchen vorsichtiger mit deinen Äußerungen sein. Noch einmal so etwas, und es könnte passieren, daß sie dich in den Kerker werfen und dir mit der Todesstrafe drohen. Glaube mir, ich kann dann wirklich nichts für dich tun, denn die Mehrheit der Gemeinderäte bestimmt. Außerdem möchte ich selbst, daß du dich nicht mehr hier einmischt. Im nächsten Jahr findet nämlich die Wahl für den Präsidenten statt. Es sind zwei neue Anwärter bestimmt, - einer davon bin ich. Immerhin bist du so etwas wie mein Sohn. Die Menschen achten auf so etwas, - also verdirbt mir das nicht.“
Rufus sagt diese Worte ziemlich laut und sehr streng, daß Tibor immer wieder zusammen zuckt.
„Du könntest Präsident werden?“, fragt Tibor dann ziemlich eingeschüchtert.
„Ja, und die Chancen stehen ziemlich gut für mich, - zumindest bis jetzt“, sagt Rufus wieder in diesem schneidendem Tonfall.
„Es tut mir leid“, sagt Tibor leise und meint es eher anders, als Rufus es auffaßt. Tibor tut es leid, daß die Menschen noch immer so verbohrt, habgierig und herrschsüchtig sind.
„Das hoffe ich, - und ich hoffe, daß dir so ein Ausrutscher nicht wieder passiert. Wenn du schon so irre Gedanken hast, - dann sag sie mir zu Hause, aber nicht hier, wo alle Wände Ohren haben.“

Damit ist die Debatte beendet und Tibors Traum erst mal vollkommen zerstört. Es scheint ihm unmöglich zu sein, diesen Menschen nur ein bißchen von seiner Denkweise erklären zu können. Sie fühlen sich noch immer als die alleinigen Besitzer der Erde, mit der sie machen können, was sie wollen, - egal, wie die Zukunft aussieht.
An diesem frühen Abend gehen Tibor und Rufus schweigend nach Hause. Rufus scheint noch immer ärgerlich zu sein. Selbst Magda würdigt er kaum eines Blickes, als er sich an den gedeckten Abendmahltisch setzt. Tibor behagt diese Atmosphäre überhaupt nicht. Er bedankt sich bei Magda für die Mühe, die sie sich beim Kochen gemacht hat, - aber er kann nicht mit ihnen essen. Er wird sich in sein Zimmer zurück ziehen und ohne Abendmahl zu Bett gehen. Magda sieht Tibor nur prüfend an. Sie schweigt und läßt ihn gehen.
Minuten später hört Tibor von seinem Zimmer aus dem Wohnzimmer laute Worte. Magda und Rufus streiten sich seinetwegen. Tibor drückt das Kopfkissen an beide Ohren hoch, daß er nichts mehr hören muß. Er hätte es ja wissen sollen. Die Menschheit ist noch immer so weit, um zu erkennen, daß sie von Anfang an nur Fehler gemacht hat und diese Fehler immer wieder wiederholt. Man kann sie nicht einmal mit harten Strafen dazu bringen, sich wirklich Gedanken zu machen. Das beste wäre wohl, alle Gesetze zu erlassen, daß ein völliges Chaos entsteht. Aber so etwas gab es ja schon, - damals, als Rebellen alles krumm und klein geschlagen haben. Das ist schon ziemlich lange her, - wie ihm Rufus gesagt hat. Nicht einmal damals lernten die Menschen etwas daraus. Nicht einmal damals erkannten sie, daß sie nur in völliger Gemeinschaft überleben können, - in Gemeinschaft unter sich und mit der Natur. In dieser Nacht gibt Tibor seinen Traum auf. Er nimmt sich vor, am nächsten Morgen das Ballungszentrum wieder zu verlassen. Er wird nicht viel mitnehmen, - nur das Gewand, das er am Körper trägt und seine alte Leinentasche, die er noch immer aus sentimentalen Gründen in seinem Kleiderschrank aufbewahrt. Wenn er weg ist, würde sich Rufus seiner nicht schämen müssen, und dem Amt als Präsident würde auch nichts mehr im Wege stehen.
In dieser Nacht träumt Tibor wieder von seinem Stern. Es ist das erste Mal, seit er im Ballungszentrum ist, daß er von seinem Stern träumt. Tibor sitzt vor dem See, wo er den herrlichen Wasserfall betrachtet. Die Sorgen, die er noch vor kurzem hatte, sind wie weggeblasen. In diesem Wesen, das er nun ist, fühlt er sich stark. Er erinnert sich zwar an den letzten Tag, an seine Rede, das Lachen und Schimpfen der Oberen, - und er ist sich auch seiner Unvorsichtigkeit bewußt. Er weiß, daß er nicht so reden hätte dürfen, - daß die Menschen solche Worte kaum verstehen werden. Man darf sie nicht auf ihre Fehler aufmerksam machen, - man muß sie selbst auf ihre Fehler draufkommen lassen, - sie müssen von ganz alleine diesen Weg finden. Man kann ihnen nichts sagen, - nichts vorschreiben. Das wurde ohnehin schon zu Genüge getan. Tibor muß einen ganz anderen Weg finden, um die Menschheit zu dem Bewußtsein zu führen, das er im Sinn hat. Es muß spielerisch, fast unmerklich passieren, - ohne Zwang, ohne radikale Veränderungen. Die Menschen müssen spüren, daß man für sie da ist, - immer für sie da sein wird, und ihnen auch selbst eine Meinung offen läßt. Viele Gesetze werden auch von den Bürgern gemacht werden, - das würde Tibor ihnen gestatten. Er wird sie einmal alle ins Gemeindehaus lassen, wo sie genau die Arbeit der Oberen verfolgen können. Er wird sie mitarbeiten lassen und auch in ihre Geschäfte, - ihre Häuser gehen, um sich mit allen richtig anzufreunden. Bevor er das tun kann, muß er mitspielen, - das Spiel, das die Oberen jetzt noch spielen.. Er darf nichts mehr von Änderungen sagen. Er muß alles, was die Oberen jetzt tun, nach machen, - voll und ganz akzeptieren. Nur so hat er die Chance, einmal einer der Oberen zu werden.
„Worüber denkst du so angestrengt nach?“
Es ist seine Geliebte, die das fragt, und die sich so lautlos ihm genähert hat und jetzt neben ihm sitzt.
„Ich habe auf dich gewartet“, sagt Tibor und umarmt seine Traumfrau.
Er denkt nicht mehr an die anderen Frauen, mit denen er sie fast betrogen hätte. Er weiß jetzt, daß es nicht anders hätte sein können. Jetzt weiß er ja, daß es nie wieder eine Frau für ihn geben wird, - nur sie wird die einzige sein, - sie in seinen Träumen. Sogar Rufus hat ihn schon aufgemuntert, sich eine Freundin, - wie er es nannte, - zu suchen. Tibor meinte nur, daß das noch Zeit hat und ließ sich nicht weiter auf dieses Thema ein.
Langsam sinken Tibor und seine Geliebte auf den weichen Boden zurück. Dann ist dieses Gefühl wieder da, nach dem sich Tibor schon so lange sehnt.
Als er aufwacht, ist er wieder naß und völlig zufrieden. Leise schleicht er sich aus dem Zimmer, ins Badezimmer und wäscht sich. Genauso leise kehrt er zurück in sein Zimmer und legt sich wieder ins Bett. Er schläft nicht mehr. Er nimmt sich seine Aufzeichnungen zur Hand, die er seitdem fast täglich führt, als ihm Rufus das Schreiben beigebracht hat. Jetzt schreibt er die Gedanken auf, die er im Traum hatte.
Dann wartet er geduldig bis es Morgen ist. Er ist der erste auf. Nachdem er die Morgentoilette hinter sich hat, geht er frisch angezogen in die Küche und bereitet das Frühstück zu. Er deckt auch den Tisch für alle drei.
Tibor wird das Ballungszentrum nicht verlassen. Das wäre ja wirklich jämmerlich, schon nach dem ersten Mißgeschick schon alles fallen zu lassen. Man muß kämpfen, um seine Ideale zu erlangen. Von selbst fällt einem nichts in den Schoß, obwohl Tibor so viel Glück hatte und bei so netten Leuten aufgenommen wurde.
Als Magda und Rufus aus dem Schlafzimmer kommen, sehen sie mit Freude, was Tibor getan hat.
„Nehmt es als Entschuldigung an, weil ich euch gestern Sorgen gemacht habe. Es wird wirklich nie wieder vorkommen. Ich weiß selbst, daß es dumm war, was ich da gesagt habe.“
„Es ist schon in Ordnung, Tibor. Eigentlich war es gar nicht so dumm, was du da gesagt hast“, meint Rufus lächelnd und drückt Tibors Hand.
Damit wäre der erste Streit in der „Familie“ bereinigt.
Im nächsten Jahr wird Rufus Präsident. Der andere Kandidat ist sein Stellvertreter. Tibor sitzt nun im Büro des Präsidenten und ist sein Sekretär. Tibor nahm in diesem letzten Jahr auch an einigen Festen und Sportveranstaltungen teil. Das gibt es noch immer, denn die Menschen im Ballungszentrum brauchen diese Abwechslung, da der Alltag eigentlich ziemlich langweilig und eintönig ist. Die Feste finden im großen Saal des Gemeindehauses statt und werden von den Gemeinderäten und dem Präsidenten finanziert. Es gibt freies Essen, freies Trinken und eine zweistündige Theatervorstellung. Diese Feste finden vier mal im Jahr statt. Sie sind eigentlich Rituale, welche die nächste Jahreszeit ankündigen. Musik gibt es keine, - schon lange nicht mehr. Rufus hat Tibor erklärt, daß die Musik vor vielen, vielen Jahren ausgestorben ist. Kaum jemand kann sich richtig daran erinnern, weil es schon so lange zurück liegt. Wahrscheinlich könnten die Urururgroßeltern ein Zeugnis darüber abgeben, wenn sie noch leben würden. Damals hatte es einen legendären Rocksänger gegeben, - erzählte Rufus, - und nachdem dieser die Erde auf spektakuläre Weise verlassen hat, ist die Musik für immer ausgestorben. Bei diesen Worten lief es Tibor eiskalt den Rücken herunter. Er schien sich an etwas zu erinnern, aber dieses Gefühl ist zu dumpf, zu verworren, daß er sich über irgend etwas klar werden könnte.
Er erinnerte sich nur an einen Traum von diesem Stern, wo er einmal selbst Musik gemacht hat, als er mit seinen Händen einen Felsen berührt hat. Was die Sportveranstaltungen angeht, - sie finden höchstens zweimal im Jahr statt. Es werden Wettrennen ausgetragen, an denen nur bestimmte Menschen, die dafür hart trainierten, teilnehmen. Der Sieger bekommt einen Preis, - entweder ein neues Haus, - oder eine neue Wohnungseinrichtung, - oder kostenloses Essen und Trinken für ein Jahr. Das sind so ziemlich die einzigen Abwechslungen, die im Ballungszentrum statt finden. Natürlich gibt es noch andere Feste, - wie zum Beispiel, wenn jemand heiratet. Auch diese Feier wird im Gemeindehaus abgehalten. Dann gibt es auch die Taufen der Kinder, die ebenfalls im Gemeindehaus stattfinden, - oder Beerdigungen, wo ebenso im Gemeindehaus die Verabschiedung abgehalten wird, und der Tote dann in einem Sarg hinaus auf den großen Platz, der noch immer Friedhof genannt wird, getragen wird. Kirche gibt es keine mehr. Der Glaube steht jedem Menschen frei. Wichtig sind nur mehr die Gesetze, welche von den Gemeinderäten und abschließend vom Präsidenten aufgestellt werden.
Tibor fügt sich noch immer allem, was im Gemeindehaus beschlossen wird, obwohl ihm manches weh tut. Vor allem, wie die Menschen noch immer mit der Natur umgehen, - das behagt ihm überhaupt nicht. Selbst die Zeichen, die wohl jeder Blinde sehen müßte, halten die Menschen nicht davon ab, noch immer Rohöl zu verarbeiten und mit den Giftstoffen, die aus den hohen Fabriksrohren kommen, die Umwelt von neuem zu verpesten. Selbst der Müll wird abermals zum großen Problem. Tibor und seine Leute in seiner Heimat hatten diese Probleme nie. Gemüse und Obst kann nicht mehr im Freien angebaut werden, weil es kaum mehr wächst und kaum Vitamine in sich birgt. Es wird meistens in Häusern, die man damals Glashäuser nannte, angebaut. Auch das Grundwasser hat nicht mehr die Qualität, die es haben sollte. Tibor fühlt, wie sich diese Probleme im Ballungszentrum zuspitzen, aber niemand tut etwas dagegen, weil die meisten um Arbeitsplätze fürchten. Die meiste Arbeit gibt es ja in den Fabriken, wo auch die höchsten Wertpapiere zu verdienen sind. Die Menschen werden nicht alt, welche in diesen Fabriken und am Bohrturm arbeiten. Aber auch diese Zeichen werden ignoriert. Leider ist nicht nur das Ballungszentrum von diesen Giftwolken betroffen, da der Wind den Rest macht und sie weiter ins Land hinaus treibt, wo sich die Natur bereits regenerierte und nun wieder zerfällt.
Manchmal reizt es ihn, Rufus zurecht zu weisen, wenn er den Auftrag freistellt, wieder neue Fabriken zu bauen. Er hofft nur, daß es nicht zu spät ist, wenn es so weit ist, daß er etwas zu sagen hat.
„Weißt du, Tibor, - es ist nicht wichtig, welche Ideen du hast, wenn du ein Volk regierst. Wichtig ist, was du darstellst“, sagt Rufus, als Tibor, er und Magda beim Abendmahl sitzen. „Du mußt eine herausragende Persönlichkeit sein, - ein Mensch, der überzeugend wirkt und vor allem Macht ausstrahlt. Diese Dinge kannst du nur schwer lernen, denn du mußt von Natur aus so ein Mensch sein. Mit dieser Überzeugung und dieser Macht mußt du die Menschen in deiner Hand haben. Du mußt glaubhaft wirken. Sie müssen dir alles, was du ihnen sagst, -alles, was du tust, abnehmen, ohne jemals an dir zu zweifeln. Manchmal mußt du beinahe hypnotisch auf sie wirken, um deine Macht erkennen zu lassen. Sie müssen dir zu Füßen liegen, Tibor.
Ja, ich glaube, du bist so ein Mensch. In dir schlummert eine sehr starke Persönlichkeit und Überzeugungskraft. Aber du bist noch immer sehr ungestüm und dir deinen eigentlichen Werten noch nicht bewußt. Du mußt an dir arbeiten, - nicht an deinen verrückten Ideen, - an dir selbst, um diese Persönlichkeit aus dir heraus zu holen. Du bist noch ein Rohdiamant, der von keinem anderen geschliffen werden kann, als nur von dir selbst. Also arbeite an dir, Tibor. Wenn du das geschafft hast und die Menschen deiner Führungskraft und Macht vertrauen, dann kannst du deine Ideen verwirklichen. Erst dann, Tibor. Einem Mann, der ungestüm und rebellisch wirkt, - dem vertrauen die wenigsten. Du mußt Ruhe und Macht ausstrahlen, dann nehmen sie dir alles ab.“
„Warum sagst du mir das, Rufus?“, fragt Tibor.
„Weil ich dich einmal als meinen Nachfolger vorschlagen werde. Deine Rede damals, die du in meinem Büro gehalten hast, war nämlich gar nicht so schlecht. Die Gemeinderäte haben zwar gelacht, aber einige kamen nachher zu mir und stimmten dir sogar zu. Sie machten es zwar heimlich, daß es keiner vom anderen wußte, - aber sie fanden deine Idee gar nicht einmal so schlecht.“
„Und warum schlagen sie diese Idee niemals vor, wenn sie davon überzeugt sind?“, fragt Tibor.
„Weil sie zu wenig Macht ausstrahlen, Tibor. Man würde es ihnen nicht abnehmen. Selbst mir würde man es nicht abnehmen. Und glaube mir, ich wüßte gar nicht, wie man es den Menschen beibringen könnte. Es ist nicht so, daß du den Menschen die Arbeit nur wegnehmen kannst. Du mußt ihnen auch wieder eine Beschäftigung geben. Wo du etwas wegnehmen willst, mußt du auch etwas dazu geben. Du mußt Lösungen parat haben, - nicht nur alles abschaffen, - sondern auch etwas neu erschaffen. Es ist nicht so einfach, Tibor. Aber ich denke, wenn du wirklich so an dir arbeitest, wie ich es vorhin gesagt habe, - würde dir jeder wie ein treues Schaf folgen. Du hast Charisma, - Charme, - und auch Überzeugungskraft. Arbeite an deiner Persönlichkeitsentwicklung. Stelle dich vor einen Spiegel und übe zu reden. Egal, was du redest, - es kommt jetzt nicht auf deine Ideen und Lösungen an, - sondern ganz alleine auf die Wirkung, die du auf die Menschen hast. Du mußt hypnotisch auf sie wirken.“
Tibor leuchtet das ein. Er ist Rufus wirklich dankbar für diese Anregung. Es klingt auch glaubhaft. Ja, es muß sogar so sein.
Schon an diesem Abend beginnt Tibor mit seinen Übungen. Er setzt sich im Türkensitz auf sein Bett, schließt die Augen, atmet langsam und tief, - vor allem bewußt und versucht an nichts zu denken. Er will ruhig werden, - sich selbst in sich finden. Tibor erinnert sich dieser Technik, als er das letzte Mal von seinem Stern geträumt hat. Damals saß er vor diesem Felsen, an dem er einmal Musik gemacht hat. Er saß im Türkensitz dort, mit geschlossenen Augen und tastete mit seinen inneren Augen sein Herz ab. Er ging ganz in sich und erkannte Dinge, von denen er bis jetzt keine Ahnung hatte. Als Tibor dann seine Augen öffnete, fand er sich schwebend über dem Felsen wieder. Er erschrak so, daß er fast abgestürzt wäre. Daß er sitzend in der Luft schweben kann, und das nur durch diese innere Konzentration, konnte er nicht glauben. Tibor alleine wäre sicher abgestürzt, aber er war viel mehr dieses mächtige Wesen, das sich sofort unter Kontrolle hatte und lächelnd ganz langsam wieder zu Boden schwebte. In seinen Träumen machte Tibor oft derartige Übungen. Einmal stand er auf einem Hügel und ging wieder mit geschlossenen Augen in sich. Als er seine Augen wieder öffnete, streckte er seine Arme nach vor, spreizte seine Finger und sendete Strahlen aus, die heller leuchteten als sein Körper. Diese Strahlen richteten keinen Schaden an. Sie gaben nur angenehme Wärme ab und brachten einen kleinen vorbeifliegenden Meteoriten zum Leuchten. Es war wie eine Wiedergeburt für diesen kleinen Stern. Tibor fühlte sich damals wie ein Gott. Dieser kleine Meteorit war nicht der große Mond, der eigentlich das größte Fest auf diesem Stern bedeutet. Es war nur ein unbedeutender kleiner Stein, - könnte man sagen, dem er wieder Leben eingehaucht hatte, und das nur durch innere Konzentration, mit der er eine Kraft aus sich heraus holte, die mehr als Zauberei war. Es gibt keine Zauberei, - dachte sich Tibor damals, denn alles ist in dir selbst, wenn du es nur erkennst. Und du kannst es nur erkennen, wenn du in dich gehst und es in deinem Herzen suchst. Dein Herz bist du selbst, - du, das Unsterbliche, das immer wieder neue Wege sucht, um sich einmal voll und ganz zu erkennen.
Tibor lernte viel von seinen Träumen, obwohl er ihnen keine besondere Beachtung schenkte. Er dachte nicht, daß es eine Eingebung von einem höheren Wesen sein könnte. Für Tibor war es ein Traum wie alle anderen Träume auch. Menschen träumen nun mal, und er träumt eben manchmal von diesem Stern. Meistens bedeutete dieser Traum ohnehin nur Befriedigung, um sich mit seiner Geliebten zu vereinigen. Es gab für Tibor keine andere Frau mehr, obwohl ihn Rufus öfters dazu drängte. Ein Kollege von ihm, - ein Gemeinderat, hatte eine besonders hübsche Tochter, die gerade im heiratsfähigen Alter war und nicht abgeneigt gewesen wäre, Tibors Frau zu werden. Aber Tibor reagierte nicht, obwohl die junge Frau anfangs sehr hartnäckig um seine Aufmerksamkeit kämpfte. Schließlich heiratete sie einen anderen. Rufus war natürlich ärgerlich darüber, aber er wußte, er könnte Tibor niemals zu einer Hochzeit zwingen. Also gab er nach zwei weiteren Jahren auf, Tibor dazu zu überreden.
Präsidenten werden nach drei Jahren wieder gewählt. Rufus war sich ziemlich sicher, daß er wieder gewählt wird, weil sich kein anderer, als nur er und sein Stellvertreter für dieses Amt eignen. Sein Stellvertreter hat keine Kinder, also würde für Tibor der Weg offen stehen. In den letzten zwei Jahren hat Tibor sehr viel dazu gelernt. Nicht nur für seine Persönlichkeit, - wo er nicht nur Übungen machte, um in sich zu gehen, sondern bereits vor dem Spiegel seine Macht übte, - auch politisch und wirtschaftlich hatte er sich bereits sehr gesteigert, daß er bereits als Gemeinderat vorgeschlagen wurde. Diese Wahl findet kurz vor der Präsidentenwahl statt. Die Wähler für neue Gemeinderäte sind nur die amtierenden Gemeinderäte. Den Präsidenten aber wählen alle Bürger des Ballungszentrums.
Es war ein schwerer Schlag für Tibor, weil zwei Stimmen fehlten, um als neuer Gemeinderat anerkannt zu werden. Rufus tröstete ihn, und meinte, daß es bei der nächsten Wahl klappen wird. Also mußte Tibor noch drei Jahre warten.
Die Zeit drängte, denn es kamen einige Menschen aus der „Wildnis“ zurück, weil sie dort nicht mehr überleben konnten. Die Natur rächte sich wieder. Schuld daran hatte natürlich das Ballungszentrum mit seinen Fabriken, aus denen noch mehr Schadstoffe kamen. Es war nicht mehr einfach für Tibor, im Gemeindehaus zu arbeiten, weil er viele Neider hatte. Die meisten Gemeinderäte erkannten bereits die Macht, die in Tibor steckt. Sie fürchteten seine starke Persönlichkeit, mit der er Alleinherrscher werden könnte. Sie ahnten bereits, daß Tibor der Mann ist, dem die Menschen bald alles glauben werden. Er wird sie in seiner Hand haben und gegen sie aufhetzen. Es waren nur mehr wenige Gemeinderäte, die zu Tibor hielten. Rufus natürlich, sein Stellvertreter und drei jüngere Männer, die sich oft mit Tibor unterhielten. Dann waren noch zwei Gemeinderäte, die schon etwas älter waren, welche Tibor auch gerne mochten. Sie hielten sich aber von ihm fern und gaben ihm nur ihre Stimmen. Tibor sprach nicht mehr über seine Ideen, - auch nicht mit den beiden jüngeren Gemeinderäten, obwohl sie ihn oftmals nach seiner Meinung über diese und jede Gesetze fragten. Tibor hatte gelernt, sich wie ein „richtiger“ Politiker redegewandt aus jeder Falle zu befreien. Er war sich der Loyalität dieser beiden Männer nicht sicher, und das war auch gut so. Selbst mit Rufus sprach er nie wieder über seine Reformen, die er ganz langsam den Menschen ins Bewußtsein legen wird, wenn er einmal an der Macht ist. Aber wie geschrieben, - die Zeit drängte.
Wieder sind drei Jahre vergangen. Rufus ist abermals als Präsident gewählt worden. Es war nicht außergewöhnlich, daß ein Mann drei mal hintereinander Präsident wird. Der letzte Präsident, - vor Rufus, -wurde sogar fünf man hintereinander gewählt. Was Tibor betrifft, - dieses Mal hat er es geschafft. Tibor ist nun Gemeinderat und hat ein eigenes Büro. Jetzt dürfte er seine Ideen bei den Sitzungen vortragen. Aber noch immer schweigt Tibor und ordnet sich der Mehrheit unter. Seine Gegner sind natürlich erstaunt darüber. Sie wissen jetzt, daß sie Tibor unterschätzt haben und zählen ihn durch diese Unterordnung zu seinen Freunden. Das ist ja genau das, was Tibor will. Er will alle zu seinen Freunden zählen, - nicht nur die Gemeinderäte, sondern vor allem die Bürger des Ballungszentrums. Und das kann er nur, wenn er viel unter die Leute geht, - mit ihnen spricht, sich ihre Sorgen und auch ihre Freuden anhört. Tibors Arbeitstage werden nun länger. Er macht natürlich die nötigen Schreibarbeiten, ist bei jeder Konferenz anwesend, - beugt sich sehr vorsichtig und mit Fingerspitzengefühl der Mehrheit, - aber viel mehr ist er nun am Leben der Bürger interessiert. Man kann Tibor fast täglich in jedem Geschäft sehen, wo er sich nach den Wahren erkundigt, sie oftmals auch prüft und Verbesserungsvorschläge macht, die wohlwollend angenommen werden. Tibor läßt sich auch in den Fabriken sehen, - nicht bei den Bossen, sondern bei den Arbeitern, für die er ganz langsam und fast unbemerkt bessere Arbeitsbedingungen schafft. Es sind wirklich nur Kleinigkeiten, welche Tibor ändern läßt, wobei er weiß, daß diese Änderungen bei den anderen Gemeinderäten sicher Zustimmung finden. Natürlich bewirken diese Änderungen für die Umwelt absolut nichts, wohl aber im Ansehen Tibors. Er wird von den Menschen geliebt und auch die Gemeinderäte erkennen das neidlos an.
Tibor ist nun 29 Jahre alt. Sein Ruf im Ballungszentrum ist der beste. Er wird bereits mehr verehrt als der Präsident, von dem man sagt, daß er sich nicht mehr allerbester Gesundheit befindet. Sein Stellvertreter verstarb letztes Jahr. Tibor hoffte insgeheim, daß er diese Stelle übernehmen dürfte. Aber die Gemeinderäte wählten einstimmig einen der jüngeren Männer, welche Tibor zu seinen Freunden zählt. Es machte Tibor nichts aus, denn er wußte, daß er bald als Präsidentschaftskandidat aufgestellt wird und vom Volk gewählt werden wird. Sein Ziel ist zum Greifen nah, und er hätte glücklich darüber sein sollen. Aber das ist Tibor nicht. Er macht sich Sorgen um Rufus, der sehr krank ist. Es gibt einige Mediziner im Ballungszentrum, die wirklich einen guten Ruf haben und schon viele Krankheiten geheilt haben. Rufus´ Krankheit scheint unheilbar zu sein, wie sie alle sagten, als Tibor einem nach dem anderen ins Haus bestellte. Bis jetzt konnte Rufus immer ins Gemeindehaus gehen und seine Arbeit auch gewissenhaft machen. Heute bleibt er im Bett. Er kann nicht mehr aufstehen. Seine Beine sind zu kraftlos, um ihn tragen zu können. Magda weint in der Küche, als Tibor ihm das Frühstück ans Bett bringt.
„Ich kann nichts essen, Tibor“, sagt Rufus mit schwacher Stimme. „Ich glaube, es geht dem Ende zu. Du mußt ins Gemeindehaus und zusehen, daß alles richtig abläuft. Sag meinem Stellvertreter, daß er heute meine Arbeit machen soll. Wenn es in den nächsten Tagen nicht besser mit mir wird, muß er mein Amt übernehmen.“
Tibor schweigt. Die Tränen würgen ihn. Er erinnert sich an seine Heimat, an Argon, an seine Eltern. Sie hatten den selben Blick wie Rufus jetzt. Schwerfällig verläßt Tibor das Schlafzimmer und geht in den Vorraum, wo sein schwarzer Umhang und die Mütze, - diese viereckige Kopfbedeckung hängen. Er zieht sich den Umhang über und setzt die Mütze auf.
Langsam geht er zu zum Gemeindehaus. Unterwegs grüßen ihn die Menschen auf der Straße. Tibor hat nur einen müden Gruß für sie, kein Lächeln wie sonst immer. Die Menschen wissen, daß Rufus sehr krank ist. Sie bemitleiden Tibor und rechnen ihm seine ehrliche Trauer hoch an. Diese menschliche Gefühlsregung macht Tibor bei den Menschen noch beliebter.
Als er im Gemeindehaus zum Büro des Stellvertreters geht, kann er seine Tränen nicht mehr zurück halten. Weinend lehnt er sich an die Mauer vor dem Büro. Er wollte Rufus´ Stelle nicht auf diese Art bekommen, obwohl die Zeit drängt. Er würde Rufus doch noch so sehr brauchen, weil er Erfahrung hat und Tibor noch immer sehr viel beibringen könnte. In dem Moment als Tibor seine Tränen abwischt, geht die Tür auf und der Stellvertreter kommt aus seinem Büro. Als er Tibor mit verweinten Augen sieht, ist er im ersten Moment entsetzt. Rasch nimmt er Tibors Arm und schiebt ihn in sein Büro.
„Ist Rufus - ist er - tot?“, fragt er stotternd.
Tibor schüttelt seinen Kopf. Er kann kaum sprechen.
„Noch nicht, aber es sieht nicht gut aus. Er konnte nicht aufstehen. Er kann nichts essen. Rufus hat gesagt, ich soll dir ausrichten, daß du heute seine Arbeit machen sollst.“
Mit diesen Worten verläßt Tibor rasch das Büro und geht in seines, wo er sich gedankenverloren hinter seinen Schreibtisch setzt. Ganz langsam kommt er wieder zu sich und läßt die Vergangenheit in sich vorüber ziehen.
Die Reise war schwer, - sehr schwer sogar, aber dann hatte Tibor das Glück einen Menschen zu treffen, der fast selbstlos war. Nur durch diesen Menschen war es ihm möglich, sein ersehntes Ziel zu erreichen. Aber jetzt, wie bereits geschrieben, - wo dieses Ziel so nahe ist, will er es eigentlich gar nicht mehr. Viel lieber wäre ihm jetzt die Vergangenheit, als Rufus noch gesund war.
Heute machte Tibor nur die wichtigsten Schreibarbeiten. Er verließ sein Büro nicht wie sonst immer, um einige Menschen in ihren Geschäften und Fabriken zu besuchen. Pünktlich um Amtsschlußzeit sperrte er sein Büro ab und ging langsam nach Hause.
Nun steht Tibor vor Rufus´ Haus. Die Haustür steht offen, was Tibor sehr wundert. Eine böse Ahnung steigt in ihm hoch. Schnell geht er in der Vorraum, ins Wohnzimmer, bis ins Schlafzimmer, ohne seinen Umhang und seine Schuhe auszuziehen. Rufus liegt in seinem Bett. Er scheint zu schlafen. Magda sitzt am Bett und weint bitterlich. Am Fußende stehen zwei Männer, - schwarz gekleidet. Eine Bahre liegt am Boden neben der anderen Seite des Betts. Tibor kennt die Männer. Er weiß, daß sie die Toten aus den Häusern tragen. Mit einem lauten Aufschrei stürzt er sich auf Rufus, - wäre dabei fast über die Bahre gestolpert, - und rüttelt ihn heftig an den Schultern.
„Rufus! Wach auf! Rufus! Hörst du mich?!“
Rufus ist bereits tot. Magda schluchzt wieder laut auf. Die beiden Männer kommen auf Tibor zu und wollen ihn von Rufus wegzerren. Tibor dreht fast durch. Er schlägt wild um sich.
„Laßt mich los! Rufus ist noch nicht tot! Er darf nicht tot sein!“
Mit einem klagenden, aufweinenden „Nein“ sinkt Tibor zu Boden und bekommt einen Weinkrampf. Einer der schwarz gekleideten Männer verläßt schnell das Haus und kommt in wenigen Minuten mit einem Arzt wieder. Der Arzt hilft Tibor vom Boden auf und heißt ihn, sich draußen im Wohnzimmer auf die Couch zu legen. Tibor bekommt das alles kaum mit. Noch immer schüttelt ihn ein Weinkrampf durch. Er spürt die Injektion nicht, die er von dem Arzt in den Arm bekommt. Langsam schläft Tibor ein.
Als er wieder aufwacht, hat man Rufus bereits weggebracht. Er wurde im Gemeindehaus in der großen Halle aufgebahrt. Magda ist bei ihm. Neben der Couch, auf der Tibor eben munter wird, sitzt der Stellvertreter auf einem Sessel. Tibor sieht ihn schlaftrunken an. Alles fällt ihm wieder ein.
„Warum konnte ich nicht bei ihm sein, als er starb?“, fragt er mit gebrochener Stimme, und Tränen schießen ihm wieder in die Augen.
„Magda war bei ihm, Tibor. Er hat ihr gesagt, daß er dich sehr liebt, - daß du sein Sohn bist. Sein letzter und einziger Wunsch war, daß du sein Nachfolger wirst, und zwar so schnell wie möglich. Wir werden diesen Wunsch respektieren und noch in diesem Jahr eine Neuwahl veranstalten.“
Tibor richtet sich langsam auf und sieht den Stellvertreter ungläubig an.
„Das ist jetzt nicht wichtig. Das ist überhaupt nicht wichtig. Ich will Rufus wieder zurück haben“, schluchzt Tibor wie ein kleines Kind.
„Das ist wichtig, Tibor. Du darfst dich jetzt nicht gehen lassen und mußt Rufus´ letzten Willen akzeptieren. Er war ein kluger Mann, - der klügste von uns allen. Er wußte immer die richtigen Entscheidungen. Wir werden seinen Wunsch ebenfalls akzeptieren und dir helfen, Tibor. Du wirst nicht alleine mit diesem schweren Amt sein. In den nächsten Tagen, - nach dem Begräbnis, - werden wir eine Konferenz abhalten und den Tag der Neuwahl festlegen.“
In dieser Nacht konnte Tibor nicht schlafen. Er war alleine in dem Haus. Magda blieb bei Rufus in der großen Halle im Gemeindehaus. Tibor las in seinen Aufzeichnungen, wo er viele Worte von Rufus aufgeschrieben hatte, die er ihm gesagt hat. Nein, er darf sich jetzt gehen lassen, - jetzt, wo sein Ziel endlich greifbar nahe ist. Er muß an die Menschen denken, - an ihre Umwelt. Er muß so viel verändern und steht nun vor einer großen, schweren Aufgabe, über die er sich noch immer nicht im Klaren ist, wie er sie angehen wird. Er weiß, daß er den Menschen nicht viel sagen kann, obwohl sie bereits jetzt schon an seinen Lippen hängen. Aber er weiß auch, daß die Menschen wankelmütig sind und ihre Gesinnung bald einem anderen schenken könnten. Die Menschen müssen von selbst erkennen, was gut für sie ist. Man müßte sie nur von ihrer Selbstherrlichkeit und ihrem blinden Egoismus befreien. Aber wie?
Schon am frühen Morgen, noch bevor die Sonne richtig aufgegangen ist, geht Tibor ins Gemeindehaus. Magda sitzt noch immer neben dem Sarg. Sie sieht müde aus.
„Du solltest dich ausruhen, Magda, sonst wirst du auch noch krank. Ich möchte dich nicht auch noch verlieren“, sagt Tibor und umarmt die Frau, die wie eine Mutter für ihn ist.
„Ich glaube nicht, daß ich schlafen kann, Tibor.“
„Du mußt es versuchen. Komm, ich bringe dich jetzt nach Hause“, sagt Tibor und nimmt Magdas Arm, um sie aus dem Saal zu führen.
Nachdem er Magda nach Hause und ins Bett gebracht hat, ist Tibor wieder im Gemeindehaus. Als erstes sucht er den Stellvertreter auf, der bereits im Büro des Präsidenten ist.
„Gut, daß du kommst, Tibor. Ich möchte, daß du in diesen Tagen bei mir bleibst, - daß wir zusammen die Arbeit machen. Immerhin wirst du dieses Amt bald übernehmen.“
„Ich teile die Arbeit gerne mit dir. Aber wie kannst du wissen, daß mich das Volk wählt?“, fragt Tibor. „Man kann die Menschen nicht dazu zwingen, weil es Rufus´ letzter Wille war.“
„Das wird nicht nötig sein, Tibor. Die Menschen lieben dich, weil sie spüren, daß du für sie da bist. Bis jetzt ist es kaum einem Gemeinderat eingefallen, daß er in Geschäfte und Fabriken geht und sich nach dem Wohl der Menschen erkundigt. Du hast viele Mißstände beseitigt und den Arbeitern damit sehr geholfen. Das werden sie dir niemals vergessen.“
Noch in diesem Jahr fanden die Wahlen statt. Tibor wurde genau an dem Tag einstimmig zum Präsidenten gewählt, als er 30 Jahre alt wurde. Erst in diesem Moment wurde ihm bewußt, was das bedeutet. Das Ballungszentrum war der einzige Ort auf dieser Welt, wo so viele Menschen zusammen leben. Es war ein riesiger Ort, der sich kilometerweit ausstreckte. Die Menschen, die sich vereinzelt in der sogenannten „Wildnis“ aufhielten, konnte man fast zählen. Auch in den anderen Erdteilen, - hinter dem großen Ozean, - gab es kein Ballungszentrum dieser Art, wo ein Präsident gewählt wurde. Sogesehen war Tibor vom Gesetz aus Präsident der gesamten Menschheit. Außerdem war Tibor der bis jetzt jüngste Präsident.
Nun sollte seine Aufgabe richtig beginnen. Er hatte nun die Macht, neue Gesetze aufzustellen. Er hatte ebenso das Recht, sich über alle Gemeinderäte zu stellen, selbst wenn sie sein Gesetz als gut befinden. Tibor war, wenn er seine Macht ausnützen würde, Alleinherrscher. Aber er wußte, daß er dann nicht lange Präsident sein würde. Die Menschen würden diese radikale Art nicht gut heißen. Tibor würde sich nun etwas einfallen lassen müssen, womit er den Menschen ein anderes Bewußtsein, - ein erweitertes Bewußtsein zuführen kann. Er müßte sie zuerst einmal von ihren Ängsten, ihrer Selbstsucht und ihren Aggressionen befreien. Wieder stellte sich Tibor die Frage: „Wie?“
Eines Tages hatte er die Idee. Um Menschen ein erweitertes, oder anderes Bewußtsein zuführen zu können, müßte man sie ungewöhnlichen Situationen aussetzen, in denen ihre Ängste, ihre Selbstsucht und ihre Aggressionen richtig heraus kommen. Sie müßten nahe dran sein, sich gegenseitig zu zerfleischen, bis sie in letzter Sekunde verstehen, daß sie nur durch Gemeinschaft überleben können. Die Frage war jetzt nur, wie man so eine ungewöhnliche Situation herbei führen kann, - und das mit möglichst vielen Menschen. Das Gemeindehaus war groß. Es würden an die 10.000 Menschen darin Platz haben. Wenn man im Gemeindehaus Feste feiert, sind meistens an die 10.000 Menschen dort. Aber um den Plan durchführen zu können, braucht Tibor Komplizen. Er braucht Männer, - viele Männer, die er mit Waffen vor dem Gemeindehaus aufstellen würde. Diese Männer müßten die vielen Menschen im Gemeindehaus bedrohen, daß sie sich nicht mehr aus dem Tor getrauen, - vor Angst erschossen zu werden. Tibor wußte schon, wo er diese Männer finden kann.
An diesem Tag geht Tibor nach der Arbeit im Gemeindehaus in eine der größten Fabriken. Es ist ein weiter Weg, - der sich hoffentlich auszahlt. Tibor rechnet mit der Mitarbeit einiger Arbeiter, die er bereits gut kennt, und die ihm in letzter Zeit oft gesagt haben, wenn das mit der Arbeit so weitergeht, werden sie das Ballungszentrum bald verlassen.
In der Fabrik angekommen, geht Tibor sofort in die Abteilung, wo einer dieser Männer arbeitet, der ganz und gar nicht mit diesem Leben zufrieden ist. Er nimmt ihn beiseite und flüstert ihm zu, daß er am Abend, wenn es dunkel ist, draußen vor dem Ballungszentrum, in der Nähe der Öltürme mit 20 anderen Männern sein soll.
„Ich werde auf euch warten, also seid pünktlich. Und noch etwas, - sagt niemandem etwas über dieses Treffen“, flüstert Tibor und verläßt die Fabrik wieder.
Was die Zeit betrifft, - hier scheint noch einiges ungeklärt zu sein. Natürlich gibt es im Ballungszentrum Uhren, sonst könnte man sich ja die Arbeitszeiten nicht einteilen. Kalender, wie es sie damals gab, gibt es nicht, wie bereits im ersten Teil dieser Geschichte geschrieben. Es gibt schon eine Art Kalender, wo man sich in jedem Haus Notizen über Tage, Monate und Jahre macht. Diese Kalender sind nicht vorgeschrieben, wie man sie damals vor vielen, vielen Jahren kannte. Diese Kalender muß man erst schreiben, - sozusagen, wie man eben will, sich die Tage, Monate, oder Jahre selbst notieren. Die Menschen dieser Zeit sind nicht mehr zukunftsorientiert, daß sie die Zeiten vorausbestimmen, wie man das einmal machte. Die Zeiten werden hier erst geschrieben. Es ist auch nicht wichtig, sich Tage, Monate, oder Jahre zu notieren. Natürlich merken sich die Menschen die 6 Arbeitstage, um am 7. Tag zu ruhen, - aber das ist schon das einzig Wichtige. Monate und Jahre sind für die Arbeit unwichtig, da es kein Pensionsalter mehr gibt. Man muß solange arbeiten, wie man lebt, sonst bekommt man keine Wertpapiere. Also muß man kräftig sparen, um sich das Alter, wenn man zu schwach für die Arbeit ist, selbst zu finanzieren. Es gibt wohl noch Steuern, die man monatlich im Gemeindehaus abgeben muß. Immerhin tun die Gemeinderäte und der Präsident viel für das Ballungszentrum, und das muß ja auch bezahlt werden. Versicherungen, wie zum Beispiel Krankenversicherungen gibt es auch nicht mehr. Wenn jemand krank wird, muß er den Arzt selbst bezahlen. Und falls das Haus abbrennt, muß man selbst für den Schaden aufkommen, oder eben vorher besser aufpassen. Jeder ist seines Lebens eigener Schmied. Man kann heute niemanden mehr für etwas verantwortlich machen, was man selbst verschuldet hat.
Es sind harte Sitten, aber auf eine gewisse Art auch gerechte Sitten. Tibor steht dafür hundertprozentig ein. Daran würde er niemals etwas ändern. Vielleicht würde er die Steuern einmal etwas senken und einige Gemeinderäte von ihren Ämtern entbinden, weil ohnehin zu viele sind. Die Löhne würde er nicht ändern, denn da besteht kein krasser Unterschied mehr, so wie vor vielen, vielen Jahren, als die Politiker überall überbezahlt waren und nicht einmal damit genug hatten, daß sie viele Gelder, welche von den Steuerzahlen kamen, in die eigene Tasche steckten. Korruption gibt es kaum mehr.

Als es dämmert verläßt Tibor nach dem Abendessen, das er zusammen mit Magda eingenommen hat, das Haus und begibt sich auf den Weg zu den Bohrtürmen. Er geht langsam, als ob er einen Spaziergang machen würde, was für die Menschen im Ballungszentrum äußerst selten ist. Nachts gibt es nichts. Alle Geschäfte sind zu. Bars, oder Kaffeehäuser, wie damals, kennt man hier nicht mehr. Wenn man sich amüsieren will, kann man das zu Hause genauso gut tun. Es ist nicht unüblich, daß man Freunde zu sich nach Hause einladet, um etwas zu trinken, oder einfach nur zu reden. Alkohol gibt es natürlich schon, - natürlich auch andere Genußmittel, die man Drogen nennen könnte. Dinge dieser Art sind erlaubt. Man muß nur am nächsten Tag pünktlich zur Arbeit erscheinen, sonst bekommt man die fristlose Entlassung, wird eingesperrt, oder verbannt. Ja, es sind wirklich harte, aber doch gerechte Sitten. Während Tibor so langsam zu den Bohrtürmen wandert, läßt er sich alles durch den Kopf gehen, was er den Männern sagen wird. Er weiß, daß er sie vollkommen aufklären wird und hofft auf ihr Verständnis. Immerhin hat er sich schon oft mit diesen Männern unterhalten und herausgehört, daß sie nicht viel anders denken als er.
Es ist bereits dunkel, als sich Tibor in der Nähe der Bohrtürme befindet. Tibor haßt es, genaue Zeitangaben zu machen, - wie zum Beispiel: Genau um 9 Uhr nachts treffen wir uns da und dort. Für Tibor gibt es nur Zeitangaben solcher Art: Wenn es dunkel ist, - oder, wenn die Sonne ganz oben steht, und so weiter. Er hatte anfangs mit der Pünktlichkeit ziemliche Probleme, weil er es nicht gewohnt war. Natürlich kam er nie zu spät zur Arbeit, - er würde das auch heute nicht tun, aber was die Freizeit betrifft, da läßt er größere Zeitspannen zu und hält sich nie genau an eine bestimmte Uhrzeit. Tibor muß nicht lange warten, bis die Männer vom Ballungszentrum auf die Bohrtürme zukommen. Ringsum ist alles ruhig. Nicht einmal ein Windhauch ist zu spüren.
„Was gibt es denn so Geheimes, daß wir uns hier draußen wie Verbrecher treffen müssen?“, fragt der Mann flüsternd, mit dem sich Tibor in der Fabrik diese Verabredung ausgemacht hat.
Tibor hockt sich in seiner Freizeitkleidung, - einer hellblauen Hose, einem weiß und grün kariertem Hemd und legeren, braunen Lederschuhen, auf den Boden. Die Männer, - es sind ungefähr 20, tun es ihm gleich.
„Es ist nicht ganz einfach. Ich vertraue euch, deshalb kann ich es euch genau erklären, auch wenn ich mir nicht sicher bin, ob ihr das tun werdet. Wenn ihr nicht gewillt seid, diese Sache durch zu führen, kann ich nur hoffen, daß es von eurer Seite so ist, daß wir uns nie getroffen haben und ihr von nichts wißt“, sagt Tibor und blickt sich in der Runde um, wo er die vom fast vollen Mond beschienenen Gesichter der Männer erkennen kann.
„Du kannst uns vertrauen, Tibor, - verzeih, - ich meine, Präsident“, sagt der Mann, der anscheinend der Redner der Truppe ist.
„Nenn mich bitte weiterhin Tibor. Ich halte nichts von dieser gekünstelten Anrede. Also gut, ja, ich vertraue euch. Nun hört gut zu. Ich habe vor, in wenigen Tagen ein Fest abzuhalten, das im Gemeindehaus stattfinden wird. Es sollte so etwas wie eine neue Einweihung sein, - sozusagen möchte ich mich bei den Bürgern erkenntlich zeigen, weil sie mich so einstimmig zum Präsidenten gewählt haben. Es werden sicher viele Menschen kommen, wie ich hoffe. Ich werde so viel Nahrung ins Gemeindehaus schaffen, daß sie ungefähr vier Tage reichen wird. Es wird keine Theateraufführung geben, - nur Essen und Trinken und einfache Unterhaltung. Wenn das Fest drei Stunden gedauert hat, werdet ihr das Gemeindehaus im Umkreis von einigen Metern abriegeln. Ihr werdet Waffen von mir bekommen, womit ihr jeden bedroht, der sich dem Gemeindehaus nähert. Ihr werdet auch keinen Menschen aus dem Gemeindehaus heraus lassen. Ich möchte diese Menschen, die am Fest teilnehmen, so lange im Gemeindehaus eingesperrt lassen, bis sie fast wahnsinnig vor Angst werden. Die Nahrung wird bald ausgehen. Sie werden nicht nur Angst haben, daß sie von euch getötet werden, sondern auch Angst vor dem Hungertod bekommen.“
„Verzeih, wenn ich dich unterbreche, Tibor. Aber was bezweckst du damit?“, fragt der Mann.
„Wenn Menschen extremen Situationen ausgesetzt sind, haben sie die Kraft, sich selbst zu erkennen. Ich meine damit, daß sie zu dem tiefsten Punkt ihres eigentlichen Seins dringen können und damit ihre Ängste, ihre Selbstsucht und ihre Aggressionen bekämpfen werden. Es wird ihnen nichts geschehen. Ich gebe euch damit nicht den Befehl, Menschen zu erschießen. Ihr sollt sie nur bedrohen und wenn es nötig ist, Warnschüsse abgeben, - mehr nicht. Ich will nicht, daß jemand verletzt wird. Versteht ihr? Die Menschen dürfen nicht einmal den kleinsten Kratzer von euch abbekommen. Wichtig ist nur, daß sie zu sich selbst finden.“
„Ich verstehe noch immer nichts, Tibor.“
„Okay“, sagt Tibor lächelnd und wundert sich im nächsten Moment über dieses Wort, das er noch nie gebraucht hat und auch nicht wirklich versteht. Selbst die Männer sehen ihn dabei erstaunt an.
„Ich meine, in Ordnung, - ich werde es euch noch genauer erklären“, sagt Tibor dann und wischt sich beinahe erschöpft über die Stirn. „Ich möchte, daß unter uns eine Einheit entsteht, - daß alle Menschen für einen da sind, und einer für alle Menschen da ist. Diese Einheit muß wie ein Uhrwerk funktionieren. Wenn ein kleiner Teil im Uhrwerk nicht mehr mitmacht, kann die Zeit nicht mehr stimmen. Genauso ist es jetzt im Ballungszentrum. Viele von euch sind unzufrieden. Aber das liegt nicht am Leben das ihr führt, - das liegt an euch selbst, weil ihr noch immer zu selbstsüchtig seid und Angst um eure Existenz habt. Ihr glaubt vielleicht, am Leben ändert sich etwas, wenn ihr eure Arbeit hinwerft und einfach das Ballungszentrum verläßt. Das ist nicht so, Freunde. Bevor ich ins Ballungszentrum kam, mußte ich weit wandern. Damals traf ich unterwegs viele Menschen, die einfach vom Ballungszentrum abgehauen sind und dachten, daß sich an ihrem Leben etwas ändern würde. Dem war nicht so. Sie waren draußen in der freien Natur genauso unglücklich, wie im Ballungszentrum. Sie tranken Alkohol, um sich selbst zu vergessen. Aber dadurch wurde alles noch schlimmer, weil sie sich im Selbstmitleid verloren haben. Zwischen Selbstsucht und Selbstmitleid ist kein großer Unterschied. Viele von ihnen sagten, daß sie nicht mehr für andere arbeiten wollen, sondern nur mehr für sich selbst. Sie sahen nicht, daß es da überhaupt keinen Unterschied gab. Ihr arbeitet doch nicht nur für andere, sondern auch für euch selbst. Für diese Arbeit bekommt ihr Wertpapiere, um eure Nahrung und so weiter zu kaufen. Ihr müßt diese Dinge endlich einmal richtig erkennen. Arbeiten müßt ihr immer, - egal wie. Sei es das Ernten in der freien Natur, was auch keine leichte Sache ist, - oder das Arbeiten in einer Fabrik. Arbeit ist es allemal. Und was die Eintönigkeit betrifft, die gibt es überall. Es kommt wirklich nur auf euch selbst an, um aus dem Leben, das ihr führt, etwas zu machen. Und um wirklich etwas zu machen, müßt ihr eure Selbstsucht, eure Ängste und eure Aggressionen abbauen. Ich kann euch nur zeigen, wie das geht, indem ich so viele Menschen wie möglich auf einen kleinen Raum zusammen sperre, wo all das aus ihnen heraus kommen wird. Vielleicht erkennen sie in letzter Sekunde wirklich, worauf es im Leben ankommt. Ich kann nichts versprechen, denn es ist nur ein Versuch. Aber ich hoffe, daß sie nach all dieser Aufregung erkennen, daß ihnen eigentlich nichts genommen werden kann, - nicht einmal das Leben.“
Die Männer murmeln zuerst durcheinander, dann entsteht längeres Schweigen.
„Versteht ihr, was ich meine?“, fragt Tibor. „Versteht ihr, daß das Leben erst durch eine Gemeinschaft, die wirklich durch dünn und dick geht, lebenswert ist? Wir arbeiten doch nicht wirklich gegeneinander, - wir arbeiten miteinander. Was hätte denn das Ballungszentrum sonst für einen Sinn?“
„Du könntest recht haben, Tibor. Du meinst also, daß der Mensch erst durch ein Unglück aus sich heraus wachsen kann und erkennt, was er wirklich ist. Daß er durch diese Angst, die du ihm erkennen lassen willst, weiß, daß ihm eigentlich nichts geschehen kann. Du glaubst also, daß der Tod das Weiterleben bedeutet, - das Weiterleben auf einer anderer Ebene“, sagt der Mann.
„Bedeutet der Tod für dich die größte Angst?“, fragt Tibor, und der Mann nickt.
„Du kannst dem Tod ohnehin nicht ausweichen“, spricht Tibor weiter. „Früher oder später ereilt er dich sowieso. Und glaube mir, er kommt auch immer zur rechten Zeit, - ob du nun ein Greis, oder noch ein Kind bist. Man mag es Schicksal, oder Bestimmung nennen, - auf jeden Fall kannst du selbst nichts daran ändern. Wenn du auch glaubst, daß du durch Medizin den Tod hinauszögern kannst, - du glaubst es nur, aber es ist nicht so. Und was der Tod wirklich ist, - das kann keiner von uns wissen. Ich habe schon einige Tote gesehen, und ich finde, sie haben nicht unglücklich ausgesehen. Wenn du schon einmal bei einer Geburt dabei gewesen bist, hast du sicher auch die verzweifelten Schreie des Neugeborenen gehört. Ich finde, das ist wohl erschreckender, als der Tod. Ich will jetzt nicht sagen, daß das Leben wie eine Strafe ist, aber ein Kampf ist es auf jeden Fall. Wir können diesen Kampf leichter machen, - durch innige Gemeinschaft. Geteiltes Leid ist halbes Leid, - wie schon ein altes Sprichwort sagt. Daran ist wirklich etwas Wahres.
Glaubt mir, - es kann euch nichts genommen werden, weil ihr im Grunde nichts besitzt, - nicht einmal euer Leben, das irgendwann einmal dem Tod weichen muß.
Wie lange existiert der Mensch schon? Und was hat er wirklich daraus gelernt? Ich sage euch, daß er nichts gelernt hat. Er hat seit der Urzeit die selben Ängste, - die selbe Selbstsucht und die selben Aggressionen. Nur diese drei Dinge zeichnen den Menschen aus. Ist das nicht erschreckend? Meint ihr nicht, daß es nun endlich an der Zeit wäre, umzudenken und endlich ein Teil der Natur zu werden? Glaubt ihr wirklich, daß der Mensch Herr aller Dinge ist? Meint ihr nicht, daß wir armseligen Würmer viel mehr von der Natur, von den Tieren lernen könnten, als von uns selbst, da wir doch eigentlich immer wieder die selben Fehler machen? Gerade jetzt wäre es an der Zeit, das alles zu erkennen. Seht euch doch um, was wir abermals mit der Erde anstellen. Es wäre beinahe der Fall gewesen, daß sich die Natur wieder vollkommen regeneriert, aber das Ballungszentrum hat dem bereits wieder ein Ende gesetzt. Wozu ist es denn gut, Rohöl zu verarbeiten? Nur wegen der Arbeitsbeschaffung? Soll das wirklich der einzige Sinn sein? Arbeit gibt es genug, Männer, - aber Arbeit, die nach innen führt, - nicht nach außen. Wir müssen erst einmal an uns selbst arbeiten, um einmal einen kleinen Blick nach außen zu riskieren. Vielleicht erkennen wir erst dann die sogenannte Wirklichkeit um uns, die bis jetzt ohnehin nur im dichten Nebel lag. Klar brauchen wir Nahrung, und wir werden sie auch haben. Und zwar genau so viel, wie wir wirklich brauchen, - nicht mehr und nicht weniger. Es wird immer für alle genug da sein, wenn wir es alle auch gerecht teilen. Die Natur ist doch für uns da, denn wir sind ja auch ein Teil der Natur. Wozu hat sie sich neu regeneriert? Aber wir müssen der Natur auch etwas zurück geben. Das können wir, denn wir wissen, wie neue Bäume, wie neues Gemüse und Obst entstehen kann. Ich habe diese Worte von Menschen gehört, die ich auch unterwegs getroffen habe, bevor ich ins Ballungszentrum kam. Und ich glaube, das waren Menschen, von denen es nur wenige gibt. Wir brauchen auch keine Geschäfte, wenn wir mit der Natur leben. Wir müssen nichts kaufen, weil ohnehin alles da ist. Wir dürfen nur nicht den Fehler machen, mehr zu nehmen, als nötig ist. Das Klima hier ist gut. Es wird nie so kalt, daß einmal überhaupt nicht wächst. Es wird immer Nahrung geben, daß wir keine Vorräte sammeln müssen. Dort wo ich aufgewachsen bin, gab es nur kargen, ausgetrockneten Boden. Es war nicht einfach, Nahrung zu finden. Wir haben eine große Vorratskammer gebraucht, aber wir teilten alles gerecht auf. Wir waren nicht viele, - höchstens 40 Menschen, - aber darunter gab es keinen Neider, - keinen der mehr genommen hat, als nötig. Wir brauchten keine Kontrolle, so wie es hier ist, wo es fast täglich Einbrüche, oder Morde gibt, die nur aus Habgier statt finden. Schon daran müßt ihr sehen, daß sich am Menschen selbst endlich etwas ändern muß. Und glaubt mir, wenn wir das alle geschafft haben, wird sich auch an unserem Leben etwas ändern, und wir werden eine riesengroße, einzige Familie sein. Wäre das nicht ein schöner Gedanke?“
Die Männer lächeln und stimmen Tibor zu.
„Ich glaube, das war schon immer ein Traum vieler Menschen“, sagt der Mann, der für alle das Sprechen übernimmt.
„Natürlich, aber wir könnten diesen Traum wahr machen. Was haben wir schon zu verlieren?“
„Nichts, Tibor. Wir haben wirklich nichts zu verlieren. Da wäre aber noch eine Frage. Woher willst du Waffen bekommen? Nicht einmal du als Präsident hast es leicht, diese Dinge zu beschaffen.“
„Wenn es Verbrechern gelingt, an Waffen zu kommen, gelingt es mir als Präsident auch. Macht euch keine Sorgen deswegen. Also, kann ich mit euch rechnen?“
Die Männer nicken einstimmig.
„Wenn dein Plan funktioniert, was wird dann aus uns?“, fragt der Mann.
„Wir werden die Menschen nachher natürlich aufklären. Euch wird nichts geschehen, - ganz im Gegenteil, - denn die Menschen werden euch dankbar sein, daß ihr ihnen geholfen habt, zu sich selbst zu finden.
Und nun geht nach Hause. Aber schweigt über alles. Nicht einmal eure Frauen dürfen etwas erfahren.“
„Was, wenn unsere Frauen zum Fest gehen wollen? Was sollen wir ihnen sagen, wenn wir nicht mitgehen?“
„Euch wird schon etwas einfallen“, sagt Tibor lachend und erhebt sich.
Am Tag des Festes ist Tibor nervös. Er hofft wirklich im tiefsten seines Herzens, daß sein Plan funktioniert. Die Waffen hat er den Männern bereits ausgehändigt. Es war wirklich nicht so einfach, an die 20 Gewehre zu erbeuten, die im Gemeindehaus strengstens von zwei Männern rund um die Uhr bewacht werden. Aber Tibor kennt die Wirkung einiger Kräuter, mit denen er köstlichen Tee zubereitet hatte und sie den Wächtern zum Kosten gab. Natürlich schliefen die beiden auf der Stelle ein, und Tibor konnte sich aus dem Arsenal holen, was er brauchte. Er schaffte die Waffen rasch an einen sicheren Ort, begab sich wieder zu den Wächtern und wartete, bis sie aufwachten. Tibor selbst tat dann auch, als ob er geschlafen hätte. Die Wächter und er lobten den Trank, weil sie davon so gut geschlafen haben. Sie hegten keinen Verdacht, denn der Präsident schien über jeden Verdacht erhaben zu sein. Mitunter gab es wirklich noch viele einfältige Menschen, aber doch war die Mehrheit bereits einem Bewußtsein näher, als diese Menschen, die noch vor vielen, vielen Jahren diese Erde bevölkerten. Wahrscheinlich hätte es bei ihnen nicht viel bewirkt, sie extremen Situationen auszusetzen, da sie nachher den gewohnten Lebenstrott wohl oder übel weiter geführt hätten. Es blieb ihnen auch kaum etwas anderes übrig, denn die Mehrheit der Menschheit war damals noch sehr der Selbstsucht ausgesetzt. Heute hingegen kämpft wohl jeder täglich ums Überleben und hofft ebenso auf das Überleben der Erde. Die Zeiten verändern den Menschen sicher, aber trotzdem muß man noch immer etwas gegen diese verdammte Selbstsucht tun, die noch immer der größte Wurm in der Geschichte der Menschheit ist.
Das Fest ist bereits im Gange. Die Menschen sind gut gelaunt und erfreuen sich am reichlich gedeckten, riesigen Tisch im Gemeindefestsaal. Die Büros sind natürlich alle abgesperrt, aber in den Gängen des gesamten Gemeindehauses tummeln sich Festgäste und unterhalten sich. Es sind viele Menschen gekommen, - mehr, als sich Tibor erhofft hat. Seine Nervosität steigert sich zusehends. So viele Menschen auf einen Haufen können auch Massenhysterie erzeugen, die sich in Panik auslösen wird. Tibor muß dann all seine Überzeugungskraft aufbringen, um diese Menschen so halbwegs zur Ruhe zu zwingen. Andauernd sieht Tibor auf die Uhr. Er muß sich einen guten Platz aussuchen, von wo er einen guten Überblick hat, um die Menschen von dort aus ansprechen zu können. Tibors Herz rast, und sein Puls ist hoch wie nie, als der Zeiger seiner Uhr den Zeitpunkt für die 20 Männer anzeigt. Durch den Lärm, den die Menschen bei ihrer Unterhaltung machen, wird das heftige Pochen am Tor anfangs überhört. Tibor steht oben an der Treppe, wo er den gesamten Gemeindesaal überblicken kann, als einer der Gäste das Tor öffnet, um den klopfenden Besucher herein zu lassen. Plötzlich ertönt ein Schrei, dann viele Schreie. Einige Frauen werden ohnmächtig. Männer laufen in Panik wild durcheinander und trampeln sich fast gegenseitig nieder. Tibor versucht seine Stimme zu erheben, - vergeblich. Das Geschrei im Gemeindesaal, - und nun auch in den gesamten Gängen des Gemeindehauses ist zu laut. Das Tor steht offen. Draußen stehen drei Männer mit furchtbaren Waffen, die beinahe wie Kanonenrohre aussehen. Die Menschen wissen, - nur ein Schuß, und mindestens vier von ihnen würde es buchstäblich zerreißen. Die Angst leuchtet jeden aus den Augen. Nur Tibor steht noch immer ruhig auf der obersten Stufe der Treppe. Einer der Gemeinderäte ringt sich zu ihm durch.
„Was geht da vor? Wer sind diese Männer? Was wollen sie von uns?“, fragt er Tibor schreiend, um den gewaltigen Lärm zu übertönen. Tibor zuckt nur mit seinen Achseln und versucht erschreckt auszusehen.
„Schließt das Tor! Schließt endlich das Tor!“, ruft ein Mann unten im Gemeindesaal.
„Ja! Schließt das Tor!“, ruft Tibor laut.
Einige Menschen drehen sich nach ihm um.
„Tu doch etwas! Du bist der Präsident! Auf dich werden diese Männer hören!“, rufen sie ihm zu.
Es wird etwas ruhiger in der Halle. Tibor bahnt sich einen Weg hinunter in den Saal. Langsam geht er zum Tor.
„Was wollt ihr?“, fragt er einen der bewaffneten Männer laut.
„Ihr werdet alle sterben. Wenn nur einer versucht, hier heraus zu kommen, werden wir ihn erschießen. Ihr seid eingesperrt in diesem Haus und werdet nicht mehr lebend heraus kommen.“
Die Leute im Saal haben jedes Wort verstanden. Wieder fallen einige in Ohnmacht, und entsetzte Schreie sind zu hören. Tibor schließt das Tor und bittet die Menschen mit lauter Stimme, Ruhe zu bewahren.
„Wir werden alle sterben! Wir werden alle sterben!“, kreischt eine ältere Frau und wirft sich Tibor an den Hals.
„Tu doch etwas! Hilf uns!“, schreit sie in Panik auf und sackt dann in Tibors Armen zusammen. Ihr Mann ist sofort zur Stelle und nimmt sie Tibor ab.
„Niemand wird sterben, hört ihr!“, ruft Tibor und versucht sich mit aller Mühe Gehör zu verschaffen. „Seid doch endlich ruhig und hört mir zu!“
Es dauert lange, bis sich die Menschen halbwegs beruhigt haben.
Tibor geht wieder die Treppen hoch und hebt seine Arme.
„Hört mir zu! Bitte!“, ruft er noch mal, bis er nur mehr vereinzelt das Wimmern und Stöhnen mancher Menschen hört, die ihre Angst nicht zurück halten können. „Es wird niemandem etwas geschehen, wenn ihr nur Ruhe bewahrt. Wir haben Nahrung genug. Das, was hier auf dem Tisch ist, reicht für uns alle mindestens eine Woche lang....“
„Sie werden herein kommen und uns erschießen!“, ruft ein Mann aus der Menge. „Hier im Gemeindehaus ist das Waffenarsenal! Wir werden uns auch Waffen holen!“
Lauter Beifall ertönt, und schon machen sich einige Menschen in Richtung Keller hinunter zum Arsenal auf. Diese Gefahr hat Tibor übersehen.
„Nein! Tut das nicht! Viele von euch werden sterben! Ihr könnt diese Männer da draußen nicht gefahrlos überwältigen! Es hat keinen Sinn mit Gewalt auf Gewalt zu reagieren!“
Die Menschen bleiben stehen und sehen zu Tibor hoch.
„Was sollen wir sonst tun? Warten, bis wir alle sterben?“, fragt einer von ihnen.
„Wir müssen zusammen halten. Wir werden überleben. Diese Männer da draußen sind nur wenige, - auch wenn sie Waffen haben. Aber wir sind viele. Wir können hier herinnen überleben, wenn wir das wirklich wollen.“
„Das ist doch Schwachsinn! Hier gibt es doch auch einen Hinterausgang! Kommt!“, ruft ein Mann und bahnt sich den Weg durch den Gemeindesaal, der zum Hinterausgang führt. Als er das kleinere Tor öffnet, stehen auch dort bewaffnete Männer.
„Das Gemeindehaus ist umzingelt!“, schreit ein junger Mann und schließt schnell das Tor.
Wieder breitet sich Panik aus. Tibor setzt sich auf die Treppe und wartet einige Stunden. Es ist bereits weit nach Mitternacht. Er ist nicht müde, aber einige der Menschen sind es. Durch diese Müdigkeit werden sie noch hysterischer. Tibor fürchtet, daß sein Plan mißlingt, denn noch immer versuchen einige Männer, die eiserne Tür zum Waffenarsenal zu knacken. Der Schlüssel zum Arsenal befindet sich im Büro des Präsidenten in einem Tresor. Die Menschen wissen das, und einige bestürmen Tibor deswegen, daß er beinahe über die Treppe gefallen wäre.
„Seid vernünftig und schläft erst einmal. Morgen sehen wir weiter“, versucht er die Menschen zu beruhigen.
Als er sieht, wie einige Nahrung vom Tisch nehmen, und sie habgierig unter ihren Kleidern verstecken, wird Tibor böse. Wild entschlossen springt er auf und eilt hinunter. Er packt einen dieser Menschen und sieht ihn mit funkelnden Augen an.
„Was soll das?!“, schreit er in höchster Wut. „Wozu machst du das? Meinst du, daß es besser für dich ist, wenn du länger Nahrung hast? Willst du dieser Angst, die du jetzt schon empfindest, länger ausgesetzt sein, als die anderen, die neben dir verhungern werden, weil du ihnen alles wegnimmst? Ist es das, was du willst?“
Der Mann sieht Tibor wie irr an.
„Sollen wir uns wirklich mit dem Tod abfinden?“, fragt er stockend.
„Natürlich sollt ihr das! Meint ihr wirklich, daß ihr ewig leben werdet? Eure Scheißangst ist doch wirklich jämmerlich“, wendet sich Tibor nun mit lauter, fast donnernder Stimme an alle Menschen im Gemeindehaus.
„Setzt euch doch hin und seht dem Tod aufrichtig in die Augen, wenn ihr alle schon so überzeugt davon seid, daß ihr hier nicht mehr lebend hinaus kommt. Ich bin genauso davon betroffen wir ihr. Habe ich Angst? Seht ihr, daß ich zittere und in Panik herum laufe? Wozu soll das alles gut sein? Meint ihr, daß ihr durch eure Angst und Habgier dem Tod entkommen könnt? Meint ihr wirklich, wenn ihr jetzt alle Lebensmittel unter euren Kleidern versteckt, daß ihr mehr Chancen habt? Im Gegenteil, Leute! Denn dann werdet ihr nicht nur von den Männern da draußen bedroht, sondern auch von denen, die nichts unter ihren Kleidern versteckt haben. Dann werdet ihr euch hier gegenseitig umbringen, und die da draußen werden lachen, weil ihr ihre Arbeit übernommen habt. Wollt ihr das? Aber ihr seid ja zu dumm, um zu erkennen, daß das die Absicht dieser Männer da draußen ist. Sie warten ja nur darauf, daß es so weit kommt. Dann sind sie frei von jeder Schuld und haben euch besiegt. Wenn ihr aber zusammen hält und Ruhe bewahrt, wird in euch eine Kraft frei, welche diese Männer da draußen nicht kennen. Versucht es zumindest. Es ist den Versuch wert, um euer jämmerliches Leben doch noch für einige Jahre zu verlängern. Oder wollt ihr Waffen, und euch mit den Männer da draußen gleich stellen? Wenn ihr sie tötet, seid ihr nicht besser als sie. Ihr werdet dann in einen Spiegel sehen, und euch in eurem Gegenüber selbst erkennen. Alle beide werdet ihr mit haßerfülltem Gesicht und einer Waffe in der Hand voreinander stehen. Und so etwas will sich Mensch nennen, - Mensch, der sich auf der Erde zum höchsten und intelligentesten Wesen selbst gekrönt hat. Seht ihr nicht, wie blind ihr seid?“
Bei einigen wenigen hilft Tibors Rede. Sie setzen sich auf den Boden und schließen ihre Augen. Andere sinnen noch immer auf Rache und hoffen auf einen Ausweg, - auf ewiges Leben......
Tibor setzt sich auch und atmet erschöpft durch. Sein Stellvertreter setzt sich neben ihn.
„Ich wußte gar nicht, daß du so reden kannst. Es scheint geholfen zu haben. Selbst bei mir hat deine Rede etwas bewirkt. Ja, es stimmt schon, - dem Tod kann keiner von uns entrinnen. Früher, oder später holt er uns sicher. Es ist nur schade, wenn er uns zu früh holt, weil wir so wenig erkannt haben. Es ist wirklich schade, daß wir Situationen wie diese brauchen, um das zu erkennen.“
Tibor sieht seinen Stellvertreter lächelnd an.
„Ja, leider ist das so, obwohl es auch einfacher ginge“, sagt er leise und seufzt wieder.
„Warum sagst du das, Tibor? Und warum hast du kein kleines bißchen Angst?“
„Ich weiß, daß ich nichts zu verlieren habe. Wovor sollte ich also Angst haben? Wenn mich einer dieser Männer erschießt, weiß ich, daß genau das der Zeitpunkt meines Todes sein muß. Hier gibt es kein wenn und aber, - es ist nun mal so. Ich habe dieses Fest arrangiert, - weiß der Himmel, was mich dazu getrieben hat. Ich habe mir das selbst eingebrockt. Natürlich konnte ich nicht wissen, daß plötzlich bewaffnete Männer das Gemeindehaus umstellen, - aber ich hätte damit rechnen können. Können, - sagte ich, was ich aber nicht getan
habe. Was immer du tust, löst irgend etwas aus. Und was es auslöst, damit mußt du fertig werden, ob es nun das Ende, oder einen neuen Anfang bedeutet. So lange du lebst, mußt du mit jeder Situation völlig aufrecht fertig werden. Das selbe betrifft diese Menschen hier im Gemeindehaus. Sie hätten nicht zum Fest kommen müssen, denn auch sie hätten damit rechnen können, daß bewaffnete Männer das Gemeindehaus umstellen.
Ja, ich weiß, das klingt alles irrsinnig, - aber trotzdem ist es so, wie du nun ja siehst.“
„Ich nehme dir das schon irgendwie ab, Tibor. Du bist weiter als wir alle, und ich denke, daß du wirklich keine Angst hättest, wenn diese Situation wirklich so wäre, wie sie dargestellt ist.“
Tibor sieht seinen Stellvertreter fast entsetzt an.
„Sag nichts, Tibor. Ich weiß, daß du ein ganz ausgefuchster Kerl bist. Glaub mir, ich habe selbst auch oft daran etwas gedacht, daß man Menschen einfach auf einen Haufen zusammen sperren sollte, um ihnen einmal ihre wahren Grenzen zu zeigen. Aber diese Courage hätte ich niemals aufgebracht. Meinst du wirklich, daß sie dadurch klüger werden?“
Tibor lächelt und senkt kurz seinen Blick.
„Ich hoffe es, Pergan, - ich hoffe es wirklich, um meine Pläne endlich durchführen zu können.“
„Und welche Pläne sind das, Tibor? Nein, laß mich raten. Ich glaube, ich kann mich noch gut an diese Rede erinnern, die du vor einigen Jahren in Rufus´ Büro gehalten hast. Du hast von der Natur gesprochen, - daß wir Menschen ein Teil der Natur sind und auch danach leben sollten. Ich war von dieser Rede sehr beeindruckt, Tibor. Sie war es eigentlich, die mich auf diesen Gedanken brachte, daß man Menschen erst in Todesangst auf ihre wahren Plätze im Leben hinweisen kann. Sie fühlen sich als Herrscher der Erde, obwohl sie das niemals waren und niemals sein können. Wir sind eine Einheit, Tibor, - eine gewaltige, einzige Einheit, aber wir wollen das nicht wahr haben. Nun, vielleicht bringen wir diese Menschen hier dazu, um das endlich zu erkennen. Es wäre schon ein großer Sieg. Den Rest der Menschheit können wir auch noch dort hin bringen, wenn wir es schaffen, das Ballungszentrum einem Termitenbau gleich zu machen, - wie du es damals gesagt hast.“
Langsam wird es ruhig im Gemeindehaus. Von den bewaffneten Männern draußen hört man nichts. Tibor schläft nicht. Er beobachtet die Menschen. Manche schlafen am Boden, andere wandern nervös umher, - und einige wenige sammeln noch immer Nahrungsmittel unter ihren Kleidern. Tibor sagt nichts mehr dazu. Er schüttelte nur seufzend seinen Kopf.
Am nächsten Tag beginnt die Panik von neuem, als ein Mann das Tor öffnet und einem gewaltigen Kanonenrohr in die Mündung blickt.
„Keinen Schritt weiter!“, schreit der bewaffnete Mann. „Macht das Tor zu, dann wird euch nichts geschehen!“
„Was wollt ihr von uns?“, fragt eine Frau aus der Mitte heraus.
„Das werden wir euch schon rechtzeitig sagen. Los jetzt! Schließt das Tor!“
Tibor erhebt sich und blickt kurz auf die Straße hinaus, bevor das Tor wieder geschlossen wird. Die Männer haben vor dem Gemeindehaus eine Absperrung errichtet, die ebenso bewacht wird, wie das Gemeindehaus. Hinter der Absperrung stehen viele Menschen, - wahrscheinlich Angehörige der Festgäste, die sich Sorgen um sie machen. Viele von ihnen ließen ihre Kinder zu Hause, die nun unbeaufsichtigt sind. Es sind die Nachbarn, die sich nun um diese Kinder kümmern und sie trösten. Auch ältere Menschen trösten sich gegenseitig.
Fast wäre es draußen zu einem Schußwechsel gekommen, was Tibor nicht mitbekam. Einer der Bürger, - ein nicht ganz unbescholtener, - hatte ein Waffe und wollte damit auf einen der Männer losgehen. Zum Glück waren schnell andere Bürger zur Stelle und entrissen dem Verbrecher die Waffe.
Im Gemeindehaus ging es natürlich so weiter, wie am Vorabend. Panik, verzweifelte Menschen, Hysterie und Tränen. Es würde länger dauern, bis die Menschen verstehen, in welcher Situation sie wirklich sind, - und daß sich am Leben eigentlich überhaupt nichts geändert hat. Es sind immer die selben Situationen. Dem Tod blickt man ständig in die Augen, - auch wenn man es nicht wahr haben will. Bereits bei der Geburt setzt er sich auf unsere Schultern und wartet auf den Moment, bis er uns voll und ganz erfassen kann. Wir sehen ihn erst, wenn wir einer Gefahr ausgesetzt sind, die unser Leben bedroht, obwohl er ständig bei uns ist. Wir fürchten etwas, was zu unserem täglichen Leben gehört. Irrsinnig, - nicht? Genau diese Gedanken gingen den Menschen im Gemeindehaus durch den Kopf. Langsam wurden sie ruhiger und fanden sich mit den Gedanken ab, bald sterben zu müssen. Keiner sagte mehr etwas von Waffen holen, oder suchte einen Fluchtweg nach draußen. Sie ergaben sich ihrem Schicksal, aus dem es kein Entkommen zu geben schien.
Tibor und Pergan sind bis jetzt die einzigen, die wissen worum es eigentlich geht. Sie schweigen. Nicht einmal die anderen Gemeinderäte erfahren von den beiden etwas, obwohl auch einige von ihnen ahnen, daß dies hier nur ein ausgefuchster Plan ihres klugen Präsidenten ist, der eigentlich ganz schön ins Augen hätte gehen können.
Nach vier Tagen beginnt ein neuer Kampf. Es ist der Kampf, den Tibor schon angesprochen hatte, - der Kampf um Nahrungsmittel. Einige der Menschen schlagen sich bereits am Tisch, um das größte und beste Stück zu bekommen. Sie kämpfen nicht für ihre Familie, sondern nur für sich selbst. Sogar ein Ehepaar streitet und schlägt sich um ein Stück Fleisch. Tibor mischt sich nicht mehr ein. Nur wenn es gar zu arg ist, gehen einige von den Gemeinderäten dazwischen und retten damit wahrscheinlich sogar ein Menschenleben.
Tibor gibt die Hoffnung fast auf. Man sieht es ihm an, wie verzweifelt er zu den Menschen hinunter blickt.
Pergan ist noch immer an seiner Seite und tröstet ihn.
„Es braucht Zeit, Tibor. Wahrscheinlich so lange, bis der Tisch leer ist. Erst dann sehen sie wirklich den Tod vor Augen und wissen, daß sie nichts mehr zu verlieren haben. Dann werden sie auch erkennen, daß es sinnlos ist, noch vor dem eigenen Tod einen anderen Menschen zu erschlagen.
Wie ist das mit dir, Tibor? Du hast in diesen Tagen kaum etwas gegessen. Ich habe dich nur einmal ein Stück Brot essen sehen. Hältst du das aus?“
„Ja, Pergan. Es war die lange Reise ins Ballungszentrum, die mich das gelehrt hat. Der Mensch braucht nicht so viel, wie er meint. Es ist alles Gewöhnungssache. Auch der Schlaf ist Gewöhnungssache. Weißt du, die wahre Kraft in uns kommt nicht bloß von der Nahrung, die wir zu uns nehmen, - oder vom Schlaf. Diese wahre Kraft kommt erst hervor, wenn wir bis zu den Grenzen gehen. Erst dann erkennen wir, was uns alles möglich ist. Sieh dir diese Menschen doch an. Sie sind nicht fett, aber auch nicht mager. Sie leben in Überfluß, obwohl sie denken, noch immer zu wenig zu haben. Sieh mich an. Du sagst immer, ich bestehe nur aus Haut und Knochen. Ich habe immer so ausgesehen, Pergan. Mit diesem mageren Körper wanderte ich viele, viele Kilometer und aß nur einmal am Tag. Der Mensch gewöhnt sich an alles. Ich bin auch nur ein Mensch.“
„Manchmal bezweifle ich das, Tibor“, sagt Pergan lachend.
Tibor lächelt und denkt an seine Träume, wo er sich überhaupt nicht wie ein Mensch fühlt. Er denkt nun auch an seinen letzten Traum, den er kurz vor diesem Fest hatte. Damals flog er in seinem Traum wie ein Vogel. Es war ein überwältigendes Gefühl, durch das Universum zu schweben, wo es kein Oben und Unten gibt. Der Raum ist unendlich, - und genauso fühlt man sich, wenn man in dieser Weite wie ein Vogel schwebt. Unendlich, - unsterblich. Es ist nur der Körper, den man verläßt, - das Herz wird ewig leben. Immer wieder hat Tibor dieses Gefühl, wenn er von so einen Traum erwacht. Dieses Wesen, das er im Traum ist, scheint seine Zukunft zu sein. Sein Herz sucht jetzt schon den Körper dieses Wesens auf, um sich langsam daran zu gewöhnen. Tibor lächelt wieder bei diesen Gedanken und wischt ihn beiseite. Es ist ja doch nur ein Traum, - eine Spinnerei, die zum Wahnsinn führen kann, wenn man sie zu ernst nimmt.
„Woran denkst du?“, fragt Pergan.
„Träumst du oft, wenn du schläfst?“, stellt Tibor eine Gegenfrage.
„Sehr oft sogar. Aber meist wirres Zeug, das ich, wenn ich aufwache, nicht mehr verstehe. Wenn ich träume, scheint mir, verstehe ich das auch, was ich träume, - aber sobald ich aufwache, kommt mir alles ziemlich verrückt vor.“
„Was mögen Träume bedeuten, Pergan? Kann es sein, daß sie uns in eine andere Ebene bringen, - in eine Ebene, in der wir vielleicht unser nächsten Leben leben?“
„Das könnte möglich sein. Menschen haben sich schon immer für ihre Träume interessiert. Damals behandelte man kranke Menschen sogar mit ihren Träumen. Psychiater nannte man diese Ärzte, welche Menschen, mit wirren Gedanken, wieder gesund machten. Ja, es könnte gut möglich sein, daß wir in unseren Träumen ein höheres Bewußtsein haben, da wir, wenn wir wieder wach sind, kaum etwas von diesen Träumen verstehen. Nun, und ich denke, daß wir in unserem nächsten Leben, falls es so etwas wirklich gibt, wohl ein höheres Bewußtsein haben werden.“
„Ich glaube, der Mensch hätte die Kraft, sich schon jetzt ein höheres Bewußtsein anzueignen.“
„Wenn er bis an seine Grenzen geht, könnte er es schaffen, Tibor.“
Die beiden sprechen jetzt absichtlich lauter, da sich um ihnen interessierte Menschen setzen und dem Gespräch aufmerksam zuhören.
„Aber wo sind diese Grenzen, Pergan? Wie weit muß der Mensch gehen, um sie zu erkennen?“

„Wahrscheinlich muß er dem Tod in die Augen sehen, um diese kostbare Kraft zu entdecken, - oder sich schon immer bewußt sein, daß er von Geburt an dem Tod geweiht ist. Natürlich weiß der Mensch, daß er einmal sterben muß, - aber so richtig bewußt ist er sich dessen nicht. Er sieht den Tod nur bei anderen, niemals bei sich selbst. Aber ich glaube, diese Angst vor dem Tod ist uns angeboren. Wir sind ja verpflichtet, unser Leben zu schützen, - unsere Art nicht aussterben zu lassen. Diese angeborene Todesangst ist eigentlich nichts anderes als ein Trieb, - genau der selbe Trieb, der uns zur Fortpflanzung drängt.“
„Glaub mir, auch diesen Trieb kann man bekämpfen, Pergan. Ich schäme mich nicht jetzt vor allen Menschen hier zu sagen, daß ich noch nie eine Frau hatte. Ich will auch keine Frau, - natürlich auch keinen Mann. Nein, ich bin nicht einer von dieser Art. Es reizt mich eben nicht mehr, Geschlechtsverkehr zu haben. Anfangs war es nicht leicht für mich, diesen Trieb zu bekämpfen. Einmal, bei meiner Reise, kam mir eine junge Frau entgegen. Ich kann nicht sagen, daß sie mir gefallen hat, - es war eben nur dieser Trieb, der mich ihr sagen ließ, daß ich sie lieben möchte. Ja, ich sagte ihr, daß ich sie jetzt und hier auf der Stelle lieben möchte. Und sie willigte ein. Was dabei heraus kam, war kein Geschlechtsverkehr. Ich konnte nicht, obwohl ich bereit war und es wie nichts auf der Welt wollte. Es half mir, diesen Trieb zu bekämpfen. Jetzt wißt ihr auch, warum ich noch immer nicht verheiratet bin. Nein, ich schäme mich wirklich nicht, euch zu sagen, daß ich noch nie eine Frau hatte und auch nie eine haben werde.“
Es wird ruhiger im Gemeindehaus. Nicht nur die Menschen im nahen Umkreis von Tibor und Pergan hörten diese Worte ihres Präsidenten. Sie liebten Tibor schon immer, aber jetzt wächst ihre Liebe zu diesem außergewöhnlichen Mann noch mehr, der sie mit seiner Offenheit fast beschämt. Langsam kommen viele näher und drängen sich um Tibor, um mit ihm zu reden. Sie möchten ihm auch von ihren tiefsten Regungen erzählen, die sie bis jetzt sogar vor ihren nächsten Familienangehörigen verborgen hatten. Während dieser Gespräche werden die bewaffneten Männer vor dem Gemeindehaus fast vergessen. Viele Menschen fühlen plötzlich, daß sie sich gar nicht so sehr voneinander unterscheiden. Ihre Träume, ihre Ängste und Wünschen ähneln sich zu sehr. Und während sie sprechen, teilen sie auch die Nahrung untereinander auf, welche manche unter ihren Kleidern versteckt hatten. Durch diese Gespräche, wobei niemand unterbrochen wird, -wobei man dem jeweiligen Redner, oder der jeweiligen Rednerin aufmerksam zuhört, um erst dann zu sprechen, wenn er, oder sie ausgeredet hat, entsteht plötzlich Wärme im Gemeindehaus. Nein, es wird nicht nach außen hin warm, denn das Klima läßt keine außergewöhnliche Kälte mehr zu, - es wird in den Herzen dieser Menschen warm.
Sie verstehen nicht mehr, daß sie sich noch vor kurzem halb tot geprügelt und sich gegenseitig die Nahrung gestohlen haben. Nur mehr wenige hocken noch immer weinend und zitternd in einer Ecke am Boden. Aber auch um sie kümmert man sich nun, streichelt ihnen beruhigend über den Kopf und sagt ihnen, daß eigentlich gar nichts passieren kann, weil sie von nun an immer zusammen halten werden.
„Sie müssen uns schon alle töten, wenn sie uns besiegen wollen. Wenn, dann gehen wir alle zusammen lebend hier hinaus, oder gar nicht“, sagt ein Mann, und Tibor nickt zufrieden.
Noch traut er dem Frieden nicht so recht. Die Menschen sind wankelmütig, und womöglich würden sie Tibors „Attentat“ jetzt noch nicht verstehen. Immerhin hat er vor, die Menschen, bevor sie alle zusammen das Gemeindehaus verlassen, aufzuklären.
Die Belagerung dauerte noch zwei Tage. In dieser Zeit entstanden viele neue Freundschaften, - wo früher Neid und Verleumdung herrschte.
„Ich glaube, wir können sie jetzt aufklären. Es sind andere Menschen geworden, Tibor. In diesen wenigen Tagen hat sich viel verändert. Es war nicht einfach, - aber ich glaube, dein Plan hat wirklich funktioniert.“
„Ich habe Angst, Pergan, - nein, nicht um mich, - um diese Menschen. Ich habe Angst, daß sie mir das alles übel nehmen und dann doch wieder so werden, wie sie waren, als sie das Gemeindehaus betreten haben.“
„Laß es mich einmal versuchen, Tibor“, sagt Pergan und erhebt sich von der Stufe.
Er hebt seine Hände und gibt so zu erkennen, daß er den Menschen etwas sagen will. Es wird sofort still im Gemeindehaus. Die Menschen in den Gängen drängen sich nach vor, um auch zuzuhören.
„Habt ihr noch immer Angst?“, fragt er laut.
Stimmengewirr setzt ein. Es ist kaum etwas zu verstehen, bis man dann doch ein klares „Nein“ vernehmen kann.
„Gut! Wie fühlt ihr euch jetzt? Fühlt ihr euch nicht stärker? Fühlt ihr euch nicht wie eine gewaltige, kraftstrotzende Einheit, gegen die einzelne Menschen nichts unternehmen können?“
„Wir fühlen uns wie neugeboren!“, ruft ein Mann aus der Mitte des Saales.
„Gut!“, sagt Pergan abermals. „Seid ihr nicht dankbar, daß ihr diese Tage erlebt habt?“
Wieder Stimmengewirr. Die Menschen scheinen nicht zu verstehen, auf was Pergan hinaus will.
„Ihr habt in diesen Tagen viel gelernt“, spricht Pergan mit kräftiger, lauter Stimme weiter. „Ihr habt wahrscheinlich zum ersten Mal erlebt, was Gemeinschaft wirklich ist, und das nur durch die Angst, welche die Männer da draußen in euch ausgelöst haben. Ihr teilt plötzlich das letzte, kleine Stückchen Brot untereinander auf, was ihr vor wenigen Tagen sicher nicht getan hättet. Ich habe sogar einen von euch sagen hören, daß wir dieses Haus alle zusammen lebend verlassen. Wenn nur einer durch die Hand dieser Männer da draußen sterben würde, würden wir alle sterben. Das war ein guter Gedanke, - das waren wirklich schöne Worte. Aber, - waren das nur Worte? Ist es auch so? Haben wir jetzt den Mut, uns alle an den Händen zu nehmen, das Tor zu öffnen und einfach hinaus zu gehen? Haben wir das?“
Ein lautes, einstimmiges „Ja“ ertönt. Schon fassen die Menschen aneinander an den Händen und blicken in Richtung Tor. In diesem Moment springt Tibor auf.
„Wartet! Ich habe euch etwas zu sagen!“, ruft er und spürt sein Herz bis zum Hals klopfen.
„Ich muß euch etwas sagen“, spricht er etwas leiser weiter und senkt seinen Kopf. „Ich habe euch betrogen. Ich habe euch das alles, was ihr in diesen Tagen erleben mußtet, nur vorgespielt. Die Männer da draußen hätten euch nichts getan. Ich war es, der ihnen befohlen hat, euch zu bedrohen. Der Grund dafür ist jetzt nicht mehr wichtig. Wenn mein Plan funktioniert hat, müßtet ihr den Grund nun selbst erkennen.“
Tibor hebt seinen Kopf und blickt auf die erstaunte Menge, die noch immer gebannt schweigt.
„Ich werde nicht mehr länger euer Präsident sein. Als Strafe könnt ihr mich nun erschlagen, - oder verbannen, - was immer ihr wollt. Ich könnte verstehen, daß ihr das am liebsten tun würdet.
Nun, das ist eigentlich alles, was ich euch sagen wollte. Ihr müßt euch nicht an den Händen nehmen, um diesen Männern zu zeigen, daß ihr zusammen hält und nicht einer den anderen vor sich herschiebt, um sich selbst zu schützen. Wie gesagt, - die Männer werden euch nichts tun. Sie hätten euch nie etwas getan, - da sie von mir nur den Befehl erhalten haben, euch zu erschrecken, und wenn es nötig gewesen wäre, einen Warnschuß abgegeben hätten. Nun geht, und tut, was ihr tun müßt.“
Die Reaktion der Menschen ist ganz anders, als Tibor es erwartet hatte. Natürlich hoffte er insgeheim, daß sie verstehen, - daß sie ihm womöglich sogar dankbar sind, daß er sie zu dieser außergewöhnlichen Nächstenliebe verholfen hat, - aber viel mehr glaubte er daran, daß sie ihn nun verdammen, oder sogar erschlagen.
Es ist ruhig im Gemeindehaus, - nicht das geringste Stimmengemurmel setzt ein. Die Menschen sehen Tibor nur an. Einige lächeln sogar, - andere weinen - über sich selbst.
Tibor hält diese Ruhe nicht mehr aus. Entschlossenen Schrittes geht er die Treppen hinunter zum Tor. Er öffnet es und winkt die drei Männer zu sich, welche noch immer brav Wache schieben und die Meute auf der Straße in Schach halten konnten.
„Es ist vorbei. Ich danke euch“, sagt Tibor leise und geht ganz langsam weiter.
Pergan nimmt den Männern die Waffen ab und gibt sie den anderen Gemeinderäten, die sie wieder sicher im Arsenal verstauen. Die Menschen strömen nun jubelnd aus dem Gemeindehaus und mischen sich unter das Volk, das heraußen gewartet hat. Sie erzählen von Tibors „Attentat“, und daß er es nur deshalb getan hat, weil er ihnen helfen will, ein besseres, - und vor allem ein ehrlicheres Leben zu führen. Sie erzählen auch von den Gesprächen, die sie untereinander geführt haben, und daß sie nun bald ein neues Ballungszentrum machen werden, - ohne Fabriken, - ohne Geschäfte. Auf dem Weg nach Hause erfahren die Menschen, welche vor dem Gemeindehaus und auf den Straßen gebannt gewartet haben, daß sich bald ein neuer Umschwung anbahnen wird. Manche sind zufrieden, einige wenige lehnen sich entrüstet dagegen auf. Natürlich, Gegner wird es immer geben, - aber in einer Gemeinschaft, die wirklich fest zusammen hält, werden auch diese wenigen Menschen wenig Chancen haben. Dann müssen sie eben alleine leben, - wie jetzt manche Menschen, die sich ihre Heimat nicht im Ballungszentrum errichtet haben.
Von Tibor sieht man nichts mehr. Pergan sucht ihn überall. Er ist auch nicht zu Hause bei Magda, die sich ebenso große Sorgen um ihren „Sohn“ macht. Auch die Männer, welche bewaffnet vor dem Gemeindehaus gestanden sind, machen sich auf die Suche nach Tibor. Sie vermuten ihn draußen bei den Bohrtürmen, die bald abgerissen werden. Aber auch dort ist Tibor nicht zu finden.
Am nächsten Tag macht sich bald das gesamte Ballungszentrum auf die Suche nach ihren geliebten Präsidenten. Es scheint vergebens zu sein. Tibor ist nirgendwo zu finden. Viele Menschen verlassen das Ballungszentrum und wandern weiter weg, in der Hoffnung, Tibor zu begegnen. Darunter ist auch Pergan, der inzwischen sein Amt einem jüngeren Gemeinderat überlassen hat. Dieser bekam den Auftrag, alle Fabriken zu stoppen, die Bohrtürme abbauen zu lassen und sogleich alle Nahrung gerecht zu verteilen, - ohne Wertpapiere.
Tibor hatte sich wirklich vom Ballungszentrum weggestohlen. Es war nicht aus Angst. Er wußte, daß die Menschen richtig gelernt haben, - so wie er es wollte. Tibor ging, weil er seine Arbeit geschafft hatte. Nun gibt es nichts mehr zu regieren, weil niemand regieren sollte. Bei einem guten Uhrwerk übernimmt kein Teil die Führung, denn jedes einzelne Teil muß genauso arbeiten, wie alle anderen Teile.
Tibor atmet tief durch, als er den Weg geht, auf dem er vor einigen Jahren gekommen war. Er ist glücklich, trotzdem kullern Tränen über seine Wangen. Er weiß plötzlich nicht mehr, wohin er wirklich gehört. Tibor denkt an seine Augen, ob sie noch immer die Wildheit der Natur ausstrahlen, oder bereits von der Zivilisation stumpf geworden waren. Er selbst sah keinen Unterschied, wenn er am Morgen, oder am Abend während der Toilette in den Spiegel blickte. Es war eigentlich keine so lange Zeit, in der er wirklich viel gelernt und kennen gelernt hatte. Viel länger kam ihm die Zeit vor, als er damals wanderte und sich seinem Ziel entgegen sehnte. Jetzt hat er es geschafft. Jetzt gibt es für ihn nichts mehr zu tun. Kein Traum mehr, - keine Sehnsucht. Tibor fühlt sich leer und einsam. Sicher denkt er an Magda, die er so einfach verlassen hatte, - sich nicht einmal für all die Jahre bedankt hatte. Abschiede konnte Tibor nie leiden. Er faßt an seine Schulter, wo wieder der alte Leinenbeutel hängt. Jetzt weiß er, wofür er das alte Stück aufgehoben hat.
Tibor konnte sich unbemerkt ins Haus schleichen, da die Menschen viel mehr mit Reden und Staunen beschäftigt waren. Magda war anscheinend auch auf der Straße. Er konnte sie im Haus nicht sehen, als er in sein Zimmer ging, den Leinenbeutel aus dem Schrank nahm, eine Flasche mit Wasser füllte und sie zusammen mit einem Laib Brot in den Beutel steckte. Dann wagte er sich wieder auf die überfüllte Straße. Man beachtete Tibor wieder nicht, und das war ihm nur recht. Er war auch recht unauffällig gekleidet, - wie immer in seiner Freizeit, - mit hellblauen Hosen, einem einfachen, beigefarbenen Leinenhemd, einer dunkelbraunen Jacke und seinen legeren, braunen Lieblingsschuhen. So bahnte er sich durch die Menschenmenge den Weg aus dem Ballungszentrum hinaus. Tibors Schritte wurden immer schneller, - am Ende lief er sogar, - blickte sich niemals um, - nicht einmal den Bohrtürmen schenkte er Aufmerksamkeit, als er an ihnen vorbei rannte. Nur weg von hier, - wieder in die Wildnis hinaus, wo ich geboren wurde, - dachte sich Tibor.
Jetzt hat er das Ballungszentrum schon weit hinter sich gelassen. Zum ersten Mal dreht er sich um. Er kann es nicht einmal mehr sehen. Rund um nur Erde, - braune, kostbare Erde, die bald wieder Früchte tragen wird, da die Menschen im Ballungszentrum das wahre Leben endlich erkannt haben. Rechts von Tibor türmt sich Gebirge auf. Dort sind Höhlen, wo er übernachten könnte. Er braucht ja nicht viel Schlaf. Tibor weint wieder. Er weint der Vergangenheit nach. Es ist echte Scheiße, wenn man für etwas so lange kämpft, - wenn man es so sehr herbei sehnt, - und wenn man es dann hat, ist man plötzlich leer. Keine Aufgabe mehr, - kein Wunsch mehr. Da wäre tot sein viel besser.
Langsam schlägt Tibor den Weg zum Gebirge ein. Er sieht nicht, daß am weiten Horizont Menschen näher kommen, - an ihrer Spitze Pergan. Sie sehen Tibors Fußspuren und folgen ihnen zielstrebig. Manchmal glaubt Pergan sogar, Tibor zu erkennen. Die Menschen sehen, daß sich da weit vorne ein Punkt auf das Gebirge zubewegt. Das kann nur Tibor sein.
Stunden später gehen auch sie zum Gebirge. Die Spuren sind am Gestein nicht mehr zu erkennen. Die Menschen teilen sich auf und suchen nach Höhlen. Pergan weiß von Tibors Erzählung, daß er damals meistens in Höhlen gerastet hat. Pergan ist es auch, der Tibor findet. Er liegt in einer Höhle und schläft. Pergan und zwei andere Männer setzen sich zu Tibor. Der vierte Mann dieser Truppe meldet den anderen, daß sie Tibor gefunden haben. Nun warten sie, bis ihr Präsident munter wird. Sie freuen sich auf diesen Moment.
Tibor glaubt zu träumen, als er die Menschen um sich sieht.
„Was ist los? Was wollt ihr von mir?“, fragt er schlaftrunken.
Die Menschen lachen, und Pergan wiederholt spöttisch Tibors Worte.
„Was wollt ihr von mir? Na, was wohl? Daß du zurück kommst, du Narr! Wir brauchen einen Präsidenten!“, schreit Pergan fast unbeherrscht. „Wir haben uns Sorgen um dich gemacht!“
„Ihr braucht keinen Präsidenten mehr. Ihr habt nun erkannt, worauf es ankommt. Ich kann euch nichts mehr sagen. Ihr seid nun eine Gemeinschaft. Ihr seid wie ein Uhrwerk. In einem gut funktionierendem Uhrwerk gibt es keinen Anführer, - keinen Präsidenten“, sagt Tibor ruhig.
„Das wissen wir, Tibor. Aber wenn bei einem, wie du sagst, gut funktionierendem Uhrwerk plötzlich ein sehr wichtiges Teil fehlt, ist es kein gut funktionierendes Uhrwerk mehr. Meinst du nicht, daß du zu uns gehörst? Glaubst du wirklich, daß wir es zulassen, daß du als einsamer Wanderer irgendwann auf einem Weg stirbst? Nein, Tibor! Das lassen wir nicht zu. Wenn du schon bald sterben willst, - dann in deinem Bett, wo wir alle um dich stehen werden. Du gehörst zu uns, Tibor, - glaub mir das“, sagt Pergan und ist den Tränen nahe.
Auch Tibor kämpft gegen die Tränen an und wirft sich augenblicklich in Pergans Arme.
„Ja, wir gehören zusammen, - wir alle sind ein Teil“, sagt Tibor dann und streckt den Menschen seine Hände entgegen, die sofort zupacken.
Zusammen gehen sie den Weg zurück. Vor dem Ballungszentrum stehen die Menschen auf den Straßen und jubeln Tibor zu. Jetzt weiß er, wohin er gehört.
Magda steht ganz vorne. Erst jetzt sieht Tibor, daß sie bereits eine alte, gebückte Frau geworden ist. Der Tod ihres geliebten Mannes hatte natürlich auch sehr viel an ihrer schnellen Alterung beigetragen. Aber als Tibor sie innig umarmt, wird sie wieder aufrecht und sieht ihrem „Sohn“ stolz in die Augen.
Tibor wird vom Volk wie ein König empfangen. Einige knien sich sogar vor ihm nieder und küssen seine Hände, die er ihnen reicht. In diesem Moment erinnert sich Tibor wieder an seinen Traum, den er in der letzten Nacht in seiner Höhle vor der langen Reise geträumt hat. Ja, er ist der Herrscher der Menschheit, - aber er wird ein anderer Herrscher sein, einer, den diese Welt bis jetzt noch nie gesehen hat. Dieser Herrscher wird bald unter den Menschen leben und ihnen nichts mehr befehlen müssen. Tibor hat ja noch immer eine Aufgabe. Jetzt muß er den Menschen nur mehr begreiflich machen, daß nur sie alleine sich selbst für ihre Taten verantwortlich machen können. Jeder ist seines Lebens und seines Schicksals eigener Schmied. Man kennt dieses Sprichwort, - aber nun wird man auch bald danach leben.
Magda und Tibor gehen zusammen ins Haus. Pergan, der nicht nur Tibors Stellvertreter ist, sondern viel mehr sein bester Freund, folgt ihnen. Nun sitzen sie im Wohnzimmer am gedeckten Tisch und essen und trinken.
„Was hast du dir dabei gedacht, einfach anzuhauen?“, fragt Pergan und lächelt verschmitzt, wie ein kleiner Junge. Pergan ist vier Jahre älter als Tibor. Er sieht aber jünger aus. Immerhin setzte er sich nicht jahrelang der Sonne aus und hatte auch keine so beschwerliche Reise hinter sich. Tibors Hautfarbe wurde in diesen Jahren im Ballungszentrum zwar wieder heller, jedoch die Spuren der Sonne blieben. Sein Haar ist noch immer weißblond und so kurz geschoren, wie es ihm Magda das erste Mal geschnitten hat. Sie schneidet ihm das Haar immer noch, wenn es etwas länger als zwei Zentimeter ist. Tibor liebt das kurze Haar. Vom Typ her unterscheiden sich die beiden Freunde, Tibor und Pergan, sehr. Man kann sagen, daß Pergan ein sehr hübscher junger Mann ist, - sogar mit dunklem, etwas längeren Haar, das er meistens streng zu einem Zopf gebunden trägt, und großen, dunkelblauen Augen. Pergan ist um einen Kopf größer als Tibor und hat einen Körper wie ein Sportler. Pergan nahm auch beim letzten Wettrennen teil und wurde sogar zweiter. Er freute sich über den Preis, einer neuen Wohnungseinrichtung, die er wirklich brauchte, da er damals vor kurzem geheiratet hatte und sich mit seiner Frau ein neues Haus kaufte. Gegen Pergan sieht Tibor unscheinbar aus. Das einzige, was bei Tibor auffallend ist, ist seine etwas dunklere Hautfarbe, - bedingt durch die Sonne, da er als Kind genauso blaß war, wie alle Menschen zu dieser Zeit, - und seine Augen. Es ist nicht die besonders helle Iris, wodurch seine Pupillen besonders hervor stechen, - sondern der Ausdruck der Augen, die ja doch noch immer die enge Naturverbundenheit und die Wildnis der Natur erkennen lassen. Tibor ist nicht schön, aber auch nicht häßlich. Es sind nicht seine Äußerlichkeiten, mit denen er die Menschen im Ballungszentrum bezaubert, - es ist seine Ausstrahlung, - sein Charme und vor allem seine Überzeugungskraft.
„Hast du nicht gehört, Tibor?“, fragt Pergan noch mal, als Tibor gedankenverloren ein Stück Brot mit Butter bestreicht. Erst jetzt sieht Tibor auf.
„Verzeih. Ja, ich habe dich gehört. Ich kann dir keine Antwort darauf geben. Es war einfach zu viel mich. Ich hatte wirklich Angst um die Menschen. Ich hielt es nicht mehr aus und mußte wohl für einige Momente alleine sein. Vielleicht wäre ich ja auch von selbst wieder zurück gekommen, - aber so ist es schöner. So weiß ich wenigstens, daß man mich hier will.“
„Man will dich wirklich hier, Tibor, - und man braucht dich auch. Du hast von einem Uhrwerk gesprochen, - von den Teilen, wo jedes für sich arbeiten muß, daß das gesamte Uhrwerk auch funktioniert. Aber hast du dabei nicht daran gedacht, daß dieses Uhrwerk auch einen Antrieb braucht, wie etwa eine Hand, die es aufzieht, oder eine Batterie?“
Tibor sieht seinen Freund an und lächelt.
„Und du meinst, ich bin diese Hand, oder diese Batterie?“
„Ja, Tibor. Du verstehst sehr viel von der Natur. Natürlich haben wir hier auch Gärtner und Bauern, aber du verstehst viel mehr davon, als sie. Außerdem wird es etwas länger dauern, bis der Boden wieder rein ist und wir ihn bebauen können. Was werden wir inzwischen tun? Die Menschen müssen essen.“
„Du hast veranlaßt, daß die Geschäfte geschlossen und die Wertpapiere vernichtet werden, nicht wahr?“, fragt Tibor.
„Das habe ich, weil ich dachte, es sei dein Wunsch“, sagt Pergan.
„Das ist es auch. Es ist genug zum Essen da, Pergan. Wir werden das schon schaffen.“
In den nächsten Tagen begannen die Abbauarbeiten. Man mußte niemanden für diese Arbeiten bestimmen. Es geschah fast alles wie von selbst. Auch Tibor half kräftig mit und war der erste, der auf einem Bohrturm kletterte und den obersten Teil herunter schraubte. Essen und Trinken war genug da, da man es gerecht aufteilte. Es war auch logisch, denn wenn es zu kaufen gewesen ist, muß es auch zum verschenken da sein. Es war nicht direkt ein Geschenk, denn die Menschen taten auch etwas dafür, und zwar von selbst.
Nach zwei Jahren hatte sich das Ballungszentrum sehr verändert. Es gab keine Fabriken mehr, keine Bohrtürme und keinen elektrischen Strom mehr. Die Menschen lebten jetzt nicht viel anders, als die Menschen, bei denen Tibor aufgewachsen war. Es gab nun sogar mehr Arbeit, da alles mit der Hand gemacht wurde, - wie Wäsche waschen, Feuer machen, auf dem gekocht wurde, - und so weiter. Die Häuser und ihren Einrichtungen wurden einfacher, aber blieben trotzdem sauber. Es wurden große Plätze mit Wiesen und Bäumen errichtet, welche das Ballungszentrum freundlicher aussehen ließen. Kinder konnten dort spielen, - alte Menschen ruhten sich auf den Stein- oder Holzbänken aus, die jeweils unter Laub- ,oder Obstbäume aufgestellt wurden. Es gab fast vor jedem Haus eine große Fläche Ackerboden, wo man Gemüse und Obst anbaute. Verkauft wurde nichts mehr. Es wurde getauscht, denn die Menschen erkannten ihre Fähigkeiten, für welche Arbeit sie am besten geeignet waren. Das Ballungszentrum wurde auch nicht kleiner, sondern größer, denn viele Menschen kamen zurück, da sie nun hier die selben Bedingungen wie in der Wildnis hatten. Einige bauten sich Häuser aus Lehm, oder aus Steinen, - manche begnügten sich mit einfachen Leinenzelten. Gesetze und Strafen gab es noch immer, da manche wenige Menschen ihre Habgier noch immer nicht zügeln konnten. Tibor, der noch immer Präsident war, griff hart durch, obwohl seine Gesetze und Strafen anfangs von vielen Menschen nicht verstanden wurden. Es gab keinen Kerker mehr. Tibors Strafen sahen ganz anders aus. Wenn jemand etwas gestohlen hatte, mußte er so lange bei der Familie arbeiten, der er etwas entwendet hatte, bis der Wert dieses Diebesguts abgearbeitet war. Diese Strafe war noch verständlicher, denn der Haß auf den Dieb war nicht so groß, wie auf einen Mörder. Es kam noch immer vor, daß sich Menschen gegenseitig umbrachten. Einmal wurde ein junges Mädchen getötet. Der Mörder wollte es vergewaltigen. Es wehrte sich und der Mann erwürgte es. Es war nicht einfach diesen Mann ausfindig zu machen und ihn dann ins Gemeindehaus zu Tibor zu bringen. Als Tibor sagte, daß der Mann nun ein Jahr bei dieser Familie arbeiten muß, entstand ein großer Wirbel im Gemeindehaus. Selbst Pergan verstand Tibors Entscheidung nicht. Natürlich war auch die Familie dagegen, die den Mörder ihrer Tochter am liebsten tot gesehen hätte. Aber Tibor gab nicht nach. Er besuchte diese Familie täglich und sah nach dem Mörder, ob sie ihn auch nicht mißhandeln. Als sie es dann doch taten, und ihn dabei fast tot geschlagen hätten, bestrafte Tibor die Familie. Dieses Vorgehen wurde noch weniger verstanden, und man nannte Tibor einen Irren. Man wollte sogar Neuwahlen veranstalten, und im Gemeindehaus entstand fast ein Desaster. Tibor wäre größenwahnsinnig geworden, - war noch der geringste Vorwurf. Der Familie wurde Nahrung weggenommen, die sie dringend gebraucht hätte. Nun mußte sie fast eine Woche lang hungern, und das bißchen Essen sogar mit dem Mörder ihrer Tochter teilen.
Erst nach einigen Monaten verstand man Tibor und erinnerte sich an sein „Attentat“ im Gemeindehaus. Bald wußten die Menschen, daß ihnen Tibor keine wirkliche Strafe auferlegen, sondern ihnen etwas lernen wollte. Die Familie, - besonders die Mutter der ermordeten Tochter sprach viel mit dem Mörder, und erkannte, daß er eigentlich krank war, - innerlich krank. Durch die vielen Gespräche erkannte aber auch der Mörder, daß man ihm eigentlich helfen will, diese Krankheit zu überwinden. Nach einem Jahr waren der Mörder, der nicht viel älter war, als die ermordete Tochter, so etwas wie ein Sohn der Familie. Dieser junge Mann hatte keine Eltern mehr. Sie starben an einer rätselhaften Krankheit während der Reise ins Ballungszentrum. Man erfuhr auch, daß die Eltern zu dem jungen Mann nicht gut waren. Sie behandelten ihn wie einen Sklaven und schlugen ihn fast täglich. Natürlich war das keine Entschuldigung für das Verhalten des jungen Mannes, - was ihm Tibor einmal klipp und klar sagte. Tibor sprach auch oft mit der Familie und erklärte ihnen, daß ihre Tochter die Bestimmung hatte, so früh zu sterben. Es brauchte lange, bis sie das einigermaßen begriffen. Es ist ja auch nicht einfach, zu verstehen, daß der Tod immer zur rechten Zeit kommt, - daß es kein wenn und aber gibt.
„Verdammt keine Krankheit, keinen Unfall und keinen Mörder. Das Opfer bietet sich immer selbst an. Es ist Vorbestimmung, - genauso Vorbestimmung, daß wir geboren werden“, sagte Tibor und war sich damals so sehr bewußt, daß er diese Worte schon einmal gesagt hat. Damals fühlte er sich wie dieses Wesen, das er in seinen Träumen ist, und er fühlte, daß genau dieses Wesen die selben Worte einmal vor langer, langer Zeit gesagt hatte.
Nicht nur das Bewußtsein der Menschen erweiterte sich in diesen Jahren, auch Tibors Bewußtsein wuchs. Und damit war er den Menschen im Ballungszentrum immer einen Schritt voraus. Er wußte, daß seine Aufgabe noch lange nicht geschafft war, - daß er noch sehr viel zu tun hatte, um die Menschen auf eine Zeit vorzubereiten, die sehr hart werden wird. Die Natur hatte sich zwar beruhigt, und es wuchs fast alles in voller Pracht auf den Feldern. Sogar einige Nutztiere wurden gehalten, daß man frische Milch hatte, aus der man Käse und Butter herstellen konnte, - und manchmal wurden Nutztiere auch geschlachtet, um Fleisch zu essen. Aber die meisten Familien lebten von Obst und Gemüse. Tibor aß nie wieder Fleisch.
Tibor ist nun 40 Jahre alt. Magda starb vor einem Jahr. Nun hat er das Haus ganz für sich alleine. So schön die Erinnerungen daran auch sind, aber Tibor möchte nicht mehr in diesem Haus, das für ihn viel zu groß ist, leben. Er tauscht mit einer Familie, die bis jetzt in einem einfachen Leinenzelt lebte. Tibor ist zufrieden mit seinem neuen Heim, obwohl viele Menschen sagen, daß es für einen Präsidenten höchst seltsam ist, so zu wohnen. Aber damit zeigt Tibor den Menschen, das es nicht wichtig ist, was man rundherum darstellt, sondern daß es viel mehr auf das Innere ankommt. Man muß keine Krone auf dem Haupt tragen, um König zu sein, - und man muß nicht in einem Leinenzelt mit abgetragener Kleidung leben, um Bettler zu sein.
„Ihr dürft keine Vergleiche mehr ziehen“, sagt Tibor, als er auf einer Steinbank in einem der großen Parks sitzt, wo rund um ihn einige Menschen die Wiese belagern. „Das Äußere eines Menschen blendet. Es ist nicht echt. Nichts ist echt, was ihr rund um euch seht. Ihr müßt tiefer gehen, - das Innere, den Kern entdecken. Ihr habt nun schon so viel geschafft. Ihr arbeitet zusammen, teilt untereinander alles gerecht auf, - aber noch immer seid ihr blind, wenn ich euch etwas Neues auftrage. Ihr versteht noch immer nicht, warum ich euch einen Mörder, oder einen Dieb ins Haus bringe. Ich spreche immer von einem Uhrwerk, das nur dann funktionieren kann, wenn alle Teile richtig arbeiten. Seht doch den Mörder, oder den Dieb, als ein Teil an, das nicht funktioniert. Was macht ihr, wenn etwas kaputt ist? Ihr versucht doch zu allererst, es zu reparieren. Es ist nichts anderes, als wenn ihr einen Mörder bei euch aufnehmt und seinen tiefsten Kern sucht, der nicht viel anders ist, als euer tiefster Kern. Repariert diesen Teil, daß er in unserem Uhrwerk wieder funktioniert. Eure Verstorbenen werden nicht wieder lebendig, wenn ihr ihn tötet, oder verbannt. Gerade der Mörder könnte diesen Verstorbenen ersetzen, - indem er die Arbeit macht, welche der Verstorbene gemacht hat. Ich bitte euch nicht darum, daß ihr den Mörder, oder den Dieb verzeiht. Verzeihen kann man niemals sofort, - wahrscheinlich kann man es niemals, weil man diese Tat auch nicht vergessen kann. Es wird immer ein bißchen weh tun, wenn man daran denkt, daß ein geliebter Mensch mit Gewalt aus dem Leben gerissen wurde. Und eben diesen Schmerz wird man immer dann erkennen, wenn man den Mörder vor sich sieht. Aber mit der Zeit wird man auch sehen, daß der Mörder ein Mensch ist wie wir alle. Auch er hat einen Schmerz in sich, wie wir alle. Das Geschehene kann niemand rückgängig machen. Es ist vorbei und abgehakt. Aber wir können etwas gut machen, indem wir den Täter auf den richtigen Weg führen. Das kann man nicht mit Verbannung, oder gar erneuten Mord, - das kann man nur mit Geduld und hart erkämpfter Liebe.
Glaubt ihr, daß ihr niemals dazu fähig sein könntet, die selbe Tat zu begehen. Hat denn noch nie einer von euch nur einmal daran gedacht, irgendwo etwas zu entwenden, - oder einen Menschen lieber tot, als lebendig zu sehen? Rufus, mein Ziehvater hat mir einmal aus einem sehr alten Buch vorgelesen, in dem stand: Der, der ohne Schuld ist, werfe den ersten Stein. Das bedeutet, daß man nur dann über andere urteilen kann, wenn man selbst völlig unschuldig ist.
Vor vielen, vielen Jahren gab es strengere Strafen, - darunter auch die Todesstrafe. Man könnte meinen, daß es sich die Täter überlegt haben, etwas anzustellen. Aber dem war nicht so, - im Gegenteil. Es wurde sogar noch mehr gemordet und gestohlen. Niemand hat sich damals wirklich gefragt, warum das so ist. Ich glaube, es war deshalb so, weil sich niemand wirklich um diese Täter gekümmert hat. Man hat sie einfach aus der Gesellschaft ausgeschlossen und ihrer Krankheit selbst überlassen. Manche von ihnen wurden als krank erklärt und kamen in Häuser, in denen man diese Krankheiten heilte. Im Grunde genommen war das auch keine Heilung, denn auch diese Menschen wurden strikt aus der Gesellschaft ausgeschlossen. Wir hier haben jetzt die Möglichkeit solche Menschen unter uns zu heilen. Wir dürfen sie nicht ausschließen, weil wir damit nur noch mehr Unheil anrichten. Ich weiß, es ist schmerzhaft, wenn man weiß, daß dieser Mensch den eigenen Vater, oder die eigene Mutter, oder das eigene Kind getötet hat. Sagt mir nur einmal, wen wollt ihr zur Verantwortung ziehen, wenn eure Eltern, oder eure Kinder an einer Krankheit sterben? Wollt ihr diese Krankheit bestrafen? Wie denn? Ihr meint, das ist etwas ganz anderes. Sicher ist es etwas anderes, aber doch der selbe Effekt. Tot ist tot. Nehmt eure Scheuklappen ab und geht endlich in euch. Durch Verbannung, erneuten Mord und Augen schließen wird niemand wieder lebendig. Es wird auch dadurch, daß ihr die Mörder und Diebe bei euch aufnehmt, niemand wieder lebendig. Aber man kann damit einen erneuten Mord verhindern und zusätzlich einen Menschen glücklich machen, indem man ihm hilft zu sich selbst zu finden. Es gibt ja nicht mehr so viele Verbrechen, wie damals vor vielen, vielen Jahren, wo sich der Mensch alles habgierig zusammen raffte. Wir leben schon lange nicht mehr in diesem Überfluß, wo der Neid noch viel größer war. Denkt auch daran. Und denkt daran, wie euch damals diese bewaffnete Männer vor dem Gemeindehaus zugesetzt haben. Ihr habt damals nicht mit Gewalt auf sie reagiert, - obwohl das anfangs manche von euch wollten. Denn als ihr das Gemeindehaus verlassen habt, waren diese bewaffneten Männer eure Freunde. Klar, ihr wußtet, daß sie euch nichts getan hätten, - aber dieses Umdenken, dieser anfängliche Haß, der sich in Stärke verwandelt hat, - das dürft ihr niemals vergessen. Und genau mit dieser Stärke müßt ihr den wenigen Verbrechern, die wir hier noch haben, entgegen treten.“
Tibors Rede wirkt. Er weiß, daß er viel für diese Menschen getan hat, die ihm nun wirklich voll und ganz vertrauen. Sie glauben nicht nur ihm, sondern viel mehr sich selbst. Sie waren ihrem Ziel eigentlich schon immer nahe, aber trotzdem mußte zuerst einer kommen, der sie diesem Ziel ein bißchen entgegen stieß.
Tibor steht von der Steinbank auf und geht langsam nach Hause, - zu seinem Leinenzelt, das eigentlich sehr geräumig ist. Das Gemeindehaus übrigens wird nicht mehr gebraucht. Es gibt keine Gemeinderäte mehr, - keine Steuern, - und in dem Sinn wohl auch keinen Präsidenten mehr, obwohl Tibor noch immer der Mann im Ballungszentrum ist, der dieses gewaltige Uhrwerk manchmal mit der Hand aufziehen muß.
Pergan ist noch immer sein bester Freund, den er fast täglich besuchen geht. Tibor versteht sich auch mit Pergans Frau sehr gut, - ebenso mit dem kleinen Sohn, der mit Tibor am liebsten spielt.
Im Leinenzelt legt sich Tibor auf sein Lager, das aus zwei dicken Wolldecken besteht. Nachts deckt er sich mit dem Fell zu, das er letztes Jahr von Pergan als Geschenk bekommen hat. Es ist nicht so kalt, daß man sich zudecken müßte. Das Klima wird eigentlich von Jahr zu Jahr wärmer. Tibor fürchtet, daß der Boden bald zu trocken wird, um gewisse Pflanzen anzubauen, und daß dadurch die Ernte logischerweise geringer ausfallen wird. Aber bis dahin wird er es auch noch schaffen, die Menschen zur Genügsamkeit, wie er sie kennt, anzuspornen. Tibor kreuzt seine Hände unterm Kopf und blickt zur Leinendecke seines Zelts hoch. Jetzt würde er gerne wissen, wie es in seiner alten Heimat aussieht. Einige Menschen kamen von weit her, - auch auf dem Weg, den er damals gegangen war, und sagten, daß weiter unten, hinter dem Tunnel kaum mehr etwas wächst. Die Erde wird bald zur Wüste werden. Sie sagen, es ist die Sonne, die immer kräftiger wird und einmal die ganze Erde verbrennen wird. Jetzt wäre es gut, wenn man Raumschiffe hätte und sich auf die Suche nach einem Planeten machen könnte, wo man leben kann. Mit diesen Menschen hier, welche Tibor das wahre Leben in der Natur gelehrt hat, würde man auf diesem neuen Planeten ein Paradies schaffen.
Mit diesen Gedanken schläft Tibor ein und träumt wieder von seinem Stern, auf dem seine einzige Geliebte lebt, die er wie immer in seine Arme schließt und sich mit ihr vereinigt.

(3.Teil)

Das Ballungszentrum hat nun seine vollste Blüte erreicht. Noch nie war es so groß und von so gewaltiger Bevölkerungsdichte. Es dehnt sich bereits bis zum Gebirge hinaus, das noch vor wenigen Jahren gute 8 Stunden Wanderung entfernt war. Einige Menschen leben in den Höhlen der Berge. Es ist ein angenehmer Platz zum wohnen, da es dort oben frisches, klares Wasser gibt, das einer Quelle entspringt. Wasserprobleme haben die Menschen im Ballungszentrum nicht, da an der gegenüberliegenden Seite vom Gebirge, - sozusagen an der gegenüberliegenden Grenze ein kleiner Fluß vorbei fließt, wo die Menschen sich selbst und ihre Wäsche waschen. Der Fluß regeneriert sich ständig, daß immer frisches Wasser da ist. Noch gibt es keine beunruhigenden Zeichen dafür, daß einmal eine bestimmte Pflanze nicht wachsen würde, - oder das Wasser vertrocknet. Wie gesagt, das Ballungszentrum steht nun in seiner vollsten Blüte. Auch seine Menschen sind bester Laune und leben wie eine riesengroße Familie zusammen. Es gibt keinen Neid mehr, keine Selbstsucht und kaum mehr Aggressionen. Natürlich kommt es manchmal vor, daß jemand wütend wird, - daß kleine Streitereien ausgetragen werden, aber die Versöhnung läßt nie lange auf sich warten. Die Menschen haben nicht nur gelernt, sich zu beherrschen, was sie von Tibor gelernt haben, indem er ihnen beruhigende Atemübungen und die Konzentration, nach innen zu gehen, gezeigt hat. Sie haben auch gelernt sich selbst zu erkennen, - sich selbst als winzigen Teil der Natur anzuerkennen. Die Menschen dieser Zeit sehen sich nicht mehr als Herrscher der Erde. Für sie ist ein Tier, eine Pflanze, der Erdboden, das Wasser, sowie der Himmel über ihnen, ein und das selbe wie sie selbst. Es wird kaum mehr ein Tier geschlachtet und gegessen. Viel mehr werden die sogenannten Nutztiere gehegt und gepflegt und nur mehr Milch von ihnen genommen. Selbst die Pflanzen werden mit Achtung geerntet, wobei man sich bei ihnen bedankt, daß sie wachsen und das Leben der Menschen erhalten. Tibor lehrte den Menschen in den letzten Jahren eine fast asketische Genügsamkeit, daß nun von der reichlichen Ernte immer ein Vorrat übrig ist. Man braucht auch nicht mehr so viel Schlaf, auch das brachte Tibor der Bevölkerung des Ballungszentrums bei. Es ist immer ein schöner Anblick, wenn die Menschen vor ihren Häusern, Leinenzelten, und nun auch Höhlen, um ein Feuer sitzen und sich unterhalten, wobei sie sich Geschichten erzählen, die oft wahr, aber meistens erfunden sind. Durch dieses enthaltsame und sehr bewußte Leben regte sich mit der Zeit die Phantasie der Menschen wieder. Viele Geschichten wären es wert gewesen, nieder zu schreiben. Pergan ist einer der Menschen, der besonders schöne Geschichten erfinden kann. Natürlich ist auch Tibor ein wunderbarer Geschichtenerzähler, aber er hört viel lieber zu. Er ist glücklich über das Paradies, das er in diesen Jahren mit viel Mühe und viel Geduld geschaffen hat. Noch immer strömen Menschen zum Ballungszentrum, um sich dort nieder zu lassen. Die Nachricht, daß es in diesem Kontinent einen Ort gibt, wo viele tausende Menschen so friedlich zusammen leben, verbreitet sich schnell.
Eines Tages, als Tibor am Fluß sitzt und eben seine Wäsche fertig hatte, sieht er am Horizont kleine Punkte. Die Gegend am Fluß ist eben, daß man manchmal den weiten Horizont vom Boden und Himmel kaum unterscheiden kann. Heute ist das Licht klar. Man hat einen weiten Blick zum Horizont. Die kleinen Punkte entpuppen sich bald als Menschen, die immer näher kommen. Tibor ist nicht alleine am Fluß, - auch Pergan und seine Frau und der kleine Sohn, der bereits 8 Jahre ist, sind bei ihm. Etwas weiter abseits waschen sich einige Menschen im Fluß, andere sitzen nur da und unterhalten sich. Die Fremden sehen sehr abgekämpft und müde aus. Ihre Haut ist sonnengebräunt, so wie Tibors Haut einmal war, als er seine lange Reise machte. Es sind Männer und Frauen und einige wenige Kinder. Nun stehen ungefähr 30 Menschen neben Tibor und Pergan und dessen Frau und Sohn. Tibor ist der erste, der sich erhebt und die Menschen freundlich begrüßt. Was die Verständigung betrifft, - die Sprache der Menschen ist einheitlich geworden. Es gibt kaum noch Menschen, welche eine andere Sprache benutzen, als die Weltsprache, wie sie anfangs genannt wurde.
„Ihr scheint von weit her zu kommen“, sagt Tibor nach der Begrüßung.
„Das kann man sagen“, meldet sich eine Frau aus der Mitte und kommt auf Tibor zu. „Wir wissen nicht, wie lange wir unterwegs waren, - auf jeden Fall müssen es viele Jahre sein.“
„Kommt erst mal mit. Ihr wollt euch sicher erfrischen und etwas essen“, sagt Tibor.
„Erfrischt haben wir uns bereits. Als wir den Fluß gesehen haben, konnten wir nicht widerstehen“, sagt ein Mann lachend, aber erschöpft. „Aber essen wäre sicher nicht schlecht.“
Nach und nach kommen immer mehr Menschen aus dem Ballungszentrum auf die Fremden zu. Sie hörten, wie Tibor etwas von Erfrischung und Essen sagte und sind sofort bereit, einige dieser Wanderer in ihre Häuser einzuladen. Auch Tibor nimmt 5 dieser Fremden in sein Zelt mit und bereitet sofort Essen zu. Unter diesen Fremden befindet sich die Frau, welche zuerst gesprochen hat, ihr Mann und ein anderes Paar mit einer kleinen Tochter. Die Erwachsenen dürften um die 40 Jahre alt sein, also etwas jünger als Tibor, der bereits 45 ist.
„Wir haben Alena unterwegs bekommen“, erzählt die Mutter. „Ich dachte, daß ich bei der Geburt sterben muß.“
„Habt ihr vom Ballungszentrum gehört, weil ihre diese weite Reise angetreten habt?“, fragt Tibor und reicht den Menschen gedünstetes Gemüse mit Kartoffeln.
„Als wir die Reise angetreten haben, wußten wir nichts vom Ballungszentrum“, erzählt wieder die Frau, die anfangs mit Tibor gesprochen hat. “Dort wo wir lebten, gab es bald keine Nahrung mehr. Es trocknete alles aus. Der Boden war rissig, und weit und breit gab es kein frisches Wasser mehr. Wir mußten aufbrechen und uns eine andere Heimat suchen. Also wanderten wir nach Nordwesten, wo wir hörten, daß es dort noch lebenswert wäre. Einige Jahre ging es gut, aber dann kamen andere Menschen, bis wir zu viele waren. Die Nahrung reichte wieder nicht, also wanderten wir abermals weiter. Wir waren Nomaden, die einfach von einem Ort zum anderen zogen, um der Landschaft nicht zu viel weg zu nehmen. Einige Jahre lebten wir an einem Platz zusammen, und dann wanderten wir wieder einige Jahre weiter. Als wir loszogen waren wir noch Kinder, - so um die 13 - 14 Jahre. Unsere Eltern sind unterwegs gestorben, weil die Wanderungen einfach zu beschwerlich waren. Einige bekamen Krankheiten, die niemand heilen konnte. Auch sie starben. Jetzt sind nicht einmal die Hälfte der Menschen, die damals losgezogen sind, am Leben. Wir haben viele Familienangehörige und auch viele Freunde unterwegs verloren. Natürlich haben wir auch Menschen getroffen, die dann mit uns weiter gezogen sind. Nun ja, eines Tages standen wir dann am Meer und wußten nicht weiter. Das Klima dort war gut, aber zu dieser Zeit wußten wir bereits, daß es über dem Meer einen Ort gibt, der sich Ballungszentrum nennt, wo die meisten Menschen dieser Erde zusammen leben. Wanderer, die sich uns angeschlossen haben, erzählten uns darüber. Wir glaubten nicht so recht daran, daß so viele Menschen so friedlich zusammen leben können, - also wollten wir es sehen. Die Landschaft, die wir hinter uns gelassen haben, war öd. Drüben, im anderen Kontinent, wo wir herkommen, gibt es kaum noch Menschen. Und wenn, dann es sind Nomaden, die ständig nach Norden ziehen, und auch bald hier her kommen werden.“
„Ihr kommt also vom anderen Kontinent? Von Osten?“, fragt Tibor ungläubig.
„Ja, Nun kannst du dir auch vorstellen, wie viele und wie lange Wanderungen wir hinter uns haben.“
„Es ist fast unglaublich, so eine Strecke zurück zu legen. Ich bin auch gewandert und kam auch von einem anderen Kontinent hier her, aber das war nicht so weit, wie die Strecke, die ihr zurück gelegt habt. Auch ich stand am Meer, aber dort gibt es einen langen Tunnel, der unter dem Meer durchführt.“
„Wir haben von diesen Tunnel gehört“, spricht die Frau weiter. “Nein, so einen Tunnel gibt es dort nicht, wo wir waren. Aber es gibt viele Bäume dort. Es ist auch nicht so heiß wie hier. Ich glaube, es ist so ziemlich der nördlichste Teil der Erde, wo es auch schön zu leben wäre.“
„Ihr seid also von ganz oben gekommen. Warum seid ihr nicht dort geblieben?“, fragt Tibor.
„Weil wir ins Ballungszentrum wollten. Nun laß mich erzählen, wie wir über das Meer gekommen sind. Wir fällten Bäume, höhlten sie aus und legten sie ins Wasser. Wir setzten uns hinein und paddelten einfach übers Meer. Es war eine Höllenreise, das kannst du mir glauben. Wir sahen mehrmals dem Tod in die Augen. Zwei dieser ausgehöhlten Baumstämme kenterten. Wir verloren wieder Freunde. Aber ich denke, wir hatten Glück, sonst hätten wir diese Reise übers Meer kaum geschafft. Als wir das Ufer endlich erblickten, waren wir vor Freude fast verrückt. Die Nahrung war uns bereits ausgegangen, und Wasser hatten wir auch keines mehr. Meerwasser kannst du ja nicht trinken. Es war wirklich die Hölle. Ja, wie du sagst, der Norden dieses Landes ist wirklich wunderschön. Man könnte alles dort anpflanzen, weil der Boden ziemlich fruchtbar ist. Nahrungsprobleme hatten wir dort oben nicht. Es ist eine herrliche Wildnis, mit riesigen Bäumen, saftigen Wiesen, wo alles Korn wächst, das du dir nur vorstellen kannst. Ich habe noch nie so eine Gegend gesehen. Wir dachten wirklich daran, dort zu bleiben, aber dann einigten wir uns, daß wir ins Ballungszentrum gehen, da dort das Paradies zu sein scheint. Ich sage dir, wenn hier die Nahrung einmal ausgehen sollte, werdet ihr keine Probleme haben, wenn ihr rechtzeitig nach Norden aufbrecht.“
„Das wird sicher einmal der Fall sein“, sagt Tibor nachdenklich. “Ich hörte von Wanderern, die vom Süden kamen, daß dort unten kaum mehr etwas wächst. Das Tropenklima breitet sich langsam weiter aus und wird uns bald erreichen.“
„Meinst du, daß es dann bald mit der Menschheit zu Ende geht?“, fragt der Vater des kleinen Mädchens.
„Es sieht so aus, obwohl ich nicht daran glaube. Irgend etwas wird uns schon vor dem endgültigen Aus retten“, sagt Tibor und wischt sich über die Augen.
„Glaubst du an ein Wunder?“, fragt wieder die Frau.
„Es kann nur ein Wunder sein, das uns vor der vernichtenden Sonne rettet“, meint Tibor lächelnd und sammelt die Tontöpfe ein, als die Fremden fertig gegessen haben. Zum Nachtisch reicht er ihnen frisches Obst.
„Wenn ihr müde seid, legt euch ruhig nieder. Das Zelt ist groß genug. Ich werde noch schnell Decken organisieren“, sagt Tibor dann und verläßt sein Heim.
Er geht zu Pergan, von dem er weiß, daß er viele Decken hat. Auch Pergan hörte von der langen Reise dieser Menschen. Seine Gäste schlafen bereits im Wohnzimmer auf dem Boden. Pergans Frau und sein Sohn schlafen im Schlafzimmer. Nur Pergan ist noch auf und gibt Tibor die Decken.
„Es ist ein Wunder, daß sie diese lange Reise geschafft haben“, sagt Tibor zu seinem Freund, als beide vor dem Haustor auf der Straße stehen.
„Wie ich gehört habe, werden noch viele kommen. Ich denke, alle Menschen werden den östlichen Kontinent verlassen und zu uns kommen, weil sie hier größere Überlebungschancen haben. Es scheint nicht mehr viele Menschen auf dieser Erde zu geben, Tibor.“
Tibor nickt etwas traurig und verläßt seinen Freund.
Er bringt den Fremden die Decken und geht dann in der Finsternis zum Fluß hinaus. Dort setzt er sich ans Ufer und blickt hinüber zum Horizont, von wo die Fremden gekommen sind. Langsam wird Tibor müde. Er sinkt auf den Boden zurück und legt seine Arme unter den Kopf. Dann schläft er ein.
Als Tibor aufwacht, ist es noch immer Nacht. Langsam geht er zum Ballungszentrum zurück und setzt sich vor sein Zelt. Leise richtet er alles für das Frühstück zusammen. Bis jetzt hat Tibor nur für sich Nahrung gebraucht. Aber es ist genug da, daß es auch für die Fremden reicht. Er weiß nicht, ob sie ebenso genügsam sind wie er, aber er weiß, daß sie das im Ballungszentrum lernen müssen.
Nach einiger Zeit, kurz vor Sonnenaufgang, kommt die Frau aus dem Zelt und setzt sich zu Tibor.
„Du mußt dir unseretwegen nicht so viel Mühe machen. Wir können dein Essen nicht annehmen.“
„Das könnt ihr“, sagt Tibor lächelnd. „Zumindest jetzt noch. Aber im Laufe dieses Tages müßt ihr euch um eine Unterkunft kümmern, - wenigstens die beiden mit dem Kind müßten sich umsehen, wo sie hier leben wollen. Du und dein Mann könnt bei mir bleiben, wenn ihr wollt. Das Zelt ist groß genug für drei Menschen. Und mein Acker, den du hinter dem Zelt siehst, gibt auch genug Nahrung für drei ab.“
„Du bist dieser sagenhafte Präsident, von dem alle sprechen, nicht wahr?“, fragt die Frau.
„Sagenhaft?“
„Ja, manche Menschen, die wir unterwegs getroffen haben, sagten sogar, daß du ganz anders bist, als alle anderen Menschen. Du hättest besondere Fähigkeiten, und würdest alle Menschen bezaubern.“
Tibor lacht auf.
„Das ist eine Übertreibung. Sicher, ich habe die Menschen hier im Ballungszentrum verändert, aber das mußte sein, weil wir sonst nicht so friedlich zusammen leben könnten. Bezaubert habe ich sicher niemanden, und anders, als alle anderen Menschen bin ich auch nicht. Du wirst sehen, wenn du länger hier bist und andere Menschen kennen lernst, wirst du zwischen ihnen und mir kaum einen Unterschied bemerken.“
„Aber du mußt trotzdem ein ganz besonderer Mann sein“ ,sagt die Frau und sieht Tibor prüfend an, in dessen Gesicht die ersten Sonnenstrahlen fallen. „Es hat schon sehr lange keinen Menschen mehr gegeben, über den so viel gesprochen wurde, wie von dir. Man sagt, du hättest eine gewaltige Überzeugungskraft und hast die Menschen mit ganz seltsamen Methoden so friedlich gemacht.“
„Es waren sicher seltsame Methoden“, sagt Tibor lachend und blinzelt, weil ihn die Sonnenstrahlen blenden.
„Willst du mir nicht darüber etwas erzählen?“
„Ich glaube, das alles erfährst du früh genug von den Menschen, die hier leben. Und ich denke, bis du dich hier eingelebt hast, wirst du diese seltsamen Methoden von mir selbst zu spüren bekommen“, meint Tibor und lächelt die Frau charmant an.
„Du bist eigentlich kein so schöner Mann, wie ich mir dich vorgestellt habe, aber doch hast du etwas an dir, was Frauen schwach macht. Wie ich sehe, lebst du alleine hier. Hast du keine Frau?“
„Nein, ich habe keine Frau“, sagt Tibor und senkt seinen Blick.
„Hattest du eine Frau?“
„Nein.“
„Reißen sich die Frauen nicht um dich? Wenn ein Mann so berühmt ist, müßte er eigentlich mehrere Frauen haben. Vielleicht hast du mehrere?“
„Ich habe keine Frau, glaub mir das, und ich werde auch nie eine Frau haben“, sagt Tibor etwas ärgerlich und steht auf.
„Ich wollte dich nicht verletzen, - verzeih“, sagt die Frau und erhebt sich.
„Du hast mich nicht verletzt. Es ist nur so, - du solltest nicht zu viel fragen. Wenn dir jemand etwas über sich erzählen will, wird er es von selbst tun“, meint Tibor und lächelt versöhnlich.
In diesem Moment kommen die anderen Fremden aus dem Zelt.
Nach dem Frühstück macht sich die eine Familie sofort auf den Weg, um eine Bleibe zu finden. Tibor rät ihnen, zum Gebirge zu gehen, da dort noch einige Höhlen frei sind. Fürs erste würde es genügen. Und wenn sie mit einer Höhle nicht zufrieden sind, können sie sich noch immer Häuser aus Lehm, oder Stein bauen.
Die Familie ist mit der Höhle voll und ganz zufrieden. Tibor ist es auch, denn er sieht, daß diese Menschen genügsam sind und er kaum etwas tun müßte, um sie den Menschen im Ballungszentrum gleich zu setzen. Das andere Paar hat sich dazu entschlossen, bei Tibor im Zelt zu bleiben. Man könnte eher sagen, die Frau hat sich dazu entschlossen, denn ihr Mann wollte eigentlich auch in einer Höhle leben.
Als die Fremden gut untergebracht sind, kehrt wieder Ruhe und der gewohnte Alltag im Ballungszentrum ein. Die Wanderer finden bald neue Freunde. Nach wenigen Tagen erkennen sie die familiäre Zusammenarbeit und zählen sich bereits zu den Bürgern des Ballungszentrums.
Probleme gibt es nur mit der Frau, die mit ihrem Mann bei Tibor wohnt. Sie hat es sich in den Kopf gesetzt, Tibor zu erobern. Tibor hat kaum mehr eine ruhige Minute. Auf Schritt und Tritt verfolgt ihn die Frau, ohne Rücksicht auf ihren Mann zu nehmen, der bereits vor Eifersucht schmort. Tibor weiß nur mehr einen Ausweg, - das Zelt den beiden überlassen und sich eine neue Bleibe zu suchen.
„Hast du es geschafft, Elva zu entkommen?“, fragt Pergan lachend, als sein Freund ihn besucht.
„Es war nicht einfach, aber ich habe es geschafft, - ja“, sagt Tibor seufzend und läßt sich von Pergan ins Wohnzimmer führen.
„Ich werde mir eine Höhle suchen, Pergan. Ich halte es im Zelt nicht mehr aus. Heute nacht hat sie es sogar gewagt, sich neben mich zu legen, während ihr Mann schon schlief. Es ist natürlich nichts passiert, weil ich sie sofort zurecht wies. Ich sagte, daß ich ihren Mann wecken werde, wenn sie nicht sofort auf ihr Lager zurück geht. Es war die Hölle, Pergan. Sie meinte, es sei ihr egal, wenn ihr Mann das weiß, denn sie wird es ihm ohnehin bald sagen, und dann wird er ausziehen, und wir beide haben das Zelt für uns alleine. Nun, sie wurde dann doch vernünftig und legte sich zurück auf ihr Lager. Als sie eingeschlafen war, verließ ich das Zelt und versteckte mich in einer Seitengasse. Ich wartete, bis es hell wurde, - nun, und jetzt bin ich bei dir.“
„Du willst dir eine Höhle suchen? Glaubst du, daß dich Elva dann in Ruhe läßt? Sie wird zu dir kommen, Tibor. Warum sagst du ihr nicht, daß du sie nicht willst?“
„Was denkst du, was ich ihr andauernd sage? Meinst du, ich muntere sie dazu auf, mich zu bedrängen?“
„Nein, das ist nicht deine Art, Tibor, - das wissen wir schon. Ich kenne viele Frauen hier, die sofort zu dir ins Zelt kommen würden, aber sie wissen, daß du alleine sein willst. Es ist sehr bedauerlich, daß du so bist. Manche Männer wollen unbedingt eine Frau, und bekommen keine, - und dir laufen sie scharenweise nach, obwohl du keine willst. Ist es wirklich deshalb, weil du diesen Trieb so vollkommen unter Kontrolle hast?“
Tibor senkt seinen Blick.
„Was ist dein Geheimnis, Tibor? Willst du es mir, deinem besten Freund, nicht sagen?“, bohrt Pergan weiter.
„Es ist kein Geheimnis, Pergan. Nun ja, es ist ganz tief in meinem Herzen, und ich habe mir selbst geschworen, es niemandem zu sagen. Es ist ein Traum, Pergan, - nur ein Traum.“
„Ein Traum? Was soll das bedeuten, Tibor? Träumst du etwa von einer Frau? Lebst du deinen Trieb in deinen Träumen aus?“
Tibor sieht seinen Freund erstaunt an. Er wundert sich, daß er auf diesen Gedanken kommt.
„Ist das dein Geheimnis, Tibor?“, fragt Pergan leise und legt seine Hand auf Tibors Arm.
„Man könnte es so sagen, Pergan“, sagt Tibor und seufzt tief.
„Wie sieht diese Frau aus, von der du träumst? Und - ist es immer die selbe Frau?“
„Es ist immer die selbe Frau. Wie sie aussieht? Ach, Pergan, - um diese Schönheit zu beschreiben, fehlen mir wirklich die Worte. Und diese Träume, - es ist wirklich seltsam, - weil es eigentlich immer die selben Träume sind. Den ersten Traum hatte ich, als ich ein Mann wurde. Es war das erste Mal, daß ich einen Samenerguß hatte. Ich träumte, daß ich auf einem Stern lande, - ich flog durch das dunkle Universum und landete auf einem leuchtenden Stern. Und plötzlich war sie da, - diese wunderschöne Frau. Sie kam auf mich zu und berührte mich, - sie umarmte mich und drang mit ihrem gesamten Körper in mich ein. Wir waren plötzlich eins, Pergan. Dieses Gefühl zu beschreiben, - auch dafür fehlen mir die Worte. Und als ich damals munter wurde, war ich naß. Es war mein erster Samenerguß. Von da an träumte ich diesen Traum immer wieder. Und immer wieder drang der gesamte Körper dieser Frau in mich ein. Mit der Zeit verstand ich diese Liebe, - diese vollkommene Vereinigung durch Körper und Herz. Ich verliebte mich in diese Frau, Pergan, und ich konnte keine andere Frau auf dieser Erde lieben. Ich habe dir schon einmal erzählt, daß ich noch nie eine Frau hatte. Ich konnte keine haben, weil ich in keine eindringen konnte. Es tat weh, Pergan, - sobald ich sie berührte, tat es weh. Ich verstehe das selbst nicht. Aber ich bin nicht unglücklich deswegen. Ich bin auch nicht einsam, und ich habe auch nicht den Wunsch, mit einer Frau zusammen zu leben. Meine Liebe gehört nur ihr, - dieser Frau, von der ich ständig träume. Hier auf der Erde, wo ich lebe, verspüre ich diesen Trieb nicht mehr. Keine Frau kann so schön sein, daß ich daran denke, ich müßte sie haben. Elva ist eine wunderschöne Frau. Kein Mann würde kalt bleiben, wenn sie sich zu ihm legt und ihn berührt. Ich blieb kalt, Pergan. Es regte sich nichts. Es war nur Wut in mir, - verachtende Wut, weil sie sich über meine Traumfrau stellen wollte.
Und das Seltsame an allem ist, daß ich in meinen Träumen nicht Tibor bin. Auf gewisse Weise bin ich schon Tibor, - aber dieser Tibor ist nur ein kleiner Teil in dem Wesen, das ich dann bin. Dieses Wesen ist wunderschön, Pergan, und hat ein Wissen in sich, das ich niemals verstehen könnte.
Weißt du, ich träume auch oft belanglose Dinge, die wohl jeder von uns träumt. Das ist dann etwas ganz anderes. In diesen Träumen ist mir eigentlich nichts bewußt. Aber wenn ich von diesem leuchtenden Stern träume, der ein wunderschöner Planet ist, fühle ich, als ob das ein anderer Teil meines Lebens ist, - als ob ich wirklich ein kleiner Teil in dem Wesen bin, das dort mit meiner Traumfrau lebt.
Ich habe diese Träumen eigentlich immer verdrängt, Pergan. Ich wollte ihnen keine besondere Beachtung schenken, weil ich Angst hatte, verrückt zu werden. Und wie gesagt, ich habe mir auch geschworen, niemandem davon zu erzählen.“
Pergan hat aufmerksam zugehört. Seine Hand liegt noch immer auf Tibors Arm. Jetzt sieht er seinen Freund fast ehrfürchtig an.
„Ich habe schon immer gefühlt, daß du ein ganz besonderer Mensch bist, Tibor. Vielleicht solltest du diesen Träumen wirklich keine zu große Beachtung schenken, - aber auf der anderen Seite ist es wirklich möglich, daß du ein Teil eines mächtigeren Wesens bist, als wir Menschen es sind.“
„Mächtiger?“
„Ich meine mit mächtiger nicht diese Macht, die wir Menschen kennen. Ich meine, daß dieses Wesen über uns steht, - uns in vielen Dingen überlegen ist, - daß es einfach viel mehr weiß, als wir.“
„Du willst mir doch nicht einreden wollen, daß diese Träume Wirklichkeit sind? Daß dieses Wesen wirklich irgendwo weit da draußen über den Sternen existiert?“, fragt Tibor erregt.
„Du sagtest selbst, daß dir diese Träume wie die Wirklichkeit erscheinen, Tibor. Ich hatte auch schon viele seltsame Träume, aber noch nie war ich jemand anderer als Pergan. Ich fühlte mich noch nie als ein Teil eines anderen, - eines höheren Wesens.“
„Es ist kein höheres Wesen, Pergan. Es ist ein anderes Wesen, als wir, - das ist alles. Es hat, wie mir scheint, schon mehr hinter sich, als wir. Manchmal fühle ich, daß dieses Wesen einmal hier auf der Erde gelebt hat. Ganz besonders fühlte ich das, als mir Rufus einmal von Musik erzählt hat, - daß sie ausgestorben ist, seit ein legendärer Rocksänger diese Erde auf spektakuläre Weise verlassen hat. Mir lief es damals eiskalt den Rücken hinunter, und ich mußte sofort an meine Träume denken.“
„Ich habe auch schon von diesem Rocksänger gehört. Manche glauben, es ist eine uralte Sage, - daß er gar nicht wirklich gelebt hat, - andere sagen wieder, daß er der Retter des Universums ist, der einmal wieder kommen und die Menschheit im letzten Moment vor dem Untergang bewahren wird. Das alles ist schon so lange her, Tibor, daß es fast vergessen wurde. Aber doch ist es seltsam, daß noch immer vereinzelt über diese Sage gesprochen wird.“
„Wie hat dieser Rocksänger geheißen?“, fragt Tibor und fühlt sein Herz bis zum Hals klopfen.
Pergan nimmt seine Hand von Tibors Arm und denkt angestrengt nach.
„Er hatte einen ganz kurzen Namen. Ken, - Kom.....“
„Kim!“, entkommt es Tibor ganz plötzlich mit lauter Stimme, und er erschrickt vor sich selbst.
Pergan sieht ihn beinahe entsetzt an.
„Ja, er hieß Kim“, sagt er verwundert.
„Dieses Wesen, Pergan, - das ich in meinen Träumen bin, heißt auch Kim. Diese wunderschöne Frau spricht mich mit diesen Namen an. Pergan, - was soll das bedeuten? Weißt du mehr über diesen Rocksänger? Auf welche spektakuläre Weise hat er denn diese Erde verlassen?“
„Das weiß ich nicht, Tibor. Aber ich glaube, ich weiß, wer dir da weiter helfen könnte. Unter diesen Fremden, die vor kurzem zu uns gekommen sind, - die aus dem Osten, -ist eine sehr alte Frau. Sie war in der ersten Nacht bei mir im Haus. Ich war eben dabei, dir zu öffnen, als ich hörte, daß sie über Musik und diesen Rocksänger sprachen. Sie wohnt draußen im Gebirge in einer Höhle. Komm, wir suchen sie auf.“
Wild entschlossen erhebt sich Pergan und zieht seinen Freund hoch.
„Findest du es gut, Pergan? Vielleicht ist es besser, wenn ich nicht zu viel weiß. Vielleicht könnte ich wirklich verrückt werden.“
„Ach, was! Du bist eben ein Auserwählter, der zwei Leben gleichzeitig lebt. Auserwählte gab es schon immer. Und du bist stark genug, um das zu ertragen. So gut kenne ich dich schon, Tibor. Und jetzt komm!“
Auf dem Weg zum Gebirge schweigen die beiden Freunde. Tibors Herz klopft noch immer zum Zerspringen. Manchmal geben seine Füße etwas nach, - nicht gewillt, weiter zu gehen. Aber Pergan zieht ihn jedesmal mit sich, wenn Tibor umkehren will.
Die Höhle ist schnell gefunden. Die alte Frau, - sie muß wirklich schon steinalt sein, - sitzt in der Höhle und schält gerade Kartoffeln für das Mittagessen. Sie lebt mit ihrer Tochter und deren Mann, die zwei Kinder haben, zusammen in der Höhle.
„Meine Familie ist auf dem Acker, um Saat anzubauen. Sie werden bald zurück kommen“, sagt die alte Frau, als Pergan und Tibor sie begrüßen.
„Wir wollen nichts von deiner Familie. Wir möchten uns mit dir unterhalten“, sagt Pergan.
„Mit mir? Was kann ich alte Frau euch schon sagen? Also gut, setzt euch zu mir.“
„Es ist folgendes. In der Nacht, als ihr bei mir wart, hörte ich dich etwas über Musik und einen Rocksänger sagen. Was weißt du über diese Sage?“, fragt Pergan.
„Sage? Junger Mann, das ist keine Sage. Das war wirklich. Das war vor vielen, vielen Jahren, als unsere Erde noch ganz anders ausgesehen hat. Damals waren auch die Menschen ganz anders. Ich kann nicht sagen, daß sie besser waren, als die Menschen heute, - aber sie hatten es einfacher. Damals wuchs alles, - damals hatte man Dinge, die man heute überhaupt nicht mehr kennt. Ich kenne diese Dinge auch nicht, aber meine Großmutter, die es wiederum von ihrer Großmutter hörte, erzählte mir viel von dieser guten, alten Zeit.“
„Was weißt du über diesen Rocksänger?“, fragt Pergan ungeduldig.
„Das war ein Mann, wie ihn die Welt noch nie gesehen hat. Er soll die Schönheit selbst gewesen sein, - und nicht nur das, - er hatte eine Ausstrahlung, mit der er alles verzauberte. Er war ein Magier, - ein Gott für diese Zeit. Es gibt nicht viele Geschichten über ihn, aber einige weiß ich von meiner Großmutter, die sie von ihrer Großmutter weiß. Er soll ziemlich jung gestorben sein. Aber er war nicht wirklich tot, sondern konnte seine gewaltige Ausstrahlung wegzaubern, und war dann sein Doppelgänger.“
„Wie soll das vor sich gehen?“, fragt Tibor.
„Das weiß ich auch nicht“, spricht die alte Frau weiter. „Ich weiß nur, daß er mit seiner Ausstrahlung alle Menschen verzauberte. Wenn er seine Ausstrahlung nicht hatte, war er nur ein gewöhnlicher Mann, - zwar noch immer ein ganz besonders schöner Mann, - aber doch auch gewöhnlich, - so wie eben alle Menschen der damaligen Zeit. Ich weiß auch nicht, was diese Ausstrahlung wirklich bedeutete. Manche erzählten sich, daß er ein Außerirdischer war, - einer der von einem anderen Stern gekommen ist, - oder zumindest von einem anderen Stern abstammt, da man seinen Vater nie gefunden hat. Das mit seinem Vater war auch ein großes Rätsel. Seine Mutter hat ihn in einem Wald kennen gelernt. Sein Vater lebte in einem Wald und zeigte sich niemals vor anderen Menschen. Als sie schwanger war, wurde er ermordet. Kim, - so hieß dieser Rocksänger, lernte seinen Vater also nie kennen. Man sagte, daß sein Vater ein Außerirdischer war, - genauso wie er, denn er hätte auch genauso ausgesehen wie er und hatte die selbe Ausstrahlung.
Nun weiter, - Kim war also nicht tot, sondern lebte für die Allgemeinheit als Richard weiter. So nannte er sich von da an, als er vorgab, tot zu sein. Man sagt, daß er niemals gealtert ist. Nun, das sah man dann auch, als er sein letztes Konzert gab. Damals war er über 90 Jahre alt und sah aus wie ein 20jähriger Jüngling. Er sagte dann so etwas ähnliches, wie, daß er jetzt mit seiner Frau in eine andere Welt gehen muß, oder so. Und dann war plötzlich ein greller Blitz auf der Bühne, und die beiden waren verschwunden, - einfach weg, - in Luft aufgelöst. Seitdem hat man sie nie wieder gesehen. Ihre Familie, - die beiden hatten zwei Töchter, die damals bereits verheiratet waren und selbst Kinder hatten, - wurden dann sehr viel befragt. Aber man bekam nichts heraus.“
„Bist du dir ganz sicher, daß dieser Rocksänger wirklich auf der Erde gelebt hat?“, fragt Tibor und reibt sich nervös seine feuchten Hände.
„Natürlich bin ich mir sicher. Seine Urenkelin war damals dabei, als die Rebellen die letzten tyrannischen Politiker gestürzt haben. Sie war es sogar, welche die Rebellen angeführt hat. Leider starb sie in diesem blutigen Kampf. Solche Geschichten kann man nicht erfinden, auch wenn sie schon sehr, lange her sind.“
„Was weißt du über die Frau dieses Rocksängers? Wie hat sie ausgesehen?“, fragt Tibor.
„Man wußte nicht viel über seine Frau. Sie hieß Maria, genauso wie die Urenkelin, welche die Rebellen angeführt hat. Man sagt, daß sie auch immer jung geblieben ist. Sie soll auch sehr schön gewesen sein, und zwar so schön, daß ihre Schönheit selbst neben Kim nicht verblaßte, obwohl er die Schönheit selbst war“, sagt die Frau.
„Soll sie auch eine Außerirdische gewesen sein?“, fragt Pergan.
„Nein, man sagt, daß sie auf der Erde geboren wurde, aber Kim hätte sie mit seiner Ausstrahlung verzaubert, daß sie für immer jung geblieben ist. Warum wollt ihr beide das eigentlich wissen?“, fragt die alte Frau.
„Weil wir bis jetzt nicht viel darüber gehört haben. Wir waren eben neugierig, ob es eine Sage ist, oder ob mehr dahinter steckt. Du sagtest, daß Kim bei seinem letzten Konzert, als er über 90 war, sagte, daß er wieder kommen wird, um die Erde vor dem Schlimmsten zu bewahren. Sagte Kim auch, wann das sein wird?“, fragt Pergan.
„Das weiß niemand. Aber die Menschen, von denen nur mehr wenige im Osten leben, glauben daran.“
„Lebte Kim im Osten?“, fragt Tibor.
„Ja, er wurde in einem Land geboren, das man damals Romania, - oder Rumänien nannte. Seine Mutter gab ihn aber weg, als er noch ein Baby war. Genaues kann ich euch nicht sagen. Ich weiß nur, daß er bei Zieheltern aufgewachsen ist, die in einem anderen Land lebten. Damals gab es viele Länder, von denen jedes einzelne von Politikern, oder Königen regiert wurde. Man sagt auch, daß seine Zieheltern nicht gut zu ihm waren. Es gibt da ziemliche Schauergeschichten, - wo man sogar sagt, daß Kim oftmals fast zu Tode gefoltert wurde. Sein Ziehvater hätte ihn in Ketten gelegt und mit Peitschen geschlagen. Kim lernte seine Mutter erst kennen, als er bereits erwachsen war. Viel mehr kann ich euch nicht sagen. Ich weiß nur, daß er hier in diesem Kontinent auch war, da er sehr viel unterwegs war, als er noch Konzerte gab. Alle Menschen kannten und verehrten ihn.“
„Sonst weißt du nichts über ihn?“, fragt Pergan.
„Leider nicht. Ich habe in all diesen Jahren wohl einiges vergessen, aber ich glaube, das Wichtigste ist wohl, daß wir diesen Mann niemals vergessen, weil er uns einmal retten wird. Wie, das kann ich mir nicht vorstellen, - aber ich glaube daran, daß er wieder kommen wird. Man sagte, daß Kim alle seine Versprechen immer gehalten hat, - und das wird er wohl immer tun“, sagt die alte Frau und nickt dabei.
„Willst du damit sagen, daß er nicht tot ist?“, fragt Tibor.
„Natürlich ist er nicht tot. Er ging damals mit seiner Frau auf einen anderen Stern, um dort weiter zu leben. Wie er das machte, war allen unklar. Ich sagte doch bereits, daß auf der Bühne plötzlich ein greller Blitz war, und die beiden waren verschwunden. Ja, man sagt sogar, daß Kim und seine Frau unsterblich sind. Das muß auch so sein, sonst könnte er uns ja nicht retten. Es ist auch möglich, daß diese Außerirdischen viel, viel länger leben als wir. Ich weiß es wirklich nicht. Und jetzt laßt mich weiter arbeiten, denn meine Familie wird bald kommen und möchte ein warmes Essen haben.“
Pergan und Tibor erheben sich, bedanken sich bei der alten Frau und verlassen die Höhle.
„Was ist, Tibor? Kam dir etwas bekannt vor, worüber die alte Frau gesprochen hat?“, fragt Pergan auf dem Weg zurück.

„Ich weiß nicht. Ich war zu nervös und aufgeregt. Mein Herz klopf noch immer ganz stürmisch, und mein Körper ist naß vor Schweiß. Ich fühle mich, als ob ich tage- und nächtelang, ohne Nahrung und Schlaf gewandert wäre. Ich fühle mich überhaupt nicht wohl.....“
Tibor bringt gerade noch die letzten Worte hervor, dann springt er schnell zur Seite und muß sich übergeben. Sein Freund geht besorgt zu ihm.
„Du wirst doch nicht krank werden, Tibor.“
„Nein, nein, - es geht schon wieder. Es war diese Geschichte, Pergan“, sagt Tibor und wischt sich mit seinem Hemd übers Gesicht. „Ich kann nicht sagen, daß mir etwas bekannt vorgekommen ist, - aber doch fühlte ich, während die Frau sprach, daß ich viel mehr darüber wissen sollte.
Da ist noch etwas, was ich dir noch nicht gesagt habe“, spricht Tibor erschöpft weiter und lehnt sich an eine Häuserwand. „Mir ist auf meiner Reise etwas passiert, - nun, ich wurde überwältigt und mit Ketten an den Handgelenken aufgehängt. Es waren Menschen, die mich essen wollten. Als ich diese Ketten spürte, - den Schmerz spürte, - fühlte ich auch etwas Seltsames. Es war, als ob ich so etwas viel früher schon erlebt hätte. Die Frau sagte doch, daß Kim in Ketten gelegt wurde. Ich glaube, das war es, was mich eben zum Erbrechen brachte. Ach, Pergan, wir hätten nicht mit der alten Frau sprechen dürfen. Jetzt dreht sich alles in meinem Kopf, und ich weiß nicht mehr, was ich von all dem halten soll.“
„Du bist Kim, - das ist alles. Du bist wieder auf die Erde zurück gekehrt und wirst die Menschen retten. Du hast doch schon so viel für uns alle getan. Das ist doch das Zeichen. Man liebt und verehrt dich. Die Menschen hier würden dir überall hin folgen. Du bist noch immer unser Präsident und wirst es auch immer bleiben. Das Ballungszentrum ist größer geworden. Immer wieder kommen Menschen, sogar von weit her, um dich zu sehen, und um in deiner Nähe zu leben.“
„Nein, Pergan, - ich bin nur Tibor. Ich habe mit diesem Wesen nichts gemeinsam. Ich bin ein Wurm, ein kleiner Wurm, - und dieses Wesen ist, - ich kann nicht das richtige Worte finden. Ja, dieses Wesen ist, wie du sagtest, uns in vielen, wenn nicht in allen Dingen überlegen. Wenn ich träume, habe ich das Gefühl, als ob ich in dieses Wesen schlüpfen würde. Es ist nicht direkt so, daß ich dann wirklich voll und ganz dieses Wesen bin. Ich bin dann nur ein winziger Teil in diesem Wesen, mehr nicht. Es ist beinahe so, als ob mich dieses Wesen ruft, mich in sich aufnimmt, um mir Dinge zu zeigen und zu lernen, die ich bis jetzt nicht kannte. Und glaube mir, ich habe nicht die geringste Ahnung, wie ich die Menschheit retten könnte. Das, was ich bisher getan habe, war schon alles, was ich für euch tun kann. Und ich werde alt, Pergan, - ich bleibe nicht für immer jung, so wie dieses Wesen.“
„Er ist eben als ganz gewöhnlicher Mensch zu uns gekommen. Meinst du nicht, daß einem Wesen wie ihm alles möglich ist?“
„Es wäre diesem Wesen bewußt, Pergan, - mir ist es nicht bewußt“, sagt Tibor, löst sich von der Mauer und geht mit seinem Freund langsam weiter. „Mag sein, daß dieser Rocksänger wirklich gelebt hat und jetzt dieses Wesen ist. Es mag auch sein, daß meine Träume sehr viel mit der Wirklichkeit zu tun haben, - daß ich einer der wenigen bin, die im Traum diesem Wesen nahe sein dürfen. Weißt du denn mit Bestimmtheit, daß ich der einzige bin, der solche Träume hat? Es könnte noch unzählige Menschen geben, die das selbe Geheimnis wie ich in sich tragen. Und was diese Erinnerungen, - oder diese seltsamen Gefühle betrifft, die ich habe, - das könnte daher kommen, weil ich in meinen Träumen in dieses Wesen schlüpfe und wahrscheinlich einige seiner Erinnerungen annehme.“
„Und warum hast du dich in seine Frau verliebt? Warum kannst du nur sie lieben, und sonst keine andere Frau?“, fragt Pergan.
„Wenn du diese Frau nur einmal sehen würdest, würde es dir nicht anders als mir ergehen, Pergan. Es ist kein Wunder, daß ich nur sie lieben kann.“
„Vielleicht ging es Kim damals genauso? Immerhin war er ein schöner Mann, - die Schönheit selbst, wie die alte Frau sagte. Und doch war er immer mit Maria zusammen, - bis zum Ende, als er dann mit ihr auf spektakuläre Art diese Erde verließ. Wie sprichst du diese Frau an? Nennst du sie Maria?“
„Nein. Ich nenne sie bei keinem Namen. Ich kenne ihren Namen nicht. Ich kannte bis vor kurzem nicht einmal den Namen des Wesens, in das ich schlüpfe. Maria sprach mich manchmal mit Kim an. Ich fühlte in meinen Träumen, daß ich damit gemeint bin. Aber sobald ich wieder aufwachte, war dieser Name aus meinem Gedächtnis verschwunden. Erst als ich mit dir darüber sprach und du mir einige Namen nanntest, fiel es wie ein Blitz in meinen Kopf, und ich wußte, daß dieses Wesen Kim heißt.“
„Du solltest in Zukunft in deinen Träumen bewußt auftreten. Vielleicht erfährst du dann mehr.“
„Das kann ich nicht, Pergan. Dieses Wesen übernimmt einfach die Herrschaft über mich. Es macht Dinge, - es sagt Dinge, - die ich überhaupt nicht verstehe. Einmal erhob es sich in die Lüfte und flog durch das Universum. Und einmal spreizte es seine Finger, und leuchtende Strahlen kamen heraus. Es kann zaubern, Pergan. Es kann wirklich zaubern und macht Sachen, die ich mir nicht erklären kann. Ich lernte von ihm zwar einige Konzentrationsübungen, um in mich zu gehen, - was ich euch ebenso beibrachte, - aber ich werde mich niemals von selbst, - aus eigener Kraft, fliegend von diesem Erdboden erheben können.“
„Soll ich dich zu deinem Zelt begleiten?“, fragt Pergan, als sie vor seinem Haus angelangt sind.
„Nein, danke, - ich werde schon mit Elva fertig werden.“
„Wenn du wirklich ausziehen willst, könnte ich dir behilflich sein. Wie wäre es, wenn du einige Zeit bei uns wohnst, bis sich Elva beruhigt hat? Dann könntest du dir noch immer eine Höhle suchen und hättest Ruhe vor Elva.“
„Das nehme ich gerne an, Pergan. Aber zuerst muß ich mal sehen, wie sich die Dinge in meinem Zelt entwickelt haben. Vielleicht besuche ich dich heute noch mal, - und vielleicht bringe ich dann gleich meine Sachen mit. Aber ich verspreche dir, - ich werde ich euch nicht lange zur Last fallen.“
„Das tust du sicher nicht, Tibor. Meine Frau und unser Sohn lieben dich und würden dich für immer bei uns wohnen lassen.“
Langsam geht Tibor weiter. Er ist noch zu sehr in Gedanken, daß er erst, als er beinahe vor seinem Zelt ist, bemerkt, daß dort ein Menschenauflauf ist. Alle scheinen furchtbar aufgeregt zu sein und rufen wild durcheinander.
„Was ist hier los? Was gibt es in meinem Zelt zu sehen?“, fragt Tibor erstaunt und bahnt sich durch die Menschenmenge einen Weg zu seinem Zelt. Dann prallt er zurück. Das Zelt ist offen. Drinnen liegen Elva und ihr Mann in ihrem Blut. Unter der Menschenmenge befindet sich auch Pergans Frau, Dania. Sie geht auf Tibor zu und nimmt seinen Arm.
„Einer der Menschen hier wollte dich besuchen. Als er ins Zelt kam, sah er die beiden hier. Sie waren schon tot. Ein Nachbar sagte, daß er die beiden schreien gehört hat. Sie haben sich furchtbar gestritten. Am Ende hörte er Elva schreien, und dann war plötzlich Ruhe. Es scheint, daß der Mann seine Frau ermordet hat, und dann sich selbst hinrichtete“, erzählt Dania.
„Oh, Himmel, - das habe ich nicht gewollt“, stöhnt Tibor auf und geht in die Knie.
„Du hast keine Schuld, Tibor. Elva hätte einsehen müssen, daß du sie nicht willst“, sagt Dania tröstend.
„Das ist es nicht, Dania. Ich hätte mich nicht wegschleichen dürfen. Ich hätte bei ihnen bleiben und die Sache ein für allemal klären müssen“, sagt Tibor, erhebt sich wieder und wischt sich über die Stirn.
„Was für ein Tag“, seufzt er und richtet sich dann an die Menschen. „Geht wieder zur Arbeit, oder nach Hause. Hier gibt es nichts mehr zu sehen. Ich werde die beiden alleine zum Friedhof tragen und sie in aller Ehre begraben.“
Als Tibor dann am Grab der beiden steht, ist er müde. Nein, nicht körperlich müde, - viel mehr innerlich. Er kann nicht fassen, daß Menschen noch immer die Fähigkeit besitzen, andere zu töten, und dann auch noch sich selbst hinrichten.
Langsam geht er wieder zum Zelt zurück, um es dann vom Blut zu säubern. Kurze Zeit später kommt Pergan zu ihm.
„Es ist eine Tragödie, Tibor, - aber das Leben geht weiter“, sagt Pergan, der seinem Freund die innere Erschöpfung ansieht.
„Ja, das Leben geht weiter, Pergan, - aber wie?“
„Wir sind noch immer eine große Familie, und die bleiben wir auch. Die anderen Fremden haben sich uns angepaßt und arbeiten mit uns zusammen. Es wird immer schwarze Schafe geben. Dagegen kannst du nichts tun. Schlaf dich erst mal aus. Morgen sieht alles wieder ganz anders aus.“
„Danke, Pergan. Ja, ich glaube, jetzt brauche ich dringend Schlaf“, sagt Tibor müde und verabschiedet sich von seinem treuen Freund.
Das Leben ging weiter. Der Friede und die familiäre Zusammenarbeit im Ballungszentrum blieb erhalten. Tibor hatte nicht mehr so viel Arbeit, um die Menschen zusammen zu halten. Es kamen immer wieder Fremde, die sich dem Ballungszentrum anschlossen. Mit manchen von ihnen gab es anfangs Schwierigkeiten, aber Tibor hatte sie mit seiner Überzeugungskraft bald im Griff. Morde gab es keine mehr, - nur manchmal kleine Diebstähle, wo Tibor wie immer energisch durchgriff, bis die Menschen verstanden. Tibor war alles für diese Menschen, - nicht nur Präsident. Er war auch so etwas wie ein Seelsorger, denn wenn irgendwo Probleme auftauchten, kam man zu ihm und suchte seinen Rat. Pergan und er waren noch immer die besten Freunde. Von Tibors Träumen wurde nicht mehr gesprochen. Tibor träumte noch immer sehr oft von seinem Stern, auf dem er in dieses wunderschöne Wesen schlüpfte und seine Traumfrau lieben durfte. Er konnte nie bewußt in diesen Träumen auftreten, denn wie Tibor schon selbst sagte, - dieses Wesen übernahm sofort die Führungskraft. Tibor dachte auch nicht mehr viel über seine Träume nach. Für ihn war es eben so, daß ihn dieses Wesen aufnahm, weil es anscheinend von ihm wissen wollte, wie weit die Menschheit nun ist, - ob es bald an der Zeit ist, selbst auf die Erde zu kommen, um die letzten Menschen zu retten. Er glaubte an Kim, aber er würde sich niemals als einen Teil von ihm ansehen. Er war eben nur ein Auserwählter, der in seinen Träumen in diesen ehemaligen Rockstar schlüpfen darf.
Tibor ist nun 60 Jahre, - ein alter Mann, der zwar noch ziemlich aufrecht und stolz seine Runden durch das Ballungszentrum macht, aber die Gelenke schmerzen bereits und ein quälender Husten setzt ein. Tiefe Falten zieren sein noch immer etwas gebräuntes Gesicht. Sein weißblondes Haar war weiß geworden und etwas schütter. Tibor ließ es seit damals, als Magda starb, nie wieder schneiden. Nun hängt es strähnig und dünn wie ein weißer Flaum über seine mageren Schultern. Tibor fühlt, daß er nicht mehr lange auf der Erde bleiben wird. Er weiß auch, daß er nicht mehr gebraucht wird, denn er hatte den Menschen alles beigebracht, wie es schon als 12jähriger Junge sein Traum war. Manchmal sitzt Tibor jetzt gerne alleine am Ufer des Flusses, - etwas weiter weg von den Menschen, die an einer bestimmten Stelle noch immer sich selbst und ihre Wäsche waschen. Der Fluß ist nicht mehr so breit wie früher. Das Wasser wird langsam knapp, auch die Nahrung ist geringer geworden. Einige Menschen verlassen bereits das Ballungszentrum, um nach Norden zu wandern. Sie werden diese Idee, zusammen ein gut funktionierendes Uhrwerk zu sein, in sich behalten und das Leben so weiterführen, - egal, wo sie sich einmal niederlassen werden. Es war schwer für sie, sich von Tibor zu verabschieden und zu wissen, daß sie sich wahrscheinlich nie wieder sehen werden. Tibor mag keine Abschiede und wimmelte diese Menschen immer sehr mürrisch ab. Sie verstanden, denn sie kannten Tibor und seine manchmal etwas seltsamen Neigungen. Pergan und Dania sind noch immer glücklich zusammen. Ihr Sohn ist bereits verheiratet und hat selbst ein Kind, - eine Tochter. Tibors tiefe Freundschaft mit dieser Familie hatte natürlich all die Jahre angehalten, wie schon oben geschrieben. Es vergeht kaum ein Tag, an dem sie sich nicht sehen. Manchmal laden Pergan und Dania Tibor zum Essen ein, - und manchmal lädt Tibor seine beiden Freunde zu sich in sein bescheidenes Zelt zum Essen ein. Es ist immer ein Geben und Nehmen bei diesen Menschen, die nun wirklich in Einklang mit der Natur leben.
Heute sitzt Tibor wieder am Flußufer, etwas weiter abseits von den anderen Menschen. Er wartet, bis es dämmert und er nun ganz alleine am Ufer ist. Es ist ein herrlicher Anblick, wenn sich die glühende Sonne senkt, die tagsüber so bedrohlich scheint und die Erde nun auch hier in diesem Paradies langsam austrocknet. Tibor fragt sich, wie so etwas Wunderschönes so todbringend sein kann. Lebensspender und Todbringer in einem.
Als Tibor so nachdenklich am Ufer sitzt und der Sonne zusieht, wie sie langsam untergeht, sieht er direkt vor ihr am Horizont eine menschliche Gestalt. In diesem Moment beginnt sein Herz schneller zu klopfen. Etwas mühsam steht er auf. Die Gelenke schmerzen meistens ein bißchen mehr, wenn er länger irgendwo sitzt. Es braucht dann immer einige Zeit, bis er richtig aufrecht gehen kann. Im Glanz der untergehenden Sonne sieht diese Gestalt wie eine Erscheinung aus, - als ob sie nicht wirklich dort wäre, und nur Tibor sie sehen kann. Als die Gestalt näher kommt, der Tibor ebenso entgegen geht, sieht er, daß ein Tier bei ihr ist. Es sieht wie ein Hund aus, - nein, eher wie ein Wolf. In Tibor erstickt ein Schrei, als er das Gesicht der Gestalt erkennt. Es ist seine Traumfrau. Sie leuchtet aber nicht und hat statt dem goldblonden Haar nun schwarzes Haar. Tibor faßt sich an den Kopf. Er kann es nicht glauben. Jetzt, wo er ein alter Mann ist, kommt seine Traumfrau, welche die Jugend selbst ist. Soll sich erst jetzt sein Traum erfüllen? Nein, er ist ein alter Mann, bei dem absolut nichts mehr los ist. Auch wenn er noch immer seine Träume hat, in denen er Maria liebt, - aber nach dem Aufwachen ist alles trocken.
„Ich bin ein alter Mann. Warum kommst du jetzt? Warum erst jetzt, wo ich mich ein Leben lang nach dir gesehnt habe?“, fragt Tibor ächzend, als sie wenige Meter vor ihm steht. Jetzt kann er auch das seltsame Tier genau erkennen, das wirklich wie ein Wolf aussieht. Es ist ein roter Wolf.
Es ist nicht mehr viel von der Sonne zu sehen. Der Himmel am Horizont leuchtet dunkelrot, über Tibor ist er bereits schwarz. Nur mehr wenige Sekunden, und die Dunkelheit würde auch am Horizont herein brechen.
Es sind auch nur mehr wenige Meter, und seine Traumfrau und der rote Wolf wären vor Tibor gestanden.
„Es war eine Erscheinung“, sagt Tibor leise zu sich selbst. „Eine Vision, die mir etwas sagen wollte.“
Es ist dunkel, - fast zu dunkel. Der Mond ist noch zu klein, um mehr Licht zu geben. Aber so viel kann Tibor erkennen, daß die Gestalt und der Wolf nicht mehr da sind. Sie haben sich mit der untergehenden Sonne aufgelöst.
Langsam geht Tibor zu seinem Zelt zurück. Er legt sich auf sein Lager und wartet auf den Schlaf, besser gesagt, auf den Traum. Er weiß, daß er heute wieder von seinem Stern träumen wird. Vielleicht zum letzten Mal. Es ist, wie Tibor gefühlt hat. Er ist wieder auf seinem Stern, sitzt in dieser farbenprächtigen Höhle seiner Geliebten gegenüber.
„Wann wird es so weit sein, daß wir auf die Erde gehen, um die letzten Menschen zu retten?“, fragt Maria.
„Es wird bald so weit sein“, sagt Tibor in der Gewalt Kims.
„Wirst du dich wirklich als roter Wolf den Menschen opfern müssen?“
„Es wird sein müssen, aber hab keine Angst. Ich weiß, daß wir es schaffen.“
„Aber die Schmerzen, Kim. Du wirst wieder furchtbar leiden. Bedenke, daß sie dich bei lebendigem Leib häuten und dann dein Fleisch essen werden.“
„Die Schmerzen werden nicht so arg sein. Es werden die selben Schmerzen sein, welche eine Mutter bei der Geburt ihres Kindes hat. Du weißt selbst, daß man diese Schmerzen gerne vergißt, wenn man das neue Leben in den Armen hält. Außerdem habe ich immer deine Liebe, die mich alle Schmerzen sehr schnell vergessen läßt“, sagt Tibor lächelnd und streichelt seiner Geliebten über die Wange.
Maria setzt sich zu ihm und drückt sich an ihn. Bald sind sie vereint.
Tibor wacht auf. Er weiß, was er geträumt hat. Er hat sich jedes Wort gemerkt. Und jetzt weiß er auch, was diese Vision am Flußufer zu bedeuten hat.
Tibor ist nicht aufgeregt, als er langsam zu Pergans Haus geht. Es ist noch Nacht, aber er weiß, daß er zu jeder Zeit bei seinem Freund willkommen ist. Er weiß auch, daß Pergan das Schlafzimmerfenster immer offen hat.
Zuerst ruft er seinen Freund sehr leise, um dessen Frau nicht zu wecken. Aber Pergan reagiert nicht. Mühsam versucht Tibor, durchs Fenster zu steigen. Die alten Knochen tun wieder weh, aber Tibor schafft es.
Leise schleicht er sich ans Bett seines Freundes und rüttelt ihn wach.
„Was ist los, Tibor? Bist du verrückt, mich um diese Zeit zu wecken?“, jammert Pergan.
„Ich muß dir unbedingt etwas sagen, mein Freund. Komm nach draußen, wo wir ungestört reden können.“
Pergan steht murrend auf und geht mit Tibor ins Wohnzimmer, wo sie sich auf die Couch setzen.
„Was gibt es denn so Wichtiges, daß du es mir mitten in der Nacht sagen willst. Ich schlafe wahrscheinlich erst eine halbe Stunde.“
„Ich hatte eine Vision, Pergan. Ich saß heute am Flußufer, als die Sonne unterging. Plötzlich sah ich am Horizont eine Gestalt. Sie kam näher. Mit ihr war ein roter Wolf. Ich habe sie beide gesehen, Pergan. Ich habe das Gesicht dieser Gestalt gesehen. Es war meine Traumfrau. Und jetzt halte dich fest, - Pergan. Der rote Wolf war Kim. Ich weiß jetzt auch, wie er die Menschen retten wird. Er wird als roter Wolf zu ihnen kommen. Sie werden sein Fleisch essen und dadurch seine Kraft bekommen. Sie werden überleben, Pergan. Ich weiß zwar nicht, wie es weiter geht, - aber ich weiß nun mit Bestimmtheit, - Kim wird die Menschen retten. Nach dieser
Vision ging ich nach Hause. Ich träumte wieder. Ich war wieder in Kim. Maria fragte ihn, wann sie wieder auf die Erde gehen. Und Kim sagte, daß es bald sein wird, und daß er sich als roter Wolf opfern wird.“
„Es ist wunderbar, daß du mir das sagst. Aber hätte es nicht Zeit bis zum Morgen gehabt, Tibor?“
Tibor lächelt nur. Er weiß, daß es für ihn hier im Ballungszentrum keinen Morgen mehr geben wird.
„Verzeih, daß ich dich geweckt habe, aber ich mußte unbedingt mit jemandem darüber sprechen. Und da nur du mein Geheimnis kennst, bist du nun mal der einzige Mensch, zu dem ich gehen konnte.“
„Schon in Ordnung, Tibor. Du kannst hier bleiben. Ich möchte nur noch ein bißchen schlafen, dann leiste ich dir wieder Gesellschaft“, sagt Pergan und steht auf.
„Nein, danke. Ich gehe schon zu meinem Zelt zurück. Aber vergiß nicht, was ich dir gesagt habe. Die Menschen müssen keine Angst haben. Sie werden nicht aussterben, und die Erde wird auch nicht sterben. Kim wird sie retten. Ihr müßt nur rechtzeitig nach Norden aufbrechen. Es wird nicht mehr viel Zeit sein, und die Nahrung und das Wasser werden hier ausgehen“, sagt Tibor, als ihn sein Freund zur Haustür begleitet.
„Warum sprichst du so seltsam? Du redest, als ob wir uns nie wieder sehen würden.“
„Nein, Pergan“, winkt Tibor ab. „Ich muß alles sofort sagen, woran ich eben denke. Ich bin schon etwas verkalkt und vergesse meistens alles.“
Pergan lacht und verabschiedet sich von seinem Freund. Er weiß nicht, daß es ein Abschied für immer ist.
Tibor geht nicht mehr zu seinem Zelt. Er geht dem Fluß entlang, Richtung Norden, wo er diese Vision hatte. Tibor geht langsam. Er weiß, daß Zeit für ihn jetzt keine Rolle mehr spielt. Sein Husten wird immer schlimmer. Manchmal so schlimm, daß er anhalten und sich kurz setzen muß. Tibor hat das Gefühl, als ob die Luft immer dünner wird. Die Atemprobleme in letzter Zeit machten ihm schwer zu schaffen. Jetzt scheint seine Krankheit den Höhepunkt erreicht zu haben. Tibor röchelt und schöpft immer schwerer nach Luft. Seine Schritte werden schleppend. Der Horizont scheint endlos zu sein. Die Weite, die sich vor ihm ausbreitet, erinnert ihn an seine Reise, die er damals machte, als er noch jung war. Diese Kraft hätte er heute nicht mehr. Viele Gedanken gehen Tibor durch den Kopf. Fast läuft sein gesamtes Leben noch einmal wie ein Film vor ihm ab. Sehr oft denkt er dabei auch an Pergan, seinem besten Freund. Wie sagte Pergan einmal, als Tibor davon sprach, daß er mehr als großes Glück hatte, daß ihn Rufus aufgenommen hat? Pergan sagte: „Sieh es als Bestimmung an. Die Menschen haben doch nur auf einen wie dich gewartet, und die Zeit drängte. Wenn du dieses Glück nicht gehabt hättest, hätte deine Laufbahn bis zum Präsidenten wohl zu lange gedauert. Es war dein Schicksal, Tibor. Es mußte so kommen. Es war weder Zufall, noch Glück. Es mußte so sein.“
Tibor blickt sich um. Noch kann er das Ballungszentrum erkennen. Er möchte aber weiter wandern, - so weit, daß ihn niemand findet. Diesmal soll es endgültig sein. Tibor haßt Abschiede. Selbst der Tod, wenn er sterbenskrank in seinem Zelt gelegen wäre, und seine Freunde um ihn gestanden wären, - wäre ein Abschied gewesen. So ist es besser, - denkt sich Tibor. So werden sie denken, daß ich ewig lebe.
Die Sonne ist bereits hoch am Himmel. Tibor schleppt sich noch immer hustend und quälend weiter. Jetzt kann er das Ballungszentrum nicht mehr sehen, wenn er sich umdreht. Der Durst macht Tibor auch zu schaffen. Er hat keinen Vorrat mitgenommen. Die Leinentasche von damals, liegt im Zelt. Aber Tibor braucht keine Vorräte mehr. Er fühlt, daß nun die Zeit gekommen ist, um sich von dieser Erde für immer zu verabschieden. Jetzt wird er bald wissen, wohin Argon, seine Eltern, Rufus und Magda, und viele andere Menschen, die er liebgewonnen hatte, gegangen sind. Gibt es wirklich eine andere Dimension? Was wird aus seinen Träumen? Wen wird Kim nun zu sich rufen, wenn er nicht mehr unter den Lebenden weilt.
Tibor sieht ein Gebirge links von sich. Langsam geht er darauf zu. Dort wird er sich eine Höhle suchen. Sie wird sein Sterbelager sein. Wir verlassen Tibor jetzt, denn wir wissen, daß er Abschiede haßt. Wir wollen ihm nicht beim Sterben zusehen. Wir können nur ahnen, daß Tibor eine Höhle gefunden hat, sich dort auf den harten Boden legte und friedlich, - hoffentlich ohne Schmerzen, - für immer eingeschlafen ist. Wahrscheinlich träumte er wieder, aber mitten im Traum wird er gefühlt haben, daß es nun kein Traum mehr ist. Er wird sich bewußt geworden sein, daß er doch ein Teil dieses Wesens ist, das sich Kim nennt, und vor langer, langer Zeit hier auf der Erde als Rocksänger gelebt hat.
Man hat Tibor nie wieder gesehen. Man hat auch seine Leiche nicht gefunden. Nur Pergan schien ebenso zu ahnen, wie wir, daß sein bester Freund endlich seine Frieden und seine wahre Liebe gefunden hat. Die Menschen trauerten lange um ihren Präsidenten. Sie vergaßen nichts, was er ihnen gelernt hat.
Das Ballungszentrum wurde langsam immer kleiner. Viele Menschen wanderten in Scharen nach Norden, um dort ein neues Paradies zu errichten. Unter diesen kleineren Gruppen gab es meistens einen Anführer, der, wie Tibor, die Aufgabe übernahm, die Uhrwerke manchmal aufzuziehen, daß sie auch wirklich gut funktionierten.
Pergan und Dania lebten noch zwei Jahre im Ballungszentrum, dann starben sie kurz hintereinander. Ihr Sohn zog etwas später mit seiner Familie und einer kleineren Gruppe von Menschen ebenfalls nach Norden. Da Pergan Tibors Geheimnis immer für sich behalten hatte, wußte niemand, daß irgendwann einmal, nach vielen Jahren, die letzte Rettung für die Menschen kommen wird, - daß im Fleisch des roten Wolfes auch ein kleiner Teil von Tibors Kraft stecken wird.

Ende