Dies ist die Geschichte eines Menschen, der vor etwas mehr als 2000 Jahren in einem kleinen Dorf im heutigen Lande Israel geboren wurde.

Dies ist nicht die Geschichte, wie sie vielleicht wirklich war. Es ist dies die Geschichte meiner eigenen Vorstellung über einen Menschen, der Jahre nach seinem Tod zu einem Gott erhoben wurde.

Schon vor der Geburt Joshuas gab es große Aufregung in dem kleinen Dorf, die sich um seine Mutter Maria drehte. Maria war noch sehr jung, als sie von dem alten Mann, namens Joseph und seinen drei Söhnen im bescheidenen Heim als Tochter aufgenommen wurde, nachdem ihre Eltern gestorben waren. Maria war ein fleißiges Mädchen, das sich um das Heim und das Zubereiten der Nahrung kümmerte. Sie lebte sich sehr schnell in die neue Familie ein und kam durch die liebevolle Aufnahme leichter über den Tod ihrer Eltern hinweg. Joseph war wie ein Vater zu ihr, - und seine Söhne wie Brüder, - zumindest bis auf einen Sohn, den ältesten, der Jakobus getauft wurde. Obwohl Joseph seinen Söhnen den Schwur abgenommen hatte, das hübsche Mädchen ehrenvoll und wie eine leibliche Schwester zu behandeln, setzte sich Jakobus eines Nachts darüber hinweg und legte sich zu der tief schlafenden Maria. Jakobus wusste bereits vom tiefen Schlaf des Mädchens. Einmal mussten sie Maria wecken, wobei schütteln vergebens war. Also trugen die zwei jüngeren Brüder sie aus dem Schlafraum in die Stube und setzten sie an den Tisch. Aber Maria schlief noch immer. Joseph hatte dann die Idee, dem Mädchen etwas Wasser ins Gesicht zu spritzen, wodurch sie endlich aufwachte. Nun, so bekam Maria nicht mit, dass der älteste Bruder Jakobus sich eines nachts heimlich zu ihr legte und sie schwängerte.
Natürlich gab es eine große Aufregung, als Joseph der immer größere werdende Bauch Marias auffiel und er auch sofort einen seiner Söhne verdächtigte. Diese jedoch, auch Jakobus, schworen, sich dem Mädchen niemals auf diese Weise genähert zu haben. Joseph ließ die Hebamme holen, die Marias Schwangerschaft, aber – welch Wunder – noch immer Jungfernschaft feststellte. Wahrscheinlich waren die Kenntnisse der Hebamme nicht sehr groß. Sie sah zwar, dass das Jungfernhäutchen noch da war, - aber sie sah nicht, dass es doch leicht verletzt war und die Spermien dadurch bis zu den Eierstöcken vordringen konnten.
Das ganze Dorf war nun in Aufruhr. Hier kannte jeder jeden, - und es gab keine Geheimnisse, was ja auch der Wille der Menschen in diesem kleinen Dorf war. Es sollte jeder für jeden da sein, - und da es ein sehr armes Dorf war, wo die Menschen, wie man so sagt, von der Hand in den Mund lebten, war diese Gemeinschaft nur ein Segen.
Die Menschen liebten Maria und vertrauten ihr auch. Ebenso liebten sie Joseph und seine Söhne und auch ihnen vertrauten sie. Also musste es ein Wunder sein. Dennoch gab es einige Menschen im Dorf, die dieses Wunder anzweifelten und Joseph rieten, das Mädchen, um seine Ehre zu retten, zu ehelichen. Joseph war von diesem Vorschlag nicht begeistert, denn er liebte noch immer seine vor wenigen Jahren verstorbene Frau. Und eine Ehe rechtmäßig zu vollziehen, würde auch heißen, sich mit der neuen Frau zu vereinigen, was er sofort ausschloss. Immerhin war er bereits ein alter Mann, dem der Sinn und wohl auch der Körper nicht mehr danach standen. Natürlich gab es Debatten zwischen Joseph und seinen Söhnen, ob es nicht besser sei, dass einer der Söhne Maria zur Frau nimmt. Jakobus wäre schon gerne bereit dazu gewesen, aber er befürchtete, dass sein heimlicher Beischlaf dadurch ans Licht kommen würde. So blieb Joseph nichts anderes übrig, - und er nahm das junge Mädchen zur Frau, jedoch ohne die Ehe wirklich rechtmäßig zu vollziehen. Er behandelte Maria weiterhin wie eine Tochter.
Einige Monate später erblickte der kleine Joshua das Licht der Welt. Es war eine leichte Geburt, fast schmerzlos, - und wieder stellte die Hebamme vorher fest, dass Maria noch immer Jungfrau ist. Das Baby war gesund und sah auch sehr hübsch aus, obwohl vielleicht hübsch für Neugeborene nicht ganz passend ist. Was sehr auffällig war, waren die Augen des Kleinen und vielleicht auch seine noch spärliche Haarpracht, die nicht ganz so dunkel war, wie es die Menschen in diesen Breiten hatten. Ja, die Augen – sie hatten ein ganz seltsames Leuchten, und die Farbe der Iris war türkis und ungewöhnlich grell. Es schien, als könne das Neugeborene sofort sehen, als es gleich nach der Geburt seine Augen aufschlug.
Joseph war etwas beunruhigt, als die Hebamme schweigend das Haus verließ und die Augen zum Himmel hob, als wolle sie sagen: „Da geht etwas nicht mit rechten Dingen zu.“

Drei Jahre vergingen und aus dem Baby war ein hübscher kleiner Junge geworden, dessen Haar noch immer hell war, - nicht direkt blond, eher rötlich braun. Aber er hatte wunderschönes volles und sanft gelocktes Haar. Seine Augen waren für die Familie und die Menschen im kleinen Dorf noch immer ein Rätsel. Wenn er sie anblickte, hatten sie das Gefühl, er würde in ihr tiefstes Inneres blicken. Einige der Menschen senkten errötend den Blick, wenn der kleine Joshua ihnen in die Augen sah. Er hatte keinen stechenden Blick, obwohl viele das sagten, aber doch fühlten sie eine unbeschreibliche Sanftheit, als würde der Junge über das, was er vielleicht in ihrem Inneren sah, überhaupt nicht urteilen.
Eine ältere Nachbarin der Familie Joshuas sagte einmal: „Er scheint meine Seele zu sehen, mit all den Sünden, die ich jemals verbrochen habe, - aber sein Blick sagt mir, dass nur ich selbst sie mir vergeben kann.“
Sie hatte es auf den Punkt gebracht.
Es gab aber noch etwas, was an dem Jungen sehr seltsam war. Er sprach, wenn er sich unbeobachtet fühlte, sehr oft mit sich selbst, - oder mit einem unsichtbaren Freund. Maria, seine Mutter, fragte ihn auch mehrmals, mit wem er sich unterhält. Joshua sah sie zuerst fragend an, dann blickte er zur Seite, als ob an seiner Seite noch jemand stehen würde, den aber nur er sehen konnte. Nachher senkte er seinen Blick und schwieg. Auch Joseph nahm sich dem Kleinen an und stellte ihm dieselbe Frage wie Maria. Auch hier war wieder dieselbe Reaktion.
Der Schlafraum war für die gesamte Familie, jedoch waren die einzelnen Lagerstätten von der Decke herab mit einem Tuch verhüllt, um doch ein wenig Intimsphäre zu haben. Man mag sich jetzt vielleicht fragen, wie es Jakobus damals möglich war, auch die anderen nicht zu wecken, als er bei Maria lag. Ja, vielleicht war dies Schicksal und musste so sein...
Aber Joshuas Unterhaltung mit seinem imaginären Freund konnten sie hören. Sie hörten nicht die Worte, verstanden also nicht deren Sinn, - aber sie hörten, dass er sich leise flüsternd mit jemandem unterhielt, den sie nicht sehen oder wahrnehmen konnten.
Noch stellte das kein größeres Problem dar, aber bald geschahen Dinge – Kleinigkeiten, wie etwa das Umwerfen eines Bechers am gemeinsamen Tisch, wo man Joshua verdächtigte, weil er ja der Nächste an diesem Geschehen war, die er aber abstritt. Wurde er gefragt, wer es sonst gewesen sein könnte, schwieg der Junge.
Dieses Geheimnis, welches Joshua nicht verraten wollte oder konnte, irritierte ihn selbst, da er sich wunderte, warum niemand seinen Zwillingsbruder (!) sehen kann. Warum nur er?
Bereits als Einjähriger wusste er, dass er nicht das einzige Kind Marias ist, nur konnte er sich selbst dies in diesem Alter noch nicht erklären. Als Dreijähriger sah er andere Kinder im Dorf, die Geschwister hatten. Er hörte, wie man sie nennt, - darunter gab es auch zwei Zwillinge. So fragte er einmal seinen imaginären Freund, den nur er sehen konnte, ob er vielleicht sein Zwillingsbruder sei. Und dieser bejahte. Nur – warum bloß Joshua ihn sehen kann und sonst niemand, darauf konnte ihm der Zwillingsbruder, der sich Luzifer nannte, auch nichts sagen.
Seltsam war für Joshua, dass Luzifer sehr viel reifer war. Er schien nicht der dreijährige Zwillingsbruder, sondern ein Wesen zu sein, welches der Allwissenheit sehr nahe war.

Wenige Jahre später spielte Joshua unweit vom Haus in einem Garten mit seinem imaginären Zwillingsbruder. Luzifer selbst hob eine kleine Grube aus, in der sich das Regenwasser sammelte, - und Joshua baute daneben mit Erde ein kleines Haus. In diesem Moment kamen einige Nachbarsbuben hinzu. Einer von ihnen schüttete mit dem Fuß Erde in die kleine Wassergrube, was Luzifer so wütend machte, dass er dem Jungen einen heftigen Stoß gab und dieser so unglücklich stürzte und mit dem Kopf auf einen Stein fiel. Joshua hockte am Boden und starrte entsetzt auf den Jungen, aus dessen Kopf Blut floss. Durch das Schreien der anderen Kinder, kamen sofort Erwachsene hinzu und sahen das Unglück.
Als Joshua hörte, dass der Junge tot ist, glaubte er selbst sterben zu müssen. Sogar sein Herz setzte für einen Moment aus, und er wurde totenblass. Da kam auch schon seine Mutter und musste sich anhören, was ihr kleiner Sohn angerichtet hatte.
Der Friede im Dorf war nun gestört. Die Menschen beschlossen, dass es am besten wäre, wenn Joseph mit seiner Familie das Dorf verlassen würde. Nun kam auch heraus, dass ihnen der kleine Joshua von Anfang an sehr unheimlich war, - schon das Rätsel der Schwangerschaft würde vieles aussagen, nämlich, dass Maria womöglich von einem Dämon geschwängert wurde, der sich nun in diesem Jungen, in Joshua, zeigte.
Aber Joseph war bereits sehr krank und musste die meiste Zeit das Bett hüten. Eine Reise würde er nicht mehr schaffen, und alleine lassen konnte man ihn nicht. Maria versprach, Joshua nicht mehr aus dem Haus zu lassen, - und somit würden keine weiteren Unglücke mehr passieren.
Die Trauer um den Nachbarsjungen war sehr groß. Auch Joshua trauerte um ihn, obwohl er nicht sagen konnte, dass die Kinder im Dorf ihm stets wohlgesinnt waren. Sie mussten wohl von ihren Eltern oder anderen Erwachsenen im Dorf gehört haben, dass mit Joshua nicht alles mit rechten Dingen zugegangen ist. Einige dieser Kinder nannten ihn sogar Bastard, der keinen richtigen Vater hat. Aber auch das kränkte Joshua nicht. Er konnte die Reaktion der Menschen im Dorf sogar verstehen, trotz seines kindlichen Alters. Ja, er wunderte sich doch selbst sehr oft, warum er so anders war und sogar so anders aussah, als die anderen Kinder im Dorf. Sein Haar war zwar etwas dunkler geworden, aber noch immer hatte es den rötlichen Stich der Abendsonne, und seine Augen waren ganz und gar nicht das, was man menschlich nennen konnte. Nicht, dass sie eine andere Form gehabt hätten, - es lag an der grellen, schocktürkisfarben Iris und an der Art, wie Joshua seine Mitmenschen ansah.
Maria musste ihren einzigen Sohn nicht einsperren, - er blieb von selbst im Schlafraum, in seinem Bett. Und er war froh, alleine zu sein, um sich mit seinem Zwillingsbruder auszusprechen, - um ihm zu sagen, dass er eine sehr schwere Sünde begangen hat. Aber Luzifer lachte nur und meinte, das Leben dieses Jungen war nun mal vorbei. Er habe ihn nicht mit der Absicht gestoßen, dabei zu sterben. Dass er mit dem Kopf auf einen Stein fiel, war Schicksal, - sozusagen das vorausbestimmte Ende dieses Menschen.
Vielleicht zum ersten Mal entwickelte sich zwischen Joshua und Luzifer eine sehr interessante Diskussion, wo Luzifer dem Jungen sagte, dass es Gut oder Böse nicht wirklich gibt. Viele Dinge, die Menschen tun, sind nicht beabsichtigt – und doch treffen sie ein, weil es einfach so sein muss. Joshua verstand aber nicht, - oder besser gesagt, er wollte nicht verstehen, denn für ihn war das Schicksal nicht unausweichlich. Er meinte, der Mensch kann sehr wohl etwas dagegen tun. Joshua sagte, es sei nicht recht gewesen, den Jungen zu stoßen, nur weil er die kleine Grube mit ein bisschen Erde gefüllt hat. Gewalt sei das Letzte, was man seinen Mitmenschen antut. Aber Luzifer ließ nicht locker. Er meinte, dass die Menschen doch Veränderung wollen, - aber wenn sie eintrifft, ist es ihnen auch nicht recht. Und zur Veränderung gehört nun mal auch der Tod.
„Ja, wenn er natürlich herbeigeführt wird, - durch Krankheit vielleicht, - aber durch die Hand eines anderen Menschen bedeutet Gewalt“, sagte Joshua, der wohl auch durch die ständige Verbundenheit seines erfahrenen Zwillingsbruders schon viel reifer war als andere Jungen seines Alters.
Dann stellte er Luzifer wieder die Frage, die ihm bis jetzt noch nie beantwortet wurde:
„Wer bist du wirklich?“
„Ich komme aus einem Reich, in dem Götter, Göttinnen, Engel und Dämonen herrschen, und habe nur die Gestalt eines Menschen angenommen, der genauso heranwächst wie du.“
„Warum kann dich niemand, außer mir, sehen – und warum sehen sie aber deine Taten?“
„Weil dies mein Wille ist.“
„Und was bezweckst du mit deiner Anwesenheit?“ fragte Joshua.
„Ich bin da, um dich in mein Reich zu bringen, - um dir all die Annehmlichkeiten meines Reiches zu zeigen, bis du sie annimmst und zu einem von uns wirst.“
Nach diesem Worten schwieg Joshua. Er drehte sich auf Seite, somit seinem Zwillingsbruder dem Rücken zu, und dachte nach. Wie schon gesagt, verstand er die Reaktionen seiner Mitmenschen, seine Familie inbegriffen, die ja nun auch sehr böse auf ihn war, noch dazu, wo er abstritt, den Jungen gestoßen zu haben.
„Das mag schon sein“, sagte Maria vorhin, als sie ihn ins Haus führte. „Aber die anderen Kinder sagen, dass du es trotzdem warst. Es sei dein Blick gewesen, - deine so seltsamen Augen, die so vielen Menschen im Dorf Angst machen.“
Er war also ein Ausgestoßener, weil er so seltsame Augen und helleres Haar, wie ja auch einen etwas helleren Hautteint hatte. Und niemand glaubte ihm. Gehörte er vielleicht auch in dieses andere Reich, wie sein Zwillingsbruder? Hinter ihm hörte er Luzifer leise flüstern: „Ich werde dich nach Hause bringen.“
Ist das andere Reich sein wahres Zuhause? – fragte sich Joshua in Gedanken. Er spürte Tränen an seinen Wangen, - aber er weinte nicht um sich selbst. Joshua weinte viel mehr um den toten Jungen, um dessen Familie, vor allem um dessen Mutter, die so verzweifelt aufschrie und er ihren Schmerz tief in seinem Herzen spüren konnte. Das war der Moment, als sein Herzschlag für einen Augenblick aussetzte, - so tief war der Schmerz, den er mitfühlen konnte. Joshua weinte auch um seine Familie, die es seinetwegen so schwer hatte, noch dazu wo Joseph, sein angeblicher Vater schwer krank war und bald sterben könnte. Ebenso weinte er um die Menschen im Dorf, die Angst vor ihm – einem kleinen Jungen – hatten und es kaum wagten, in seine Augen zu blicken. Ihn quälte auch das Bild, das er noch immer im Geiste vor sich sah, - der tote Junge, aus dessen Kopf so viel Blut floss und der plötzlich ganz anders aussah.

Viele Tage blieb Joshua nur im Schlafgemach, außer, wenn er die Notdurft verrichtete, ging er hinters Haus, um dann schnell wieder in seinem Bett zu sein. Nahrung brachte ihm Maria ans Bett, aber er hatte nicht viel Hunger. Ihm genügte einmal Tag ein bisschen Brot und ein Becher Milch oder Wasser.
Nach diesen Tagen machte Jakobus, der eine kleine Tischlerwerkstätte betrieb, den Vorschlag, Joshua einige Stunden am Tag bei ihm arbeiten zu lassen. Jakobus hatte Mitleid mit dem Jungen und konnte kaum mehr mit ansehen, wie dieser Tag und Nacht im Schlafraum verbringen musste, als ob er auch von seiner Familie verbannt wurde.
Joshua machte die leichte Arbeit, die ihm Jakobus in der Tischlerei auftrug, anfangs gerne. Er lernte einiges über Holz, - welche Art sich für dies oder jenes eignet, - und bald konnte er einige Figuren schnitzen und auch Jakobus und seinen Brüdern bei etwas schwierigeren Arbeiten helfen. Zu dieser Zeit hielt sich Luzifer, der Zwillingsbruder, wie ihn Joshua nur mehr selten nannte, kaum in seiner Nähe auf. Tischlerarbeit sei nichts für ihn, meinte er. Da ging er lieber an den nahen See, am Ende des Dorfes, wo die Gegend hügelig wurde und man am Horizont Berge sehen konnte. Joshua kannte den Platz, da er früher mehrmals mit seiner Mutter dort war, wenn sie die Wäsche für die Familie im See wusch.
Obwohl Luzifer Joshua stets drängte, mit ihm an den See zu gehen, entschied sich der Junge in den ersten Monaten für die Arbeit und ging nach einigen Stunden gehorsam wieder nach Hause, was ja nur ein paar Schritte waren und wo er nur selten von den Dorfbewohnern gesehen wurde. Und wenn, machten alle einen Bogen um den Jungen...
Aber man ließ ihn gewähren, als Maria sie aufklärte, dass der Junge sich gebessert hat und nun auch arbeitet.
Nach den ersten Monaten, als Joshua dachte, genug über das Tischlerhandwerk gelernt zu haben, gab er Luzifers Drängen nach und ging mit ihm, statt zu Jakobus in die Werkstätte, an den nahen See. Sie suchten sich dort einen Platz, wo sie ungestört sein konnten und die Frauen aus dem Dorf, die am See ihre Wäsche wuschen, sie nicht sehen konnten.
An diesem geheimen Platz am Seeufer geschah das nächste rätselhafte Ereignis in Joshuas noch sehr jungem Leben. Luzifer schwamm eben in den See hinaus, während Joshua noch am Ufer stand und sich eben sein naturfarbenes Gewand ausziehen wollte, als sich plötzlich ein sehr heller Lichtstrahl direkt vom Himmel auf den Jungen senkte. Joshua musste seine Augen schließen, so hell wurde es um ihn. Aber nach einer Weile wagte er, sie zu öffnen. Ihm war, als könne er direkt in den offenen Himmel sehen. Sein ganzer Körper begann zu zittern. Seine Knie gaben nach, und er fiel auf sie, während sich sein Gesicht nach oben, zu dem strahlenden Licht wandte. Fast war ihm, als könne er ganz oben, wo der offene Himmel zu sein schien, eine Gestalt erkennen. Sie sah groß und wunderschön leuchtend aus. Helles Gewand wehte um den strahlenden Körper und fast golden glänzendes, langes Haar umrahmte in weichen Locken das schöne Gesicht. Joshua war von dieser Schönheit so verzückt, dass er die Besinnung verlor und auf den Rücken fiel.
Erst, als ihn Luzifer an den Armen schüttelte, schlug er die Augen wieder auf. Erst jetzt fiel ihm auf, dass Luzifer wie sein eigenes Spiegelbild aussah, - bis auf eine Kleinigkeit, - Luzifer hatte kein Muttermal, wie er, unter dem linken Auge. Aber dann erinnerte er sich, dass er nur menschliche Gestalt angenommen hat, - in Wirklichkeit aber in seinem Reich weder Gestalt noch irgendeine andere Form habe. Warum kam er ausgerechnet jetzt auf diesen Gedanken? Lag es an dem leuchtenden Wesen, welches ihm eben erschienen ist? War es das Wesen, welches ihm diesen Gedanken denken ließ?
Langsam richtete sich Joshua auf und rieb sich die Augen.
„Ich weiß, was du gesehen hast“, sagte Luzifer plötzlich und setzte sich neben Joshua. „Ich habe das Licht auch gesehen. Und ich weiß, dieses Licht meint es nicht gut mit dir.“
Joshua blickte verwirrt auf seinen imaginären Zwillingsbruder.
„Das sagst du? Ausgerechnet du, der mir weismachen will, dass es Gut und Böse nicht wirklich gibt? Ich kann dir sagen, dass ich mich in diesem Licht viel wohler gefühlt habe, als in deiner Gegenwart, die mich bald auch so ängstigt, wie ich die Bewohner unseres Dorfes ängstige, obwohl ich ja weiß, dass sie vor mir selbst keine Angst haben. Es mag sein, dass sie dich nicht sehen können, - aber ich weiß jetzt, dass sie dich fühlen. Sie fühlen dich sogar sehr viel mehr als mich, obwohl sie mich sehen.“
Nach diesen Worten stand Joshua auf und lief nach Hause, ohne auf Luzifer zu achten, ob dieser ihm folgte oder nicht. Im Haus traf den Jungen der nächste Schicksalsschlag. Joseph war eben gestorben, - und somit war die Familie nicht nur eines sanften Oberhauptes beraubt, sondern auch materiell ärmer geworden. Joseph, einst Hohenpriester, hatte noch immer ein kleines Einkommen, mit dem er die Familie neben Jakobus’ unregelmäßigen Einkommen aus der Tischlerwerkstätte, ernähren konnte. Nun aber zählte Joshuas Familie fast zu den Ärmsten des Dorfes.
Joshua vermisste Joseph sehr, obwohl er im letzten Jahr nicht mehr sehr oft an seiner Seite war. Aber er dachte an früher, als ihm Joseph lesen und auch ein bisschen schreiben beibrachte, - vor allem das Lesen in den Heiligen Schriften. Selbst wenn Joseph oft wütend wurde, weil der Junge zu viel fragte, was diese Worte oder jene Worte in den Heiligen Schriften bedeuten, liebte Joshua diese Lernstunde, wie Joseph es nannte. Und auch, wenn sich beide nie wirklich einig waren, denn Joseph sagte stets: „Das Wort Gottes wird nicht hinterfragt. Das, was hier steht, ist die Wahrheit, an die wir glauben müssen und nach dem wir uns richten müssen“, lernte Joshua sehr viel daraus. Was ihn dabei wunderte, war, dass Luzifer Joseph Recht gab. Auch er meinte, dass diese Worte niemals hinterfragt werden dürfen und so angenommen werden müssen, wie sie dort stehen. Sehr vieles kam Joshua in diesen Schriften hart und unmenschlich vor, - vor allem die Worte der Rache, wo stand: Auge um Auge – Zahn um Zahn. Also schon wieder Gewalt. Joshua konnte nicht glauben, dass so ein Gott die Welt und die Menschen erschaffen hat, wobei er die Menschen an erste Stelle setzte. Was machte die Menschen so besonders, dass er ihnen erlaubte, sich die Welt untertan zu machen? Sind nicht alle Geschöpfe aus demselben Stoff wie die Menschen und haben sie deswegen nicht die selben Rechte? Das hörte sich doch so an, dass der Mensch die Erde und ihre Tiere ausbeuten darf. Und daran konnte Joshua nicht glauben.
All diese Gedanken gingen Joshua durch den Kopf, während Joseph zu Grabe getragen wurde, während er zu Hause im Schlafraum bleiben musste. Noch immer fühlte er sich nicht wirklich ausgestoßen, denn er konnte ja verstehen, wieso den Menschen seine Anwesenheit nicht angenehm war. Verzeihen kannte er nicht, - es gab für ihn ja nichts zu verzeihen. Stattdessen erkannte er Verständnis und Mitgefühl.

Bald war Joshua 15 Jahre alt. Ab und zu arbeitete er noch in Jakobus’ Werkstätte, - aber viel lieber hielt er sich am Seeufer auf, wo er manchmal das Licht wieder sah und es ihn sanft umhüllte. Wieder sah er in ihm eine Gestalt wie aus reinem Licht, die ihm zulächelte. Für Joshua war es eine wunderschöne, junge Frau, in die er sich augenblicklich verliebte.
Die Sehnsucht nach dieser Erscheinung trieb ihn immer öfter hinaus zum Ufer, dass er oft die Tageszeit vergaß und Jakobus ihn holen musste. Joshua war dann immer froh, dass die Erscheinung gerade in diesem Moment, wo sein Bruder ihn suchte, nicht da war. Luzifer, der ihn noch immer ständig vor dem Licht warnte, war ja noch immer unsichtbar für andere Menschen.
Joshua bekam kaum mit, dass sich Maria und die drei Brüder große Sorgen um ihn machten. Es waren nicht direkt Sorgen um ihn selbst, sondern viel mehr Sorgen um die gesamte Familie, die durch Josephs Tod um ein Einkommen gebracht wurde.
Auch diesmal – die Sonne war schon längst untergegangen, kam Jakobus an den See, um Joshua nach Hause zu holen. Auf dem Heimweg klärte er den Jüngling auf.
„Bemerkst du nicht, dass deine Mutter fast Tag und Nacht arbeitet? Sie muss lange Wege auf sich nehmen, - bis in die nächsten Dörfer, um für uns Geld durch Nähereien zu verdienen. Meine Brüder arbeiten im nächsten Dorf für andere Menschen auf den Äckern und zusätzlich helfen sie mir in der Werkstätte, weil du es für wichtiger hältst am Seeufer zu sein und mir keine Hilfe mehr bist. Dass du aber genauso unsere Nahrung mit uns teilst und ein Dach über dem Kopf hast, - und etwas dazu verdienen könntest, indem du arbeitest, daran denkst du nicht.“
Zu Hause warteten schon Maria und die beiden anderen Brüder auf Joshua und Jakobus. Dort erfuhr Joshua, dass sie beschlossen haben, ihn in eine Gemeinschaft zu schicken, wo ein verwandter Vetter Joshuas bereits ein Jahr lang lebte. Es handelte sich um eine religiöse Gemeinschaft, genannt die Essener, die ein sehr strenges Leben führen, - dort aber regelmäßig Nahrung und Unterkunft haben, wofür sie aber hart arbeiten müssen.
Von diesem Vetter erzählte Joshuas jüngster Bruder, dass seine Familie auch sehr arm sei und sehr froh war, dass die Gemeinschaft ihn aufgenommen hatte, da sie nun ein Maul weniger zu stopfen hätten.
Da Jakobus der älteste war, hing nun alles von seinem Wort ab. So Leid es ihm um Joshua tat, von dem ja nur er wusste, dass der Junge sein leiblicher Sohn ist, - sah er ein, dass es für die Familie und auch für das Dorf das Beste wäre, Joshua in diese Gemeinschaft zu bringen.
In der Nacht darauf wurde Luzifer wieder einmal sehr wütend. Der Beschluss, dass Joshua zu den Essenern sollte, passte ihm ganz und gar nicht. Joshua bekam zuerst nur im Halbschlaf mit, wie sich Luzifer an Jakobus’ Lager heranschlich und mit seiner rechten Hand das Tuch berührte, das urplötzlich Feuer fing. Joshua sprang auf und schrie. Mehr war ihm nicht möglich, so sehr hatte ihn Luzifers Tat erschreckt. Einer der Brüder war ebenso schnell aus dem Bett, riss das Tuch herunter und sprang so lange darauf herum, bis das Feuer gelöscht war. Nun waren alle munter und sahen Joshua stumm, aber entsetzt an – vor allem Jakobus, der kaum glauben konnte, dass sein eigener Sohn ihn durch Feuer töten wollte.
Dann wandten sie sich von dem Jungen ab und verließen den Schlafraum.
Joshua blickte auf Luzifer, der grinsend neben ihm stand.
„Jetzt werden sie dich nicht zu dieser Gemeinschaft bringen“, sagte er.
Joshua schloss die Augen und seufzte. Er konnte und wollte nichts mehr sagen. Außerdem glaubte er, dass es ohnehin sinnlos ist, denn schon viel zu oft hatte er Luzifer gebeten, nichts mehr zu tun, ohne es vorher mit ihm abzusprechen. Sah er denn nicht ein, dass er ihm das Leben durch seine oft schrecklichen und zerstörerischen Taten nur schwer machte? Luzifer wusste doch, dass ihn die anderen Menschen nicht sehen können und annehmen müssen, dass er, Joshua, all diese schrecklichen und zerstörerischen Taten tut. Warum lag ihm so viel daran, Joshua vor den Menschen als böse darzustellen?
Schon einmal hätte er fast eingewilligt, mit Luzifer in sein Reich zu gehen. Diesmal war es wieder fast so weit. Joshua war sich sicher, mit Gewalt kann ihn Luzifer nicht in sein Reich bringen. Er musste von sich aus den Wunsch äußern. Und nun glaubte Joshua auch zu wissen, warum Luzifer all diese Taten vollbringt. Er würde sie so lange machen, bis er endlich einwilligt, für immer mit ihm zu gehen...

Das Passah-Fest war nahe. Für die meisten gläubigen Menschen war es üblich, zu dieser Zeit nach Jerusalem zu pilgern. In Joshuas Dorf aber lebten nur arme Menschen, denen dies nur selten möglich war, so auch Joshuas Familie. Aber in diesem Jahr sollte es seit langem wieder ein Passah-Fest in Jerusalem geben.
Joshua konnte sich nicht mehr so genau daran erinnern, als er als Zweijähriger mit seiner Familie in diesen Tagen in Jerusalem war. Er wusste nur, dass sie seitdem nie wieder diese Reise machen konnten.
Maria hatte die Botschaft eines Verwandten Josephs aus Jerusalem bekommen, der die ganze Familie einlud, mit seiner Familie das Passah-Fest zu feiern.
Joshua hatte Bedenken wegen Luzifer, aber der weigerte sich, zu Joshuas Erleichterung, mitzukommen. Schon am Morgen, als sich die Familie bereit für die Wanderschaft machte, sah Joshua seinen Zwillingsbruder in Richtung See gehen.
Während der Reise kamen immer mehr Menschen zusammen, die alle nach Jerusalem wollten, - viele von ihnen, um wenigstens einmal in ihrem Leben den Heiligen Tempel zu sehen.
So befand sich Joshuas Familie bereits einige Wegstunden vor Jerusalem in einer beachtlichen Menschenmenge, als Jakobus zur Sicherheit Joshua an seine Hand nahm, um den Jungen im Gedränge nicht zu verlieren.
In Jerusalem angekommen, senkten die meisten ihre Köpfe, denn in der Stadt gab es nicht nur Gläubige, sondern auch sehr viele Heiden, die etwas freizügiger gekleidet waren. Man sah auch leichtbekleidete Frauen unter der Menge, die gerade zu dieser Zeit ein gutes Geschäft witterten. Maria verhüllte vor Scham fast ihr ganzes Gesicht mit dem schwarzen Tuch, welches sie über Kopf und Schultern trug. Auch die Brüder senkten brav ihre Köpfe und ließen sich in der Menge in Richtung Tempel treiben. Nur Joshuas Augen nahmen alles auf, was ihnen nur möglich war. Ihm gefiel die Stadt, - vor allem die unterschiedlichen Menschen, - und er fand nichts Sündhaftes an den leichtbekleideten Frauen und Mädchen. Ganz im Gegenteil – nach einigen von ihnen wandte er sich lächelnd um, wobei ihn Jakobus natürlich sofort weiterzog und mit strafendem Blick ermahnte.
Die Menge drängte und schob mehr und mehr. In dem Augenblick, als Jakobus einen Stoß von hinten bekam, musste er Joshuas Hand loslassen, sonst wäre er gestürzt. Genau diesen Moment nützte der Junge, und ließ sich in der Menge zurück fallen, was gar nicht so einfach war. Er hörte noch Jakobus’ verzweifelte Rufe nach ihm, wie auch den Schrei seiner Mutter, - aber er war froh, die Chance zu haben, Jerusalem auf eigene Faust erkunden zu können.
Mit jedem Schritt ließ er sich aus der Menge treiben, bis er endlich in einer Seitengasse aus dem Gedränge heraußen war. Joshua lehnte sich an eine Hausmauer und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Es war nicht besonders heiß, - aber die vielen drängenden Menschen strömten so viel Hitze aus, was dem Jungen fast unangenehm war.
In der Seitengasse war es um einiges ruhiger, obwohl sich auch hier Menschen tummelten, - vor allem Heiden, die ganz anders gekleidet waren, als die Menschen im Dorf. Joshua gefielen die bunten Kleider, der viele Schmuck – und vor allem, wie sich manche Frauen, darunter sogar Männer, die Gesichter bemalt hatten. Einer jungen Frau blickte er solange in die schwarz umrandeten Augen, bis diese auf ihn zukam und ihn anlächelte. Joshuas Herz begann schneller zu klopfen, und erneut bildete sich Schweiß auf seiner Stirn und an den Händen.

Sie sagte etwas zu ihm in einer fremden Sprache, die er nicht verstand. Als Joshua sie noch immer mit großen Augen ansah, lachte sie und fragte ihn auf aramäisch, woher er kommt.
Aber noch bevor der Junge antworten konnte, stellte sich ein Mann, im Alter zwischen 30 und 40 zwischen Joshua und der Frau. Er sagte etwas zu ihr in der fremden Sprache und auch in sehr rauem Ton, worauf sie schnell das Weite suchte. Dann wandte er sich Joshua zu.
„Was machst du hier alleine? Hast du deine Familie in der Menge verloren?“ fragte er und lächelte freundlich, da er fühlte, dass Joshua etwas erschrocken war.
Joshua fasste sich schnell und lächelte ebenfalls.
„Verloren kann man es nicht nennen“, sagte er ehrlich. „Ich wollte viel mehr verloren werden, um mir die Stadt anzusehen.“
„Willst du gar nicht in den Heiligen Tempel?“ fragte der Mann, der wie ein Hohenpriester gekleidet war.
Joseph hatte Joshua in den Lernstunden schon über den Tempel, die Hohenpriester und Schriftgelehrten aufgeklärt, - wie sie gekleidet sind und was sie lehren. Deshalb erkannte er an der Kleidung des Mannes, dass dieser ein Hohenpriester sein musste.
„Dich interessieren wohl viel mehr die jungen, leichtbekleideten Mädchen“, sagte der Hohenpriester und lachte schallend.
Joshua starrte ihn mit großen Augen und offenem Mund an.
„Meinetwegen musst du dir kein Blatt vor dem Mund nehmen, Junge. Ich bin zwar ein Hohenpriester und Schriftgelehrter des Heiligen Tempels, - aber glaube mir, manchmal habe ich diese Heuchelei selbst satt“, sagte der Mann und zwinkerte Joshua zu.
„Mich interessiert die Stadt und ihre Menschen“, sagte Joshua trocken und blickte irritiert zu Boden.
„Was möchtest du sehen? Ich führe dich.“
Joshua zuckte mit den Achseln, aber dann fasste er Mut.
„Ich hab die Erwachsenen in unserem Dorf über Jerusalem reden gehört“, sagte er etwas leiser und trat näher an den Hohenpriester heran. „Sie sagten, dass Jerusalem immer sündiger wird, - dass die Menschen, vor allem die Gläubigen, mehr und mehr die Sitten der Römer übernehmen. Sie sprachen etwas über öffentliche Bäder, wo sich Menschen nackt herum treiben.“
„So, so“, meinte der Hohenpriester und zog seine schwarzen, dichten Brauen finster zusammen.
„Nicht, dass ich so ein Bad besichtigen möchte...“, versuchte sich Joshua herauszureden, - aber schon lachte der Hohenpriester wieder schallend.
„Warum denn nicht, mein Junge? Du bist ja fast erwachsen, wie ich so an deinem Wuchs erkennen kann. Man würde dir sicher in einem öffentlichen Bad Eintritt gewähren, - noch dazu in meiner Begleitung.“
Wieder starrte Joshua den Hohenpriester ungläubig an.
„Du wunderst dich sicher, was ein heiliger Mann an so einem unwürdigen Ort, wie einem öffentlichen Bad, verloren hat. Aber es ist nun mal so, dass ich keinen Anstoß daran finde, wenn sich Menschen pflegen, und noch dazu in sehr gemütlicher Atmosphäre.“
Joshua lächelte verhalten.
„Ich finde auch keinen Anstoß daran“, sagte er dann.
„Dann lass uns mal ein öffentliches Bad aufsuchen, denn deine schmutzigen Füße verlangen auf jeden Fall nach Reinigung“, sagte der Hohenpriester lachend.
Auf dem Weg zum Bad stellte er sich mit Namen Joseph vor. Und als Joshua seinen Namen nannte, blieb der Hohenpriester plötzlich stehen und nahm den Jungen spontan in seine Arme.
„Wenn das kein Omen ist!“ sagte er freudig lächelnd. „Ich kannte deinen Vater, - den alten Joseph. Weißt du, dass er Hohenpriester war?“
„Ja, ich wusste es, aber mein Vater sprach nie viel über seine Zeit in Jerusalem“, sagte Joshua, als sie wieder weiter gingen.
„Das kann ich mir vorstellen, Immanuel“, sagte Joseph und lächelte in sich hinein.
Joshua stellte sich ihm mit vollem Namen vor, Immanuel Joshua, - und Joseph wählte Joshuas ersten Namen zur Anrede.
„Dein Vater war einer der ersten, der die Heuchelei im Tempel erkannte. Und er wollte da nicht mehr mitmachen, also legte er sein Amt nieder und verließ Jerusalem mit seiner Familie. Als ich ihn kennen lernte, war ich noch ein Junge – etwas jünger als du. Aber diesen Mann konnte ich nie vergessen. Und du bist also sein Sohn aus zweiter Ehe, wie ich annehme.“
Joshua wurde etwas unruhig.
„Ich weiß nicht, ob ich sein Sohn bin. Man nannte mich mehrmals Bastard, weil Joseph angeblich schon zu alt war, um ein Kind zu zeugen“, sagte er sehr leise, - aber der Hohenpriester verstand jedes Wort.
„Und wer soll dann dein Vater sein?“ fragte Josef neugierig.
Joshua zuckte mit den Achseln und schwieg.
Nun waren sie beim Bad angelangt. Schon der Eingang wirkte faszinierend auf Joshua – die vielen Säulen und Skulpturen, meist nackt dargestellte Menschen – Frauen, wie auch Männer. Der Junge musste stehen bleiben, um diesen Anblick auch gebührend aufnehmen zu können.
„Gefallen dir die Statuen?“ fragte Joseph lächelnd.
„Und wie!“ sagte Joshua spontan. „Wer macht so etwas?“
„Sie sind alle aus Stein gehauen, - und ich muss auch sagen, - es sind wundervolle Kunstwerke, von Menschenhand vollbracht“, sagte der Hohenpriester.
„Von Menschenhand“, wiederholte Joshua beeindruckend.
Im Gebäude des öffentlichen Bades wusste der Junge gar nicht, wohin er zuerst schauen soll. Die nackten Menschen beschämten ihn überhaupt nicht. Er fühlte sich viel mehr wie in einer anderen Welt, - in einer Art Paradies, wo sich jeder so ungezwungen wie nur möglich verhielt. Die Menschen sahen alle glücklich aus, - lachten viel und unterhielten sich angeregt, während sie zu viert oder gar zu sechst in den großen Wannen, mit dampfendem, warmen Wasser, saßen, - oder sich außerhalb auf steinernen Bänken aufhielten, an deren Seiten unzählige Blumen und Grünpflanzen, aufgestellt waren. Natürlich befanden sich auch im Gebäude diese wunderschönen Statuen. Es gab auch Wein zu trinken – und kleine Leckerbissen zu Essen.
„Wenn du abgeneigt bist, mit mehreren Männern in eine Wanne zu steigen, - es gibt auch kleinere Wannen, die sehr abgeschieden sind“, sagte Joseph.
Joshua nickte nur. Er konnte gar nicht richtig zuhören, so viel musste er sich noch immer umsehen. Nicht nur seine Augen strahlten fröhlich, - auch sein ganzes Gesicht war erfüllt von Freude über diese friedliche und gemütliche Stätte.
Was soll daran sündhaft sein? - fragte er sich in Gedanken -, diese Menschen erfreuen sich doch am Leben und ehren es durch diese Lebenslust. Viel sündhafter sind doch die Menschen, die sich für ihren Körper schämen, - und noch sündhafter, - so fand Joshua – sind diejenigen, die gegen andere Menschen hetzen und sie sogar umbringen, wie er auch von den Erwachsenen im Dorf gehört hat, als diese über gewisse Zeloten sprachen, eine Art Sekte, die den Glauben und die Heilige Schrift fanatisch verteidigen.
Joseph nahm Joshua an der Hand und führte ihn in eine Art Separee, - einen aber doch sehr großen Raum, wieder mit Statuen, wohlduftenden Blumen und Pflanzen geschmückt, in dessen Mitte eine Wanne mit dampfendem Wasser stand.
Joseph entkleidete sich schweigend. Joshua stand nur da und sah ihm etwas belustigt zu.
„Du solltest weniger essen“, meinte der Junge lächelnd, Josephs Mitte betreffend, und begann sich dann auch auszuziehen.
Der Hohenpriester konnte über den Jungen nur staunen. Er wusste, wie die Menschen in kleinen Dörfern sind, - dass für sie die Heilige Schrift alles ist und wie sehr religiös sie erzogen sind. Aber da war ein Junge, der sich von all dem nicht beeinflussen ließ, - der sich nun so ungezwungen vor einem Fremden entkleidete, als hätte er es schon immer so gehalten.
Joseph ließ Joshua den Vortritt, in die Wanne zu steigen. Aus einem Fläschchen nahm er eine dicke, wohlriechende Flüssigkeit in seine Hände und rieb sie zuerst auf Joshuas Schultern, die trotz seines jugendlichen Alters schon sehr männlich wirkten – breit und ansehnlich muskulös.
Joseph liebte den Jungen schon vom ersten Augenblick an. Er hatte ihn in der Seitengasse beobachtet – eigentlich schon vorher, wie er sich absichtlich aus der Menge drängen ließ. Joseph war beeindruckt von diesem Jungen, - von seiner außergewöhnlichen Schönheit an Wuchs und Gesicht. Seine Gestalt war hochgewachsen, athletisch, jedoch sehr schlank, was er jetzt, wo Joshua eben in die Wanne gestiegen war, noch besser sehen konnte. Was Joseph aber am meisten an dem Jungen beeindruckte, waren die Augen. Schon von weitem hatte er das Leuchten in ihnen erkannt, was er noch nie bei einem Menschen gesehen hatte. Pure Lebenslust strahlte aus diesen grell türkisfarbenen Augen, die wie ein tiefer, geheimnisvoller See wirkten.
Ganz sanft massierte Joseph das stark duftende Badeöl auf Joshuas Schultern ein, nachdem er die schulterlangen Locken seitlich nach vor gestreift hatte.
Joshua schloss die Augen und genoss die Berührung. Selbst als Josephs Hände seinen ganzen Rücken weiter streichelten, - sich auch nach vor zu seiner Brust tasteten und weiter bis zu seinen Lenden, ließ es der Junge sichtlich genießend zu. Er fühlte das Blut viel schneller durch seinen ganzen Körper fließen. Sein Herzschlag pochte schneller, wie auch sein Atem lauter und heftiger wurde, als ihn Joseph aufstehen hieß, um seinen ganzen Körper mit dem Öl einzureiben. Auch dem Hohenpriester wurde zusehends wärmer, was nicht nur am Dunst im Raum lag, sondern viel mehr an dem hübschen, wohlgeformten Jungen, dem er ganz sanft über die jungfräulichen Geschlechtsteile streichelte. Joshua legte den Kopf in den Nacken zurück und stöhnte leise auf.
Aber Joseph hielt plötzlich inne. Irgendetwas sagte ihm, dass er sich an diesen Jungen nicht vergreifen darf. Er blickte zu ihm hoch, - und gerade in dem Augenblick sah auch Joshua zu ihm hinab, wie er vor der Wanne kniete und eine Hand des Hohenpriesters noch immer an seinem rechten Innenschenkel lag. Joseph schien in diesen tiefen Augen zu versinken, die so viel Wissen ausstrahlten, was er sich nicht erklären konnte. Das waren keine menschlichen Augen, - auch nicht die Augen eines heiligen Propheten, - das waren viel mehr göttliche Augen...
Joseph erhob sich, drehte sich um, nahm seine Kleider, zog sie schnell über und verließ schweigend den Raum.
Draußen setzte er sich schwer atmend auf eine der freien Steinbänke. Einer der unzähligen Badewächter kam zu ihm und fragte, ob er etwas trinken und essen möchte. Joseph bestellte einiges – für den Jungen und für sich. Dann war er wieder in Gedanken versunken. So etwas wie diesen Jungen hatte er noch nie gesehen. Und was sagte dieser? Er war sich nicht sicher, ob der alte Joseph sein Vater war? Der Hohenpriester kannte natürlich die Heiligen Schriften, - darunter auch jene, die nicht so verbreitet waren. Nun dachte er an eine ganz bestimmte Textstelle, und es fiel ihm wie Schuppen von den Augen. Dort wurde ein Prophet erwähnt, DER Prophet, von Gott selbst gesandt, - und er soll den Namen Immanuel tragen...
Joseph wischte sich mit beiden Händen über das Gesicht und seufzte. Von Gott selbst gesandt – von einer Jungfrau geboren...
Er betrachtete seine Hände, mit denen er noch vor kurzem den nackten Körper DES Propheten berührt hatte. Am liebsten wäre er aufgestanden und hätte die Badeanstalt verlassen. Aber er konnte den Jungen nicht alleine zurück lassen, obwohl er sich sicher war, dass dieser sich auch alleine zurecht finden würde.
Wie er nun so gedankenverloren da saß und fast erschrocken auf seine Hände starrte, hörte er die Stimme Joshuas.
„Habe ich dich verärgert, weil du den Raum verlassen hast?“
Joseph zuckte zusammen, denn ihm schien, als ob der Junge aus dem Nichts plötzlich vor ihm aufgetaucht wäre. Er sah zu ihm hoch. Joshua war noch immer nackt, - zumindest fast nackt, denn er hatte sich nur ein Badetuch um die Hüften gebunden.
„Nein, oh, nein, Immanuel, - du könntest mich nie verärgern“, sagte er schnell und bot dem Jungen Platz neben sich an. „Es lag an mir selbst.“
„An dir selbst?“ fragte Joshua und setzte sich neben dem Mann auf die Bank.
Der Hohenpriester schüttelte den Kopf und seufzte.
„Lag es daran, weil du mich berührt hast?“ fragte Joshua frei heraus.
Joseph wandte ihm erstaunt sein Gesicht zu.
„Das machte mir nichts aus“, sagte Joshua, weil sein Gesprächspartner nicht antwortete. „Du hast nichts Unrechtes getan, - du hast mich nur gewaschen, was ja auch meine Mutter früher getan hat, als ich noch unfähig war, mich selbst zu reinigen.
Weißt du, ich höre immer zu, wenn die Erwachsenen reden, obwohl sie glauben, ich sei mit Anderem beschäftigt“, sprach der Junge seelenruhig, und als wäre es die normalste Sache der Welt, weiter. „Und manchmal reden sie über Dinge, von denen sie selber sagen, sie seien sündhaft. Ich will damit sagen, - ich weiß, wie Kinder gezeugt werden, - und ich weiß auch über die Geschlechtsteile der Männer und Frauen bescheid, - obwohl ich noch kein weibliches Geschlecht gesehen habe.
Als mich meine Mutter das letzte Mal gewaschen hatte, passierte dasselbe, wie eben zwischen dir und mir. Mein Geschlecht wurde durch die Berührung hart. Ich konnte nichts dagegen tun, - wirklich nicht. Und ich fühlte mich sehr ungerecht behandelt, als sie mich sofort in den Schlafraum schickte. Von da an musste ich mich selbst und alleine waschen.
Deshalb fragte ich dich eben, ob ich dich damit verärgert habe.“
Joseph fühlte plötzlich einen Kloß in der Kehle, - und langsam füllten sich seine Augen mit Tränen. Da saß ein wirklicher Mensch neben ihm, der alles auf so unglaublich natürliche Art sah und dies auch aussprechen konnte.
Joseph konnte nicht anders, - er musste den Jungen einfach umarmen und ganz fest an seine Brust drücken.
„Warum weinst du?“ fragte Joshua nach der innigen Umarmung.
Joseph schluckte.
„Wenn ich dir das nur mit Worten sagen könnte, Immanuel. Ich weiß nur, dass du etwas ganz Besonderes bist, - und dass ich dich mehr liebe, als ich je einen Menschen geliebt habe.“
„Du kennst mich doch kaum. Wie also willst du wissen, dass du mich mehr liebst, als du je einen Menschen geliebt hast?“
„Mein Junge, - ich weiß es ganz einfach. Auch wenn ich es dir nicht mit Worten erklären kann, - dieses Gefühl in mir ist echt, - und es ist sehr wahrscheinlich das einzig echte Gefühl in mir.“
In diesem Moment wurden die Getränke und Speisen gebracht und auf eine Anrichte neben die Bank gestellt. Mit dem Bewirter kamen zwei Männer, im Lendenschurz, vorbei und begrüßten Joseph. Neugierig blickten sie auf Joshua und fragten den Hohenpriester, woher denn dieser Jüngling kommt.
Joseph klärte die beiden auf.
Bald kamen auch andere Männer und auch Frauen hinzu, die anscheinend nur von Joshua angezogen wurden. Und jeder und jede erkundigte sich nach ihm bei Joseph und nannte Joshua eine Schönheit sondergleichen, mit der es nicht mal die herrlichen Statuen vor und in der Badeanstalt aufnehmen können.
Und bald kam auch ein Gespräch auf, - über den Tempel und das bevorstehende Passah-Fest am Abend.
„Als Gottesmann müsstest du doch jetzt im Tempel sein“, scherzte ein älterer Mann mit Joseph.
„Samuel, du weißt, was ich von den Gottesmännern halte“, lachte der Hohenpriester.
„Was glaubt ihr, wer oder was Gott ist?“ fragte Joshua.
Urplötzlich war es still in der Runde, und jeder blickte gebannt auf den Jungen, der neben Joseph auf der Bank hockte und seine Beine zum Schneidersitz hochgezogen hatte, wobei das Badetuch sein Geschlecht brav bedeckte.
„Das steht doch in den Heiligen Schriften“, meldete sich ein jüngerer Mann.
„Ich weiß, was in den Heiligen Schriften steht“, sagte Joshua mit sanfter Stimme und lächelte. „Meine Frage war an euch, - was ihr selbst darüber denkt.“
„Wäre das nicht Gotteslästerung, wenn wir eigene Gedanken darüber hätten?“ fragte eine junge Frau mit bloßen Brüsten, deren Badetuch nur ihre Lenden bedeckte.
Joshua blickte sie offen an, ohne dabei zu erröten.
„Wovor hast du mehr Angst? Vor Gott selbst, oder vor den Menschen, die dich wegen Gotteslästerung anklagen könnten?“ fragte Joshua, ohne den Blick vor der Frau zu senken.
Nun war es aber die Frau, die den Blick senkte. Sie hatte plötzlich das Gefühl, dieser sonderbare Junge könne in die tiefsten Winkel ihres Herzens sehen.
„Darüber habe ich noch nie nachgedacht“, sagte sie leise. „Ich habe auch nicht das Recht, darüber nachzudenken, denn ich bin in den Augen der Menschen eine Sünderin.“
„Und was bist du vor Gott?“ fragte Joshua.
Die Frau sah den Jungen wieder an.
„Nach den Gesetzen bin ich auch vor Gott eine Sünderin“, sagte sie leise, mit stark geröteten Wangen.
„Das glaube ich nicht“, sagte Joshua etwas lauter und sehr bestimmt.
Die Männer und Frauen in der Runde murmelten durcheinander, bis Joseph plötzlich seine Stimme laut erhob.
„Warum glaubst du das nicht, Immanuel?“
„Wenn Gott das, was er erschaffen hat, verurteilt, dann verurteilt er sich selbst“, sagte Joshua mit fester Stimme und blickte Joseph mit erhobenem Haupt an.
Alles war wieder ruhig, und nun kamen noch mehr Menschen heran, um die Worte dieses Jungen zu hören. Fast schien es, als ob die gesamten Besucher der Badeanstalt um die eine Bank versammelt waren.
„Aber Gott hat uns den freien Willen gelassen. Er lässt uns frei entscheiden, ob wir uns ihm ergeben oder den Dämonen“, sagte ein Mann aus der Menge.
„Hat Gott nicht auch die Dämonen erschaffen?“ fragte Joshua – und einige unter der Menge murrten wieder aufgeregt durcheinander.
„Wer bestimmt denn, was gut und was böse ist, wenn nicht der Mensch selbst?“ sprach Joshua ungerührt mit sanfter Stimme weiter. „Gott braucht keine Worte, - denn Gott ist all das, was wir sehen. Auch wir selbst sind Gott. Wir und alles um uns herum ist aus Gott entstanden. Wir sind Teile seines Selbst. Wir können uns weder gut, noch böse nennen, denn sobald wir etwas benennen, benennen wir Gott.“
Josephs Staunen hatte nun den Höhepunkt erreicht. Er starrte den Jungen nur an, als ob dieser nun sein eigenes tiefstes Geheimnis verraten hätte. Ja, dieser Junge sprach ihm direkt aus dem Herzen, - sprach die Gedanken aus, die auch er selbst schon des Öfteren hatte, - sie aber niemals auf diese Art in Worte hätte fassen können.

Als sie die Badeanstalt verließen, war es bereits dunkel auf den Straßen.
„Sag mal, woher hast du das alles?“ fragte der Hohenpriester Joshua.
„Ich mache mir halt so meine Gedanken“, meinte der Junge lächelnd. „Und ich will vor allem keine Angst vor Gott haben, so wie die anderen Menschen in unserem Dorf, die sich bei jedem und allem fragen, ob dies oder jenes Gott gefällt. Das Leben des Menschen soll nicht von Schriften abhängig sein. Hat denn Gott selbst diese Schriften verfasst? Nein, - denn sie wurden von Menschen verfasst, die der Meinung sind, Gott habe zu ihnen gesprochen. Aber, bei Gott, - ich würde sagen, solche Worte können niemals von Gott kommen.“
Joshua musste über seine letzten Worte selbst lachen.
Joseph schüttelte nur seinen Kopf, legte seinen Arm um die Schultern Joshuas und drückte ihn liebevoll an sich.
„Ich würde dich gerne meiner Familie vorstellen und zum Abendessen einladen. Nur möchte ich dich bitten, deine Gedanken vor meiner Familie für dich zu behalten. Wäre das möglich?“ fragte er den Jungen lächelnd.
„Glaube mir, - ich habe meine Gedanken noch nie laut ausgesprochen, - aber vorhin, - ich konnte einfach nicht anders. Und es tut mir Leid, wenn ich dich damit in Schwierigkeiten gebracht habe.“
Joseph lachte laut auf und nahm seinen Arm wieder von Joshuas Schultern.
„Du hast mich nicht in Schwierigkeiten gebracht“, sagte er dann schnell. „Die Menschen dort kennen mich besser als meine Familie und natürlich auch viel besser als die Hohenpriester und Schriftgelehrten im Tempel, bis auf einige wenige Ausnahmen, die fast genauso denken wie ich.
Unter diesen Männern und Frauen, vor denen du eben gesprochen hast, waren nicht sehr viele Gläubige. Der eine Mann, der fast wortwörtlich an deinen Lippen gehangen hat, ist ein Grieche, - ein sogenannter Philosoph. Und glaube mir, - so gut kenne ich ihn, - er war mehr als nur beeindruckt von deinen Worten. Es waren auch einige Samariter darunter, die ich als Hohenpriester nicht mal eines Blickes würdigen dürfte.“
Josephs Familie – seine Frau, samt zwei Söhnen und einer Tochter – waren sehr von Joshua und seiner höflichen, wie auch zurückhaltenden Art beeindruckt. Die Art, wie er ihnen seine Hand reichte, - wie er sich bewegte und sich am Tisch benahm, war so ganz anders, als bei Menschen, die sie kannten. Fast hatten sie das Gefühl, ein Engel würde unter ihnen weilen und mit ihnen das Abendmahl einnehmen. Vor allem Josephs Tochter, sie war 12, drei Jahre jünger als Joshua, konnte ihre Augen nicht von dem Jungen wenden.
Nach dem Mahl hatte Joseph Joshua versprochen, ihn zu seiner Familie, - zum Haus des Verwandten zu bringen.
Natürlich hatte sich Joshuas Familie gesorgt und war nun froh, den Jungen wieder bei sich zu haben, obwohl sie vor wenigen Tagen noch beschlossen hatten, ihn zu der Gemeinschaft der Essener zu bringen. Joshua war sich nicht sicher, woran es lag, dass sich die Familie seit diesem bösen Vorfall etwas liebevoller um ihn kümmerte. Sie sprachen mit ihm nicht darüber...
„Nächstes Jahr, wenn ihr wieder zum Passah-Fest nach Jerusalem kommen wollt, seid ihr meine Gäste“, verabschiedete sich Joseph von Joshuas Familie, - und Joshua begleitete seinen Freund, den Hohenpriester bis vor die Tür.
„Du solltest hier bleiben, Immanuel. Ich würde dich im Tempel unterrichten“, sagte Joseph, dem der Abschiedsschmerz sehr nahe ging.
Joshua lachte.
„Oh, nein – das wäre nicht das Richtige für mich.“
„Was ist dann das Richtige für dich, mein Junge?“
Joshua wurde ernst.
„Wenn ich das nur selbst wüsste...“, sagte er und wandte sich zur Tür.
Joseph schwieg und umarmte den Jungen zum Abschied.

Am nächsten Morgen wanderte die Familie in das Dorf zurück. Joshua war auf dem Weg nach Hause sehr nachdenklich.
Zu Hause angekommen, ging Joshua nicht mit seiner Familie in das Haus. Er ging schweigend weiter. Maria wollte ihn zurück halten, aber Jakobus nahm ihre Hand und schüttelte leicht seinen Kopf.
Joshua schlug den Weg zum Teich ein. Noch immer konnte er nicht fassen, was in Jerusalem passiert war, - dass er öffentlich diese Gedanken ausgesprochen hatte. Erst als Joseph ihn bat, vor seiner Familie zu schweigen, wurde ihm bewusst, dass er zum ersten Mal vor Menschen sein Herz offenbart hatte.
Die Ruhe am Ufer des kleinen Teiches tat gut. Zuerst hatte er gehofft, Luzifer dort zu treffen, aber nun war er froh, wirklich alleine zu sein.
Joshua lehnte sich mit dem Rücken an einen Baumstamm, kreuzte seine Beine, legte den Kopf zurück in den Nacken und blickte in die unendlichen Weiten des Himmels hoch. So saß er oft am Seeufer und fragte sich, was da oben wohl sein könnte, - ob es dort noch solche Welten gibt, wie diese, in der er lebt. Vor allem nachts, wenn man die Sterne leuchten sehen konnte, fühlte er sich den Welten da oben so nahe. Heute wollte er den Sternen besonders nahe sein. Wie sie wohl alle heißen? Hatten sie überhaupt Namen? Lag es nicht nur an den Menschen, die allen Dingen Namen geben müssen?
Joshua lächelte, als er daran dachte, was er in der Badeanstalt zu den Menschen gesagt hatte.
„...sobald wir etwas benennen, benennen wir Gott.“
Joshua schloss seine Augen und seufzte. Er wollte so viel wissen, - aber nirgendwo gab es Menschen, die ihm seine Fragen beantworten konnten. In der Badeanstalt hatte er von fremden Ländern gehört, - von anderen Kulturen, die sich mit den Sternen auskennen, und die behaupten, dass die Sterne die Menschen beeinflussen. Joshua hatte an diesem Tag viel zu viel gehört, was er erst jetzt – und das nur zum Teil – verarbeiten konnte.
In fremde Länder gehen – ja, das wäre es! Aber es würde ein weiter Weg werden, - und doch, - der Weg würde sich lohnen. Hier im Dorf würden seine Fragen nie beantwortet werden, - und nach Jerusalem zurückgehen, das schien ihm zu gefährlich. Joseph hatte ihm ja geraten, seine Gedanken niemals den falschen Menschen zu verraten, denn diese könnten ihn wegen Gotteslästerung anklagen und sogar steinigen.
Joshua konnte nicht verstehen, wie gerade die Hohenpriester und Schriftgelehrten so engstirnig denken. Das waren doch sehr kluge und gelehrte Menschen. Aber nach Josephs Worten schienen sie nur an Macht und Reichtum zu denken, - alles andere war ihnen egal. Und was noch schlimmer war, - sie arbeiteten mit den Römern zusammen. Aber Politik interessierte Joshua nicht. Ihm ging es um den einzelnen Menschen. Ja, - nur um den einzelnen Menschen, - dessen war er sich jetzt sicher. Und er wollte in seinem Leben so viele Menschen kennen lernen, wie es nur möglich war.
Joshua seufzte. Er musste jetzt endlich innerlich ruhiger werden. Aus diesem Grund kam er doch an das Ufer des Teiches, - an seinem Lieblingsplatz, wo er sich immer sammeln konnte, wenn er mit sich unzufrieden war. Er wollte nicht glauben, dass er ein Nichtsnutz ist, wie ihn seine beiden anderen Brüder immer nannten. Aber es stimmte ja. Sie alle hatten einen Beruf und arbeiteten den ganzen Tag sehr hart. Auch seine Mutter opferte sich für die Familie auf, - putze und kochte von früh bis spät und ging manchmal auch noch aufs Feld, um die karge Ernte zu pflegen. Sehr oft schon hatte sie ihn gebeten, ihr doch zu helfen, wenn ihm schon die Tischlerarbeit nicht gefalle.
Manchmal fühlte sich Joshua wirklich schlecht, und glaubte fast den Worten seiner Brüder, wenn sie ihn einen Nichtsnutz nannten.
„Was ist dann das Richtige für dich, mein Junge?“ – Diese Worte Josephs klangen noch immer in ihm nach.
Nein, nicht mehr denken! Lass die Gedanken ziehen – genauso ziehen wie die Wolken, die dort oben leicht und unbeschwert dahin wandern.
Leicht, - ja, leicht muss er werden. Gedanken ziehen herab, - Gedanken machen schwer.
Joshua schloss abermals seine Augen und atmete ganz tief ein und wieder aus. Dies wiederholte er mehrmals, so lange, bis ihn wirklich keine Gedanken mehr quälten.

Es war bereits dunkel. Seine Familie hatte das Nachtmahl eingenommen, - und Maria machte sich Sorgen um Joshua. Die beiden anderen Brüder schimpften wieder über den Jungen, bis ihnen Jakobus Einhalt gebot.
„Joshua ist klug. Er hat mehr im Kopf als wir alle zusammen“, verteidigte er seinen Sohn.
„Und was fängt er damit an?“ sagte der älteste Bruder gereizt. „Nicht mal als Mitglied der Essener Gemeinschaft würde er sich eignen, da ihn ja auch die Heiligen Schriften nicht mehr interessieren. Viel mehr glaube ich, wie die anderen im Dorf, dass er von einem Dämon besessen, oder selbst einer ist.“
„Er ist nicht mal in den Tempel gegangen“, eiferte der mittlere Bruder. „Ich bin überzeugt davon, er wollte, dass wir ihn verlieren, damit er nicht in den Tempel gehen muss.“
Jakobus schüttelte seinen Kopf, stand auf, zog sich seinen Umhang über und ging zur Tür.
„Ich werde Joshua suchen und nach Hause holen“, sagte er zu Maria gewandt und verließ das Haus.
Jakobus wusste, wo er Joshua findet. Er liebte Joshua, nicht nur, weil er sich ganz sicher war, dass der Junge sein Sohn ist, sondern viel mehr seines Wesens wegen, diese Sanftheit, die aus seinen Augen strahlt, diese Ruhe in all seinen Bewegungen, die er stets mit Bedacht ausführte. Jakobus wollte dem Jungen auch glauben, wenn dieser sagte, er hätte all diese Taten nicht ausgeführt, obwohl alles dafür sprach, dass es niemand anderer sein konnte.
Wenn Joshua ab und zu in seiner Werkstätte arbeitete, konnte sich Jakobus an Joshua nie satt sehen. Auch hier reagierte er ganz anders als die Menschen in dem kleinen Dorf, die in Joshua nicht die Schönheit und Sanftheit, sondern viel mehr das Anderssein sahen.
Irgendetwas war an dem Jungen, was sich Jakobus nicht erklären konnte. Da ging es ihm genauso wie Joseph, dem Hohenpriester. Diese beiden waren wohl die ersten Menschen, welche die Faszination, die von Joshua ausging, fühlen konnten.
Jakobus war nun beinahe am Teich, als er plötzlich stehen blieb. Es war bereits sehr dunkel, aber da der Mond fast voll war, konnte er die Landschaft, ohne brennende Fackel, vor sich sehr gut sehen. Aber da war noch ein Licht – vorne, am Ufer des kleinen Teiches. Nur hatte Jakobus so ein Licht noch nie gesehen. Es stammte von keiner Fackel, so viel war sicher. Es war wie das Licht eines Sternes, - nein, viel mehr das Licht einer Sonne, denn es strahlte über den ganzen Teich und weiter nach oben. Jakobus wunderte sich, denn diesen Strahl, der wie vom Himmel herab zu kommen schien, müsste doch vom Dorf aus zu sehen sein.
Jakobus bekam es mit der Angst zu tun, und wagte nicht weiterzugehen. Er wollte Joshua rufen, aber seine Kehle war wie zugeschnürt und sein Herz pochte wild.
Dann entschloss er sich aber doch dazu, langsam weiter zu gehen – zu dem seltsamen Licht, das immer strahlender wurde, dass es ihn fast blendete. Und je näher er kam, umso weniger konnte er sehen. Schützend hielt er sich die Hand vor den Augen und stolperte weiter. Man konnte es wirklich nicht mehr gehen nennen, denn Jakobus wollte laufen, wobei er ständig über kleine Hügel stolperte, sogar zweimal zu Boden fiel, sich wieder aufrappelte und weiter stolperte, bis er ein drittes Mal stürzte und durch die Finger der Hand, die er noch immer vor den Augen hielt, im grellen Licht eine Gestalt erkennen konnte, die Joshuas Gestalt sehr ähnlich war.
Nur flimmernd konnte er ausmachen, dass die Gestalt im Schneidersitz hockte, - aber sie befand sich nicht am Boden. Sie schwebte mannshoch darüber...
Jakobus wimmerte leise, kauerte sich am Boden zusammen und vergrub sein Gesicht in den Händen. Plötzlich spürte er eine Hand auf seiner Schulter. Jakobus fuhr hoch und sah die leuchtende Gestalt vor sich knien. Es war Joshua – und doch war er es nicht, da seine Gestalt viel mehr aus Licht bestand, denn aus Fleisch und Blut, – und noch immer berührte sie den Boden nicht. Sie kniete zwar vor ihm, - aber sie berührte den Boden nicht.
Jakobus war dem Wahnsinn nahe. Er wollte schreien, - aber es kam nur ein hilfloses Wimmern über seine Lippen.
„Fürchte dich nicht, Jakobus. Ich bin es, - ich, Joshua“, sagte die Gestalt mit einer so sanften Stimme, die Jakobus nicht nur mit den Ohren, sondern mit dem gesamten Körper wahrnahm. Sie war wie eine Kraft, die durch seinen Körper floss und ihm urplötzlich die Angst nahm.
Endlich konnte er sprechen.
„Joshua“, flüsterte er. „Joshua, was machst du da?“
Der Junge lächelte.
Jakobus richtete sich langsam auf, aber er blieb am Boden knien, - und sah seinen Sohn genauer an. Schönheit wäre ein zu minderes Wort, was er vor sich sah.
„Joshua, wer bist du?“ fragte Jakobus nun schon mit festerer Stimme.
„Ich bin der ich bin“, sagte die leuchtende Gestalt und lächelte wieder.
Aber damit konnte Jakobus nichts anfangen.
„Bist du ein Prophet?“ fragte er.
Joshua verneinte kopfschüttelnd.
„Bist du ein Gott?“ wagte Jakobus zu fragen.
Joshua nickte lächelnd.
„Wir alle sind Gott. Wir alle sind göttlich, weil wir alle Teile des Einen Gottes sind“, sagte er und erhob sich.
Jakobus traute seinen Augen nicht, als die leuchtende Gestalt über den Boden zu dem Baum am Ufer des Teiches schwebte und sich dort niederließ.
Was dann geschah, kam Jakobus wie ein Traum vor. Joshua, - viel mehr die leuchtende Gestalt, - kreuzte seine Beine und hob die Hände zum Sternenhimmel hoch. Aus den Fingerspitzen seiner Hände schossen plötzlich grelle Strahlen bis hoch zu den Sternen, sodass der gesamte Himmel hell erleuchtet war. Und plötzlich war alles dunkel – der Spuk war vorbei.
Joshua saß am Boden, mit dem Rücken an den Baumstamm gelehnt, die Beine gekreuzt und die Augen geschlossen. Jakobus sprang auf und eilte zu dem Jungen. Er schrie fast seinen Namen, während er ihn fest an den Schultern packte und schüttelte.
Joshua riss seine Augen auf und starrte Jakobus erschrocken an.
„Was war das eben, Joshua?“ fragte Jakobus zitternd am ganzen Körper.
Der Junge senkte seinen Blick und schwieg. Langsam stand er auf und schlug den Weg zurück nach Hause ein. Jakobus eilte ihm nach und hielt ihn am Arm zurück.
„Sag mir, bitte, was du eben getan hast, Joshua“, flehte er fast.
„Das kann ich nicht“, sagte Joshua leise und blickte dem ältesten Bruder fest in die Augen.
„Warum nicht?“ stammelte Jakobus. „War dies das Wesen, welches ständig etwas anrichtet, und du sagst, du seiest es nicht gewesen?“
Joshua lächelte.
„Nein, dies war nicht dieses Wesen. Aber behalte das, was du eben gesehen hast, für dich. Ich bitte dich darum.“
Nach diesen Worten setzte Joshua den Weg nach Hause fort, und Jakobus folgte ihm sehr verwirrt mit etwas Abstand.

Joshua ging sofort in den Schlafraum, während die Familie noch in der Stube blieb. Als er sein Lager mit dem Tuch verhüllte und sich schlafen legte, saß Luzifer an seinem Bett.
„Ich weiß alles“, sagte dieser.
Joshua bewegte sich nicht. Er tat so, als würde er bereits schlafen. Jetzt, wo ihn das Licht wieder erschienen war und sich, wie er es gefühlt hatte, mit ihm vereinigt hat, war ihm Luzifers Gegenwart noch unerträglicher. Joshua konnte nicht sagen, dass er seinen sogenannten Zwillingsbruder hasste, aber es wäre ihm lieber gewesen, wenn er ihn für immer verlassen würde.
„Ich weiß, was in Jerusalem passiert ist, - und ich weiß, was am Seeufer passiert ist“, hörte er abermals Luzifers Stimme.
„Ebenso weiß ich, dass Jakobus dich und das Licht gesehen hat. Er wird dich verraten, und dann werden dich noch mehr Menschen für einen Dämon halten. Sie werden sagen, du lästerst Gott, - und sie werden dich so lange verfolgen, bis du müde und dich ergeben wirst.“
Nun richtete sich Joshua auf und blickte Luzifer, der noch immer wie ein Spiegelbild auf ihn wirkte, in die Augen.
„Wem soll ich mich ergeben? Wovon sprichst du?“ fragte er flüsternd.
„Sie werden dich für deine ausgesprochenen Gedanken töten“, sagte Luzifer. „Wenn du nur auf mich hören und mit mir kommen würdest, könntest du dem entgehen.“
„Diejenigen Menschen, die meine ausgesprochenen Gedanken gehört haben, machten auf mich nicht den Eindruck, dass sie mich töten wollen“, sagte Joshua und legte sich wieder zum Schlafen.

Es vergingen wieder einige Jahre. An der Arbeitsbereitschaft Joshuas hatte sich nicht viel geändert, und wieder grübelte die Familie darüber nach, wie man den jungen Mann zu einem ernsthafteren Leben bewegen könnte. Natürlich haben sie den letzten Vorfall nicht vergessen, als Jakobus’ Bett fast Feuer gefangen hätte, - aber es schien keinen anderen Ausweg zu geben, als diesen Vetter, der nur ein Jahr älter als Joshua war, zu benachrichtigen.
So kam es, dass dieser Vetter, mit Namen Jokanaan, eines Tages, auf Jakobus’ Bitte, das Haus Joshuas Familie aufsuchte.
Dieser trug weiße Gewänder und benahm sich höchst seltsam. Er weigerte sich, jedem die Hand zu geben, - schien sich vor Berührungen zu fürchten, wie Joshua beobachtete, der sich in diesem Moment noch im Schlafraum aufhielt und durch den Türspalt blickte.
Er sah auch das Gesicht des für ihn Fremden, der sich mit Namen Jokanaan vorstellte. Es war ein sehr ausgemergeltes Gesicht, - stark eingefallene Wangen, tief liegende, große, fast schwarze Augen, aber mit einem sehr sinnlichen Mund, um den stets ein mildes Lächeln lag. Jokanaan war nicht besonders groß, was die Zartheit seines Körpers noch mehr unterstrich. Er wirkte, als wäre er nicht wirklich da, - als wäre er in seinem weißen, fließenden Gewand nur das scheinbare Abbild eines Menschen.
Joshua betrat den Raum, als sich seine Mutter, die zwei Brüder, Jakobus und auch Jokanaan eben an den Tisch setzten oder setzen wollten, - denn Jokanaan erstarrte in der Bewegung, als er Joshua sah.
Der Wuchs des Volkes in dieser Gegend war nicht gerade groß, - Joshua hingegen wirkte wie ein Riese gegen sie. Er war schon als 15jähriger sehr groß und von athletischer Gestalt, aber jetzt mit seinen fast 18 Jahren überragte er alle an Größe und Kraft. Sein besonders dichtes, leicht gelocktes, dunkles Haar, welches nur im Licht rot schimmerte, reichte bereits bis zu den Hüften hinab. Und seine Augen, so fühlte Jokanaan, seien unbeschreiblich, denn diese muss man sehen, um begreifen zu können, was wahre Göttlichkeit ist.
Jokanaan brauchte länger um zu realisieren, wer da vor ihm stand, obwohl ihm Jakobus diese Erscheinung, wie Jokanaan später meinte, als den jüngsten Bruder vorstellte. Langsam ging er auf Joshua zu, - und diesmal schien er keine Berührungsängste zu haben, denn spontan nahm er den Hünen in seine Arme und drückte sich fest an ihn.
„Bruder“, sagte er dann schwer atmend. „So einen wie dich brauchen wir in unserer Gemeinschaft.“
Joshua verstand, was Jokanaan damit meinte, blickte aber trotzdem ratlos auf seine Familie, von einem zum anderen.
„Lasst uns zuerst einmal essen“, bat Maria und senkte verstohlen den Blick vor ihrem Sohn.
Aber Joshua blieb stehen.
„Was denkt ihr eigentlich, wer ihr seid?“ fragte er mit lauter Stimme und zog seine Brauen finster herunter. „Glaubt ihr, ihr seid bessere Menschen, nur weil ihr von früh bis spät arbeitet? Ist es, weil in den Heiligen Schriften steht, dass der Mensch sein Brot im Schweiße seines Angesichtes verdienen muss? Ist es das? Meint ihr, nur ein guter Mensch arbeitet so lange, bis ihm der Schweiß ausbricht? Ist einer, der dies nicht tut, des Brotes nicht wert?“
Jeder senkte seinen Blick, nachdem Joshua ausgeredet hatte, - aber nicht, weil sie sich selbst, sondern sich wegen Joshuas Worte vor Jokanaan schämten.
„Wollt ihr mir nicht antworten und mir endlich sagen, was der Besuch dieses Mannes zu bedeuten hat?“ fragte Joshua noch immer leicht erzürnt und wies mit einer Hand auf Jokanaan, der neben ihm stand.
„Wenn ihr es nicht wollt, dann tu ich es für euch“, meinte Joshua und atmete erst mal tief durch. Mit sanfter Stimme sprach er weiter.
„Wenn ihr mich nun wirklich loswerden wollt, könnt ihr mir das ruhig ins Gesicht sagen. Ich werde gehen und euch nicht mehr zur Last fallen...“
„Nein!“ schrie Maria, stürzte zu ihrem Sohn und hielt ihn am Arm fest. „Nein, so darfst du nicht gehen, Joshua. Du fällst uns nicht zur Last. Du brauchst ja auch so wenig – viel weniger als wir. Das, was du täglich isst, - das ist doch eine Kleinigkeit, die wir immer übrig haben.“
Aber Joshua riss sich energisch von seiner Mutter los.
„Gebt das, was ihr übrig habt, den Bedürftigen, die nichts zu essen haben“, sagte er noch immer sanft. „Ich will nichts mehr von euch, was ihr übrig habt.“
Mit diesen Worten ging er mit langen, schnellen Schritten in den Schlafraum, packte dort ein paar Habseligkeiten in einen Leinensack, hängte ihn sich über die Schultern und verließ wortlos das Haus.
Aber die Familie, samt Jokanaan, lief ihm nach. Seine Mutter weinte laut.
„Was wollt ihr?“ fragte er und wandte sich nach ihnen um. „Seid doch froh, dass ihr mich endlich los seid.“
Jakobus trat an ihn heran und nahm seine Hand.
„Wir wollen dich nicht los sein, Joshua. Du brichst uns das Herz, wenn du jetzt gehst.“
Joshua schüttelte seinen Kopf.
„Nein, Jakobus, ich breche euch nicht das Herz – das macht ihr schon selbst. Lasst mich meiner Wege gehen, - lasst mich mein eigenes Leben leben. Wenn es an der Zeit ist, werde ich wieder zurückkommen. Ich verlasse euch nicht im Groll. Ich muss euch verlassen, weil ich meine eigenen Wege gehen muss. Und – Jakobus – pass, bitte, auf meine Mutter auf.“
Nach diesen Worten ging Joshua langsam weiter.
Er spürte, dass ihm noch immer jemand folgte. Es war Jokanaan.
Nach einer Weile, als er das Dorf bereits hinter sich hatte, blieb Joshua stehen und wartete auf seinen Verfolger.
„Was willst du von mir?“ fragte er ihn geradeheraus.
„Deine Familie hat mich gebeten, dir von unserer Gemeinschaft zu erzählen. Aber deinen Worten nach, wie ich sie eben im Haus deiner Familie vernommen habe, scheinst du von unserer Gemeinschaft, die sich sehr streng nach den Heiligen Schriften richtet, nur wenig zu halten“, sagte Jokanaan mit volltönender, sehr kräftiger Stimme.
„Schriften! Schriften!“ fuhr Joshua auf. „Immer nur Schriften!“
„Was hast du gegen Schriften, Joshua?“ fragte Jokanaan, während sie beide langsam weitergingen.
„Haben Schriften Leben in sich?“, stellte Joshua die Gegenfrage. „Das wahre Leben spielt sich hier ab“, sprach er weiter und klopfte sich mit der rechten Hand an die Brust. „Aber es spielt sich nicht in Schriften ab. Ja, wir können uns nach einigen Regeln halten, - aber diese dienen den Menschen, und nicht die Menschen den Regeln.“
„Du musst dich ja nicht sofort entscheiden, Joshua“, meinte Jokanaan nach einer Weile. „Ich würde mich aber trotzdem freuen, wenn du mich einmal in unserer Gemeinschaft besuchst.“
Joshua lächelte.
„Ich habe meine beiden älteren Brüder und meine Mutter über dich und diese Gemeinschaft reden hören“, sagte er, noch immer lächelnd. „Da wusste ich, dass es Zeit ist zu gehen.“
Er blieb stehen und legte dem klein gewachsenen Mann die Hand auf die Schulter.
„Ja, vielleicht komme ich dich einmal besuchen, Vetter. Und nun geh zurück zu meiner Familie und ehre ihre Gastfreundschaft.“
Mit diesen Worten ließ er Jokanaan stehen und ging schnellen Schrittes weiter.

Als Joshua das Dorf bereits weit hinter sich gelassen hatte, fragte er sich, warum er nicht schon eher fortgegangen war. Im Dorf gab es schon lange nicht mehr viel für ihn zu tun, obwohl er noch immer, falls viel Arbeit war, in Jakobus’ Tischlerwerkstätte aushalf, oder auch manchmal mit den beiden anderen Brüdern aufs Feld hinaus ging. Aber die meiste Zeit fühlte er sich einsam und unverstanden. Wem hätte er auch seine Gedanken anvertrauen können? Luzifer, der in den letzten Jahren ja auch nur mehr selten an seiner Seite war, mochte diese Gedanken nicht. Und die Erscheinung, die er nun immer öfter hatte, wenn er sich am Seeufer aufhielt, sprach nicht direkt mit ihm – nicht in Worten. Es waren nur Gefühle, eine wunderbare Wärme, wenn Joshua dieses wunderschöne Gesicht auf sich zukommen sah, es sich auf seines legte, bis beide in einem Körper vereint waren.
Noch immer wusste Joshua nicht, wer oder was diese Erscheinung war. Ebenso wenig wusste er, wer oder was Luzifer wirklich war, obwohl er ihm schon mehrmals gesagt hatte, er habe nur menschliche Gestalt angenommen, die genauso wuchs wie er gewachsen war, aber in Wirklichkeit ein Wesen war, welches in einem Reich existiert, das wie das Paradies wäre. Ihn verwirrte das alles nur, - vor allem wenn er an die Heiligen Schriften dachte, in denen ja das Paradies erwähnt wird, und ja auch ein sehr rachsüchtiger Gott, der das zerstört, was ihm nicht gefällt. Luzifer handelte da kaum anders. Also könnte es durchaus stimmen, dass Luzifer die Wahrheit sagt. Demnach müsste die Lichterscheinung das Böse sein, wie ja auch Jakobus angenommen hat, als er ihn fragte, ob dieses Wesen all das anrichtete, was er leugnete. Wenn er sich jedoch nach seinem eigenen Gefühl richtete, war das Lichtwesen seinem Herz viel näher.
„Ich werde dich begleiten“, hörte Joshua plötzlich Luzifers Stimme neben sich, und im nächsten Moment sah er ihn auch neben sich gehen.
„Darauf würde ich gerne verzichten“, sagte Joshua müde und schritt etwas schneller voran.
„Aber du tust es nicht“, meinte Luzifer lachend, indem er locker mit Joshua Schritt hielt.
„Vielleicht werde ich es einmal tun“, murmelte Joshua leise.
Er dachte wieder an seine Familie und das Dorf. Maria, seine Mutter, hatte ihm in den letzten Monaten den Vorschlag gemacht zu heiraten. Es hätte sich sogar eine Familie im Dorf bereit erklärt, ihm ihre jüngste Tochter zur Frau zu geben, was Joshua sehr wunderte, denn die Menschen im Dorf gingen ihm noch immer aus dem Weg, wenn sie ihn sahen.
Aber Joshua dachte noch immer an die junge Frau, die er damals in der Seitengasse in Jerusalem gesehen hatte – die ihn sogar angesprochen hatte. Sie trug einen knöchellangen, bunten Rock um die schmalen Hüften, zeigte voller Stolz ihren nackten Bauch, wo im Bauchnabel ein rot leuchtender Edelstein steckte. Die prallen Brüste waren mit einem fast durchsichtigen, schmalen Tuch verhüllt. Und ihr hübsches Gesicht, welches sie offen zur Schau stellte, war wunderschön bemalt. Das tiefschwarze Haar fiel in wilden Locken auf ihre zarten, nackten Schultern. Und wie sie auf ihn zuging! Noch immer hatte er dieses Bild von Augen, - den wiegenden, leichten Schritt. Alleine der Gedanke an sie ließ sein Herz schneller klopfen. Und er wusste, dass es nicht alleine an ihrer freizügigen Kleidung lag, sondern viel mehr an ihrem eigenen Gefühl, dass sie stolz auf ihren Körper und ihre Schönheit war und dies ebenso stolz zur Schau stellte.
Verhüllen sich Tiere? Auch sie, besonders die bunten Vögel, scheinen stolz auf ihre Natur zu sein und sind mit einer ganz besonderen Intensität einfach da. Aber die Menschen in seinem Dorf scheinen sich ihres Daseins zu schämen. Sogar das junge Mädchen, welches seine Frau hätte werden sollen, kleidete sich fast ganz verhüllt.
Joshua selbst war ja auch einfach gekleidet, wie er während seiner Schritte auf dem steinigen Weg feststellen musste. Das Überkleid war schon etwas älter, an manchen Stellen sogar geflickt, und es hatte eine furchtbar hässliche braune Farbe. Überkleid – er hatte ja nur ein Überkleid, was seine Mutter im letzten Jahr auch immer sehr beanstandete. Joshua mochte keinen Lendenschurz tragen, - er fühlte sich damit stets beengt. Aber er hatte ja auch noch den schwarzen Umhang, den ihm Jakobus vor wenigen Wochen geschenkt hatte, mit dem er die hässlich Farbe seines Überkleides etwas verdecken konnte, obwohl ihm schwarz auch nicht sehr zusagte. Viel lieber wäre er bunt gekleidet – in leuchtenden Farben, wie etwa rot, orange oder violett. Aber dafür reichten seine Mittel wohl nie aus...
Außerdem war es ihm auch irgendwie egal, wie er selbst gekleidet war. Viel lieber erfreute er sich am Anblick anderer Menschen, vor allem jener, die sich individuell kleideten.

Nach einigen Tagen Wanderschaft, ohne von anderen Menschen gesehen zu werden, wusste er noch nicht, wohin er gehen wollte. Zuerst dachte er an Jerusalem, - aber diesen Gedanken verwarf er schnell. Viel lieber wollte er das Land verlassen, - vielleicht mit einem Schiff in ein anderes Land reisen. Aber das würde nicht ganz billig sein, und Geld hatte er keines. Für die Nahrung unterwegs war zwar gesorgt, - auch wenn dies vielleicht Diebstahl war, wenn er sich Obst oder Gemüse aus den Feldern nahm, - aber Joshua war stets genügsam. Und seinen Durst stillte er an nahen Bächen oder Teichen.
So wanderte er tagelang, ja wochenlang einsam dahin, bis er zu seiner Rechten eine größere Stadt sah, die am Wasser lag. Es musste eine Hafenstadt sein, da er auch viele Schiffe am Ufer ausmachen konnte. Nun, vielleicht könnte er sich ungesehen auf so ein Schiff schwindeln? Wohin die Reise dann ging, wäre ihm egal – Hauptsache weit weg....
Joshua war ein bisschen aufgeregt, als er in die Stadt kam – vor allem, als er so plötzlich wieder unter vielen Menschen war, wo sich nicht wenige nach ihm umdrehten. Klar, seine Erscheinung löste schon immer Aufsehen aus, - vor allem sein extrem langes Haar und seine Größe. Er überragte sie alle gut um einen Kopf. Und er war wirklich eine außergewöhnliche Schönheit, wo sich sogar einige fragten, ob es sich bei ihm nicht um eine Frau handelt, denn nur Frauen besitzen so ein vollkommenes schönes Gesicht, noch dazu wo Joshuas Bartwuchs noch immer nicht eingesetzt hatte, was mit seinen fast 18 Jahren wirklich höchst seltsam war.
Als er nun am Hafen stand und die vielen großen Schiffe besichtigte, zerschlug sich seine Hoffnung, sich ungesehen als sogenannter blinder Passagier auf eines schwindeln zu können. Es standen einfach zu viele Menschen an den Stegen. Dennoch wagte er es, einen Steg entlang zu gehen und zwei Männer, die ihn aufhielten, zu bitten, ob er nicht mitfahren könne. Zuerst sahen ihn die zwei höchst überrascht an, was wohl vorwiegend eher an seiner Frage, denn an seinem Aussehen lag.
„Ich gebe ehrlich zu, dass ich über keine Geldmittel verfüge, aber ich würde zu gerne fremde Länder sehen. Ich könnte ja auch am Schiff arbeiten, wenn so etwas möglich wäre“, sprach Joshua weiter und sah die beiden stämmigen Männer, die zwar um einiges kleiner, aber doch um einiges breiter als er waren, bittend an.
„Unsere Mannschaft ist komplett“, sagte einer von ihnen.
„Wohin willst du überhaupt?“ fragte der andere.
Joshua zuckte mit den Achseln.
„Die Reise geht nach Ägypten. Also, von mir aus kannst du mitkommen“, sprach der andere und lächelte.
„Von mir aus auch, - vor allem, weil du ehrlich bist und nicht versucht hast, dich an Bord zu schwindeln, - denn mit solchen Brüdern, wenn wir sie während der Fahrt aufspüren, machen wir kurzen Prozess und werfen sie den Haien zum Fraß vor“, sagte der eine.
Joshua schluckte. Nun war er froh, dass er ehrlich war...
Die Reise war alles andere als angenehm für Joshua. Der erste Tag ging noch, obwohl ihm schon da sehr flau im Magen war. Aber am zweiten Tag, was viel mehr in den frühen Morgenstunden passierte, hielt er sich nur mehr an der Reling auf, wo er sich verkrampft, mit schneeweißem Gesicht, am Geländer festhielt und alles, wie es schien, was er in seinem bisherigen Leben gegessen hatte, erbrechen musste.
Nun war es auch schon damals so: Wer den Schaden hat, hat auch den Spott, - denn nicht nur die Mannschaft, sondern auch viele Passagiere lachten ihn aus.
Aber bald hatte er die Seekrankheit hinter sich und konnte endlich die Aussicht genießen und auch ein paar Bissen zu sich nehmen, was ihm die zwei Männer, die ihn auf das Schiff gelassen hatten, zukommen ließen. Die beiden kümmerten sich wirklich um Joshua, auch wenn sie, wie die anderen, über sein sehr blasses Gesicht gelacht hatten.
Trotzdem war Joshua heilfroh, als er endlich wieder an Land gehen konnte – noch dazu an fremdes Land, wo er sich schon in den letzten Nächten herrliche Abenteuer ausgemalt hatte. Es kümmerte ihn nicht, mittellos zu sein, denn er war sich sicher, irgendetwas zu finden, womit er sein tägliches Brot verdienen könnte. Auf dem Schiff hatte er drei fremde Männer über Magier reden gehört, die es in diesem fremden Land massenhaft geben sollte. Joshua wollte mehr über diese Magier erfahren und vielleicht sogar bei einem von ihnen in die Lehre gehen.
Aber es war nicht so einfach, sich mit den Menschen zu unterhalten, da sie in einer ihm fremden Sprache redeten – und nur wenige seine Sprache verstehen konnten. Joshua war auch gewillt, diese fremde Sprache zu erlernen, denn ihm gefiel die Stadt, die so ganz anders aussah, wie sein Heimatdorf oder Jerusalem. Obwohl ihm schon Jerusalem sehr bunt erschien, aber diese Stadt übertraf alles, was er sich in den letzten Nächten erträumt hatte. Joshua kam aus dem Staunen nicht mehr heraus und konnte sich kaum an den herrlichen Gebäuden, den vielen Statuen und vor allem an den Menschen satt sehen. Lächelnd, manchmal sogar vor Freude laut lachend, ging er durch die Straßen und Gassen dieser großen Stadt. Und sehr oft lächelte man zurück.
Luzifer, der zwar noch immer an seiner Seite war und noch immer nur von Joshua gesehen wurde, hielt sich in den letzten Tagen sehr im Hintergrund. Aber jetzt, in der fremden Stadt, schritt er näher neben Joshua.
„Gefällt dir die Stadt wirklich?“ fragte er, und Joshua nickte nur stumm, da er in der Menschenmenge nicht riskieren wollte, bei einem Selbstgespräch ertappt zu werden.
„In dem Reich, in dem ich existiere, ist es noch viel schöner, Joshua. Dort erheben sich Gebäude aus reinem Gold, - und die Straßen sind mit Edelsteine besetzt“, schwärmte ihm Luzifer vor, aber Joshua kümmerte sich nicht darum.
Viel mehr Aufmerksamkeit schenkte er einer Menschenansammlung, die anscheinend einem einzigen Mann zuhörte. Joshua stellte sich dazu, und da er auch hier zu den Größten zählte, fiel es ihm nicht schwer, den Mann zu sehen, dem die Menschen zuhörten oder zusahen. Es schien ein Magier zu sein. Joshua sah, wie er eben eine brennende Fackel an den Mund hielt und das Feuer schluckte. Im nächsten Moment stieß er das geschluckte Feuer mit einer mächtigen Flamme nach oben aus. Die Menge applaudierte jubelnd. Joshua wusste nicht, was er davon halten sollte, als der Magier abermals die Fackel an den Mund hielt.
Plötzlich spürte Joshua eine Veränderung. Es war, als hätte sich Luzifer, der ja an seiner Seite blieb, in seinen Körper gedrängt, denn auf einmal war er verschwunden, - gerade in dem Augenblick, als Joshua die Veränderung spürte. Als ob sein eigenes Ich zurück gedrängt worden wäre, konnte er fühlen, wie eine Kraft aus seinem Körper drängte – direkt auf den Magier zu, der im nächsten Moment aufschrie und lichterloh brannte. Ein Zuschauer reagierte blitzschnell und schüttete einen Krug Wasser, den er auf der Schulter trug, auf den Magier, der sich schreiend und wimmernd am Boden wandte.
„Er ist ein Betrüger!“ kam es aus Joshuas Mund, der selbst aber sehr wohl spürte, dass es nicht wirklich seine Worte sind. „Er erhebt sich über den Einen Gott, indem er vorgibt, Meister über alle Elemente zu sein.“
Joshua wusste nicht, was er tun sollte. Am liebsten wäre er weggelaufen, aber irgendetwas hielt ihn an der Stelle, wo er unter der Menschenmenge stand, fest. Und was am allerschlimmsten war, - die Menschenmenge wurde aufgebracht und stellte sich gegen ihn. Es hätte nicht viel gefehlt, und ein jüngerer Mann, vielleicht sogar in seinem Alter, hätte die Hand gegen ihn erhoben. Aber just in diesem Augenblick schien ihn Luzifer freizugeben.
Joshua drehte sich um und lief so schnell er konnte über den Platz in eine enge Seitengasse. Einige Menschen verfolgten ihn, aber er lief weiter, bis er fast aus der Stadt heraußen war, wo sich vor ihm ein Garten mit Feigenbäumen ausbreitete, in dem Menschen arbeiteten. Seine Verfolger waren abgeschüttelt, - aber die arbeitenden Menschen wunderten sich über den abgehetzten, jungen Mann, der so plötzlich vor ihnen stand.
Joshua wandte sich um. Er sah nur Luzifer, der ihn breit anlächelte.
„Dem haben wir es aber gezeigt!“ lachte dieser.
Joshua schüttelte nur seinen Kopf und wandte sich den arbeitenden Menschen zu, die ihn noch immer erstaunt ansahen.
„Macht euch die Arbeit Freude?“ fragte Joshua die Menschen. Es war eher eine Verlegenheitsfrage, - und ihm fiel nichts besseres ein.
„Wie kann einem Arbeit Freude machen, und das in dieser Hitze?“ murrte einer der Arbeiter.
Joshua erstarrte, denn wieder spürte er, wie sich Luzifer seines Körpers bemächtigte, seinen rechten Arm hob und auf das große Feld mit dem Feigenbäumen zeigte.
„Dies ist ein Geschenk des Einen Gottes, und ihr könnt es nicht würdigen?“ fragte Luzifer mit Joshuas Stimme. „Dann sollt ihr es auch nicht haben!“
Im nächsten Moment waren alle Feigenbäume verdorrt – und alle Früchte faulig.
Joshua schloss innerlich die Augen. Noch war er seines Selbst nicht habhaft, aber als ihn Luzifer wieder frei gab, stürmte er abermals im schnellen Laufschritt los, bis er keinen Atem mehr hatte und die Kraft ihn in seinen Beinen verließ.
Joshua spürte, dass ihn niemand verfolgt hatte, als er auf dem Boden, im Sand, lag. Langsam hob er seinen Kopf und blickte um sich. Er befand sich in einer Wüstengegend. Ringsum war nichts als Sanddünen, bloß am Horizont konnte Joshua, durch die Hitze verschwommen, schroffe Felsen erkennen. Nicht mal die Stadt, die er hinter sich gelassen hatte, war noch zu sehen. Schwerfällig richtete sich Joshua auf, kreuzte seine Beine und legte sein Gesicht in beide Hände. Er wollte weinen, aber er konnte nicht. Nein, es war nicht Zorn, was sich gegen Luzifer richtete, - es war das Unverständnis. Joshua konnte nicht verstehen, warum Luzifer das alles machte, - welchen Sinn all das haben soll.
„Warum tust du das den Menschen an? Warum müssen sie darunter leiden, nur weil du mich für dein Reich gewinnen willst?“ fragte er ihn, als er seine Anwesenheit spürte
„Dann entscheide dich endlich“, sagte Luzifer mit harter Stimme.
„Was passiert, wenn ich mit dir gehe?“ fragte Joshua und wischte sich den Staub vom Gesicht, was nicht so einfach war, weil er ziemlich ins Schwitzen gekommen war.
„Du würdest den Menschen einen Gefallen damit tun“, sagte Luzifer und rückte näher an Joshua heran. „Sie würden nie mehr hungern oder auf andere Art leiden, weil sich von dem Augenblick an, wo du mit mir gehst, nichts mehr verändern wird.“
Joshua blickte seinen Zwillingsbruder ungläubig an.
„Ich verstehe nicht, was du damit sagen willst“, meinte er dann.
Luzifer stand auf und breitete seine Arme aus. Im nächsten Moment bildete sich in der Landschaft eine dunkle Öffnung, die immer heller wurde. Aus der Helligkeit entstand eine herrliche Landschaft, mit saftigen Wiesen, sanften Hügeln, wo inmitten ein klarer See das Licht einer großen, roten Sonne spiegelte und dahinter dichte Wälder. In dieser Landschaft spazierten gemächlich menschenähnliche Wesen, die sehr zufrieden und friedlich wirkten. Einige von ihnen standen auch zusammen und unterhielten sich fröhlich lachend. Joshua war erstaunt über diesen Frieden und diese Liebe, die er bei dieser Betrachtung fühlte.
„Siehst du? Sie alle sind zufrieden, weil sich nie etwas ändert. Das ist mein Reich. Genauso könnte es in dieser Welt hier aussehen, wenn du nur mit mir gehen würdest“, sagte Luzifer und lächelte Joshua mit leuchtenden Augen an.
„Sagtest du nicht, dass dein Reich das Reich der Götter, Göttinnen, Engel und Dämonen ist?“ fragte Joshua, der noch nicht ganz von dem Glanz, der sich vor seinen Augen geöffnet hat, überzeugt war.
„Ja, das sagte ich“, antwortete Luzifer.
„Aber hier in dieser Welt leben Menschen, keine Götter. Ich kann mir vorstellen, dass sich Menschen langweilen, wenn sich für sie nichts mehr verändert. Wie können sie wissen, was Glück bedeutet, wenn sie nie wieder Leid erfahren? Ihr Leben ist anders als das der Götter.“
„Ja, jetzt ist es noch anders, weil sie ihre eigene Göttlichkeit nicht erkennen können.“
„Wer bist du wirklich?“ fragte Joshua nach einer Weile.
„Ich war einst, vor vielen Jahren, einer der mächtigsten Götter in meinem Reich. Die Menschen beteten mich an und gaben mir sogar Opfergaben. Meine Gestalt war für sie wie die der Sonne. Ich war das Licht, - der Lichtbringer. Dennoch hat sich nichts verändert. Ich bin noch immer dieser Gott, nur nehmen die Menschen dies zurzeit nicht mehr wahr, weil sie in der Welt der Veränderung leben. Wir Wesen, die in diesem Reich existieren, kennen keine Veränderung, und keine Zeit, wie sie die Menschen hier wahrnehmen. Für uns gibt es weder Vergangenheit, Gegenwart, noch Zukunft. Alles, was für die Menschen jemals passierte, oder passieren wird, nehmen wir als Ganzes wahr.“
Joshua überlegte wieder.
„Wenn du sagst, dass dein Reich das Reich der Götter ist, so existiert auch der Gott, den wir den Einen nennen, in deinem Reich. Kennst du ihn?“ fragte er.
„Oh ja, ich kenne ihn, - und er will genauso wie ich, dass du in unser Reich kommst“, sagte Luzifer eifrig. „Er ist es auch, der zu den Propheten sprach und ihnen sein Reich versprach, wenn die Menschen nach seinen Geboten leben.“
„Aber du sagtest, in deinem Reich existieren viele Götter, wie auch Göttinnen. Haben sie auch Gesetze, nach denen sich die Menschen richten sollen?“
„Natürlich haben auch sie Gesetze, - und es gibt noch immer viele Menschen, die sich nach ihren Gesetzen richten und ihnen, so wie mir damals, Opfergaben schenken.“
„Kann ich den Einen Gott in deinem Reich sehen?“ fragte Joshua und blickte angestrengt in die wundervolle Landschaft, die sich vor ihm aufgetan hatte und nun noch größer zu werden schien.
Luzifer lachte.
„Das, was du hier siehst, ist nur ein Bild von vielen meines Reiches. Würde ich dir die Wirklichkeit dieses Reiches zeigen, könntest du mit deinem menschlichen Verstand nichts erkennen. Auch wenn ich dir den Einen Gott zeigen würde, so würdest du nur ein menschenähnliches Wesen sehen, - vielleicht einen älteren und doch wunderschönen Mann, mit weißem, langem Haar und Bart, gekleidet in weißem, strahlenden Gewande. Aber das wäre nicht sein wahres Aussehen. Glaube mir, - sein wahres Aussehen ist viel strahlender als das Licht, welches du sehr oft siehst. Uns ist es möglich, jede mögliche Gestalt anzunehmen, aber in Wirklichkeit sind wir formlos und bestehen aus keiner Materie.“
„Und genau das selbe würde mit den Menschen passieren, wenn ich mit dir gehe?“ fragte Joshua.
„Ja, in diesem Moment würden sie alle ihre Sorgen los sein und selbst strahlende Wesen, ohne Körper, werden. Es ist der Körper, der Nahrung braucht. Es ist der Körper, der Schmerz empfindet. Du würdest sie in dem Moment, wo du mit mir gehst, von all dem befreien.“
Joshua überlegte abermals.
„Aber wie kann ich wissen, ob die Menschen das auch wollen?“ fragte er.
„Was meinst du, warum sie den Einen Gott, oder andere Götter und Göttinnen anbeten und um ein besseres Leben anflehen?“ stellte Luzifer die Gegenfrage.
„Sag mir nur noch eines, Luzifer. Woher kamen die Götter? Und woher kamen die Menschen? War es wirklich der Eine Gott, der die Menschen erschaffen hat, wie es in den Heiligen Schriften geschrieben steht? Nur – wenn er es war, - wieso beten die Menschen auch andere Götter oder Göttinnen an?“
„Mein Reich existiert ewig, - aber das der Menschen ist vergänglich und wird so lange vergänglich sein, bis sie sich uns anschließen“, sagte Luzifer.
Joshua war verwirrt. Er konnte sich einfach nicht entscheiden und wünschte sich, das Licht würde ihm wieder erscheinen, um ihm zu sagen, ob Luzifer die ganze Wahrheit spricht.
„In deinen Reden stecken Widersprüche. Du zeigst mir diese wundervolle Landschaft, mit den friedlichsten und schönsten Wesen, die ich je gesehen habe. Du sagtest mir vorhin in der Stadt, dass es in deinem Reich Gebäude aus reinem Gold gibt und Straßen, die mit Edelsteinen gepflastert sind. Aber jetzt sagst du, es seien nur Bilder von vielen, denn in Wirklichkeit sei alles formlos, ohne Materie.“
„Ich sagte auch, wir können jede Form annehmen, die wir annehmen wollen. So ist es uns auch möglich, die Welt um uns so wahrzunehmen, wie wir sie wahrnehmen wollen. Wenn es dein Wunsch ist, in einem Gebäude aus reinem Gold zu leben, so wird er erfüllt werden“, sagte Luzifer, und seine Augen leuchteten abermals hell auf.
„Es geht um Wahrnehmung“, sinnierte Joshua. „Aber vielleicht ist es den Menschen auch ohne dein Reich möglich, ihre Wahrnehmung zu ändern, und das Leben zu genießen, anstatt sich im Schweiße ihres Angesichts das Brot zu verdienen.“
Luzifer lachte wieder und breitete seine Arme abermals aus. Statt der wunderschönen Landschaft sah Joshua eine graue Welt voller Nebel. Es gab keine saftigen Wiesen mehr, keine Hügeln, keinen See, keine Wälder. Statt dessen war der Boden grau, falls er überhaupt viel Boden sehen konnte, da dieser überfüllt von Menschenmassen war, wie er sie noch nie gesehen hatte.
„So wird es in vielen, vielen Jahren auf der Erde aussehen“, sagte Luzifer. „Was meinst du, wovon die Menschen leben werden? Oh ja, sie haben es sich eine zeitlang gemütlich gemacht, indem sie die Erde ausbeuteten, alle Tiere abschlachteten, um sich von ihnen zu ernähren. Sie entdeckten viele Wissenschaften, womit sie fast alle Krankheiten besiegten. Aber was kam dabei heraus? Die Menschen vermehrten sich, - und das so lange, bis sie keinen Platz mehr auf ihrer Erde hatten. Das, was du hier siehst, ist nicht die Erde, Joshua. Es ist ein anderer Planet, auf dem sich die Menschen niedergelassen haben, und ihn ebenso ausbeuteten, wie sie es mit der Erde getan haben, auf der sie nicht mehr leben konnten.
Das ist ihre Veränderung, die gar keine ist. Es ist die ständige Wiederholung, - der ewige Kreislauf, aus dem sie nicht herausfinden, weil du es ihnen verwehrt hast.“
„Wurden denn die Menschen geboren, um die selben Wesen zu werden, wie diejenigen in deinem Reich?“ fragte Joshua und schloss seine Augen, weil er dieses Bild nicht mehr sehen konnte und wollte. „Oder kamen sie nicht doch aus der selben Quelle, aus der auch ihr entstanden seid?“
„Das ist Blasphemie, Joshua“, sagte Luzifer und kniete sich vor Joshua auf den Boden. „Wer von den Menschen würde dir das glauben? Sie kennen nur ihren Einen Gott, oder eben andere Götter und Göttinnen. Und sie glauben an sie. Sie sind überzeugt davon, wenn sie sterben, dass sie von ihren Göttern und Göttinnen aufgenommen werden.“
„Und werden sie das?“ fragte Joshua, während er seine Augen wieder aufschlug und Luzifer prüfend ansah.
„Oh ja, das werden sie, - alleine durch ihren Glauben. Aber du könntest es ihnen schon jetzt ermöglichen und sie damit vor diesem Elend retten, was ich dir eben gezeigt habe.“
Vor Joshua breitete sich wieder die Wüstengegend aus.
„Und was, wenn sie nicht glauben? Was passiert dann mit ihnen, wenn sie sterben?“ fragte Joshua.
Luzifer wurde langsam ärgerlich. Er erhob sich und ging vor Joshua auf und ab.
„Du stellst zu viele Fragen, deren Antworten du nicht verstehen würdest“, sagte er, als er vor Joshua stehen blieb und mit heruntergezogenen Brauen zu ihm herabsah.
In diesem Moment wurde Joshuas Wunsch erfüllt. Vom Himmel flammte plötzlich ein helles, aber sanftes Licht auf ihn herab und hüllte ihn ein. Joshua sah nur mehr das Licht, aus dem sich eine Gestalt erhob und direkt vor ihm niedersank. Irgendwo im Hintergrund, wie weit weg, hörte er Luzifers Aufschrei. Aber darum kümmerte sich der junge Mann nicht mehr. Er blickte in das strahlende Gesicht des Wesens, das er schon so lange liebte und nach dessen Gesellschaft er sich so sehr sehnte. Joshua konnte nicht sagen, ob das Wesen weiblich oder männlich war. Es war ihm auch egal, denn er kannte bereits das Gefühl, wenn es sich mit ihm vereinigte. Das war mehr als Liebe, - DAS war Göttlichkeit. Aber diesmal blieb das Wesen vor ihm stehen, dessen golden leuchtendes Haar fast den Boden berührte und seinen leuchtenden Körper wie ein Kleid umhüllte.
„Du wolltest wissen, woher die Götter, Göttinnen, Engel und Dämonen, wie auch die Menschen und alle anderen Wesen auf der Erde kamen. Du hast dir die Antwort bereits selbst gegeben, Joshua“, sprach das Wesen, dessen Stimme Joshua aber auf ganz andere Art wahrnahm, als die von Luzifer. Diese Stimme war viel mehr in ihm selbst, - wie Gedanken, dennoch wusste Joshua, dass es nicht seine eigenen Gedanken waren.
„Sie alle kamen aus ein und der selben Quelle“, sprach das wunderschöne, leuchtende Wesen weiter.
„Und warum gibt es Unterschiede zwischen den Wesen? Warum sind die einen göttlich und die anderen Wesen nicht? Warum leben die einen in Friede und Liebe, und die anderen müssen leiden?“ fragte Joshua.

„Sie leiden, weil sie sich dem Leid ergeben, weil sie ihre eigene Göttlichkeit nicht erkennen können. Die Menschen, unter denen du lebst, sehen nur das Äußere, dessen Teil sie zwar sind, aber dadurch, dass sie sich abgrenzen, erkennen sie nicht ihr Inneres, in dem ihre Göttlichkeit noch schläft.“
„Was kann und was soll ich tun?“ fragte Joshua, und dachte dabei an Luzifers Reich.
„Ich bin kein Wesen, welches beeinflusst und andere zu Entscheidungen drängt. Es ist dein Leben, - und du hast es in deiner Hand, wenn du es nur willst. Die ewige Quelle hat uns alles dafür gegeben. Sie ist der Ursprung, aus dem alles kommt, und deren Teile alles ist.“
„Alles? Auch der Eine Gott, die Götter, die Göttinnen, die Engel und die Dämonen?“ fragte Joshua schnell, weil er fühlte, wie sich das Wesen vor ihm aufzulösen begann.
„Du hast alles in dir. Höre auf deine innere Stimme“, vernahm er noch, dann war das Wesen, wie auch das Licht verschwunden.
Joshua wandte sich um. Luzifer kam auf allen Vieren auf ihn zugekrochen.
„Du hast mich belogen“, sagte Joshua zu ihm und erhob sich.
„Das habe ich nicht“, verteidigte sich Luzifer und stand ebenfalls auf.
„Dann weißt du weniger als das Lichtwesen, denn es sagte mir, dass mein Gefühl richtig war, und alles aus ein und derselben Quelle kommt. Ich werde nicht mit dir gehen, und verbiete dir von nun an mich zu begleiten.“
Luzifer lachte laut auf. Joshua tat dieses Lachen in den Ohren weh, als es sich über die gesamte Wüstengegend ausbreitete und immer lauter zu werden schien.
„Geh weg von mir!“ schrie Joshua, fiel auf die Knie und hielt sich beide Ohren zu.
Dann war endlich Ruhe. Luzifer war zwar noch da, aber er wandte sich um zu gehen.
„Ich habe nun keine Macht mehr über dich, - aber sei dir gewiss, dass ich noch immer in deiner Nähe sein werde. Falls du es dir anders überlegst, sag nur ein Wort und ich bringe dich in mein Reich“, sagte er, als er sich langsam entfernte.
„Geh!“ schrie Joshua abermals, dann ging er in die andere Richtung, zu den felsigen Bergen am Horizont.
Der Weg war weit und alleine wegen der Hitze beschwerlich. Joshua war schon knapp vorm Verdursten und schleppte sich bald auf allen Vieren weiter, als er wie durch ein Wunder an einen Platz mit einem See und Palmen kam. Er brauchte nur Wasser und etwas Ruhe, dann konnte er seine Wanderung wieder langsam fortsetzen.
Joshua dachte nicht nach, während er ging. Er hatte auch kein bestimmtes Ziel oder irgendeine Erwartung. Es war, als ob ihm die glühende Sonne alle Gedanken ausgebrannt hätte. Joshua bestand nur mehr aus der Bewegung, die er im Gehen machte, bis er zu den felsigen Bergen kam und durch eine Schlucht weiter wanderte. Dort kam er wieder an einen kleinen See, der sich ständig durch den Wasserfall, welcher von den Bergen herunterkam, füllte und er abermals seinen Durst löschen konnte.
Joshua hatte kein Zeitgefühl mehr. Er wanderte Tag und Nacht und dachte auch nicht an Schlaf. Er hatte nicht einmal das Bedürfnis zu schlafen.
Joshua hätte nicht sagen können, wie lange er durch die Schluchten wanderte, - nicht einmal, wie lange er vorher durch die Wüstengegend gewandert war, - bis sich vor ihm, am Ende einer sehr schmalen Schlucht eine riesige Stadt ausbreitete.
Und mit einem Mal setzte auch sein Denken ein. Er blickte an sich herab, - sah die nackten, staubigen Füße, das ausgefranste, durchlöcherte Leinengewand und darüber den mehr graubraunen, denn schwarzen Umhang, der nun ebenso ausgefranst war. Joshuas langes Haar klebte an seinem Gesicht und Gewand und wirkte mehr wie dicke, graubraune Schlangen, als Haare, so verfilzt war es. Man würde ihn in der Stadt für einen Bettler, oder noch schlimmer, einen Aussätzigen halten und sofort wieder hinausjagen. Aber was hatte er für Möglichkeiten? Er musste es einfach riskieren.

Die Stadt unterschied sich kaum von der letzten, aus der er wegen Luzifer flüchten musste.
Bald verspürte Joshua Hunger, aber hier gab es keine Felder, wo er sich Obst oder Gemüse ungefragt nehmen könnte, sondern unzählige Stände mit Händler, die genau aufpassten, ob die Ware auch bezahlt wurde.
Plötzlich legte ihm jemand die Hand auf die Schulter. Joshua wandte sich um und blickte in ein sehr altes, dunkles Gesicht, dessen schwarze Augen geheimnisvoll blitzten.
„Hast du Hunger, Jüngling?“ fragte ihn der Alte.
Joshua blickte an dem beleibten Mann herab. Er trug eine rotleuchtende Toga, die aus Seide sein musste, so wunderschön glänzte der Stoff in der heißen Sonne. Sein graues, schulterlanges Haar war an der Stirn mit einem Goldreif geschmückt, an dem bunte Edelsteine funkelten. Joshua glaubte, vor einem König zu stehen.
Er nickte zuerst nur stumm und wunderte sich gar nicht, dass ihn der alte Mann in seiner Sprache angeredet hatte.
Der Alte lächelte.
„Dann komm mit. Ich lade dich zum Essen ein.“
Joshua folgte dem alten Mann, der trotz seines Leibesumfanges einen beneidenswert aufrechten und auch sehr schnellen Gang hatte. Joshua schätzte ihn mindestens auf 80, aber die Bewegungen und die listigen Augen sagten etwas anderes.
„Man nennt mich Melos“, stellte sich der Alte vor, als sie vor einer Art Tempel – zumindest sah das Gebäude für Joshua so aus, hielten.
„Ich werde Joshua genannt und komme aus Judäa“, sagte Joshua und blickte noch immer verwundert auf das prächtige Gebäude.
„Gefällt dir mein Haus?“ fragte Melos.
„Das ist dein Haus?“ platzte Joshua laut wie ein kleiner Junge heraus.
Melos lachte.
„Ja, das ist mein Haus. Ich lebe hier alleine – nun, fast alleine, denn ab und zu bekomme ich Besuch, der dann einige Tage, manchmal auch länger, bleibt. Aber zur Zeit lebe ich alleine“, sagte der Alte und ging voraus in den Tempel.
Joshua erstarrte, als er die Vorhalle, mit einer breiten Marmortreppe, die in das obere Stockwerk führte, sah. Schon die Vorhalle war viel größer als das gesamte Haus seiner Familie. Aber das alleine war es nicht, denn viel mehr lag Joshuas Erstaunen an der Einrichtung, - an den bunten, wertvollen Teppichen am Boden, wie auch an den Wänden, an Skulpturen und Bilder, an all den Grünpflanzen mitten in der Vorhalle, wo sich sogar ein kleiner Brunnen, in dem das Wasser fröhlich plätscherte, befand.
Von der Vorhalle aus kam man in weitere sechs Räume, die noch prunkvoller ausgestattet waren.
„Bist du so reich?“ fragte Joshua, als er auf einer türkisfarbenen, mit sicher sehr teurem Stoff überzogenen Sitzgarnitur neben dem Hausherrn Platz nahm.
Aber der Hausherr kam nicht zu einer Antwort, denn schon erschienen vier junge Männer, nur mit Lendenschurz gekleidet, und verneigten sich vor dem Alten und seinem Gast.
Melos sagte etwas zu ihnen in einer Sprache, die Joshua nicht verstand, - dann zogen sie sich wieder zurück.
„Ich dachte, du lebst alleine hier“, sagte Joshua verblüfft.
Melos lachte laut auf.
„Joshua, das sind meine Diener. Sie sorgen für mein leibliches Wohl, und natürlich auch für das meiner Gäste. Und – ja, um deine letzte Frage zu beantworten, ich bin sehr reich, vor allem aber reich an Kraft.“
„Wie soll ich das verstehen?“ fragte Joshua und hob seine Beine gekreuzt auf die Sitzgarnitur, was der alte Mann mit einem höchst seltsamen Blick verfolgte.
Joshua errötete leicht und stellte seine schmutzigen Füße wieder auf den Boden.
„Nein, nein, - lass deine Füße nur oben. Das ist es nicht, was mich überraschte, - sondern die Art, wie du sitzt“, sagte der Alte.
„Was ist daran seltsam?“ fragte Joshua lächelnd und kam der Aufforderung Melos’ nach.
„Hast du schon einmal etwas über Magie gehört?“ fragte Melos leise, als ob er Angst hätte, man würde sie belauschen.
„Auf dem Schiff habe ich einige Männer darüber reden gehört. In diesem Land soll es Magier geben, die alleine mit der Kraft ihres Geistes, wie sie sagten, wahre Wunder vollbringen können, wie etwa Menschen alleine durch Handauflegen zu heilen“, sagte Joshua eifrig.
„Und würdest du gerne so einen Magier und Heiler kennen lernen?“
Joshuas Augen leuchteten auf.
„Oh, ja – ich habe mir sogar vorgenommen, so einen Mann aufzusuchen, - aber da ich fremd hier bin, wüsste ich nicht, wo nach so einem Mann zu suchen wäre.“
Melos lächelte nur geheimnisvoll und schwieg.
Eine junge Frau, mit langem schwarzen Haar und nur einem bunten Tuch um den Hüften, kam in den Raum und stellte ein Tablett mit zwei hohen Bechern vor dem kleinen Tischchen der Sitzgarnitur ab.
Joshua blickte sie mit großen Augen an. Aber sie erwiderte seinen Blick nicht. Mit gesenkten Augen verrichtete sie ihren Dienst und verließ mit wiegenden Schritten den Raum.
Joshua atmete tief durch.
„Gefällt sie dir?“ fragte Melos schmunzelnd. „Du kannst sie haben, wenn du willst.“
„Sie haben?“ wiederholte Joshua wie in Trance und blickte noch immer zur ovalen Maueröffnung, durch die das Mädchen entschwunden war.
„Ich werde sie dir am Abend in deine Gemächer schicken. Und jetzt lass uns erst mal guten Wein trinken“, sagte Melos wie nebenbei.
Joshua hatte noch nie Wein getrunken. Ganz vorsichtig nippte er an dem Becher. Zuerst verzog er das Gesicht, - aber beim nächsten Schluck fand er bereits Gefallen an dem Trank.
„Du solltest den Wein nicht so schnell trinken. Wenn du Durst hast, wäre Wasser geeigneter“, sagte Melos lächelnd, als Joshua den Becher auf einmal gelehrt hatte.
Joshua lehnte sich zurück und schloss die Augen. Für einen Moment drehte sich alles um ihn.
„Ich wusste nicht, dass Wein so eine Wirkung hat“, sagte er entschuldigend, als er wieder aufsah und Melos fast doppelt sah.
„Möchtest du noch einen Becher?“ fragte der alte Mann lächelnd.
„Lieber nicht“, sagte Joshua mit einem sehr eigentümlichen Lächeln auf den Lippen, welches er beibehielt, als ein Diener an der Tür erschien und Melos etwas in der fremden Sprache sagte.
„Das Mahl ist zubereitet“, sagte Melos und stand auf.
Joshua wollte ebenso schnell aufstehen, aber ihn schwindelte, dass er sofort wieder auf seinen Platz zurück sank. Und Melos lachte schallend.
Er nahm seinen Gast am Arm und führte ihn in den Speisesaal, wo Joshua wieder staunen musste. Er sah das alles zwar nicht mehr sehr klar, aber doch so viel, dass das, was an Essbarem auf dem Tisch angerichtet war, für seine Familie ein gutes Monat lang gereicht hätte.
Zum Essen gab es wieder Wein, - aber diesmal entschied sich Joshua doch lieber für Wasser.
Während dem Essen unterhielten sich er und Melos weiter.
„Die Art, wie du gesessen bist, - diese Sitzhaltung dient uns zur Sammlung von Kraft“, erklärte Melos.
Joshua blickte den alten Mann erstaunt an und schluckte den Bissen im Mund schnell hinunter.
„Von welcher Kraft?“ fragte er.
Melos hob seine Hände und ließ sie über sich kreisen.
„Von der Kraft, die uns umgibt, die wir aber nicht sehen, sondern nur fühlen können. Wir konzentrieren uns auf diese Kraft und nehmen sie bewusst in uns auf. Manchen von uns ist es sogar möglich, mit dieser Kraft über den Boden zu schweben.“
Joshua horchte auf und dachte augenblicklich an das Lichtwesen, welches ihm sagte, die Quelle hätte jedem das gegeben, was er braucht. Er müsse es nur in seinem Inneren entdecken.
„Warum siehst du mich so erstaunt an?“ fragte der Alte lächelnd. „Du glaubst mir wohl nicht?“
„Doch, doch – ich glaube dir“, sagte Joshua schnell.
Melos sah Joshua prüfend an.
„Der Grund, warum ich dich am Marktplatz angesprochen habe, war der, weil ich etwas an dir gesehen habe, was nur wenige Menschen an sich haben“, sagte er dann plötzlich. „Um ganz ehrlich zu sein, - so etwas wie dich habe ich überhaupt noch nie gesehen. Dich scheint eine Kraft zu umschließen, die so gewaltig ist, dass du ohne Konzentration schweben könntest, wenn du nur den Wunsch dazu aussprichst.
Gab es schon etwas in deinem Leben, was du dir nicht erklären konntest, - oder was anders war, als bei anderen Menschen, die du kennst?“
Joshua war sich unschlüssig, ob er diesem Fremden vertrauen kann. Aber was hätte er schon zu verlieren? Dennoch war er vorsichtig und schüttelte leicht seinen Kopf, während er sein Teller erneut auffüllte. Noch nie in seinem Leben hatte er so viel auf einmal gegessen, und obwohl sein eher an dürftige Nahrung gewöhnter Magen bereits voll war, konnte er diesem Reiz nicht widerstehen.
„Möchtest du ein Magier werden?“ fragte Melos.
„Wäre das möglich?“ stellte Joshua die Gegenfrage.
„Ich sagte schon, dass ich bei dir etwas gesehen habe. Es ist nicht allen Menschen möglich, ein Magier zu werden, - aber bei dir, soviel kann ich jetzt schon sagen, - wäre es durchaus möglich.“
Nach dem Essen gingen die beiden wieder in das Zimmer mit der prachtvollen Garnitur. Zwei Diener, ein junger Mann und eine junge Frau, beide wieder sehr dürftig bekleidet, brachten Obst und Wein.
„Ich kann es nicht fassen!“ lachte Joshua. „Zuerst habe ich das Glück, einfach so mit einem Schiff in ein fremdes Land zu fahren, und dann erfüllt sich in einer fremden Stadt mein Wunsch, einen Magier zu treffen.“
„Sagen wir es so: Viel mehr habe ich dich getroffen, Joshua“, meinte der alte Mann freundlich lächelnd. „Du wirst es vielleicht nicht glauben, aber letzte Nacht hatte ich einen Traum, - und in diesem Traum habe ich dich gesehen. Ich sah dich auf einem Schiff, - sah, wie das Schiff anlegte und du in unsere Stadt kamst. Ich sah dich auf dem Marktplatz, - konnte auch den Stand der Sonne ausmachen. Deshalb wusste ich, zu welcher Zeit ich dich dort antreffen werde. Du siehst, unser Treffen war bereits ausgemachte Sache.“
„Du hast mich wirklich im Traum gesehen?“ fragte Joshua überrascht.
Melos nickte, - diesmal sehr ernst.
„Und zwar genauso, wie du nun vor mir sitzt. Und ich muss sagen, ich bin selbst überrascht, dass es dich wirklich gibt. Ich habe noch nie einen schöneren Menschen wie dich gesehen.“
Joshua senkte seinen Blick.
Der Wein stieg ihm abermals zu Kopf, und langsam breitete sich eine angenehme Müdigkeit in seinem Körper aus.
„Ich sehe dir an, dass du sehr müde bist. Komm, ich werde dir dein Gemach zeigen“, sagte Melos und erhob sich.
„Wenn es nicht zu viel verlangt ist, würde ich mich, bevor ich zu Bett gehe, gerne reinigen“, sagte Joshua scheu und Melos lachte laut auf.
„Und ich dachte schon, du hättest Angst vor Wasser!“ meinte er noch immer lachend. „Meine Diener haben dich schon beim Essen sehr seltsam angesehen, - denn es ist nicht üblich, mit schmutzigen Händen zu essen.“
„Warum hast du mir nicht geraten, mich zuerst zu waschen?“ fragte Joshua fast vorwurfsvoll.
„Gäste werden in diesem Haus wie Könige behandelt, denen man nichts rät oder vorschlägt“, sagte der Alte schmunzelnd.
Der Baderaum erinnerte Joshua ein bisschen an die Badeanstalt in Jerusalem, nur, dass er sich hier alleine waschen durfte.
Melos hatte ihm vorher die Tür zu seinem Nachtgemach gezeigt und sich bei ihm, mit dem Wunsch eine angenehme Nachtruhe zu haben, bereits verabschiedet.
Eingehüllt in ein weiches, schneeweißes Badetuch begab sich Joshua nun in das Nachtgemach, das ebenso prunkvoll wie alle anderen Räume dieses Tempels eingerichtet war. Das Bett war so groß, dass gut vier Menschen darin schlafen könnten, - und es sah so weich aus, dass man darin wie in Wolken versinken musste.
Aber Joshua erstarrte, als er auf das Bett, das vorhin, als Melos ihm das Zimmer zeigte, noch leer war. Nun lag die Dienerin darin, die zuerst den Wein gebracht hatte, - und Joshua erinnerte sich nun auch an Melos Worte, dass er sie haben kann...
Das Mädchen hob die kunstvoll bestickte Decke von ihrem nackten Körper und lächelte Joshua zu. Sie flüsterte Joshua etwas zu, was er nicht verstehen konnte, aber er konnte sich denken, dass es eine Aufforderung war, sich zu ihr ins Bett zu legen.
Zum ersten Mal sah Joshua eine vollkommen nackte Frau. Der erste Moment ließ all seine Gedanken vergessen, aber dann entsann er sich den Heiligen Schriften und den Worten der Menschen in seinem Dorf. Es war eine schwere Sünde, vor der Ehe Beziehungen zu haben. Er wäre demnach ein Sünder, würde er sich zu dem Mädchen legen. Aber woher kamen die Worte der Heiligen Schriften wirklich? Hatte er nicht selbst in der Badeanstalt in Jerusalem vor den Menschen gesagt, es seien nur Worte, die Menschen niedergeschrieben haben? Ebenso erinnerte er sich an die Begebenheit in der Wüste, als ihn Luzifer in sein Reich locken wollte, ihm von dem Einen Gott erzählte, der ja auch nur ein Wesen wie die Menschen war, wenn auch ein Wesen mit einem größeren Wissen. Noch immer war ihm der Unterschied zwischen Luzifer und seinem Reich und den Menschen und ihrer Welt nicht klar. Dennoch entschied er sich für seine innere Stimme, die das Leben und alles, was es ihm bot, bejahte.
Wieder flüsterte das Mädchen Joshua etwas zu und schlug die Bettdecke nun ganz zurück. Joshua ließ das Badetuch auf den Boden fallen und ging langsam auf das Bett zu. Zuerst kniete er sich nur mit einem Bein auf das weiche Lager und streckte seine Hand dem hübschen Gesicht der jungen Frau entgegen. Die weiche Haut ihrer Wangen fühlte sich wunderbar an. Sie nahm seine Hand und führte sie langsam über ihren Hals, bis zu ihren Brüsten. Joshuas Herz klopfte schneller. Er fühlte, wie sein Blut schneller durch seinen Körper floss, - so wie damals, als ihn Joseph, der Hohenpriester, gestreichelt hatte. Joshua war dieses Gefühl natürlich nicht fremd. Er war ein Mensch, wo der Sexualtrieb vollkommen natürlich war, und der sich das erste Mal in der Pubertät bemerkbar machte und er sich wunderte, was diese seltsam klebrige, fast weiße Flüssigkeit war, die aus seinem Penis kam und ganz anders war, als die Notdurft. Es war auch mit einem ganz anderen Gefühl verbunden, einem viel schöneren...
Das Mädchen schmiegte sich an Joshua und zog ihn zu sich ins Bett. Sie schien es nicht, wie Joshua, das erste Mal zu tun und schien ebenso zu spüren, dass der hübsche, junge Mann, mit dem rötlich glänzenden, dichten, leicht gelockten und überaus langem Haar und den seltsam leuchtenden Augen, in der körperlichen Liebe noch keine Erfahrung hatte. Aber sie tat alles, um Joshua zu lehren und führte ihn behutsam und sanft in die wunderbare Liebeswelt, die er ohne Scham genoss.
Erst kurz bevor die Sonne am nächsten Morgen aufging, schlief Joshua selig lächelnd ein, und das Mädchen verließ ebenso glücklich das Gemach.

Als er einige Stunden später gut ausgeschlafen erwachte, lagen neue Kleider im Fauteuil neben dem Bett. Joshua sprang sofort auf und besichtigte den herrlich weichen Stoff aus leuchtend violetter Farbe. Auch ein Umhang in etwas dunklerem Violett lag da. Zuerst fühlte er sich etwas beschämt, so etwas Kostbares anzunehmen, - aber dann überwog sein Herz eines Kindes und er schlüpfte in die kostbaren Gewänder, die seine nackte Haut sanft und weich streichelten, dass es eine Wonne war.

Melos erwartete ihn schon im Speisesaal – und schon wieder war der Tisch reichlich gedeckt.
„Ich werde dich heute meinen Freunden vorstellen“, sagte Melos. „Sie werden in einer knappen Stunde hier sein.“

Joshua war überrascht, als Melos’ Freunde kamen. Es waren neun an der Zahl, wobei sieben von ihnen ebenso alt aussahen wie Melos selbst, aber genauso wie Melos jugendlicher wirkten, als mancher Jüngling. Die anderen zwei schienen im selben Alter zu sein wie Joshua, vielleicht etwas älter, - aber auch sie hatten diesen geheimnisvollen Blick in den fast schwarzen Augen. Und gekleidet waren sie alle sehr prachtvoll und vor allem bunt.
Die Männer begaben sich aber nicht in den Raum, den Joshua bereits als Wohnraum kannte. Melos führte sie in der Vorhalle hinter der Treppe durch eine Tür, von der aus Treppen in einen Raum hinabführten, der eher einfach eingerichtet war. Außer Regale, auf denen dicke Bücher standen, befand sich nur ein langer Tisch und herum mehr als 20 Stühle im Raum. Da der Raum unter der Erde lag, waren an den Wänden Fackeln in Vorrichtungen gesteckt, die Melos anzündete.
Die Besprechung dauerte fast bis nach Mittag. Sie fiel zugunsten Joshuas aus, denn er wurde in der Runde als Lehrling aufgenommen.

So begann nun Joshuas Lehrzeit als Magier, - und er durfte weiterhin Gast in Melos’ prunkvollem Haus sein. Es war eine höchst lockere Lehrzeit, wo nie genaue Zeiten eingehalten wurden. Joshua musste also nie besonders früh aus dem Bett. Es war ihm selbst überlassen, wann er aufstand und auch wann er zu Bett ging, wo an manchen Abenden das hübsche Mädchen im Schlafgemach auf ihn wartete. Und egal, wann er aufstand, - wenn er in den Speisesaal kam, saß Melos schon bereit am Tisch, als ob er ihn erwartete hätte.
In den nächsten Wochen quartierte sich noch ein Mann in Melos’ Haus ein. Obwohl Melos Joshuas sogenannter Meister war, wurde Joshua nun ein zweiter Meister zugeteilt, einer, der sehr viel über Medizin wusste, wie Melos sagte.
Bis jetzt wurde Joshua nur theoretisch in die sogenannte Magie eingeweiht, nun aber lehrte ihn der zweite Meister, der sich Atlon nannte, sehr viel über unzählige Heilpflanzen. Joshua saugte alles wie ein Schwamm auf und war voll konzentriert, um sich alles zu merken. Er konnte auch bald einige Sätze in der fremden Sprache verstehen und sie auch sprechen.
Nach einem Monat durfte er bereits mit Atlon in die Stadt, wo ein Kranker nach ihnen verlangte.
Woran der Kranke litt, wusste selbst Atlon nicht. Er hatte einen sehr schmerzhaften Ausschlag am ganzen Körper, der aber nicht ansteckend war. Und der alte Heiler hatte schon sehr viele Heilpflanzen vergebens an ihm ausprobiert, und nun sollte es Joshua mit einer weiteren Heilpflanze versuchen. Joshua war natürlich aufgeregt und ging alles im Kopf noch mal durch, was ihn Atlon über diese Pflanze gelehrt hatte, bevor sie das Haus des Kranken und seiner Familie betraten. Noch schlimmer war es für Joshua, dass ihm der Meister genau auf die Finger sah.
Im Zimmer des Kranken, eines Mannes mittleren Alters, war es dunkel. Die Vorhänge waren vorgezogen, da der Mann behauptete, Licht würde den Ausschlag verschlimmern, - aber es war eher die Eitelkeit, denn der Ausschlag sah wirklich nicht schön aus. Rote, dicke Pusteln übersäten den gesamten Leib des Kranken, - manche von ihnen eiterten und verbreiteten keinen angenehmen Geruch. Joshua musste sich zusammennehmen und das Würgen im Hals unterdrücken.
Atlon überließ ihm den Vortritt. Langsam ging er zum Bett des Kranken, der ihn aus dunklen, großen Augen anstarrte.
„Ich bin Joshua, - ein Schüler Atlons“, stellte er sich dem Mann höflich vor.
„Werde ich nun von einem Schüler für mein kostbares Geld behandelt?“ regte sich der Kranke plötzlich auf, aber Atlon besänftigte ihn.
„Joshua ist nicht wirklich ein Schüler. Wir sind der Meinung, dass in den Händen dieses jungen Mannes mehr steckt als in unseren, die wir die Lehre der Medizin schwer und hart erlernen mussten. Außerdem bin ich zur Stelle, falls Joshua etwas nicht richtig machen sollte.“

Joshua war verblüfft über die Worte seines Meisters, obwohl er in den letzten Tagen sehr oft das Gefühl hatte, sehr bevorzugt von den Männern behandelt zu werden, die sich Magier und Heiler nennen. Sie stellten sich nicht über ihn, - und es war auch in dem Sinn keine Lehre von Meister zu Schüler, wie er es aus Jakobus’ Werkstätte gewohnt war. Viel mehr schien ihm, dass ihm diese Männer bloß Ratschläge gaben.
Atlon verließ kurz das Zimmer, um eine Schüssel mit Wasser zu holen, wo die Heilpflanzen, die Joshua in einem Beutel trug, eingeweicht werden sollten.
Inzwischen setzte sich Joshua an das Bett des Kranken. Als sein Blick auf den Arm des Mannes fiel, den er mit seinem Schenkel fast berührte, fühlte er ein seltsames Kribbeln am ganzen Körper. Joshua atmete tief durch, - aber das Kribbeln wurde stärker, und bald zitterte er am ganzen Körper, als ob eine Kraft in ihm wäre, die aus seinem Körper hinaus drängen möchte, aber kein Ventil fand. Instinktiv fasste Joshua mit der linken Hand den Arm des Mannes und strich mit der rechten Hand kaum spürbar darüber. Dann konnte er seinen eigenen Augen kaum trauen – die Hand des Kranken war unversehrt. In dem Moment stieß der Kranke einen Schrei aus und blickte selbst auf seinen gesunden Arm, der eben noch mit unzähligen eitrigen Pusteln übersät war. Auch Joshua sprang erschrocken auf, obwohl das Zittern seines Körpers noch nicht nachgelassen hatte. Er musste etwas tun – mehr tun, denn er spürte noch immer diese herausdrängende Kraft. Joshua spürte aber, dass diese Kraft nicht mehr Luzifers Kraft war und auch nicht die des Lichtwesens. Noch mal setzte er sich an das Bett, packte den Kranken an den Schultern und drückte ihn an seine Brust, wobei seine Hände sanft über dessen Rücken glitten. Dann zog er den Mann aus dem Bett, stellte ihn vor sich auf den Boden, umarmte ihn wieder und ging dabei mehr und mehr in die Knie, um mit beiden Händen auch die Beine des Kranken zu berühren.
Atlon stand an der Tür, die Schüssel mit Wasser in den Händen, die im nächsten Moment mit einem lauten Knall zu Boden fiel, als er sah, was Joshua vollbracht hatte.
Joshua kniete am Boden. Er fühlte sich, als ob er abermals tage- und nächtelang durch eine Wüstenlandschaft gewandert wäre. Sein gesamter Körper schmerzte und war so schwach, dass er sich nicht mehr von alleine erheben konnte. Den Jubel des Kranken und die Freudenschreie seiner Familie nahm er wie von weit weg wahr. Ebenso bekam er nur dunkel mit, wie man ihn vom Boden hochzog, - wie ihn jeder einzelne stürmisch umarmte, ihn in einen anderen Raum brachte, auf einem Sessel an einen Tisch setzte und ihm alle möglichen Speisen vorsetzte, die sich zusammen tragen ließen.
Nur Atlon hielt sich schweigend im Hintergrund. Man beachtete ihn auch nicht mehr, denn jetzt war Joshua die Hauptperson. Man hatte endlich DEN Wunderheiler gefunden!
Als Joshua durch Speis und Trank langsam wieder zu Kräften kam, war Atlon verschwunden. Er bedankte sich bei der Familie und verließ schnell das Haus, um Atlon zu folgen. Aber der war nirgendwo zu sehen.
Joshuas Gedanken waren noch immer zu wirr, als dass er sich bewusst sein konnte, was hier eben passiert war. Er wusste nur eines, - auch wenn weder Luzifer, noch das Lichtwesen dahinter steckten, so war das doch nicht von ihm alleine ausgegangen.

Langsam ging er zu Melos’ Haus und betrat es mit gemischten Gefühlen. Melos war da, - und nicht nur Melos, denn in der Zeit, als Joshua bei der Familie gegessen hatte, trommelte Atlon alle Magier der Stadt zusammen, die nun in Melos’ Wohnraum versammelt waren und den jungen Mann schweigend ansahen, der in der Tür stand.
Melos erhob sich von seinem Platz und ging auf Joshua zu.
„Joshua, ich denke, du verschweigst uns etwas. Und ich denke ebenso, dass es nun an der Zeit ist, wo du uns alles über dich erzählst“, sagte er etwas unsanft.
Joshua nickte und blickte beschämt zu Boden.
„Dann lass mal hören!“ sagte Melos streng und verschränkte seine Arme vor der Brust.
Dann erzählte Joshua von der Verwandlung, die sein angeblicher Bruder Jakobus mit angesehen hatte. Das Geheimnis von seinem „Zwillingsbruder“ aber behielt er für sich.
„Aber ich kann nicht sagen, warum das Lichtwesen ausgerechnet mir erscheint. Genauso wenig kann ich sagen, wie ich eben diesen Mann geheilt habe“, schloss Joshua und blickte wieder zu Boden.
„Zeig uns wie du über den Boden schwebst!“ meldete sich ein Magier aus der Runde.
„Das kann ich sicher nicht auf Befehl“, meinte Joshua leise.
„Ach, was!“ fuhr Melos auf. „Du hast Kräfte in dir, denen du nur befehlen musst. Setz dich auf den Boden, kreuze deine Beine und konzentriere dich mit geschlossenen Augen. Ich wette, in wenigen Augenblicken schwebst du als Lichtgestalt über den Boden.“
Joshua schluckte und tat, wie ihm Melos geheißen hatte. Aber er fühlte sich nicht wohl dabei. Er kam sich vor wie ein Betrüger, den diese Männer nun entlarven wollen. Er musste ihnen etwas beweisen, von dem er selbst nicht wusste, wie es geschieht.
Ein Widerwille machte sich in Joshua breit. Beweise! Der Mann war gesund geworden, - wie und warum, war doch egal. Und was soll das mit dem Schweben zu tun haben?
Joshua erkannte nun, dass es diesen Männern nicht direkt um die Gesundheit anderer Menschen geht, die sie heilen, - sondern viel mehr um denjenigen, der heilt. Und derjenige mit den meisten Heilerfolgen konnte sich dann am meisten rühmen, - als ob es von ihm alleine abhängen würde, Menschen zu heilen.
Joshua schloss seine Augen und ließ sich in seinem Ärger und wohl auch in seiner Trauer innerlich fallen. Er legte es nicht mehr darauf an, diesen Männern seine Gedanken anzuvertrauen, die er eben hatte, weil er zu wissen schien, dass sie ihn ohnehin nicht verstehen würden.
Wie glücklich war er noch vor wenigen Stunden, wo er dachte, endlich Menschen gefunden zu haben, denen er ähnlich war. Jetzt aber sah er keine Ähnlichkeit mehr zwischen ihm und denen, die sich Magier nannten und auf ihre Titel auch noch stolz waren.
Die Männer erstarrten auf ihren Plätzen, als Joshua plötzlich zu leuchten begann und sich langsam vom Boden erhob. Wie eine Statue aus purem Licht schwebte er immer höher, bis sein Kopf fast an die hohe Decke stieß.
„Das – das ist unmöglich!“ rief Melos aus. „Wir üben uns jahrelang in der Meditation, und diesem Jüngling ist einfach so alles gegeben.“
Langsam schwebte Joshua wieder herab auf den Boden und war bald wieder er selbst. Nicht nur die Männer waren verwundert, auch Joshua, der diesmal wirklich nur innerlich den Wunsch zu schweben aussprach und auch bewusst wahrnahm, wie sein Körper immer leichter wurde, bis er zur Decke hoch schwebte. Er wusste auch, wie hoch er schweben durfte, um mit seinem leuchtenden Körper nicht die Decke zu durchdringen. Und er wusste nun auch, dass es ihm durchaus möglich gewesen wäre, die Decke zu durchdringen, ohne dabei sich selbst zu verletzen, oder die Decke zu beschädigen. Ja, - er wusste, er würde in diesem Zustand auch durch Wände gehen können, wenn er das wollte.
Joshua stand auf und ging in sein Gemach hoch. Sein altes, zerrissenes, aber doch gereinigtes Gewand hatte er in einem der prunkvollen Schränke aufbewahrt. Er legte die seidenen Kleider ab, zog sich sein altes, braunes Überkleid an, legte den schwarzen Umhang über die Schultern und verließ den Raum.
Er wollte nicht gehen, ohne sich zu verabschieden und natürlich auch nicht, ohne sich bei Melos und dessen großzügige Gastfreundschaft zu bedanken.
Melos und seine Magiergemeinschaft hielt ihn nicht zurück. Sie schienen sogar froh zu sein, dass Joshua sie verließ.

Nun stand Joshua wieder auf der Straße. Den Wunsch, Magier kennen zu lernen, hatte er nun nicht mehr. Jetzt wollte er Menschen, und zwar ganz gewöhnliche Menschen, kennen lernen, mit ihnen reden, ihre Kultur, ihren Glauben und ihr alltägliches Leben kennen lernen.
Joshua schlug eben den Weg zum Marktplatz ein, als er mehrere Leute aufgeregt seinen Namen rufen hörte. Er wandte sich um und sah mindestens zwanzig Menschen auf ihn zulaufen. Darunter erkannte er den Mann, den er vor wenigen Stunden geheilt hatte. Es dauerte nicht lange, und schon umringten sie ihn und redeten alle durcheinander, dass er nur schwer verstehen konnte, was sie von ihm wollten.
Er lächelte und hob seine Hände.
„Ich bin noch nicht so lange hier und verstehe eure Sprache nicht so gut. Wenn ihr langsam und einer nach dem anderen reden würdet, wäre das einfacher für mich“, sagte er sanft.
„Joshua“, sprach nun der ehemalige Aussätzige, nachdem die Menge ruhig war. „Dein Name ist doch Joshua?“
Joshua nickte stumm.
„Ich hatte schon so viel Geld für Ärzte ausgegeben, aber keiner von ihnen konnte mir helfen“, sprach der Mann weiter. „Dann versuchte ich es über die Magier, - aber auch sie konnten mir nicht helfen. Du aber hast mich nur berührt, und ich war gesund. Und sieh – ich bin es noch immer! Das Wunder aber ist, ich fühle mich viel kräftiger als bevor ich krank wurde. Ich könnte mit bloßen Händen Bäume ausreißen, so stark fühle ich mich.
Diese Menschen hier, meine nächsten Verwandten und meine Freunde, glaubten mir zuerst nicht, aber als ich ihnen meine Arme zeigte, wurden sie neugierig. Von Melos habe ich eben gehört, dass du fortgegangen bist, also suchten wir dich und hofften, dich noch in der Stadt anzutreffen.
Es gibt so viele Kranke hier, die keine Hoffnung mehr haben. Aber wenn du sie berühren würdest, wären sie wieder gesund.“
Joshua seufzte, und das Lächeln auf seinen Lippen erstarb.
Da drängte sich ein Mann mit Krücken durch die Menge zu Joshua, nahm seine Hand und legte sie an seine Hüften. Joshua spürte wieder dieses seltsame Kribbeln, wie eine Kraft aus seinem Körper drängte und auf den Kranken überging. Im nächsten Moment legte der Mann seine Krücken weg und machte einen Luftsprung. Die Menge jubelte und drängte sich mehr und mehr um Joshua, der bald kaum mehr atmen konnte. Und noch immer kamen Menschen hinzu und wollten DEN Wunderheiler sehen.
Er wusste nicht, wie ihm geschah, als sie ihn an den Händen nahmen und mit sich zogen, - zu einem kleinen Häuschen, in dem ein sehr krankes Mädchen bereits auf den Tod zu warten schien. Joshua konnte gar nichts dagegen tun – die Menge drängte ihn in das Haus, und schon stand er vor dem Bett der jungen Frau.
Hier sah es ganz anders aus, als in Melos’ Prachtvilla. Joshua erkannte wieder die Armut, die er von seinem Dorf gewohnt war. Aber in seinem Dorf lebten alle diesen Standard, - da gab es nicht so krasse Unterschiede wie hier, wo gleich neben Luxus die pure Angst vor dem Verhungern lag.
Joshua hätte nicht mit Worten sagen können, was er in diesem Moment fühlte. Nein, er hegte keinen Groll gegen Melos und seine Magierfreunde, die höchstwahrscheinlich von dem wenigen Geld dieser armen Menschen, die in dieser Stadt wohl überwogen, reich geworden waren.
Ganz im Gegenteil, - Joshua fühlte in diesem Moment eine sehr tiefe Liebe und zugleich auch sehr tiefes Mitleid mit allen Menschen, egal, ob sie arm oder reich waren. Es lag auch nicht an diesem Elend, welches er hier in diesem winzigen, dunklen Zimmerchen sah, in dem ein sehr mageres, blassen Mädchen auf einem dürftigen Lager die letzten Atemzüge seines Lebens auszuhauchen schien. Die Augen der Kranken waren weit geöffnet, aber sie blickten ins Leere und bekamen wohl kaum mit, was neben ihr vorging.
Joshua beugte sich zu ihr hinunter und legte seine Hand auf ihre heiße Stirn. Der ausgemergelte Körper des Mädchens bäumte sich auf, und ein schier unmenschlicher Laut, wie ein tiefes Knurren, drang aus ihrer Kehle.
Die paar Menschen, die sich in den Raum drängen konnten, wichen ängstlich zurück – und Joshua hörte wie von weitem, als einer von ihnen sagte: „Er treibt sogar Dämonen aus.“
Er fühlte wieder die Kraft, die von irgendwoher in ihn strömte, - und plötzlich wusste er, diese Kraft war für das Mädchen bestimmt, welches zu schwach war, die eigene Kraft aufzunehmen. Joshua war nur die Verbindung zwischen ihnen.
Er kniete sich neben das Lager und drückte mit der anderen Hand den Körper des Mädchens am Bauch hinunter. Joshua konnte direkt fühlen, wie die Kraft aus seinen Händen in die Kranke strömte.
Nach wenigen Minuten ließ er das Mädchen los. Es atmete bereits kräftiger, hatte aber die Augen noch geschlossen. Eine andere Frau, wahrscheinlich die Mutter der Kranken, drängte sich nach vor zu Joshua. Als sie sah, wie ihre Tochter die Augen aufschlug und lächelte, kniete sie vor Joshua nieder und wollte seine nackten Füße küssen.
Joshua sprang schnell auf, - und obwohl ihm schwindlig war, hatte er noch die Kraft, die Frau an den Schultern zu sich hochzuziehen.
„Danke nicht mir“, sagte er erschöpft. „Danke der Kraft.“
Das Mädchen erhob sich vom Lager und lächelte.
„Ich habe Hunger“, sagte es und streckte sich, als ob es aus einem langen, tiefen Schlaf erwacht wäre.
Sofort wurde ihm von den vielen Menschen, die sich ins Haus gedrängt hatten, Nahrung gebracht. Joshuas Herz ging über, als er sah, wie diese Menschen zusammen hielten und anscheinend ihr Letztes gaben. Sie waren alle sehr einfach gekleidet, - keine bunten Seidentogen, wie Melos sie massenhaft in seinem Palast gestapelt hatte. Man sah ihnen die Armut an, - aber auch die Liebe und die Sorge um ihre Nächsten.
Auch Joshua brachte man Speisen, aber er lehnte ab, obwohl ihm bereits der Magen knurrte. In letzter Zeit war er bereits gewohnt, viel zu essen, und es würde nun etwas länger dauern, bis er seinen Körper so weit hatte, um wieder mit wenig auszukommen.
Die Aufregung um das Mädchen war groß. Joshua schaffte es irgendwie, unbemerkt das Haus zu verlassen. Er begann zu laufen, - so schnell er konnte und so schnell es seine Kraft erlaubte. Er fühlte sich ausgelaugt, denn es war nicht einfach, die richtige Kraft anzunehmen und weiter zu geben.

Bald hatte er die Stadt hinter sich und befand sich wieder in der engen Schlucht. Dort ließ er sich erst mal am sandigen Boden nieder und wollte zur Ruhe kommen und auch über all das, was in letzter Zeit passiert war, nachdenken.
War er denn so anders, als die Menschen, die er bis jetzt kennen gelernt hatte? Und was war wirklich an Melos und seinen Zaubergenossen dran? Gut, sie wussten viel über Heilpflanzen und konnten auch gut damit umgehen. Aber gegen gewisse Krankheiten waren sie machtlos, und doch spielten sie sich als sogenannte Wunderheiler auf und waren auch noch stolz darauf. Aber konnten sie die Kraft sehen, die sich über jedem Menschen ausbreitet, und nur darauf wartet in ihm einzuströmen? Sahen sie auch das, was er vorhin bei dem Mädchen so deutlich erkennen konnte? Nein, - sagte sich Joshua, - denn wenn sie es sehen würden, wären sie nicht auf Pflanzen und auf ihre Hokuspokus-Sprüche angewiesen.
Manchmal legte sich ein ganz anderes Bild über die gewohnten Ansichten der Welt, - vor allem dann, wenn Joshua das Lichtwesen erschien. Dann leuchtete alles genauso, wie Jakobus ihn damals am Ufer des Teiches beschrieben hatte. Anfangs war es schwer für Joshua, das alles auseinander zu halten. Aber bei dem todkranken Mädchen konnte er klar erkennen, dass dieses von einer ganz bestimmten Kraft getrennt war. Und nur Joshua war fähig dazu, diese Kraft in seinem eigenen Körper einzufangen, um sie dem Mädchen dann weiter zu geben. Und Joshua war danach auch nicht mehr so erschöpft wie beim ersten Mal, als er den Aussätzigen heilte. Nein, er heilte nicht, - er gab den Kranken nur das, was für sie bestimmt war.
Aber warum war es nur ihm möglich, das alles zu sehen? Selbst von Melos oder Atlon hatte er nichts von dieser Kraft gehört. Sie waren davon überzeugt, dass es ihre Kraft war, - dass sogar die Heilpflanzen nur durch ihre eigene Kraft Wirkung haben. Kein anderer Mensch, als nur Magier, wäre dazu fähig, die Heilkraft in den Pflanzen zu erwecken. Man musste sie vorher bearbeiten, - manchmal nur in Wasser einlegen und dabei einige Zaubersprüche murmeln, die aus ganz bestimmten Büchern erlernt wurden. Andere Pflanzen mussten vorher gekocht und zu einem Brei gerührt werden. Aber all diese Arbeiten durften immer nur Magier verrichten, - nicht einmal Schüler waren dazu bestimmt, denn erst mussten sie von den Meistern gelehrt werden. Joshua erinnerte sich, wie er sich das erste Mal, als er Atlon bei so einer Arbeit zusehen durfte, das Lachen nur schwer verhalten konnte. Der Raum musste ganz dunkel sein, fast ganz dunkel – denn nur eine Fackel, direkt über Atlon, brannte. Es sah ja wirklich sehr geheimnisvoll aus, als der Dampf des Wassers den Magier fast ganz einhüllte und er die Hände beschwörend hob, während er die Zaubersprüche mit dumpfer, leiser Stimme murmelte. Langsam legte er dann ein Blatt nach dem anderen in das kochende Wasser, - noch immer irgendwelche Sprüche murmelnd, und verrührte das Ganze zu einem dicken Brei.
Joshua ging manchmal mit, um der Heilung beizuwohnen, - aber eine vollkommene Heilung war es nie. Der Schmerz des Kranken milderte sich vielleicht, aber die Krankheit selbst blieb. Und schon damals sah Joshua ein anderes Bild, - sah, wie etwas über den Kranken flimmerte, das nur darauf wartete, in ihn einzudringen. Aber irgendetwas hemmte diese Kraft, - und Joshua war davon überzeugt, dass der Kranke selbst diese Hemmschwelle war.
Also könnten sich die Menschen selbst heilen, wenn sie nur an diese Kraft glauben würden. Nur – wie könnte er das den Menschen beibringen? Mit welchen Worten könnte er ihnen sagen, wie sie diese Kraft sehen können? Und wie bewerkstelligte er es, diese Kraft zu sehen? Er wusste es ja selbst nicht einmal. Es war ihm jetzt zwar bewusst, dass er ein anderes Bild der Welt sehen konnte, - aber er wusste nicht WIE.
Joshua erinnerte sich an Luzifers Worte über die Wesen in seinem Reich, dass sie formlos wären, in Wirklichkeit aus keiner Materie bestehen und doch jede Körperform annehmen können, wenn sie es wollen. Die Kraft, die er über dem kranken Mädchen sah, konnte er auch keiner Materie zuordnen. Es war wie das Leuchten des Lichtwesens, jedoch nicht so kräftig und nicht so hell. Aber Joshua spürte, dass dieses Leuchten, diese Kraft, Teil der Kranken ist, die nur darauf wartet, in den kranken Körper einzudringen, um ihn zu heilen. Ja, würden alle Menschen dasselbe sehen wie er, könnten sie sich selbst heilen. Und wieder stellte er sich selbst die Frage, wie es den Menschen möglich sein könnte, diese Kraft zu sehen, wo er doch selbst nicht wusste, wie es ihm möglich war.
„Du besitzt nichts, außer dich selbst“, hörte er plötzlich eine Stimme in sich. „Aber die Menschen hängen ihre Herzen an alle möglichen Besitze und identifizieren sich mit ihnen.“
Joshua erkannte die Stimme und wandte sich um. Da stand auch schon das wunderschöne Lichtwesen und lächelte ihm sanft zu.
„Du meinst, weil sich in ihren Herzen ihre Besitztümer befinden, haben sie keinen Platz für diese Kraft?“ fragte Joshua, erhob sich und trat näher an das Lichtwesen heran.
Er sah, wie es lächelnd nickte.
„Und du meinst, wenn sie ihre Herzen leeren, könnten sie diese Kraft genauso wie ich sehen?“ fragte er wieder und streckte seine rechte Hand nach dem Lichtwesen aus, welches sie sanft in seine beiden leuchtenden Hände nahm.
Joshua musste seine Augen schließen und stöhnte leise auf, so wohl fühlte sich diese Berührung an.
„Es muss nicht sein, dass sie die Kraft genauso wie du sehen, - aber sie würden sie fühlen und sich bewusst werden, dass sie genauso unendlich sind, wie alles um uns“, spürte Joshua die Worte als Gedanken in ihm, was ja auch ein Wonnegefühl in seinem Inneren auslöste.
Joshua öffnete wieder seine Augen und blickte dem wunderschönen Wesen ins Gesicht, dessen Schönheit mit Worten nicht zu beschreiben wäre.
„Somit wären die Menschen doch genauso mächtig wie der Eine Gott und all die anderen Götter, Göttinnen und Wesen in Luzifers Reich“, sagte er leise.
„Nicht mächtig, Joshua“, spürte er die sanften Worte in sich. „Niemand und nichts ist mächtig, - es sei denn, andere lassen dies zu, wie eben noch viele Menschen, die sich dem Reich, welches dir Luzifer beschrieben hat, ergeben. Die Wesen in diesem Reich machen sie zu ihresgleichen, wo es keine Veränderung mehr gibt. Aber würden die Menschen die Göttlichkeit in ihnen selbst erkennen, wären sie ihre eigenen Götter.“
Das Lichtwesen lächelte, ließ Joshuas Hand aus und ließ sich auf dem Boden nieder. Joshua setzte sich zu ihm.
„Jedoch wären sie nicht Götter in dem Sinn, wie du diesen Namen noch verstehst. Würdest du mir glauben, wenn ich dir sage, dass du ich bist?“ fragte das Lichtwesen.
Joshua wollte aufspringen, aber das Wesen hielt ihn sanft mit der rechten Hand zurück.
„Lass mich anders fragen“, übermittelte es seine Worte schnell. „Würdest du mir glauben, wenn ich sage, dass wir beide ein und dasselbe Wesen sind?“
Joshua konnte nichts sagen. Er starrte das Lichtwesen nur an und konnte auch nicht glauben, dass es diese Worte ernst meinte. Er schämte sich sogar, weil er sich nach dem Lichtwesen sehnte, - es ebenso auf die Art lieben würde, wie das hübsche Mädchen in Melos’ Palast. Und nun sagte es, er und es seien ein und dasselbe Wesen!
„Ich weiß, wie du für mich empfindest. Das ist kein Grund, dich zu schämen, denn ich liebe dich auf dieselbe Art, - auf alle Arten der Liebe. Es ist die Natur des Menschen, eben ein Teil seiner Bewusstheit, den er durchaus ausleben soll. Die ewige Quelle, deren Teile wir sind, hat sie uns nicht gegeben, um sie zu unterdrücken, oder als Sünde anzusehen. Jedes Gefühl, das aus uns selbst kommt, ist ein wahres Gefühl. Damit sollen wir unsere Herzen füllen. Verstehst du?“
Joshua schluckte und senkte seinen Blick.
„Ja, ich glaube schon, dass ich dich verstehe, aber es ist alles so anders als das, was ich bisher gehört und gesehen habe“, sagte er mit heiserer Stimme.
„Dein sogenannter Zwillingsbruder hat dich doch schon gut aufgeklärt, indem er dir sagte, in Wirklichkeit bestehe sein Reich aus keiner Materie, jedoch ist es ihm und den anderen Wesen seines Reichs möglich, jede Form anzunehmen“, sprach das Lichtwesen weiter, indem es sanft Joshuas rechten Arm streichelte. „Auch wir bestehen in Wirklichkeit aus keiner Materie, jedoch nimmst du dich jetzt als körperliches Wesen, eben als Mensch wahr. So wie es den Wesen im anderen Reich möglich ist, jede Form anzunehmen, so sind wir jede Form. Unsere Energie, oder Kraft steckt in unzähligen Bewusstseinsblasen, durch die wir unsere eigentliche Formlosigkeit als Materie wahrnehmen. Und doch ist es uns ebenso möglich, unsere Form zu ändern, indem wir die Ganzheit unseres Selbst erkennen.“
Joshua konnte nicht mehr sagen, ob er das, was sich in seinem Körper als Gedanken des Lichtwesens ausbreitete, wirklich verstehen konnte. Wenn er gewusst hätte, dass das Wesen, welches ihm gegenüber am Boden saß, eigentlich aus der Zukunft kam, die viele 1000 Jahre von seiner Zeit entfernt war, wäre er vielleicht auf der Stelle verrückt geworden. Aber doch blieb etwas in ihm, was ihm Klarheit verschaffte und ihm sagte, dass er richtig gehandelt hatte, und nicht mit Luzifer gegangen war. Er spürte, dass durch ihn ein Ereignis bevorstehen wird, das unbedingt passieren muss, obwohl es nicht direkt von ihm selbst abhängen und viel mehr ein Ereignis zwischen dem Lichtwesen und Luzifer sein wird.
Joshua verstand, obwohl man es nicht direkt verstehen nennen kann, was der Unterschied zwischen dem Reich Luzifers und der Welt des Lichtwesens und der Menschen, was das Lichtwesen die Ganzheit des Selbst nannte, ist. Die Ganzheit des Selbst lässt Veränderungen zu, - sie muss sie gar nicht zulassen, denn sie ist Veränderung pur, da in ihr selbst so viele Lebewesen existieren, die wirklich leben und nicht erst irgendeine Form annehmen müssen, wie es Luzifer und seine Wesen können, wobei sich in ihnen selbst nichts verändert. Die Ganzheit des Selbst ist wie eine Leiter, wobei jede Sprosse ein eigenes Leben bedeutet. Eine Sprosse davon ist Joshua selbst, und wohl eine der höchsten das Lichtwesen, - aber beides gehört zu ein und derselben Leiter. Alle Menschen sind sozusagen Sprossen einer Leiter, und nur wenn sie diese Kraft in ihnen selbst erkennen, ist es ihnen nach unzähligen Leben möglich, die Ganzheit selbst zu sein. Würden sie sich aber irgendeinem Gott ergeben, auch wenn es der Eine Gott ist, von dem die Heiligen Schriften berichten, wäre es vorbei mit der Veränderung und sie würden zu seinesgleichen werden, was so viel bedeutet wie ihr eigenes Selbst verlieren.

Joshua hatte plötzlich größtes Mitleid mit den Menschen, die ihre Herzen so achtlos scheinbar hohen Wesen schenken, obwohl sie selbst vielleicht noch viel höhere Wesen sein könnten, denen die direkte Verbindung zur Quelle, aus der alles entstand, bewusst ist. Luzifer wusste nichts von dieser Quelle, dessen war sich Joshua nun sicher, denn er sagte, er und die Wesen in seinem Reich existieren schon immer. Ihm und den Wesen dort war also die Verbindung zur wahren Heimat nicht bewusst. Es waren also auch keine Lügen, sondern die natürliche Reaktion dieser Wesen, die sich von Gläubigen ernähren und nichts anderes kennen, weil es für sie nie Veränderungen gibt.
„Deine Gedanken sind sehr weise“, sagte das Lichtwesen und erhob sich. „Auch ich hege keinen Groll gegen diese Wesen, deren Natur es ist, auf diese Art zu existieren. Sie haben nicht die Absicht, den Menschen oder anderen Lebewesen zu schaden. Sie kennen nichts anderes. Und es soll auch nicht deine Aufgabe sein, dies zu unterbinden.“
„Was ist dann meine Aufgabe?“ fragte Joshua und erhob sich ebenfalls.
„Lebe wie es deiner Natur und deinem inneren Gefühl entspricht und zeige das den Menschen, dass sie sehen und glauben.“
Nach diesen Worten löste sich das Lichtwesen auf.

Joshua wanderte ziellos weiter durch die Schluchten der felsigen Berge. Diesmal schlug er einen anderen Weg ein, in Richtung Norden. Durch die Lehre bei Melos und seinen Magiern wusste Joshua einiges über Astronomie und konnte sich demnach am Abendhimmel orientieren, um nicht abermals Wege zu gehen, die er bereits gegangen war.
Nach einigen Tagen und Nächten kam er in ein kleineres Dorf, das ihm wie ausgestorben erschien. Die meisten Fenster der einfachen Häuser waren mit dunklen Tüchern verhüllt. Er ging weiter, bis er an einen öffentlichen Platz kam, wo sich einige Menschen um eine Art Altar sammelten. Schon von weitem hörte er die Schreie eines Schafes, oder eine Ziege in Todesangst. Joshuas Schritte wurden schneller, bis er bei den Menschen war, die eben eine junge Ziege auf einem Altarstein schlachten wollte.
„Haltet ein!“ rief Joshua, bevor ein jüngerer Mann dem Tier die Kehle durchschnitt.
Es waren vielleicht acht oder neun Menschen an dieser Stätte, darunter auch zwei ältere Frauen, die sich fast erschrocken nach dem fremden, jungen Mann umdrehten. Sie waren alle mit langen, schwarzen Gewändern bekleidet und sahen hager, fast unterernährt aus.
„Wer bist du, dass du unsere Zeremonie störst?“ fragte der jüngere Mann, der die Ziege, die an allen vier Beinen gefesselt war, noch immer am Altarstein festhielt.
„Mein Name ist Joshua“, stellte sich Joshua höflich vor. „Ich bin mit einem Schiff aus Judäa in dieses Land gekommen.“
„Und was willst du hier?“ fragte eine der älteren Frauen forsch. „Bettler können wir hier nicht gebrauchen. Wir haben selbst kaum Nahrung.“
„Wenn ihr keine Nahrung habt, warum opfert ihr dann dieses Tier, anstatt es selbst zu essen?“ fragte Joshua sanft.
„Unser Gott verlangt regelmäßig ein Opfer. Tun wir das nicht, brechen eine noch schlimmere Hungersnot und noch schlimmere Krankheiten über uns herein“, antwortete die Frau und trat näher an Joshua heran.
Sie blickte ihm in die Augen, dann aber senkte sie etwas verstört ihren Blick und wankte zurück. Einer der Männer stützte sie.
„Wer bist du?“ fragte sie schwer atmend. „Deine Augen sind so ganz anders, als würdest du alles in mir sehen, was ich denke.“
Joshua lächelte.
„Ich bin ein Mensch wie ihr. Meine Augen haben zwar eine andere Farbe, aber sie sehen nichts, wofür du dich schämen müsstest, gute Frau“, sagte er.
Dann wandte er sich an den jüngeren Mann mit der Ziege: „Lass das arme Tier frei, oder nehmt es selbst als Nahrung.“
„Es wird großes Unglück über uns kommen, wenn wir das tun“, sagte der Mann und blickte verzweifelt zu Joshua hoch, der sich ihm näherte.
Joshua hockte sich zu ihm und streichelte der Ziege sanft über den Kopf. Sie wurde sofort ruhig. Vorsichtig löste er die Fesseln und hielt das Tier am Strick fest, welcher um den Hals gebunden war. Es meckerte vergnügt und leckte Joshua das Gesicht. Er lachte, - und dann lachten auch die Menschen, als die Ziege freiwillig mit dem ungewöhnlichen Fremden den Altarstein verließ und ihm folgte, ohne sie am Strick ziehen zu müssen.
Joshua blieb einige Tage und Nächte in diesem Dorf, um die Angst der Menschen vor ihrem Rachegott zu vertreiben. Dieses Dorf war fast ärmer als sein Heimatdorf, denn die Gegend hier war trocken, und Ackerbau fast unmöglich. Aber Joshua fühlte, dass in der Nähe Wasser sein musste. Er konnte nicht sagen, wie er das fühlte, - aber nach dem dritten Tag in diesem Dorf, machte er sich mit drei jüngeren Männern daran, den Altarstein zu entfernen und genau darunter zu graben. Es war eine schweißtreibende Arbeit, aber sie lohnte sich, denn genau dort gab es Grundwasser für die kargen Felder. Joshua war also derjenige, der dem kleinen, armen Dorf zu einem Brunnen verhalf. Für die Menschen war dies ein Wunder und ein Zeichen, dass nun ein neuer Gott über sie wachte, und Joshua es war, der den Dämon, der unsichtbar über den Altar wachte, ausgetrieben hat. Auch mussten die Menschen nicht mehr so sehr hungern, da sie die Tiere, übrigens nur eine kleine Herde, weiterzüchten und sich nicht nur vom Fleisch, sondern auch von ihrer Milch ernähren konnten. Früher kam es oft vor, dass die Menschen, wie sie sagten, aus einer Eingebung heraus, sogar ein trächtiges Tier opfern und so auf den Nachwuchs verzichten mussten und demnach viele Tage hungerten, wobei vor allem alte Menschen und Kinder starben.
Joshua aß in diesen Tagen nicht viel, um den Menschen nicht zur Last zu fallen. Ihm genügte einmal am Tag ein Stück Fladenbrot und ein Becher Wasser, oder Milch, wie er es ja auch von zu Hause gewohnt war. Die Leute im Dorf staunten, dass er mit so wenig Nahrung auskam, wo doch seine Gestalt sehr groß und überhaupt nicht mager, sondern eher muskulös war.
Die vormals kranken Menschen im Dorf kamen auch wieder zusehends zu Kräften, obwohl Joshua diesmal keine Energie über ihnen sah. Es schien alleine seine Anwesenheit und seine fröhliche Zuversicht zu sein, die den Leuten neuen Lebensmut gab.
Natürlich blieb die kleine Ziege am Leben, schon deshalb, weil sie stets an Joshuas Seite war und ihn verfolgte, wie ein treuer Hund. Als er sich dann nach dieser Zeit von den Menschen im Dorf verabschiedete, um wieder seiner Wege zu ziehen, wollte man ihm das Tier als Geschenk mitgeben. Aber Joshua lehnte ab und meinte lächelnd, die Ziege würde die Menschen, so lange sie lebt, an ihn erinnern.
Man ließ ihn nicht gerne ziehen, - und es gab sogar viele Tränen, vor allem bei den Frauen, von denen zwei gerade im heiratsfähigen Alter waren. Aber Joshua behandelte sie wie Schwestern und verabschiedete sich auch so von ihnen.

Nun war er wieder auf Wanderschaft und lebte von den kargen Früchten, von spärlichem Wasser in kleinen Tümpeln, - und die Erde war nachts wieder seine Lagerstätte.
Joshua kam noch in viele kleine Dörfer und hinterließ überall einen gewaltigen Eindruck. Er machte die Menschen, obwohl er selbst wenig sprach und ihnen viel mehr zuhörte, nachdenklich. Das Wenige, was er sagte, kam so bestimmt und glaubhaft über seine Lippen. Auch sah man ihm das pure Leben an, - die Freude am Leben, das intensive Auskosten von jedem Augenblick. Und wenn er mit den Menschen vor ihren Häusern zusammen saß, zog er unweigerlich weitere Menschen an, denen es schon genügte, nur in seiner Nähe zu sein.
Bald sprach man im ganzen Land von einem ganz besonderen Menschen, dessen gewaltige Ausstrahlung sich niemand erklären konnte. Und als Joshua nach langer Wanderschaft in eine Hafenstadt kam, war ihm sein Ruf schon vorausgeeilt.
Er fühlte sich wirklich frei, denn von Luzifer, seinen ehemaligen Zwillingsbruder, fühlte er überhaupt nichts mehr. Stattdessen schien ihm nun viel mehr das Lichtwesen nahe zu sein, obwohl es ihm, seit er in der Schlucht war, nicht wieder erschienen war. Und doch wusste er, dass er nun wirklich er selbst war und dass genau das sein Leben ist, - ein Leben in Wanderschaft, wo er viele, viele Menschen und ihre Kulturen kennen lernte, wobei er sie aber dennoch stets darauf aufmerksam machte, dass der wahre Gott nur in ihrem Inneren ist. Gerade in diesem Land, wo die Menschen unzählige Götter, wie auch Göttinnen anbeteten, war es nicht so einfach, ihnen dieses Verständnis nahe zu bringen. Aber Joshua besaß diese Ausstrahlung und wie bereits gesagt, strömte er auch Glaubhaftigkeit aus, dass nur wenige an seinen Worten zweifelten.
Joshua lag nichts daran, den Glauben dieser Menschen in Frage zu stellen oder gar zu unterbinden. Er ging dabei sehr feinfühlig mit ihnen um, stellte auch mehr Fragen und Gegenfragen, um sie dadurch zum Nachdenken zu bringen, - so als ob sie sich selbst die Antwort gegeben hätten und die Worte, dass Gott nur in uns selbst ist, viel mehr von ihnen kamen. Das mag den Eindruck erwecken, dass Joshua bewusst suggestiv auf die Menschen wirkte und ihnen damit ja doch etwas einredete. Aber dem war nicht wirklich so, denn ihm ging es nicht um Gott, Götter oder Göttinnen, sondern nur darum, dass die Menschen glücklich waren, - dass sie das Leben genauso genießen können, wie er es tat, auch wenn sie arm waren und von der Hand in den Mund leben mussten. Er wollte ihnen am eigenen Beispiel zeigen, dass Armut nicht Leid oder Unglück bedeutet. Ganz im Gegenteil, - denn ihre Herzen sind frei von der Sorge um Besitz, um Reichtum. Und gerade in ärmeren Dörfern gab es mehr Zusammenhalt, den Joshua noch mehr förderte, als in größeren Städten, wo die Reichen die Armen nur ausbeuten, wo Neid und Habsucht regierte. Joshua urteilte aber nicht über die Reichen, denn auch ihnen legte er ans Herz, sich mehr um das Innere zu kümmern, wo ja das wahre Glück (Gott) zu finden ist. Manche von ihnen stimmten ihm zu, andere wieder lachten ihn aus. Aber auch das verärgerte Joshua nicht. Es kostete ihm auch ein Lächeln, und er zog in Frieden weiter. Zwang oder gewaltvolle Worte lagen ihm nicht.

Joshuas Aussehen hatte sich nun etwas verändert – er war nun wirklich zum Manne geworden, obwohl sein Bartwuchs nicht ganz so stark war, wie bei anderen seines Volkes. Sein Haar ließ er im letzten Dorf schulterlang kürzen, nachdem er die Tochter des Barbiers mit Kräutern von einem Augenleiden geheilt hatte.
Und als er nun in der Hafenstadt war, eilten ihm schon unzählige Menschen entgegen, die ihn unbedingt zu sich nach Hause einladen wollten. Aber Joshua wollte weiter – dieses Land verlassen, denn er hatte von einem anderen Land gehört, in dem es Philosophen, Menschen des Wissens, geben soll. Natürlich waren die Menschen traurig, aber sie verhalfen ihm sofort zu einer kostenlosen Überfahrt nach Griechenland.

So kam Joshua in das Land der Philosophen, von dem er schon damals in Jerusalem, in der Badeanstalt, gehört hatte. Es tat ihm gut, dass er hier noch ein Fremder war, - aber durch sein freundliches, offenes Wesen hatte er auch hier bald Freunde und konnte in fast allen Häusern ein- und ausgehen wie ein alter Bekannter. Durch sein schnelles Auffassungsvermögen lernte er relativ schnell die griechische Sprache, und hatte auch die Möglichkeit viele Bücher zu lesen, die ihn ganz besonders interessierten. Die Denkweise mancher Philosophen gefiel ihm, und es machte ihm Spaß, sich mit den Gelehrten zu unterhalten. Und bald war es so, dass nicht er an den Lippen der Gelehrten hing, sondern umgekehrt.
Ganz besonders fühlte sich ein Mann in Joshuas Alter, mit Namen Thomas, zu ihm hingezogen. Thomas war nicht wirklich ein Gelehrter, obwohl er sich gerne unter ihnen aufhielt und auch viel von ihnen lernte, - aber sein Beruf, so könnte man sagen, war Fischer, da schon sein Vater, wie auch sein Großvater Fischer war.
Als Joshua erfuhr, dass Thomas’ Mutter aus Judäa stammte, dachte er an seine Mutter, an seine Brüder, besonders an Jakobus, ob es ihnen wohl gut geht. In diesem Moment war ihm sein Herz etwas schwer, und er fühlte so etwas wie Heimweh, obwohl ihm in Thomas’ Haus, wo er nun seit längerem ständiger Gast war, nichts abging. Thomas’ Familie, vor allem die Eltern, nahmen ihn auf wie einen Sohn, und Thomas’ vier männliche Geschwister, zwei davon jünger als er, wie einen leiblichen Bruder.
Aber sein spezieller Freund in diesem Dorf, in dem er nun schon fast ein Jahr lang lebte, war Thomas. Mit ihm fuhr er am frühen Morgen täglich auf das Meer hinaus, um zu fischen, und dann den Fang auf dem Markt zu verkaufen. Die beiden hielten sich auch gerne bei den gelehrten Männern auf und diskutieren oft bis Mitternacht mit ihnen.
Bis jetzt hatte Joshua seinem Freund noch wenig über sich selbst verraten, außer den letzten Aufenthalten in den ärmeren Dörfern Ägyptens.
Aber bald plagte Joshua das Heimweh mehr und mehr, - und schließlich entschloss er sich, Griechenland zu verlassen und die Heimreise anzutreten. Der Abschied fiel der Familie sehr schwer, noch dazu, wo sich Thomas entschieden hatte, Joshua zu begleiten.

„Ich hatte schon lange vor, die Heimat meiner Mutter zu sehen“, sagte Thomas, als sie beide auf dem Schiff waren. „Ich weiß zwar nicht, was ich dort anfangen soll, aber ich denke, Fischer werden immer gebraucht. Was hast du vor, wenn du wieder in deiner Heimat bist?“
Joshua sah seinen Freund nachdenklich an.
„Ich weiß es nicht, Thomas. Ich weiß ja nicht einmal, ob ich noch bei meiner Familie willkommen bin, denn ich denke, sie sind froh, dass sie mich los sind.“
„Bei deiner Beliebtheit kann ich mir das nicht vorstellen. Es muss für dein Dorf ein schwerer Verlust gewesen sein, als du gingst.“
Joshua lachte bitter auf.
„Nein, Thomas, ich bin überzeugt davon, dass ich den Menschen im Dorf, vor allem meiner Familie, überhaupt nicht fehle. Ich denke, ein Prophet gilt im eigenen Land nichts und wird stets verkannt.“
„Was wirst du also tun?“ fragte Thomas.
Joshua zuckte mit den Schultern.
„Vielleicht werde ich meinen Vetter besuchen, der in einer Siedlung lebt, - bei einer Gemeinschaft, die sich die Wahrer des Bundes nennt. Immerhin habe ich ihm versprochen, mal vorbeizuschauen. Und was sich dann weiter ergibt, wird man sehen.“
Thomas horchte auf.
„Von dieser Gemeinschaft habe ich auch schon gehört, - und darunter nicht viel Gutes“, sagte er leise. „Es soll da mehrere Siedlungen geben, - und eine davon geht sehr rebellisch gegen die Römer, wie auch gegen manche deines Volkes, vor.“
„Das habe ich auch schon gehört, - aber ich denke, es ist immer besser, sich zuerst selbst zu überzeugen, bevor man das, was man irgendwo gehört hat, nachzuplappern“, meinte Joshua und lächelte sanftmütig.
„Da wir Freunde sind, denke ich, solltest du, bevor sich unsere Wege bald für einige Zeit trennen, einiges von mir erfahren, was ich dir bis jetzt verheimlicht habe“, sagte Joshua nach einer Weile.
„Joshua, ich wollte dich schon immer fragen, was an dir so anders ist, und bin nun glücklich, dein Vertrauen zu besitzen“, sagte Thomas und legte zärtlich den Arm um die Schultern seines Freundes.
Zum ersten Mal erzählte nun Joshua sein Geheimnis vom imaginären Zwillingsbruder, wie auch vom Lichtwesen und von der Zeit bei den Magiern, als er Menschen heilte, indem er ihnen ihre eigene Kraft aus seinem Körper zurück gab.
„Ich weiß, das alles hört sich verrückt an, - dennoch ist es die Wahrheit“, schloss Joshua seine lange Erzählung ab.
„Es mag dich erstaunen, aber ich glaube dir“, sagte Thomas und umarmte ihn innig.
„Ja, es erstaunt mich, Thomas. Sag mir nur, warum du mir glaubst.“
„Ich weiß es nicht, Joshua. Wie kann man auch Glaube bestätigen? Entweder man glaubt, oder man glaubt nicht. Und ich glaube, selbst wenn es dich erstaunt“, sagte der Freund lächelnd und drückte Joshua noch mal fest an seine Brust.

Als sie an Land gingen, trennten sich ihre Wege. Thomas war nicht gewillt, diese Gemeinschaft aufzusuchen, aber es sollte natürlich kein Abschied für immer sein. Joshua wusste, wo er Thomas wieder treffen würde, und das war gar nicht weit von seinem Heimatdorf entfernt.
Joshua überlegte, ob er nach Jerusalem gehen sollte, - aber dann entschloss er sich für einen anderen Weg, um zur Siedlung, die gar nicht weit von Jerusalem entfernt war, zu kommen.

Einige Stunden musste er durch die Wüste wandern, bis er endlich die schneeweißen Bauten der Gemeinschaft sah.
Joshua war müde, - er hatte die letzte Nacht kaum geschlafen. Es war wohl die Aufregung, wie man ihn dort empfangen würde.
Schon bevor er zum Torbogen kam, durch den man die Siedlung betreten konnte, da rund herum eine hohe Mauer errichtet war, kamen ihm einige Männer in schneeweißer Kleidung entgegen.
„Was führt dich hierher, Fremder?“ begrüßte ihn einer von ihnen.
„Ich möchte meinen Vetter Jokanaan besuchen“, sagte Joshua.
Die Männer sahen sich an, flüsterten sich etwas zu und wandten sich wieder an Joshua.
„Komm mit, - wir führen dich zu Jokanaan“, sagte wieder der eine.
Joshua sah sich in der Siedlung um. Sie war größer, als er gedacht hatte, - und seltsam war, dass auch die großen Felder, die an die Häuser grenzen, von der Mauer umschlossen waren. Er sah auch, dass auf den Feldern Männer arbeiteten, die ebenso alle weiß gekleidet waren.
Vor einem Haus, wobei die Häuser, bis auf eines, alle gleich aussahen, hielten sie. Das eine Haus, welches heraus stach, war viel größer. Es schien sich um ein Gemeinschaftshaus zu handeln, wo gegessen und Versammlungen abgehalten wurden.
„Gibt es hier keine Frauen?“ wagte Joshua zu fragen, während einer der Männer in das Haus ging, um Jokanaan zu benachrichtigen.
Die vier Männer, die mit Joshua heraußen warteten, sahen ihn fast entsetzt an.
„Wir sind die Wahrer des Bundes, - das bedeutet, wir sind die wahren Verbündeten Gottes. Unsere Familie ist Gott, und niemand anders. Wir sind die einzig wahre Gemeinschaft und haben nichts mit den anderen Gemeinschaften in dieser Gegend zu tun. Die Männer einer dieser anderen Gemeinschaften nennen sich Zeloten, - ja, die haben Frauen und Kinder, und diese gehen auch unter das Volk. Wir leben hier alleine und abgeschieden und dienen nur dem Einem, - dem einzigen und wahren Gott“, sagte ein sehr kleiner und schmächtiger Mann, der Joshua sehr an Jokanaan erinnerte.
„Ihr habt also keine Verbindung zu den Menschen in den umliegenden Dörfern und Städten?“ fragte Joshua etwas überrascht.
„Nein, - und du kannst von Glück reden, dass wir dich herein gelassen haben. Und das auch nur, weil du den Namen unseres Bruder erwähnt hast“, gab der Schmächtige verbittert zurück.
Joshua fand nun, dass es besser sei zu schweigen.
Er erschrak, als er seinen Vetter wieder sah. Es kann doch nicht sein, dass sich ein Mensch in wenigen Jahren so sehr verändern kann! Jokanaan war zwar schon damals nicht gerade der Größte und auch sehr schlank, aber der Mann, den er nun sah, wirkte krank – krank an Körper und Geist. Sein langes Haar hatte er zu einem Zopf gebunden, wodurch sein Gesicht noch knochiger wirkte, obwohl der dichte Bartwuchs die eingefallenen Wangen etwas ausfüllte. Und diese Augen! Joshua war fast versucht niederzuknien. Ja, diese Augen hatten ihn schon damals fasziniert, - aber nun wusste er nicht, konnte er sie mehr dem Genie, oder doch mehr dem Wahnsinn zuordnen.
Jokanaan kam langsam auf ihn zu. Joshua hatte das Gefühl, er wolle ihn umarmen, aber im letzten Moment legte Jokanaan seine Hände auf den Rücken.
„Ich freue mich, dass du endlich hergefunden hast“, sagte er mit kräftiger Stimme, die von ganz wo anders zu kommen schien, als von diesem schmächtigen Mann.
„Ich freue mich auch, Vetter“, sagte Joshua und wollte Jokanaan umarmen, der aber erschrocken zurückwich.
„Berührungen sind verboten!“ stieß er hervor, und seine Augen blitzten.
Joshua fühlte sich schon jetzt fehl am Platz.
„Verzeih“, sagte er leise. „Nun, - ich habe mein Versprechen eingelöst, dann werde ich wohl wieder gehen.“
„Möchtest du nicht bleiben, und dir erst mal ansehen, was wir hier tun?“ fragte Jokanaan.
„Ich glaube, ich habe genug gesehen“, meinte Joshua und lächelte verhalten.
Jokanaan schickte die anderen Männer weg und bat Joshua in das Haus.
Die Kargheit der Einrichtung erschreckte Joshua. Das Innere des Hauses war viel mehr ein Stall, in dem er so etwas wie vier Zellen erkennen konnte. Das heißt, das Haus bestand nur aus einem Raum, durch einfache Bretterwände viergeteilt. In jedem dieser Raumabteile befanden sich ein einfaches Lager und ein kleiner Schrank.
„Du wohnst hier nicht alleine?“ fragte Joshua.
„In jedem Haus leben vier Brüder. Dies ist unser Schlafplatz, - und wir halten uns nur selten hier auf. Die meiste Zeit verbringen wir arbeitend auf den Feldern oder im Gemeinschaftssaal beim Beten. Wir essen auch im Gemeinschaftssaal.“
„Und wer kocht für euch?“
„Auch das machen wir selbst.“
Joshua war von der Kälte, die ihm hier entgegenströmte, überrascht. Wenigstens von seinem Vetter hatte er sich ein herzlicheres Willkommen erwartet, - aber nicht einmal in seinem Haus machte er Anstalten, Joshua zu umarmen, wie es unter seinem Volk Sitte war. Warum hatte er ihn damals umarmt?
„Einer der Männer, der mich zu dir geführt hat, sagte, dass ihr diese Siedlung nie verlässt. Wie kam es, dass du uns besuchen durftest?“ fragte Joshua.
„Es gibt Ausnahmesituationen“, sagte Jokanaan. „Wir dachten auch, in dir einen neuen Bruder zu finden.“
Joshua schwieg und kam sich noch immer sehr verloren in diesem viergeteilten Raum vor, in dem sich er und Jokanaan gegenüberstanden.
„In diesem Raum ist alles belegt, - aber ich kann dir einen anderen Schlafplatz zuweisen, wenn du möchtest.“
„Ich kann dir nicht versprechen, für immer hier zu bleiben, Jokanaan“, sagte Joshua und versuchte abermals zu lächeln.
Jokanaan führte Joshua in ein anderes Haus, dessen einziger Raum ebenso viergeteilt war, und wies ihm einen Schlafplatz zu.
„Du siehst müde aus“, sagte Jokanaan. „Du kannst dich jetzt ausruhen. In etwa zwei Stunden werde ich dich zum Essen abholen.“
Joshua war alleine. Noch immer fühlte er die Kälte an diesem Ort, die sich über die gesamte Siedlung auszubreiten schien. Aber er war müde und legte sich auf das harte Lager, auf dem es nicht einmal eine Decke zum Wärmen gab.
Er schreckte hoch, als ihn Jokanaans laute Stimme weckte.
„Bevor wir essen gehen, musst du dich reinigen und diese Gewänder anziehen“, sagte Jokanaan und drängte zur Eile.
Wenige Schritte vom Haus entfernt, befand sich ein Brunnen, an dem schon einige Männer standen und sich sorgfältig am ganzen Körper wuschen.
„Wir reinigen uns täglich, - oftmals auch zweimal täglich, wenn dies erforderlich ist“, sagte Jokanaan, als sich Joshua auszog und dann am Brunnen zu waschen begann.
Das weiße Gewand war rau und kratzte auf seiner Haut.

Als Joshua wenige Wochen später an diese Zeit bei der Gemeinschaft zurück dachte, fröstelte ihn immer noch. Wie können diese Männer Gott dienen, wenn sie alles, was aus Gott kam, verneinten? Sie verneinten sogar sich selbst, ihre eigene Natur, die sie mit sehr grausamen Mitteln, wie tagelanges Fasten, trotz schwerer Arbeit auf den Feldern, unterdrückten. Auch Joshua war zu diesem Fasten verurteilt worden, und musste dann auch noch in der Gemeinschaftsküche aushelfen.
Auf den Feldern brach er nach wenigen Tagen ohnmächtig zusammen. Diesmal mussten die Brüder das Tabu brechen, indem sie Joshua in seine Zelle, wie die Abteile in den Häusern genannt wurden, brachten.
Joshua wollte keinen Tag länger in der Siedlung bleiben, - das hatte er sich vorgenommen, als er aus seiner Ohmacht erwachte. Aber er war zu schwach, jetzt schon weiter zu wandern. Und ihn wunderte, wie es diese ausgemergelten Männer schafften, mit so wenig Nahrung den ganzen Tag so schwer zu arbeiten. Er war doch viel größer und um einiges kräftiger als sie, - und doch war er der einzige, der zusammen brach...
Hier schien ihm die Kraft fern zu sein, - und trotz der schwülen Hitze am Tag fühlte er noch immer eine seltsame Kälte.
Er richtete sich auf seinem Lager auf und kreuzte seine Beine. Vielleicht konnte er durch Meditation seine Kraft wiederbekommen, um dann ungesehen aus der Siedlung zu verschwinden. Joshua schloss seine Augen und dachte ganz fest an das Lichtwesen, dessen Gegenwart er in den letzten Jahren stets fühlte. In Gedanken und stärkster Konzentration bat er es, ihm wieder Kraft zu geben und ihm zu helfen, diese Gottesstätte zu verlassen. Bald hüllte ihn ein warmes, sanft leuchtendes Licht ein, und er fühlte sich zusehends leichter. Aber Joshua rechnete nicht damit, beobachtet zu werden. Ein Zellengenosse, der eben nach ihm schauen wollte, sah, wie er als leuchtende Gestalt über dem Boden schwebte. Und schon wurden alle zusammen getrommelt und Joshua musste zu den Oberen Brüdern, um ihnen Antwort und Rede zu stellen.
Er war zu müde, um sich mit den Oberen Brüdern zu unterhalten, - und schon gar nicht gewillt, ihnen alles über sich zu erzählen. Aber diese Menschen schienen, selbst wenn sie sagten, nie, oder nur in Ausnahmefälle, die Siedlung zu verlassen, bestens informiert zu sein, - und das nicht nur im eigenen Land, sondern auch über die Grenzen hinaus. Es war ihnen also zu Ohren gekommen, dass Joshua in fremden Ländern als Wunderheiler tätig war.
Und plötzlich kam das Wort – Messias – auf, welches eigentlich nur einen König benannte, der als Gesalbter das Volk regiert. Aber die Menschen hier in der Siedlung meinten einen anderen Messias, - einen von Gott selbst gesalbten.
Joshua hörte kaum zu, was alles gegen ihn vorgebracht wurde, obwohl einige von den Oberen Brüdern in ihm DEN Messias sehen wollten. Aber zuerst brauchten sie Beweise...
„Wenn ihr meint, ich sei wirklich der von Gott gesandte“, sagte Joshua endlich „und wenn ihr dem, den er vielleicht gesandt hat, einem solchen Verhör aussetzt, wie werdet ihr erst dem gegenübertreten, der ihn gesandt hat?“
Nach diesen Worten drehte sich Joshua um und verließ den Gemeinschaftssaal.
Er ging nicht mehr in seine Zelle zurück, obwohl es im leid tat um seine alten Gewänder, die ja gar nicht so alt, sondern ein Geschenk seines Freundes Thomas waren. Aber jetzt galt es nur, diese Siedlung schnellstens zu verlassen.
Als er weit genug entfernt war und sich in Sicherheit fühlte, hielt er erst mal Rast. Aber ganz so sicher fühlte sich Joshua nicht. Er hatte die ganze Zeit über das Gefühl, es würde ihm jemand folgen. Bald sah er auch seine Verfolger – es waren Jokanaan und zwei andere Brüder, welche bei der Versammlung, eigentlich dem Verhör, auch anwesend waren.
„Es war recht von dir, die Gemeinschaft zu verlassen“, sagte Jokanaan ohne weitere Begrüßungsworte. „Aber du darfst nicht alle von ihnen verurteilen.“
„Ich verurteile niemanden, Jokanaan“, unterbrach ihn Joshua mit sanfter Stimme und lächelte sogar. „Dieses Leben, das ihr dort führt, ist nicht meines – das ist alles. Nur aus diesem Grund bin ich gegangen.“
„Du bist für Größeres geschaffen, Joshua“, sprach Jokanaan unbeirrt weiter, während seine Augen wie irre blitzten. „Wir beide sollten eine eigene Gemeinschaft gründen, - aber unter dem Volk, um auch das Volk teilhaben zu lassen.“
„Jokanaan, ich will keine Gemeinschaft gründen. Ich möchte so weiterleben, wie ich es vorher getan habe, - durch das Land wandern und Menschen kennen lernen.“
Aber Jokanaan schien Joshua nicht zuzuhören.
„Sie hatten Recht, als sie sagten, du könntest der Messias sein, der von den alten Propheten in den Schriften erwähnt wurde. Du kannst Menschen heilen, indem du sie nur berührst. Wir haben mit eigenen Augen deine Göttlichkeit gesehen, wie du geleuchtet hast, - und wie ein Strahl deines Leuchten sogar die Wände durchbrach. Man hat das Leuchten schon von heraußen gesehen, und es ging bis zu den Wolken hoch, - sogar darüber hinaus. Es war das Zeichen Gottes, dass du sein leiblicher Sohn bist.“
Joshua blickte seinen Vetter ungläubig an und erhob sich. Er wollte etwas sagen, - aber er fühlte, dass hier jedes Wort nutzlos ist, also ging er schnell weiter.
„Joshua!“ rief ihm Jokanaan nach. „Du kannst dem nicht entkommen! Ich weiß, dass sich unsere Wege wieder kreuzen und dann wird sich die Schrift erfüllen.“

Joshua verließ die Wüste und wanderte nach Norden, nach Galiläa. Noch war er unschlüssig, sein Heimatdorf aufzusuchen, dennoch drängte es ihn, die Landschaft wieder zu sehen, wieder zu betreten, in der er aufgewachsen war.
Joshua wurde von seiner Familie voll Freude und liebevoll begrüßt. Er ging ja nicht sofort in das kleine Dorf, sondern suchte zuerst seinen Lieblingsplatz auf. Aber gerade dort wurde er zuversichtlich und entschloss sich, seine Mutter und seine Brüder wieder zu sehen.
Alle waren natürlich sehr neugierig, was Joshua in den fremden Ländern erlebt hatte. Und er erzählte von den fremdartigen Bauten, den vielen Menschen, die er kennen gelernt hatte, - aber er erwähnte nichts von den Magiern, von seiner Heilkunst und ebenso nichts von der Gemeinschaft, am Rande der Wüste. Bis in sein Dorf waren die Gerüchte über ihn auch noch nicht vorgedrungen.
Nur Jakobus sah seinen Sohn während der Erzählung stets misstrauisch an, aber er wollte den rechten Zeitpunkt abwarten, bis auch Joshua bereit war, ihm vielleicht alles zu sagen.

So verging ein weiteres Jahr. Joshua verbrachte nicht mehr so viele Stunden an seinem Lieblingsplatz am Seeufer, sondern half seiner Familie, wo er nur konnte, - und auch im Dorf bei den anderen Menschen packte er mit an, wo seine Hilfe erwünscht war, denn die Dorfbewohner schienen keine Angst mehr zu haben.
Nun aber konnte Jakobus nicht mehr länger warten. Eines Abends, als er sah, wie Joshua den Weg zum kleinen Teich einschlug, folgte er ihm. Joshua fühlte es, also wartete er auf Jakobus, und sie gingen gemeinsam schweigend bis ans Ufer des kleinen Teiches.
„Du weißt, dass das nicht alles war, was ich erlebt habe“, sagte Joshua, als sie beide am Ufer saßen.
„Ich weiß es nicht, aber ich wollte dir schon lange die Frage stellen, ob du dich noch immer in eine Lichtgestalt verwandeln und schweben kannst“, sagte Jakobus und blickte auf die Berge am Horizont.
Joshua nickte und begann seine Geschichte ganz zu erzählen. Jakobus schien nicht einmal überrascht zu sein.
„Und du weißt wirklich nicht, wie du das machst?“ fragte er.
„Ich weiß vielleicht schon, wie ich es mache, - aber ich kann es nicht mit Worten erklären. Es scheint eine andere Welt zu sein, wenn ich schwebe oder heile. Ich kann Lichter sehen, die über den Menschen schweben, - und diese Lichter fange ich mit meinem Körper ein und gebe sie den Kranken weiter“, erklärte Joshua.
„Und was sind diese Lichter? Vielleicht Götter?“ fragte Jakobus.
Joshua schüttelte energisch seinen Kopf.
„Nein, es sind keine Götter. Es ist die Kraft dieser Menschen, die sie selbst nicht aufnehmen können. Diese Menschen können diese Lichter, diese Kraft, auch selbst nicht sehen.
Wenn das Kribbeln in meinem Körper einsetzt, legt sich ein ganz anderes Bild über die Welt, wie ich sie sonst sehe. Alles strahlt und leuchtet und scheint miteinander verbunden zu sein. Und doch gehören nur gewisse Teile dieser Strahlen zu den Menschen. Selbst bei den Magiern habe ich einmal Lichter über ihre Köpfe schweben sehen.“
„Aber warum kannst du diese Lichter sehen, und andere Menschen nicht?“
Joshua blickte Jakobus fast verzweifelt an.
„Ich weiß es nicht. Ich weiß es wirklich nicht. Das Lichtwesen sagte mir, es sei deshalb, weil mein Herz von Besitztümern frei ist und die meisten Menschen ihre Herzen an das Äußere hängen.“
„Du musst es der Familie erzählen, Joshua“, sagte Jakobus nach einer Weile. „Sie hat ein Recht darauf.“
„Sie werden mir nicht glauben“, meinte Joshua leise.
„Dann beweise es ihnen! Zeig ihnen, wie du schwebst! Oder – noch besser, heile einen Menschen in unserem Dorf. Die Mutter unseres Nachbarn ist in den letzten Tagen schwerkrank geworden. Du könntest sie wieder gesund machen.“
„Die Frau ist sehr alt, Jakobus. Ich glaube nicht, dass ich den Tod aufhalten kann.“
„Wenn du das Licht sehen und es einfangen kannst, um es ihr zu geben, wird sie wieder gesund werden, Joshua.“

Am nächsten Tag saß die Familie zusammen, und Joshua erzählte, auf Jakobus’ Drängen hin, seine ganze Geschichte.
Joshua wurde oft unterbrochen, - und die beiden anderen Brüder schüttelten meistens ungläubig ihre Köpfe. Nur Maria, Joshuas Mutter, schwieg und blickte ihren Sohn fortwährend traurig an. Sie dachte wahrhaftig, er hätte den Verstand verloren...
„Ich kann es bezeugen, wenn ihr Joshua nicht glaubt“, sagte Jakobus endlich, um den Streit, der zwischen den Brüdern immer lauter wurde, zu beenden. „Ich habe mit meinen eigenen Augen gesehen, wie er eine Lichtgestalt wurde und über dem Boden schwebte.“
„Ihr beide steckt doch schon immer unter einer Decke“, sagte der jüngste Bruder zornig. „Und du hast Joshua auch immer verteidigt, wenn er sich vor der Arbeit gedrückt hat.“
Nun meldete sich auch Joshuas Mutter.
„Joshua war schon immer anders als die anderen Kinder im Dorf, und ich machte mir seinetwegen immer Sorgen. Die Reise in fremde Länder hat ihn nur verwirrt, - und nun ist er verrückt geworden“, sagte sie, erhob sich und wollte in ihr Zimmer gehen.
„Mutter, du glaubst mir nicht?“ fragte Joshua leise.
„Nein, Joshua, ich glaube dir nicht“, sagte sie mit niedergeschlagenen Augen und verließ den Raum.
„Wir glauben dir auch nicht“, sagte der mittlere Bruder und lachte Joshua laut aus.
„Dann kommt mit. Wir gehen zu unseren Nachbarn. Joshua wird die Mutter unseres Nachbarn heilen. Dann werdet ihr endlich glauben“, sagte Jakobus.
Joshua fühlte sich sehr elend. Er war den Tränen nahe und dachte wieder daran, von zu Hause wegzugehen. Als Jakobus seine Hand nahm und ihn aus dem Haus führen wollte, wehrte er sich.
„Ich kann diese Frau nicht heilen, Jakobus“, sagte er und entzog ihm seine Hand. „Wenn ich es könnte, würde ich es spüren.“
Aber es war zu spät. Jakobus rief vor der Haustür die Menschen aus den Dorf zusammen.
„Kommt alle her! In unserem Dorf gibt es einen Wunderheiler!“
Joshua wünschte sich, die Erde würde sich auftun und ihn verschlingen. Oder viel mehr: Hätte er nur nicht Jakobus die ganze Wahrheit erzählt. Er wusste ja von Anfang an, dass ihm niemand glauben wird. Nun aber war es zu spät...
Bald standen fast alle Menschen aus dem Dorf vor der Tür seines Heimathauses. Auch Maria und die beiden Brüder waren heraus gekommen, - und man sah ihnen an, dass sie sich schämten.
Jakobus erzählte den Leuten mit wenigen Worten, dass Joshua in fremde Länder war, dort Unterricht von Magiern bekommen habe und nun Kranke, nur durch Berührung, heilen kann. Und er sagte, dass Joshua nun die alte Nachbarin heilen wird.
Wieder nahm er Joshuas Hand und zog ihn weiter zum Haus des Nachbarn, der ihnen bereits die Tür geöffnet hatte.
Joshua fühlte sich wie taub, - taub nicht nur an den Ohren, sondern am ganzen Körper, als ihn Jakobus vor das Lager der Alten führte. Er versuchte sich zwar zu konzentrieren, so gut ihm das möglich war, aber er sah nichts. Er fühlte auch nichts, außer, dass diese alte Frau, seine Nachbarin, die er gut kannte, bald sterben wird.
Er stand hilflos vor ihrem Lager und sah auf sie hinab. Dann wandte er sich um und senkte seinen Kopf.
„Ich kann nichts für sie tun. Sie wird noch heute Nacht sterben“, sagte er leise.
„Das soll ein Wunderheiler sein?“ rief ein älterer Mann, der mit ins Zimmer gekommen war.
Andere begannen wüster zu schimpfen und nannten Joshua einen Scharlatan, der sich mit seinen Mitmenschen sehr böse Scherze erlaubt. Es hätte nicht viel gefehlt, und Joshua wäre gesteinigt worden. Er drängte sich durch die Menge, wo ihn einige Leute weiter stießen und manche sogar auf ihn einschlugen.
Dann lief er zu seinem Heimathaus, eilte in sein Zimmer, packte einiges zusammen und verließ wieder das Haus. Noch immer waren die Menschen auf der Straße und schrieen laut durcheinander. Jetzt gingen sie auf Jakobus los, der noch immer versuchte, sie zu besänftigen. Joshua hörte, wie er ihnen sagte, dass er mit eigenen Augen gesehen hat, wie sein Bruder über dem Boden schwebte. Aber die Menschen glaubten ihm nicht.
Joshua ging unbemerkt hinten am Haus herum und verließ das Dorf.
Er schwor sich, nie wieder zurück zu kommen.
So wanderte er südwärts und wusste eigentlich nicht, wohin er wirklich gehen sollte.
Bald hatte er schon ein gutes Stück Weg geschafft – das Dorf war längst außer Sichtweite, als er das Gefühl hatte, jemand würde ihm folgen. Er hatte zwar eine Ahnung, aber er wollte Gewissheit haben. Also wartete er an einer Wegbiegung, - setzte sich an den Wegesrand und aß ein paar frische Feigen, die er sich eben von einem Baum gepflückt hatte.
Es war Jakobus, der ihm folgte. Joshua lächelte, als er sich zu ihm setzte und ihm eine Feige abnahm.
„Ich hab die Familie verlassen, - und die Werkstatt meinen Brüdern überlassen. Ich werde mit dir kommen, mich dir anschließen“, sagte er und klopfte Joshua aufmunternd auf die Schulter.
„Mich mir anschließen? Was meinst du damit?“ fragte Joshua.
„Glaube mir, es werden sich dir noch mehr Menschen anschließen. Wir werden durch das ganze Land, auch durch fremde Länder wandern, wo man dich schon kennt und allen Menschen sagen, wer du wirklich bist.“
„Wer bin ich wirklich, Jakobus?“ fragte Joshua leise.
„Du bist etwas Besonderes, Joshua“, sagte Jakobus sehr ernst. „Ich habe in diesem letzten Jahr die Heiligen Schriften noch mal genauer durchgelesen. Als du weg warst, kam uns Joseph, der Hohenpriester mehrmals besuchen und übergab mir Schriften, die ich noch nicht kannte. Die Menschen warten auf einen großen Propheten, - und auch Joseph war überzeugt, dass du dieser Prophet bist. Ich wusste, dass es dir nicht recht sein wird, - aber ich habe Joseph erzählt, wie ich dich am Ufer des Teiches schweben gesehen habe. Und auch er sagte, dass dies das Zeichen ist. Der Hohenpriester sagte, er habe schon damals, als er dich als Junge in Jerusalem kennen lernte, gefühlt, dass du etwas Besonderes bist. Und wie du selbst erzählt hast, glaubten auch einige Brüder dieser Gemeinschaft, dass du der Messias bist.“
Joshua schwieg einige Momente.
„Du weißt noch nicht alles über mich, Jakobus“, sagte er dann. „Du hast mich einst gefragt, ob das Lichtwesen all die Taten vollbringt, die ich stets leugnete. Es war nicht das Lichtwesen, wie ich dir damals schon versichert habe.“
Und nun erzählte Joshua über Luzifer, seinem imaginären Zwillingsbruder, von dem er sich vor einigen Jahren in der Wüstengegend getrennt hatte.
„Sagst du jetzt noch immer, ich sei ein großer Prophet?“ fragte er abschließend.
„Um so mehr, Joshua“, stieß Jakobus erregt hervor. „Dann warst es also nicht du, der diese bösen Taten begangen hat, sondern ein Dämon.“
Joshua schwieg wieder. Er stand auf und ging langsam weiter.

Lange Zeit wanderten die beiden schweigend weiter, bis sie schließlich in eine Stadt kamen. Dort hörten sie, wie von einem jungen Mann gesprochen wurde, der am Ufer des Jordans predigen und die Menschen taufen würde. Jakobus ging auf die Männer zu, die darüber sprachen und erkundigte sich genauer über diesen Prediger. Joshua hielt sich im Hintergrund und hörte zu.
„Man sagt, dieser Prediger sei der Messias, - aber er selbst streitet es ab. Er sagt, dass der Messias zwar schon da ist, - aber er selbst sei es nicht“, erzählte ein alter Mann.
„Wie sieht dieser Prediger aus?“ fragte Jakobus.
„Er ist mit Fellen bekleidet und lebt wie ein Eremit, obwohl er einige Jünger bei sich hat. Und er sagt den Menschen, sie sollen Buße tun, denn das Himmelreich sei nahe.“
Joshua schloss seine Augen und sah Jokanaan vor sich.
„Jokanaan“, sagte er leise, und Jakobus wandte sich zu ihm um.
Joshua öffnete seine Augen.
„Ich weiß, es ist Jokanaan. Nur, - frag mich nicht, woher ich das weiß“, flüsterte er Jakobus zu.
Jakobus bedankte sich bei den Männern für die Auskunft, dann wanderten sie weiter.

Unterwegs stieß noch ein Mann zu ihnen. Joshua glaubte zuerst seinen Augen nicht zu trauen, als er Thomas schon von weitem erkannte. Und dann liefen sich die beiden jungen Männer vor Freude entgegen und umarmten sich innig.
„Ich habe dir doch von dem jungen Philosophen erzählt, der mit mir auf dem Schiff in die Heimat zurück fuhr. Das ist er! Das ist Thomas“, stellte Joshua, noch immer vor Freude lachend, den jungen Griechen Jakobus vor.
„Dann weiß er auch alles über dich?“ fragte Jakobus, nachdem er Thomas begrüßt hatte.
„Ja, - er weiß alles über mich“, sagte Joshua leise.
Dann wandte er sich an Thomas.
„Wohin wolltest du eben gehen?“
„Ich war auf der Suche nach dir, Joshua. Eigentlich ist es dein Vetter, der dich suchen lässt“, sagte Thomas.
„Der Prediger, der am Jordan Menschen auf so eigentümliche Art ins Wasser taucht – und dies Taufe nennt?“ fragte Jakobus.
Thomas nickte stumm.
„Was will er von mir?“ fragte Joshua.
„Er wartet auf dich“, sagte Thomas. „Und er sagt, alle Menschen warten auf dich, denn du bist der Auserwählte.“
„Bist du einer seiner Jünger?“ fragte Jakobus.
„Ich war einige Tage bei ihnen, - aber ich zähle mich nicht zu seinen Jüngern. Es sind oft viele Menschen bei ihm am Jordan und lassen sich taufen. Aber es wird immer gefährlicher, weil Jokanaan sehr viele Menschen öffentlich beschimpft – vor allem die Schriftgelehrten. Und noch schlimmer, - er nennt Herodes einen Sünder, weil dieser unverheiratet mit einer Frau zusammen lebt. Schon einmal kamen Soldaten zu ihm und verwarnten ihn. Aber Jokanaan kann seinen Mund nicht halten“, erzählte Thomas.
„Sie werden ihn verhaften und töten lassen“, sagte Joshua leise und senkte seinen Blick.
„Das glaube ich nicht“, sagte Thomas schnell. „Es sind zu viele Menschen bei ihm, und nachts wird man ihn kaum finden. Nicht einmal seine Jünger wissen, wo er sich nachts aufhält.“
„Ist er nicht mehr bei der Gemeinschaft?“ fragte Joshua.
„Nein, er hat sie für immer verlassen. Ich glaube, er ging, als auch du von ihnen weggegangen bist. Jokanaan hat mir übrigens alles darüber erzählt.“
Joshua nickte nur und ging langsam weiter.

So wanderten sie nun zu dritt einige Tage ohne besondere Ereignisse des Weges, suchten nachts sichere Schlafplätze nahe der Felder oder nahe eines kleines Waldes auf, bis sie wieder in eine größere Stadt kamen.
Vor einem Haus sah Joshua eine Frau sitzen, die bitterlich weinte. Er trat auf sie zu, grüßte freundlich und fragte, warum sie weint.
„Meine einzige Tochter liegt im Sterben, und niemand kann ihr helfen. Es waren schon drei Ärzte bei ihr, aber keiner von ihnen konnte etwas tun“, sagte die Frau und weinte wieder auf.
„Führe mich zu ihr“, sagte Joshua entschlossen.
Jakobus und Thomas sahen sich stumm an, aber sie folgten Joshua und der Frau, als diese sie in das kleine Zimmer führte, wo ihre Tochter in einem Bett lag.
Joshua setzte sich ans Bett und legte seine Hand auf die Stirn des etwa 16jährigen Mädchens.
„Sie hatte schon früher solche Anfälle“, hörte er die Mutter sagen. „Aber so schlimm wie diesmal war es noch nie. Sie fiel einfach um und rührte sich nicht mehr. Und nun liegt sie schon zwei Tage wie tot im Bett, ohne Nahrung zu sich zu nehmen.“
Das Mädchen schlug die Augen auf und sah Joshua an. Ganz langsam richtete es sich auf, dann schlang es die Arme um Joshuas Hals und drückte sich, vor Freude weinend, fest an ihn.
„Ein Wunder! Ein Wunder!“ schrie die Mutter und rannte vor das Haus.
Joshua befreite sich schnell von dem Mädchen und lief der Mutter nach vor das Haus, wo sich schon eine beachtliche Menschenmenge versammelt hatte.
Aber Joshua blieb nicht stehen, - er lief die Straße hinunter, so schnell er konnte, bis er außer Atem war. Er sah sich um und konnte im ersten Moment nicht glauben, dass er am Ufer des Jordans stand. Wenige Meter vor ihm befand sich eine kleinere Menschenmenge, - und in deren Mitte stand Jokanaan im Wasser, der aufmerksam in die Richtung blickte, wo Joshua stand.
Jetzt konnte er nicht mehr aus. Joshua atmete tief durch und ging langsam weiter, ohne den Täufer aus den Augen zu lassen. Auch die paar Menschen um Jokanaan bemerkten Joshua und machten ihm den Weg frei.
Joshua fiel auf, dass sein Vetter nun viel besser aussah als damals. Er war zwar noch immer sehr schlank, wirkte aber viel kräftiger und auch viel jünger. Sein Haar war fast so lang, wie es Joshua vor einigen Jahren getragen hatte, - und auch sein Bart war lang wie der eines Propheten.
Gekleidet war Jokanaan in Felle, die ihm nur bis zu den nackten Knien reichten, bis zu denen er ohnehin meistens im Wasser stand.
Joshua hob sein Kleid, aus naturfarbenen Leinen, welches ihm seine Mutter genäht hatte und stieg in den Fluss zu Jokanaan. Dieser kniete nieder und blickte mit leuchtenden Augen zu Joshua hoch.
„Ich bin nicht würdig, dich zu taufen. Taufe du mich“, sagte er und senkte sein Haupt.
Joshua lächelte und zog seinen Vetter an den Händen hoch.
„Du bist der Täufer, also walte deines Amtes“, sagte er sanft und kniete nieder.
Plötzlich spürte Joshua die Gegenwart eines Wesens, welches sich damals in der Wüstengegend von ihm durch seinen Willen losgesagt hatte. Er wandte den Kopf zur Seite und sah seinen ehemaligen Zwillingsbruder neben sich knien, - in derselben Haltung wie er selbst. In diesem Moment wurde ihm bewusst, dass er gar nicht wusste, was er eigentlich hier tat. Warum sollte er sich von Jokanaan taufen lassen? Was bewegte ihn dazu, zu diesen Menschen zu gehen und in den Fluss zu seinem Vetter zu steigen? Joshua war plötzlich, als würde er träumen.
Keiner der Menschen, auch nicht Jokanaan, sah das leuchtende Wesen, welches wie ein Blitz auf Luzifer herabfuhr, ihn mit kräftigen Händen an den Schultern packte und mit sich, hoch in die Wolken, nahm. Was die Menschen sahen, war ein vor Jokanaan demütig kniender junger und besonders gutaussehender Mann. Man bemerkte zwar, wie sich die eben noch düstere Wolkendecke lichtete und die Sonne mehr und mehr hervorblitzte, wobei es fast so aussah, als würde sie ihre Strahlen nur auf Joshua lenken, - aber von den anderen beiden Wesen bekam niemand etwas mit.

Joshua schloss seine Augen. Er konnte sich nicht erklären, wie und warum er wissen konnte, dass dies nun die Aufgabe des Lichtwesens war, von der es einst mit diesen Worten gesprochen hatte: „Auch ich hege keinen Groll gegen diese Wesen, deren Natur es ist, auf diese Art zu existieren. Sie haben nicht die Absicht, den Menschen oder anderen Lebewesen zu schaden. Sie kennen nichts anderes. Und es soll auch nicht deine Aufgabe sein, dies zu unterbinden.“
Er erinnerte sich auch an das seltsame Gefühl von damals, als er spürte, dass durch ihn ein Ereignis bevorstehen wird, das unbedingt passieren muss, obwohl es nicht direkt von ihm selbst abhängen und viel mehr ein Ereignis zwischen Luzifer und dem Lichtwesen sein wird.
Nur konnte Joshua nicht wissen, dass dieses Ereignis in einer Dimension passiert, die für ihn eine weit entfernte Zukunft und die wahre Erlösung bedeutet. Durch diesen Kampf mit Luzifer, der nicht wirklich ein Kampf, sondern viel mehr eine Vereinigung mit seinem gesamten Reich ist, erlöst das Lichtwesen das gesamte Universum vor der Stagnation der Götter, Göttinnen, Engel und Dämonen. Ebenso erlöst es die Götter, Göttinnen, Engel und Dämonen von ihrer Starrheit und ermöglicht ihnen den Weg zurück in ihre wahre Heimat, in die ewige Quelle, deren Teile wir und alles, was uns umgibt, sind.
Als Joshua von Jokanaan getauft war, erhob er sich und stieg langsam aus dem Wasser. Er hörte die Worte Jokanaans wie von weit weg: „Das ist der Mann, dem ihr folgen sollt. Ich war und bin nur sein Wegbereiter.“
Als Joshua wieder in die Stadt zurückgehen wollte, sah er eine riesige Menschenmenge auf sich zukommen. Es dauerte nicht lange, und schon waren sie bei ihm und umringten ihn mit lauten Rufen des Lobes und Ruhmes. So viele berührten ihn, zogen an seinem Gewand und seinem langen Haar, dass ihm ganz schwindelig wurde. Und sobald ihn welche berührt hatten, riefen sie auch schon laut aus, geheilt zu sein.
Joshuas Kraft war bald erschöpft. Er riss sich von den Menschen los und wusste später selbst nicht mehr, wie er es geschafft hatte, sich von ihnen zu entfernen. Er lief wieder so schnell er konnte und schlug den Weg in die Wüste ein, wo er alles hinter sich lassen konnte.
Er blieb nicht sofort stehen, als er sich in Sicherheit und wirklich alleine fühlte. Lange Zeit lief er noch weiter, bis er total erschöpft zu Boden fiel. Schwer atmend lag er da, - das Gesicht im Sand, bis ihn bald ein starker Husten quälte. Er drehte sich um und starrte zum Himmel – zur sengenden Sonne hoch.
Meine Geschichte müsste eigentlich hier enden, denn der Moment, als das Leuchtende Wesen, wie ein Blitz auf Luzifer herabstürzte, erfüllte nicht nur alle Erddimensionen, sondern das gesamte Universum mit immenser Kraft. Und schon diese Kraft alleine erzählt das Leben Joshuas, selbst wenn er keine Wunder gewirkt hätte. Nicht der Tod am Kreuz war die Erlösung, die Rettung der Menschheit, des Universums, - es war der Moment der Taufe, wo heute in den Heiligen Schriften geschrieben steht, dass der Geist Gottes auf Jesus herabfuhr und angeblich die Worte: „Du bist mein geliebter Sohn, an dir fand ich Wohlgefallen“ (Lukas-Evangelium) sprach.
Aber in dieser, meiner Geschichte geht es ja nicht darum, Joshua zum Gott zu machen, denn darüber gibt es ohnehin zu Genüge Schriften und Geschichten, die nicht über den erzählen, den ich in mir fühle. Ich fühle in mir „nur“ einen Menschen, der vielleicht nicht ganz so gewöhnlich war, - aber dennoch einen Menschen, wie du und ich. Er hatte eben die Fähigkeit, „Dinge“ zu sehen oder wahrzunehmen, die wohl die meisten Menschen auch in der heutigen Zeit für Hirngespinste halten. Joshua vollbrachte keine Wunder, er sah nur die Unendlichkeit, deren Teil wir sind und der wir habhaft werden könnten, wenn wir uns, ebenso wie Joshua, ihr öffnen würden.

Joshua blieb nicht lange in der Wüste. Er setzte seinen Weg in Richtung Galiläa fort. Das Gehen tat ihm gut und machte seine Gedanken wieder frei.
Joshua vermied es, in die Nähe seines Heimatdorfes zu kommen, - jedoch zog es ihn in diese vertraute Gegend, mit den sanften Hügeln, in deren Mitte oft kleine Teiche, oder Seen waren.
Nach tagelanger Wanderung kam er an einen größeren See, an dem ein Dorf lag. Die Menschen dort wirkten kaum anders auf ihn, als die in seinem Heimatdorf. Sie lebten einfach, waren Bauern und Viehzüchter und kannten den Luxus der Städte nicht.
Joshua hatte nicht vor, sich dort niederzulassen. Er wollte nur, so wie früher, mit den Menschen reden, vielleicht ihr Gast sein, denn die Gastfreundschaft in den kleinen Dörfern war üblich, wenn Wanderer des Weges kamen. Die Menschen hatten nicht viel zu geben, - vielleicht ein Stück Brot, mit Milch, und wenn es möglich war, sogar Suppe.
Joshua drängte sich aber nie auf, wenn er durch Dörfer kam. Er grüßte die Menschen immer freundlich lächelnd, die vor den Häusern saßen, - und erst wenn sie antworteten und ihn zu sich winkten, kam er der Aufforderung nach. Meist brachte die Frau des Hauses etwas Brot und vielleicht Wasser, Milch oder Suppe, dann aßen die Männer vor dem Haus, indem sie die Schüssel auf dem Schoß stellten und die Flüssigkeit mit Brot austunkten.
Joshua lächelte eben einem alten Mann zu, der vor einem Haus auf einer Bank saß, als eine jüngere Frau, in einem dunkelblauen, langen Kleid heraus kam. Sie trug ihr langes, schwarzes Haar offen und ohne Schleier, dass Joshua ihr Gesicht sehen konnte. Joshua schätzte, dass sie etwas älter war als er, aber irgendetwas an dieser Frau nahm ihn gefangen. Es war vielleicht die Art, wie sie ihn ansah, - so offen, als hätte sie nichts zu verbergen. Meist senkten die Menschen den Blick vor Joshua, wenn sie ihm länger in die Augen sahen, was diese Frau aber nicht tat.
Er bemerkte gar nicht, wie ihn der alte Mann zu sich winkte, - erst, als die Frau mit weicher, dunkler Stimme fragte, ob er ihr Gast sein möchte, reagierte Joshua.
Seine Knie zitterten ein bisschen, als er sich dem Alten und der Frau näherte, - was sicher nicht am alten Mann, sondern viel mehr an ihr lag.
„Mein Name ist Joshua. Ich stamme aus dieser Gegend und bin auf Wanderschaft“, stellte sich der junge Mann vor und verneigte sich leicht vor dem alten Mann.
„Setz dich zu mir“, sagte der Alte, und Joshua gehorchte.
In diesem Moment kam eine zweite Frau, eine viel jüngere aus dem Haus. Sie trug einen Schleier über dem langen Haar, jedoch ihr Gesicht war ebenso unverhüllt.
„Das sind meine beiden Töchter, Magdalena und Martha“, stellte der Alte die beiden Frauen vor. „Mein Sohn, Lazarus, ist auf dem Feld, aber er wird bald heimkommen.“
Joshua verneigte sich auch vor den beiden Frauen. Die Jüngere, Martha, kicherte und verschwand wieder im Haus, während Magdalena mit verschränkten Armen vor der Brust nur leicht ihren Kopf neigte und dem Blick Joshuas noch immer standhielt.
„Magdalena sollte schon längst verheiratet sein, aber sie ist so wählerisch“, sagte der Alte, als sich Joshua zu ihm gesetzt hatte. „Aber vielleicht ist es auch gut so, denn meine Frau ist vor kurzem gestorben. Jetzt kann sie die Familie versorgen.“
Joshua blickte zu Magdalena hoch. Sie lächelte und ging zu ihrer Schwester in das Haus.
Die beiden Männer unterhielten sich eine Weile. Der alte Mann erzählte einiges aus seinem Leben in diesem Dorf, - und Joshua hörte interessiert zu. Das gefiel dem Alten, denn nur selten kamen Fremde durch das Dorf, denen er seine Geschichte erzählen konnte. Die Menschen im Dorf waren ja kaum interessiert daran, außerdem kannten sie schon alles, da der alte Mann zu gerne eine Geschichte wiederholte, wie es eben so üblich ist bei alten Leuten. Aber nun war ein fremder, junger Mann hier, der sich wirklich für sein Leben interessierte, - der sogar nachfragte, wie dies oder jenes genauer passierte. Der Alte blühte richtig auf, dass er zwischendurch nach Magdalena rief und sie bat, Wein zu bringen.
Auch Magdalena fühlte die Veränderung ihres Vaters, und sah das Glück in seinen vorhin noch stumpfen Augen. Aber sie wunderte sich nicht. Sie spürte, dass dieser Fremde, mit den seltsamen Augen anders war. Nur wie anders, konnte sie sich nicht erklären. Bei Magdalena war es umgekehrt, als bei den meisten Menschen, die Joshua bis jetzt getroffen hatte. Sie konnte Menschen, die in ihren Augen etwas suchten, was sie vielleicht gegen sie vorbringen könnten, nie lange in die Augen sehen. Bei Joshua hatte sie das Gefühl, dass er noch sehr viel tiefer blickte, - aber sein Blick war frei, was ja schon einige andere Menschen festgestellt hatten. Nur konnten sie diese Freiheit, wie es nun Magdalena tat, nicht verstehen.
Joshua blieb nicht nur zum Essen, als Lazarus von der Feldarbeit nach Hause kam, - er nahm auch das Angebot an, die Nacht im Haus zu verbringen. Es wurde ihm im gemeinsamen Schlafraum ein Lager bereitet, das er dankend annahm. Joshua war glücklich darüber, denn so schnell wollte er sich von Magdalena nicht trennen...
Er konnte lange nicht einschlafen, obwohl er müde war, aber er musste ständig auf Magdalenas Atem hören, den er sehr gut von den anderen im Schlafraum unterscheiden konnte. Joshua hatte seit Melos Dienerin keine Frau mehr, die ja die erste war. Obwohl er viele Gelegenheiten gehabt hätte, fühlte er sich zu keiner so hingezogen, wie jetzt zu Magdalena. Und er fühlte, dass es bei ihr genauso war.
Als er am Morgen erwachte, waren alle schon auf. In der Stube war nur Magdalena, als er nach draußen ging. Lazarus und die jüngere Schwester, Martha, waren schon auf dem Feld und der Vater saß vor dem Haus.
„Hinterm Haus ist ein Brunnen. Dort kannst du dich waschen“, sagte Magdalena, nachdem ihr Joshua einen guten Morgen gewünscht hatte. „Mein Vater sitzt draußen. Ich habe ihm Brot und Milch gegeben. Es reicht auch für dich.“
Joshua nickte dankend und ging sich erst waschen, bevor er dem alten Mann wieder Gesellschaft leistete und mit ihm zusammen Brot und Milch zu sich nahm.
„Ich werde heute wieder weiter wandern“, sagte Joshua zu dem Alten.
„Was läuft dir denn weg? Oder – wovor läufst du weg, dass du nicht bleiben kannst?“ fragte der Alte.
Joshua sah den Mann nachdenklich an. Mit diesen Worten hatte er etwas in ihm losgelöst. Ja, er lief wirklich vor etwas weg, - wahrscheinlich vor sich selbst, oder vor dem, was andere Menschen in ihm sehen wollten, wie sein Bruder Jakobus, von dem er noch immer nicht wusste, dass er sein Vater ist, - oder Jokanaan und wahrscheinlich auch schon Thomas, der ja bei diesen fanatischen Menschen ist.
„Ich weiß es nicht. Aber du hast Recht, - mir läuft wirklich nichts davon“, sagte Joshua noch immer nachdenklich und tauchte ein Stück Brot in die Schüssel mit Milch.
„Du wärst der richtige Mann für meine Magdalena“, sagte der Alte plötzlich, und fast wäre Joshua der Bissen Brot im Hals stecken geblieben. „Sie hat noch nie einen Mann so angesehen wie dich. Und ich glaube, sie gefällt dir ebenso.“
Joshua schluckte und blickte dem alten Mann offen in die Augen.
„Deine Tochter Magdalena ist etwas Besonderes“, sagte er mit belegter Stimme. „Das ist mir sofort aufgefallen, als ich sie vor dem Haus stehen sah.“
Der Alte kicherte.
„Ja, ja, - das habe ich bemerkt. Du hattest ja nur mehr Augen für sie und hast meine Aufforderung, unser Gast zu sein, gar nicht gesehen.“
Nun lachte auch Joshua und fühlte sich plötzlich sehr wohl. Ja, es würde ihm vielleicht gefallen, sich in diesem Dorf niederzulassen, eine Familie zu gründen. Er wäre ja auch schon längst im Alter, das zu tun. Viele Männer, die um einiges jünger waren als er, hatten schon Familie, sogar mit zwei oder gar drei Kinder. Schon das verband ihn mit Magdalena, die ja auch auf den „Richtigen“ zu warten schien.
So nahm Joshua die Gastfreundschaft der Familie einige Tage und Nächte länger an. Er lernte auch die anderen Menschen des Dorfes kennen, die ihn ebenso liebgewonnen hatten. Bis in dieses Dorf waren seine „Wundertaten“ noch nicht vorgedrungen, - darüber war Joshua nur froh.
So begleitete er Lazarus manchmal auf das Feld und arbeitete mit ihm, oder er begleitete Magdalena auf die nahen Wiesen, um Kräuter zu pflücken, was er sehr viel lieber tat. So lernte er die außergewöhnliche Frau auch besser kennen und schätzte ihre Offenheit und Natürlichkeit von Tag zu Tag mehr.
Aber dann wurde er wieder nachdenklich. Er fühlte, dass es nicht sein Leben ist, nur an einem Ort zu verweilen, - eine Familie zu haben, alt zu werden, um dann zu sterben. Irgendetwas in ihm ließ ihn nach diesen doch glücklichen und zufriedenen Tagen unruhig werden.
So kam es, dass sich Joshua eines Mittags, beim Essen in der Stube, jedoch mit schwerem Herzen, dazu entschloss, das Dorf zu verlassen. Er wusste, dass er nicht beides gleichzeitig tun konnte, - eine Familie zu haben und doch auf Wanderschaft zu sein. Für eines musste er sich nun mal entscheiden, obwohl er zu gerne beides gehabt hätte. Aber der Ruf seines Herzens war stärker...
Magdalena senkte schnell ihren Blick, als Joshua sein Vorhaben kundtat. Selbst Lazarus, der Joshua wie einen Bruder liebte, sah erstaunt auf und wollte ihn davon abhalten. Martha weinte leise, - und der alte Mann erhob sich vom Tisch und ging schwerfällig in der Stube auf und ab.
Magdalena sah wieder auf, direkt in Joshuas leuchtende Augen.
„Wir haben nicht das Recht, Joshua aufzuhalten. Er muss das tun, was er für richtig hält. Und ich denke, er weiß, dass er immer bei uns willkommen ist, - dass er Teil unserer Familie ist und es auch bleiben wird“, sagte sie tapfer.
„Die Menschen in unserem Dorf waren noch nie so glücklich, seit du bei uns bist“, sagte Lazarus und legte tröstend den Arm um seine jüngere Schwester, die eben ein Schluchzen unterdrückte. „Aber Magdalena hat recht. Wenn du gehen willst, dann sollst du in Frieden gehen und wissen, dass unser Haus auch dein Zuhause ist, wann immer du zurückkehren willst.“
Der alte Mann setzte sich wieder seufzend an den Tisch.
„Wer wird mir nun zuhören, wenn du gehst?“ fragte er mit leidender Miene, aber dann lächelte er. „Geh nur, wenn du es für richtig hältst. Aber komm zurück, wann immer du Sehnsucht nach einem Heim hast.“
Joshua erhob sich vom Tisch und umarmte und dankte noch mal allen. Dann ging er mit noch schwererem Herzen vor die Tür. Magdalena folgte ihm mit einem Bündel Brot.
„Das ist für den Weg, falls du unterwegs keine Nahrung findest“, sagte sie, während sie ihre Augen fast starr auf seine fixierte, als wolle sie diese für immer in ihrem Herzen einbrennen. Aber das hatten sie schon längst. Niemals würde sie Joshuas Augen vergessen können...
Bevor Magdalena in das Haus zurückging, wandte sie sich noch einmal um.
„Hast du es sehr eilig?“ fragte sie leise.
„Nein“, sagte Joshua schnell.
„Dann warte auf mich vor unserem Feld, wenn die Sonne untergeht“, sagte Magdalena fast flüsternd und verschwand daraufhin im Haus.
Joshua sah noch immer ihren tiefen Blick, als er langsam des Weges ging und das Dorf bald hinter sich gelassen hatte. Sie hatte ihn noch nie so – er suchte nach einem bestimmten Wort – ja, so glühend, brennend angesehen. Da war ein Feuer in ihnen, das er in sich selbst spüren konnte, wie es sein Blut erwärmte, - nein, nicht erwärmte, es brachte sein Blut zum Kochen.
Joshuas Schritte wurden schneller, als er in die Nähe der Felder kam, wo noch immer Menschen arbeiteten. Er grüßte sie freundlich und ging weiter zur großen Wiese, wo er alleine sein konnte. Dort legte er sich ins Gras und blickte zu den ziehenden Wolken hoch. Joshua war ungeduldig. Er liebte die Sonne, - das Tageslicht, aber nun wünschte er sich so schnell wie möglich die Dunkelheit herbei. Noch nie war die Zeit so langsam vergangen, wie in diesen Stunden bis zum Sonnenuntergang...
Ab und zu stand er auf, wanderte ein bisschen hin und her, aber er ließ sich nicht mehr vor den Menschen, die am Feld arbeiteten, blicken.
Als endlich die Sonne untergegangen und die Felder menschenleer waren, wagte sich Joshua an sie heran. Angestrengt blickte er in Richtung Dorf, um Magdalena zu sehen.
Sein Herz klopfte wild, als er eine dunkle Gestalt sah, die sich mit schnellen Schritten näherte. Schon am Gang erkannte er sie. Sie ging anders als die anderen Frauen, - nicht so demütig und vor allem nie mit gesenktem Kopf. Magdalena ging sehr aufrecht und vor allem hatte sie einen energischen Schritt, fast wie ein Mann.
Es war fast Vollmond. So konnte Joshua ihr Gesicht ganz klar erkennen, als sie vor ihm stand. Er fühlte, dass sie genauso am ganzen Leib zitterte wie er. Es war nicht vor Kälte...
Magdalena löste das Band um ihr Kleid, öffnete die Schnüre am Hals und ließ das Gewand über ihre nackten Schultern nach unten fallen. Joshuas Blick fiel langsam tiefer. Magdalena trug nichts unter dem Kleid. Sie stand nackt vor ihm.
„Vor den Augen der Menschen bin ich nun eine Sünderin, weil ich mich einem Mann vor der Ehe hingebe. Aber ich weiß, vor deinen Augen bin ich nur eine liebende Frau“, sagte sie leise und schmiegte sich an Joshua.
Beide sanken zu Boden, während Magdalena hastig sein Gewand vom Körper streifte. Die Wiese, neben dem Acker, war weich, - aber die beiden hätten nicht einmal spitze Steine unter sich gespürt...
Eng umschlungen blieben sie schweratmend und verschwitzt auf dem bereits feuchten Gras liegen. Joshua fühlte Magdalenas Tränen auf seiner nackten Brust. Sanft streichelte er über ihr Haar.
„Du darfst nicht weinen“, sagte er, obwohl auch er den Tränen nahe war.
Oh, wie gerne wäre er geblieben! Aber da war etwas in seinem Herzen, was ihn weitertrieb, - etwas, das wie eine Stimme in ihm war, die ihn fast drängte. Aber wozu? Jetzt, wo er endlich das vollkommene Glück gefunden hatte?
„Ich weine nicht meinetwegen“, hörte er Magdalenas leise Stimme. „Ich weine deinetwegen.“
Joshua hob seinen Kopf und blickte direkt in die Augen seiner Liebsten.
„Warum meinetwegen?“
„Ich weiß es nicht, Joshua. Ich kann es mir nicht erklären, - aber es ist etwas in mir, was mich traurig macht, wenn ich dich ansehe.“
Magdalena richtete sich auf, fasste nach ihrem Kleid und zog es über. Joshua zog sich ebenfalls an. Dann saßen sich beide für eine Weile Hand in Hand gegenüber.
„Wer bist du, Joshua?“ fragte Magdalena flüsternd.
Joshua senkte seinen Blick. Soll er wieder einem Menschen vertrauen? Wieder seine Geschichte erzählen? Er lächelte. Ja, Magdalena konnte er aus ganzem Herzen vertrauen. Ihr sogar am meisten, denn sie würde ihn wie sonst niemand verstehen. Und so begann er seine Geschichte von vorne zu erzählen, - bis zu dem Moment der Taufe im Jordan, wo er das Lichtwesen vom Himmel herabstürzen sah, wie es Luzifer zu sich holte.
Magdalena hörte ihm aufmerksam zu, ohne ihn zu unterbrechen, oder Fragen zu stellen. Erst als er ausgeredet hatte, nahm sie das Wort auf.
„Ich wusste es“, sagte sie leise. „Ich wusste es zwar nicht so genau, wie du es mir eben erzählt hast, - aber ich wusste es aus meinen Träumen. Als du in der ersten Nacht bei uns schliefst, sah ich dich im Traum an einem See sitzen. Deine Gestalt wurde immer heller, bis ich auch das Licht vom Himmel sehen konnte, wie es dich einhüllte und vom Boden hob. Ein helles Wesen, wie aus purem Licht, flog dir entgegen. Es umarmte dich, bis ihr beide Eins wart. Dann hörte mein Traum auf.“
Wieder schwiegen sie für eine Weile.
„Was glaubst du nun, wer ich bin? Bin ich der Messias, der in den Heiligen Schriften prophezeit wurde?“ fragte Joshua.
„Was sagt dir dein Gefühl?“ stellte Magdalena die Gegenfrage.
Joshua seufzte tief.
„Meinem Gefühl nach bin ich ein Mensch wie jeder andere auch, - aber vielleicht einer, der so ist, wie die Propheten waren, die ja auch mit Wesen, welche andere Menschen nicht gesehen haben, sprechen und sie auch wahrnehmen konnten.“
„Und die Heiligen Schriften, die einen wie dich voraussagen? Was ist damit?“
„Magdalena, ich weiß es nicht. Es scheint, als wären zwei Herzen in meiner Brust, und ich kann mich für keines so recht entscheiden. Schenke ich dem Lichtwesen Glauben, so will uns der Eine Gott, nach seinen Worten, wie ich sie aufnehme, ja nur daran hindern, selbst göttlich zu werden, - selbst unsere eigene Göttlichkeit zu erkennen, denn der Eine Gott ist demnach nichts anderes als wir selbst, - auch ein Teil der unendlichen Quelle, aus der alles hervorgegangen ist. Diese Quelle ist demnach der einzige Gott, falls man sie überhaupt so nennen kann. Sie unterscheidet sich ja nicht von uns selbst. Wir sind sie, - wir sind Teile ihres Selbst, - und als diese werden wir einst zu ihr heimkehren, uns mit ihr vereinigen, indem sie uns wieder aufnimmt.“
Magdalena lächelte.

„Das wäre eine ganz neue Religion“, sagte sie leise.
„Magdalena!“ stieß Joshua hervor und drückte ihre Hände fester. „Es ist keine Religion, - das alles, - das sind wir selbst. Ich habe es doch damals als Jüngling schon so empfunden, als ich in der Badeanstalt in Jerusalem vor einigen Menschen gesprochen habe.“
„Was macht dich dann so unsicher, Joshua?“
„Hast du noch nie von Besessenen gehört? Vielleicht bin auch ich besessen und bilde mir das alles nur ein?“
„Nein, Joshua“, sagte Magdalena sanft. „Du bist kein Besessener. In unserem Dorf gab es einmal einen, - und der war ganz anders als du. Glaube an dich, Joshua. Glaube an die Stimme in deinem Herzen. Ich weiß, dass nur ein Herz in deiner Brust schlägt.“
Magdalena lächelte und sprach weiter: „Ich habe nur eines schlagen hören, als mein Kopf auf deiner Brust ruhte.“
Joshua erhob sich.
„Ich muss weiter, und du musst zurück, sonst schöpft deine Familie Verdacht“, sagte er und half Magdalena von Boden hoch.
Sie umarmte Joshua und drückte sich noch einmal fest an ihn. Als sie sich von ihm löste, stieß sie ihn fast zurück und blickte ihm fest in die Augen.
„Denke immer daran, Joshua“, sprach sie mit belegter Stimme. „Unser Heim ist auch dein Heim. Aber du bist zu nichts verpflichtet, - auch nicht mir gegenüber. Ich weiß schon, worauf ich mich bei dir eingelassen habe. Du bist kein Mann, den man als Ehemann besitzen kann. Du bist einer, der für alle da ist.“
Nach diesen Worten drehte sie sich um und verschwand schnellen Schrittes in der Dunkelheit.
Joshua sah Magdalena lange nach, obwohl er ihre Gestalt nicht mehr ausmachen konnte. Fast war er versucht, ihr zu folgen, um für immer bei ihr zu bleiben.
Aber dann fühlte er wieder die andere Stimme in sich, die ihn weiter trieb...

Joshua wanderte diesmal in der Nacht. Sein Weg führte ihn zum großen See, an dessen Ufer er weiter ging, bis der Morgen graute.
Es war wie ein Zufall, dass sich im nächsten Dorf, direkt am See die Wege Joshuas, Thomas’ und Jakobus’ kreuzten. Die Begrüßung war natürlich dementsprechend innig.
Joshua wollte ans andere Ufer des Sees. Auf dem Weg dorthin erfuhr er von Jakobus und Thomas, dass Jokanaan gefangen genommen wurde und seinen Jünger, die mit ihm tauften, gesagt hätte, sie sollen sich nun Joshua anschließen.
„Aber die Jünger hoffen noch immer, dass ihr Meister wieder kommt, und sie glauben viel mehr, dass er der große Prophet ist, auf den alle warten“, sagte Jakobus.
„Was sagt Jokanaan wirklich über mich?“ fragte Joshua.
„Dass du der Messias bist und unser Volk befreien wirst“, sagte Thomas.
„Befreien? Wovor befreien?“ fragte Joshua und lachte auf.

In der nächsten, eher kleinen Dorfsiedlung hielten die Drei an einem Brunnen Rast. Joshua war etwas unruhig. Er fühlte, dass in diesem Dorf ein sehr unglücklicher Mensch lebt. Aber noch konnte er das Haus nicht ausmachen, in dem er sich befand. Die Unruhe steigerte sich, nachdem er, Jakobus und Thomas sich am Brunnen gewaschen und erfrischt hatten. Schweigend ging Joshua weiter. Jakobus und Thomas sahen sich ratlos an.
„Vielleicht ruft ihn ein kranker Mensch“, sagte Jakobus. „Er kann das hören.“
Die beiden folgten Joshua bis zu einer sehr armseligen Hütte, vor der ein alter Mann saß.
Joshua begrüßte den Alten freundlich und erkundigte sich nach dessen Familie. Der Mann sagte, dass seine Tochter einen Sohn hat, der von Geburt an etwas seltsam ist. Er geht nicht unter die Menschen und schreit, wenn man ihn berührt. Schließlich meinte er, dass der Junge von einem Dämon besessen ist.
„Darf ich deinen Enkelsohn sehen?“ fragte Joshua.
Der Alte willigte ein und führte Joshua in die Hütte. Jakobus und Thomas warteten inzwischen heraußen.
Die Mutter des Jungen bereitete eben Essen zu. Der Vater und die zwei anderen Söhne waren noch auf dem Feld, um die karge Ernte des kleinen Gemüsebeets einzuholen. Die Hütte war eigentlich nur ein Raum, - eine kleine Kochgelegenheit, ein einfacher Tisch mit alten Stühlen und an den Wänden, weiter hinten, befanden sich dürftige Nachtlager der Familie. Joshua konnte hinter der Kochgelegenheit einen abgeschirmten Raum erkennen, der durch eine Bretterwand von dem großen Raum getrennt war. In diesem kleinen Abteil war es dunkel, - aber als der Alte Joshua hinein führte, konnte er am Boden, in eine Ecke gedrängt, eine Gestalt hocken sehen.
„Lass mich alleine mit ihm“, bat Joshua, und der Alte ging zurück zu seiner Tochter.
Joshua näherte sich dem Jungen ganz langsam und hockte sich dann mit gebührendem Abstand vor ihm auf den Boden. Er sagte lange nichts, - sah den Jungen nur prüfend an.
Joshuas Augen gewöhnten sich schnell an das Dunkel. Der Junge sah sehr verwahrlost aus. Er trug nur ein einfaches Leinenhemd auf seinem sehr schmächtigen Körper. Sein Haar war schulterlang, lockig, aber ziemlich verfilzt. Aus seinen schwarzen Augen, die er weit aufgerissen auf Joshua richtete, leuchtete pure Angst. Der Junge zog die Beine an und drückte sie mit beiden Armen fest an die Brust.
„Sagst du mir deinen Namen?“ fragte Joshua nach einer Weile.
Der Junge schwieg.
„Ich bin Joshua“, sagte Joshua und lächelte. „Ich wurde hier in Galiläa in einem kleinen Dorf geboren. Man sagt, dass ich ein sehr seltsamer Junge war, der nie viel geredet hat. Man sagt auch, dass ich ein Nichtsnutz war, der stets die Arbeit scheute. Na ja, - meine Familie hielt nie viel von mir, und das tut sie heute auch nicht. Nur einer meiner Brüder hielt zu mir. Er ist jetzt auch bei mir und wartet draußen vor der Tür auf mich. Es ist noch jemand dabei, - ein guter Freund, den ich in einem fernen Land kennen gelernt habe. Wir wandern zu dritt durch das Land und wollen zum anderen Ufer des großen Sees. Ich habe gehört, dass das Land dort wunderschön sein soll.“
Joshua wartete ab. Der Junge schwieg noch immer, aber die Angst war aus seinen Augen gewichen und das Zittern seines zarten Körpers hatte aufgehört.
Joshua erhob sich ganz langsam.
„Du solltest keine Angst vor den Menschen haben“, sagte er leise. „Weißt du, die Menschen haben selbst Angst, wobei dies vielen gar nicht bewusst ist. Sie sind nicht besser als du, - und natürlich auch nicht schlechter.“
Dann verließ er den Raum.
„War wohl kein Erfolg, was?“ fragte die Mutter des Jungen hart.
Joshua zuckte stumm mit den Achseln und ging aus dem Haus. Der Alte hockte wieder auf einer Holzkiste rechts von der Eingangstür und unterhielt sich mit Jakobus und Thomas.
Als er Joshua sah, erhob er sich.
„Hast du meinen Enkel geheilt?“ fragte er mit heiserer Stimme.
Joshua schüttelte schweigend seinen Kopf.
„Dann bist du auch nicht der Messias“, sagte der Alte und setzte sich wieder auf seinen Platz.
„Wer sagt, dass ich der Messias bin?“ stieß Joshua nun fast wütend hervor, und der alte Mann wies mit einer Hand auf Jakobus und Thomas.
„Sie sagten, dass du der Messias bist und Menschen heilst.“
Joshua wandte sich seinen beiden Begleitern zu.
„Warum verbreitet ihr etwas, von dem ihr selbst nicht wisst, ob es die Wahrheit ist?“ fragte er nun etwas ruhiger.
„Es ist die Wahrheit“, ereiferte sich Jakobus. „Wem sonst, außer dem größten aller Propheten, ist es möglich über dem Boden zu schweben und Kranke zu heilen?“
„Jokanaan selbst, von dem sie sagen, er sei der wiedergeborene Elias, ist sich absolut sicher, dass du der Messias bist“, meinte auch Thomas.
Joshua atmete tief durch, dann ging er weiter, ohne sich von dem Alten und seiner Tochter zu verabschieden.
Jakobus und Thomas eilten ihm nach. Für Thomas, im selben noch jugendlichen Alter wie Joshua, war es leichter, aber Jakobus, der schon bald auf die 40 zuging, machten die Wanderungen etwas Mühe. Noch dazu jetzt, wo Joshua mit sehr schnellen Schritten weiter eilte.
„Nicht so schnell, Joshua – ich bin nicht mehr der Jüngste!“ rief ihm Jakobus keuchend nach.
Joshua blieb stehen und senkte seinen Kopf. Als die beiden bei ihm waren, sagte er sehr leise, aber doch bestimmt: “Ich will nicht, dass ihr solche Reden über mich verbreitet.“
„Jokanaan hat sie auch verbreitet. Er hat jedem Menschen, den er getauft hat, gesagt, dass du der Messias bist“, meinte Jakobus ebenso leise.
„Jokanaan ist verrückt“, sagte Joshua und sah Jakobus mit blitzenden Augen an.
In dem Moment bemerkten sie, dass ihnen jemand folgte. Es war der Junge aus der armseligen Hütte, der ihnen entgegenlief. Als er bei ihnen war, ließ er sich vor Joshua zu Boden fallen und umschlang seine Beine.
Joshua wusste nicht recht, was er tun soll. Hilflos blickte er auf seine beiden Begleiter, - aber als Jakobus dem Jungen auf die Beine helfen wollte, wehrte Joshua ab.
„Lass ihn“, sagte er schnell. „Er mag es nicht, wenn man ihn berührt.“
„Du darfst mich berühren“, sagte der Junge mit sanfter, leiser Stimme und richtete sich auf.
Ganz nah stand er vor Joshua und lehnte seinen dunklen Lockenkopf an seine Brust. Joshua umarmte den Jungen, der kaum älter als 14 war.
„Warum bist du uns gefolgt?“ fragte Joshua leise.
„Ich bin dir gefolgt“, sagte der Junge fast flüsternd, ohne sich aus Joshuas Umarmung zu lösen. „Ich werde bei dir bleiben, egal wohin du gehst.“
„Und deine Familie?“ fragte Joshua. „Sind sie damit einverstanden?“
„Als ich hörte, wie du gegangen bist, hab ich das Haus verlassen und bin dir gefolgt. Es hat mich niemand aufgehalten, - und ich denke, meine Familie ist froh, wenn ich gehe.“
„Dein Großvater sagte uns, du seiest stumm“, sagte Thomas.
Der Junge löste sich nun sanft von Joshua, nahm aber dessen Hand und hielt sie fest, während er sich zu Thomas umwandte.
„Das glaubten alle, weil ich nie gesprochen habe. Aber ich bin nicht stumm, - ich hatte ihnen nur nie etwas zu sagen.“
Joshua konnte nicht anders – er lachte laut auf, als er die Worte des Jungen vernahm.
„Da hattest du Recht. Wenn man nichts zu sagen hat, soll man schweigen“, sagte er und blickte den Jungen liebevoll an.
„Verrätst du mir nun deinen Namen?“ fragte Joshua.
„Man nennt mich Johannes.“
„Johannes, wenn es wirklich dein Wunsch ist, mit uns zu kommen – mir soll es recht sein“, meinte Joshua und ging mit dem Jungen, Hand in Hand, weiter.
„Wir sollten anständige Kleidung für dich finden“, sagte Joshua auf dem Weg. „Mit diesem dünnen Hemdchen wirst du nachts im Freien frieren.“
„Er kann mein zweites Überkleid haben, welches ich zum Wechseln in meinem Beutel trage“, sagte Thomas schnell. „Es wird ihm zwar etwas zu groß sein, - aber es wärmt.“
Joshua machte kurzen Prozess mit der Überlänge des Kleides. Er riss den Stoff über dem Saum einfach ab, strickte dem Jungen die Ärmel hoch, und – es passte!

Bald hatten sie das andere Ufer des Sees erreicht, hinter dem sich einige schroffe Berge erhoben, wo Joshua schon von weitem sah, dass sich Höhlen darin befanden, die man sehr gut als Wohnstätte nutzen könnte. Vor allem nachts war es sehr angenehm, in einer Höhle Unterschlupf zu finden.
Auch Jakobus, Thomas und der junge Johannes schienen begeistert von diesem Vorschlag zu sein. Die Gegend um den See war auch sehr fruchtbar, - mit vielen Obstbäumen, essbaren Kräutern und natürlich das frische Wasser des klaren Sees, dass sich die Freunde wegen der Nahrung auch keine Sorgen machen mussten.
So verbrachten sie einige Tage und Nächte am Ufer des Sees, wobei sie nachts in einer Höhle schliefen. Johannes, der kaum von Joshuas Seite wich, lag auch in der Höhle dicht an ihn gedrängt bei ihm, was Jakobus einmal beanstandete.
„Es ist nicht recht, dass der Junge dein Lager mit dir teilt“, sagte er, als beide am frühen Morgen am Seeufer saßen, während Johannes und Thomas noch in der Höhle schliefen.
„Was soll daran nicht recht sein?“ fragte Joshua unbekümmert.
„Ich bin nicht taub, Joshua. Die Laute, die der Junge von sich gibt, wenn er sich an dich drückt, kenne ich nur von Männern, die bei Frauen schlafen. Du kennst die Heiligen Schriften, die besagen, dass kein Mann bei einem Mann und keine Frau bei einer Frau schlafen darf. Es ist Sünde“, sagte Jakobus erbost.
„Er drückt seinen Körper an mich, weil es ihm gut tut. Er ist glücklich, wenn er in meiner Nähe ist. Soll ich ihn von mir stoßen und ihn damit traurig machen? Ist das nicht viel mehr eine Sünde?“ fragte Joshua und schüttelte missmutig seinen Kopf.
Dann erhob er sich und wollte zurück in die Höhle, als er eben eine Frau, mit mehreren jüngeren Männern des Weges kommen sah. Joshua erkannte die Frau sofort. Es war Magdalena. Lachend lief er ihr entgegen und umarmte sie innig.
Er hielt sie an den Schultern mit beiden Händen fest und sah sie selig lächelnd an.
„Magdalena, was machst du hier?“ fragte er.
„Jokanaan ist tot“, sagte einer der Begleiter Magdalenas und trat an Joshua heran. „Man sagt, es war der Wunsch der Stieftochter des Tetrarchen, dass Jokanaan geköpft werden soll. Aber von dieser Frau hier“, er zeigte auf Magdalena, „habe ich erfahren, dass dies eine Lüge war und der Tetrarch selbst seinen Tod wollte.“
„Salome, die Stieftochter des Tetrarchen, ist eine weit entfernte Cousine von mir“, sprach Magdalena weiter. “Sie verließ nach diesem tragischen Vorfall noch in derselben Nacht den Palast Herodes und wanderte alleine bis zu unserem Haus. Sie war total erschöpft und ausgehungert von der langen Wanderung, wo sie es vermied, von Menschen gesehen zu werden. Nachdem sie sich ausgeschlafen und gegessen hatte, erzählte sie, wie es wirklich war.
Sie hasst Herodes. Auch mit ihrer Mutter versteht sie sich nicht sehr gut, - und sie ist jetzt froh, dass sie für immer gegangen ist und nun bei uns Unterschlupf gefunden hat. Herodes wollte sich schon mehrmals an Salome vergreifen. Und einmal erwischte ihn Salomes Mutter dabei, - aber beide, Herodes, wie auch Salomes Mutter, verbreiteten dann das Gerücht, dass Salome den Tetrarchen verführen wollte.
Ich wünschte, sie wäre mit mir gekommen, - aber sie meinte, dass sie nur Unglück bringt und du dann vielleicht auch in Gefahr wärst.“
Joshua schüttelte verwundert den Kopf bei diesen Worten.
„Zuerst wollten mich diese Männer, Jokanaans ehemalige Jünger, die am nächsten Tag in unser Dorf kamen und sagten, sie seien auf der Suche nach dir, nicht mitgehen lassen. Sie meinten, Frauen hätten dabei nichts verloren. Aber ich folgte ihnen, bis ihnen nichts anderes mehr übrig blieb, als mich in ihrem Schutz aufzunehmen.“
Joshua blickte auf die Jünger Jokanaans.
„Warum meint ihr, dass Frauen hier nichts verloren haben?“ fragte er sie forsch.
„Dem Gesetz nach ist der Platz der Frauen im Heim und nicht auf der Straße. Auf der Straßen treiben sich nur Huren herum“, sagte einer der Männer.
Joshua lächelte.
„Das sind nur Benennungen, die von Menschen stammen“, sagte er ebenso sanft. „Und sobald du etwas benennst, benennst du auch Gott. Also, willst du Gott eine Hure nennen?“
Jokanaans Jünger fuhren entrüstet auf.
„Was willst du damit sagen?“
„Ich will damit sagen, dass alles Gott selbst ist. Er offenbart sich in allem, was wir wahrnehmen können, - in uns selbst, in allen Tieren, in allen Pflanzen, in allen Wassern, in aller Erde, in den Wolken, in dem Himmel über uns – einfach überall wohin unsere Augen blicken können. Das alles ist Gott selbst, - Teile seiner göttlichen Kraft.“
Bald hatte sich auf der Anhöhe, nahe dem großen See, eine beachtliche Menschenmenge versammelt. Es waren Menschen aus den nahen Dörfern, die neugierig waren, was dieser junge Mann, mit den seltsamen Augen, zu sagen hat, und der von Jokanaans Männern gesucht wurde. Und nun drängten sich die Menschen, Männer und Frauen, um Joshua, der sich auf den Boden gesetzt hatte, wo es ihm einige bald gleichtaten.
„Welcher ist der Messias?“ fragten diejenigen, die neu hinzukamen, - aber sobald sie ihn sahen, brauchten sie keine Antwort mehr. Joshua wirkte auf sie anders als andere Menschen. Aber niemand konnte wirklich sagen, woran das lag. Lag es an seiner ganz besonderen Schönheit, - an seinen so anmutigen Bewegungen, wenn er sprach und die Worte manchmal mit seinen Händen bekräftigte, - an seinen Augen, die stets aufmerksam auf seinen jeweiligen Gesprächspartner gerichtet waren, - an seiner so sanften und doch kräftigen Stimme? Es mochte all das gewesen sein, - aber doch sehr viel mehr, was wohl niemand mit Worten ausdrücken konnte.
„Das, was du da sagst, ist Gotteslästerung!“ sagte einer von Jokanaans Jüngern scharf.
„Was ist daran Gotteslästerung? Gott ist nicht außerhalb von uns – nicht getrennt von uns. Und noch weniger sind wir getrennt von ihm.“
„In den Heiligen Schriften steht anderes über Gott“, sagte ein anderer Jünger Jokanaans.
Joshua lächelte wieder.
„Es sind die Schriften von Menschen, die Gott nicht wirklich in sich fühlen konnten. Und was ist schon ein geschriebenes Wort gegen die Gefühle, die in jedem Menschen schlummern und nur darauf warten, geweckt zu werden?“
„Wie kann dann Gott, wenn wir doch Teile von ihm selbst sind, zulassen, dass so viele von uns Menschen leiden?“ fragte eine ältere Frau.
„Je mehr wir leiden, je ärmer wir sind, je sanfter wir gegen unsere Feinde sind, und um so mehr wir der Gerechtigkeit wegen verfolgt werden, um so näher sind wir Gott. So lange es uns gut geht, so lange wir reich sind und viele Freunde um uns haben, können wir nichts erkennen. Nur durch das Leid steigen wir höher und können es überwinden, um Gott wirklich nahe zu sein.“
Aber die Menschen verstanden Joshuas Worte nicht, - und er selbst konnte das, was er so innig in sich selbst fühlte, nicht anders wiedergeben.
Viele Jahre später wurde diese Rede ganz anders niedergeschrieben, - mit diesen Worten:
„Selig sind, die da Leid tragen: denn sie sollen getröstet werden.
Selig sind die Sanftmütigen: denn sie werden das Erdreich besitzen.
Selig sind, die da hungert und dürstet nach Gerechtigkeit: denn sie sollen satt werden.
Selig sind die Barmherzigen: denn sie werden Barmherzigkeit erlangen.
Selig sind, die reinen Herzens sind: denn sie werden Gott schauen.
Selig sind die Friedfertigen: denn sie werden Gottes Kinder heißen.
Selig sind, die um Gerechtigkeit willen verfolgt werden: denn das Himmelreich ist ihrer.“
Da Joshua wahrnehmen konnte, dass alles Eins ist, was er ja auch sehen konnte, wenn sich das zweite Bild über die gewohnte Ansicht der Welt schob, wusste er aus Erfahrung, wie man diesem Gefühl näher kommen kann. Und er hatte bereits sehr viele Menschen aus allen Schichten kennen gelernt und erkannt, welche von ihnen dem wahren Herzen näher waren. Es waren nicht die Reichen, die Gesunden, die Zufriedenen, denn diese empfanden ihren Zustand als normal und wollten auch für immer in diesem Zustand bleiben. Für sie sollte es keine Veränderung, keine Verbesserung mehr geben. Aber die Armen, Kranken und Ausgestoßenen wollten Veränderung. Es war ihm auch klar, dass wohl die meisten von ihnen mit Neid auf die Reichen, Gesunden und Zufriedenen blickten und ebenso diesen Zustand erreichen wollten. Aber Joshua hoffte, eben weil sie Veränderung suchten, dass er ihnen den wahren Weg weisen könnte, denn nur über das Leid lässt sich, so meinte er, das Wissen, göttlich zu sein, erkennen.
„Warum müssen wir leiden, um Gott zu erkennen? Warum kann uns das nicht anders offenbart werden?“ fragte ein Mann aus der Menge.
„Nicht im Leid selbst erkennen wir, - aber indem wir dieses Leid durch eigene Kraft überwinden, erkennen wir, dass wir eins sind mit Gott – eins mit allem. Erst wenn wir alles, ohne zu klagen, hinnehmen, sind wir eins mit Gott“, sagte Joshua.
„Dann meinst du, dass ein reicher Mann Gott niemals schauen wird?“ fragte eine ältere Frau.
Joshua schloss kurz seine Augen und lächelte wieder.
„Wir alle sind Gott selbst“, sagte er dann sanft. „Wir und all das was wir um uns herum sehen können ist Gott selbst. Nichts und niemand ist davon ausgeschlossen, weil sich Gott in uns selbst und in allem, was ist, offenbart. Aber das müssen wir erst erkennen. Ein reicher Mann kümmert sich nicht darum, weil es ihm gut geht. Er hat keine Sorge um sein tägliches Brot oder um seine Kleidung, ähnlich wie die Tiere oder die Pflanzen auf dem Felde. Und doch erkennt er nicht wie sie. Die Vögel sammeln nicht wie er in den Scheunen, - und auch ist ein reicher Mann niemals so schön und bunt gekleidet wie die Lilien auf dem Felde.“
„Wenn wir also arm sind, sollen wir uns nicht um das tägliche Brot kümmern, selbst wenn unsere Kinder vor Hunger schreien?“ fragte eine andere ältere Frau und schüttelte dabei energisch ihren Kopf.
„Der Mensch lebt nicht nur vom Brot alleine“, sagte Joshua leise und senkte sein Haupt, weil er mehr und mehr fühlte, dass ihn niemand verstehen konnte.
Er atmete tief durch und blickte wieder auf.
„Wenn ihr hungert, geht doch zu anderen Menschen und bittet sie um Brot, damit eure Kinder nicht verhungern“, sagte er etwas lauter und fühlte leisen Ärger in sich aufsteigen. „Bittet, und es wird euch gegeben! Aber wenn ihr euch in eurem falschen Stolz zurückzieht, kann niemand wissen, wessen ihr bedürft. Alle Menschen sollen zusammen halten, - die Reichen den Armen etwas abgeben, - die Gesunden die Kranken pflegen, - und es soll kein Volk vom anderen getrennt sein, - kein Unterschied zwischen Mann und Frau gemacht werden. Wenn dies der Fall ist, wird keiner von euch mehr hungern oder frieren.
Ja, Kranke wird es immer geben, - aber wenn sie fühlen, dass sie mit Liebe von allen Menschen umsorgt werden, wird ihr Herz leichter und der Schmerz erträglicher. Liebe ist es, die ihr unter euch verbreiten sollt, denn nur durch Liebe könnt ihr die Einheit mit Gott erkennen.“
Das waren starke Worte zu dieser Zeit, wo sich unzählige Völker untereinander nicht ausstehen konnten. Für einen Juden war es verpönt, einen Samariter nur anzusehen. Für die Judäer waren die Galiläer Narren, - zurück gebliebene Menschen. Jedes Volk sah sich als das bessere an. Aber Joshua sah keinen Unterschied. Für ihn war jeder Mensch gleich. Obwohl er selbst in einem kleinen Dorf aufgewachsen war, in dem die Heilige Schrift stets das wichtigste Gebot war, wuchs in ihm ein ganz anderer Glaube, - der aber doch auch durch das Leben in diesem kleinen Dorf entstanden war, denn die Menschen in diesem Dorf waren immer füreinander da. Joshua sah in diesem Leben eine Zukunft für alle Menschen. Wenn es in einem so kleinen Dorf funktioniert, warum nicht in der ganzen Welt?
Die meisten der umstehenden, oder in der Nähe Joshuas am Boden sitzenden Menschen waren von diesem Gedanken gar nicht so abgeneigt. Vor allem Jakobus und Thomas sahen darin einen Weg, eine neue Welt zu schaffen, in der Joshua ihr Herrscher sein wird.
Joshua selbst ging es um keine Botschaft. Er erzählte nur seinen Traum und hoffte, dass er sich wenigstens in seiner unmittelbaren Umgebung erfüllen würde. Joshua forderte die Menschen auch sehr oft auf, in sich selbst hinein zu horchen, ihre eigene (innere) Welt zu erforschen, denn jeder kleinste Teil Gottes ist individuell und kann sich nur dann richtig entfalten, wenn er das lebt, was in ihm ist.
Ich habe in diesem Buch geschrieben, dass das eigentliche Ereignis während der Taufe Joshuas passierte, da in diesem Moment das gesamte Universum mit immenser Kraft erfüllt wurde, und schon diese Kraft alleine ausreichte, selbst wenn Joshua keine Wunder gewirkt hätte. Aber diese Kraft spürten die Menschen nicht bewusst. Für sie zählte und zählt heute noch viel mehr das Wirken Joshuas und seine Worte, die angeblich von einigen seiner Jünger aufgeschrieben wurden. Und es kann auch nichts anderes zählen, da dies anscheinend die einzigen Beweise über diesen ganz besonderen Menschen sind.
Jedoch glaube ich viel mehr, dass niemand zu Joshuas Zeiten seine Worte wirklich verstanden hat, - dass sie viel mehr so interpretiert wurden, so zurechtgelegt wurden, um auch vom einfachen Volk verstanden zu werden. Aber das waren nicht mehr Joshuas Worte, wie er seine Welt, seinen Traum, in sich fühlte.
Oder, um andere Dimensionen in Betracht zu ziehen, wie etwa Luzifers Reich, in dem der Eine Gott existiert, dessen Worte die alten Propheten in den Heiligen Schriften niedergeschrieben haben, dass dieser Eine Gott, oder Luzifer es genauso wollten, um Joshua als Sohn dieses Einen Gottes darzustellen, obwohl Joshua selbst mit dem Wort „Gott“ die ewige Quelle meinte, die weder lobt, noch straft.
Aber es gibt keine anderen Beweise, als diese Schriften, die auch die Evangelien der Jünger Joshuas genannt werden.
Einige der Menschen um Joshua wanderten weiter. Andere rückten näher zu ihm und unterhielten sich mit ihm, - erzählten ihm von seinem Leben und fragten ihn um Ratschläge, wo er immer wieder sagte: „Hört auf euer Herz, - auf eure innere Stimme.“
Aber nur wenige blieben an diesem Tag bei ihm und suchten sich nachts in einer der Höhlen Lagerplätze, - darunter auch Magdalena, mit der sich Joshua aber noch über Salome unterhalten wollte.
Joshua wusste nicht warum er mehr über dieses Mädchen erfahren wollte, aber er fühlte sich, schon als Magdalena von ihr sprach, zu ihm hingezogen, obwohl er es noch nie gesehen hatte.
So saßen Magdalena und er etwas abseits einer Höhle, während die anderen bereits schliefen.
„Erzähl mir, warum Jokanaan sterben musste, und warum man die Schuld deiner Cousine gab“, bat er Magdalena.
„Salome erzählte, dass Herodes an seinem Geburtstag von ihr verlangte, sie möge für ihn tanzen. Du musst wissen, Salome liebt den Tanz. Schon als kleines Kind konnte sie sich so anmutig bewegen, wie sonst niemand. Es war ihr nicht so ganz recht, für Herodes zu tanzen, aber als sie die Musik hörte und sich dazu bewegte, dachte sie gar nicht mehr daran, für wen sie tanzt. Aber plötzlich setzte die Musik aus. Salome schien wie aus einem Traum zu erwachen, als sie einem Mann gegenüberstand, der in Felle gekleidet und an den Händen gefesselt war. Sie wusste sofort, dass es Jokanaan, der Täufer, war, denn es wurde viel im Palast über ihn gesprochen. Aber Salome hatte ihn nie zuvor gesehen. Sie sagte, er sei kein schöner Mann gewesen, aber sein Blick war so anders, dass sie gar nicht anders konnte, als vor ihm niederzuknien und seine nackten Füße zu küssen. In diesem Moment rief Herodes nach seinen Soldaten, die Jokanaan abführten und ihn auf Herodes Befehl sofort köpfen ließen. Herodes sei zornig geworden, weil seine Stieftochter vor dem Mann kniete, der ihn öffentlich verspottete und einen Sünder nannte. Das war der wahre Grund, - aber dem Volk ließ Herodes sagen, er habe Salome einen Wunsch freigegeben, weil ihn ihr Tanz so erfreut hatte, - und dieser Wunsch sei der Kopf Jokanaans gewesen.

Salome nahm dann neben Herodes und ihrer Mutter Platz. Wenige Augenblicke später kamen die Soldaten zurück, - mit Jokanaans Kopf auf einer Silberplatte. Salome schrie auf und lief aus dem Saal in ihr Gemach, wo sie sich weinend auf das Lager warf. Sie brauchte einige Momente, bis ihr vollkommen klar wurde, was passiert war. Dann wusste sie, dass sie nicht länger im Palast leben konnte, packte ein paar Kleinigkeiten zusammen und verließ ungesehen den Palast und die Stadt. Sie wusste selbst nicht, wie sie den Weg in unser Dorf gefunden hat. Es war, als hätte sie eine innere Stimme geführt“, schloss Magdalena ihre Erzählung ab.
„Wird sie bei euch bleiben?“ fragte Joshua.
„Ich glaube nicht. Eine Schwester ihrer Mutter lebt in Jerusalem, die sie schon immer aufnehmen wollte, weil sie wusste, dass es Salomes Mutter nie um ihr Kind, sondern stets um ihren eigenen Vorteil geht. Sie hätte Salome an Herodes als Sklavin verkauft, nur um im Palast leben zu können.“
„Hat sie das gesagt?“ stieß Joshua fast erschrocken hervor.
„Das musste sie nicht sagen, Joshua. Du kennst diese Frau nicht.“
„Kennst du sie denn?“
Magdalena blickte auf. Es war zwar sehr dunkel, aber sie konnte Joshuas leuchtende, sanfte Augen trotzdem sehen.
„Du urteilst wohl nie über Menschen“, sagte sie leise und schämte sich ein bisschen.
„Nein, Magdalena. Würde ich über Menschen urteilen, würde ich über Gott urteilen.“
„Würde dein Gott denn seine Tochter verkaufen, nur um ein besseres Leben zu haben?“ fragte Magdalena.
„Es ist nicht mein Gott“, sagte Joshua schnell. „Er ist nicht außerhalb von uns. Und ich glaube, es hat alles einen Grund, was wir erleben und was uns im Leben auferlegt wird.“
„Welchen Grund, Joshua?“
„Wie können wir, wo wir doch nur winzige Teile seines Selbst sind, dies jemals wissen, Magdalena?“
Mit diesen Worten erhob sich Joshua und ging mit gesenktem Kopf in die Höhle, wo schon Johannes, sitzend an die Wand des Felsen gedrängt, auf seinem Lager wartete.
„Warum schläfst du nicht?“ fragte er den Jungen, während er sich auf die Decke legte, die auf dem Boden ausgebreitet war.
„Ohne dich kann ich nicht einschlafen“, sagte Johannes und schmiegte sich sofort an Joshua, der ihn sanft in seine Arme nahm.

Es kam alles viel zu schnell. Zuerst war Joshua nur mit Jakobus, Thomas und Johannes zusammen, - und jetzt zählten sich plötzlich mehr als 50 Menschen zu seinen Jüngern und Jüngerinnern, obwohl er nicht einmal gefragt wurde, ob er das auch wollte.
Noch blieben sie am See und in der Nähe der Höhlen, um sich gegenseitig besser kennen zu lernen. Joshua fiel bald auf, dass sehr oft Streit zwischen ihnen ausbrach, die meist Jokanaans ehemalige Jünger anzettelten.
Joshua hielt sich nicht immer bei ihnen auf. Manchmal, wenn ihm alles zu viel wurde, suchte er sich einen einsamen, schattigen Platz unter einem Baum, sammelte dort seine Gedanken und konzentrierte sich auf seine innere Stimme, wo er oft fühlte, dass sie vom Lichtwesen kam. Er war sich nun gewiss, dass es immer bei ihm war. Nein, nicht direkt bei ihm – aber er hätte dieses Gefühl nie vollkommen in Worte fassen können. Er konnte auch nicht sagen, dass er selbst das Lichtwesen war, - viel mehr ein Teil von ihm, so wie alle und alles Teile der ewigen Quelle sind. Er war aber so innig mit dem Lichtwesen verbunden, dass er immer öfter das Gefühl hatte, vollkommen Eins mit ihm zu sein. Und gerade dieses Gefühl überkam ihn meistens, wenn er alleine war.
So kam es vor, dass einige der Jünger nach ihm suchten.
Einige von ihnen sahen Joshua als Lichtgestalt unter dem Baum, die sogar über dem Boden schwebte. Aber nicht alle waren so weit, um einen Blick in dieses höhere Bewusstsein zu werfen. Was sie sahen, war nur ein Mensch, Joshua selbst, der an einem Baum gelehnt, im Schneidersitz, mit geschlossenen Augen, am Boden hockte.
Joshua war kein Darsteller, der seiner Gefolgschaft damit zeigen wollte, dass er etwas Besonderes war. Er wollte ja nur alleine sein und legte es nie darauf an, als Lichtgestalt zu erscheinen. Auch konnte er sich nicht erklären, warum einige ihn so sehen können und andere nicht. Er stellte sich nur die Frage, ob es möglich ist, dass Menschen vielleicht nur das sehen, was sie sehen wollen...
So kam es abermals zum Streit unter den Jüngern, wobei die einen behaupteten, Joshua sei der Messias und die anderen ihn als Schwindler bezeichneten.
Joshua kam sehr schnell aus seiner Konzentration, als er das Geschrei seiner Begleiter hörte, und stand auf.
„Es steht euch frei zu bleiben oder zu gehen“, sagte er mit lauter Stimme. „Außerdem habe ich keinen von euch gebeten, bei mir zu bleiben.“
Den meisten Jüngern ging es gar nicht um die Heilung der Kranken, die Joshua noch immer ab und zu durchführte, wenn Kranke zu ihm an den See kamen und ihm eine Heilung möglich war, und noch weniger um Joshuas Botschaft, den wahren Gott in sich selbst zu erkennen. Viel mehr wollten sie Joshua als neuen König sehen, der das Volk der Juden endlich von den Römern und den korrupten Schriftgelehrten und Hohenpriester Jerusalems befreit. Es würde ja auch für sie Ruhm und Macht bedeuten, denn als seine Jünger würden sie ebenfalls hohe Ämter einnehmen.
Auch das wusste Joshua, und gerade das machte ihn zusehends trauriger, dass sogar Jakobus und einer seiner besten Freunde, Thomas, ihn drängten, nach Jerusalem zu gehen und von dort aus sein Volk zu befreien. Es gab nur einen, der ihn zu nichts drängte, der nur in seiner Nähe sein wollte und ohne ihn nicht einmal mehr einschlafen konnte, der junge Johannes, den Joshua mehr und mehr lieb gewann.
Magdalena spürte auch, dass sich in Joshuas Herzen einiges verändert hatte. Sie wagte einige Tage nicht mehr, seit dem Gespräch vor der Höhle, seine unmittelbare Nähe aufzusuchen. Aber eines Nachts überkam sie die Sehnsucht nach diesem außergewöhnlichen Mann. Magdalena schlich sich in die Höhle, in der Joshua, Johannes, Jakobus und Thomas ihre Nachtlager aufgeschlagen hatten. Es war eine sehr geräumige Höhle. Zu Magdalenas linker Seite führte ein Weg tiefer hinein. Dort vernahm sie Jakobus’ und Thomas’ lautes Schnarchen. Rechts, weiter hinten, neben dem Felsen, lagen Joshua und Johannes. Magdalena senkte ihre Fackel, als sie ihm Lichtschein sah, dass die beiden in inniger Umarmung lagen. Nun hörte sie auch das schwere Atmen des Jünglings...
Die Frau drehte sich um und verließ die Höhle. Erst draußen ließ sie ihren Tränen leise freien Lauf, die ihre Kehle beim Anblick des Liebespaares, zugeschnürt hatten. Magdalenas Knie zitterten. Sie musste sich etwas weiter unter der Höhle setzen. Es war nachts nicht mehr so kalt, dennoch zitterte sie am ganzen Körper. Magdalena zog die Beine an ihren Körper und legte den Kopf, noch immer weinend, auf die Knie.
Als sie eine Hand auf ihrer Schulter spürte, wusste sie sofort, dass es Joshua war. Sie hob ihren Kopf. Er stand vor ihr, nur mit einem dunklen Umhang bekleidet, den er vor dem Leib mit beiden Händen zusammenhielt.
„Verzeih...“, wollte sich Magdalena für ihren nächtlichen Besuch entschuldigen, - aber Joshua kniete sich zu ihr und legte den Zeigefinger sanft über ihre Lippen.
„Es gibt nichts zu verzeihen, Magdalena“, sagte er flüsternd.
Der Umhang hatte sich gelöst und legte sich nur mehr um Joshuas Schultern. Er kniete nackt vor ihr.
„Du solltest in die Höhle zurückgehen Wenn sie dich so vor mir sehen, werden sie wieder lästern“, sagte Magdalena, als sich Joshuas Hand sanft auf ihre Wange legte.
Der junge Mann seufzte. Er setzte sich neben Magdalena, kreuzte seine Beine und zog den Umhang fest um sich.
„Was erwarten sie von mir, Magdalena?“ fragte er leise.
„Du bist der Messias“, sagte die Frau ebenso leise und blickte Joshua von der Seite her an. „Du bist derjenige, von dem die Propheten geschrieben haben, dass er der Erlöser unseres Volkes ist.“
„Tut der Messias so etwas?“ fragte Joshua und zeigte mit einer Hand zurück auf die Höhle, womit er Johannes und sich meinte.
„Es ist eine schwere Sünde, wenn sich ein Mann zu einem Mann legt. Aber wer kennt schon Gottes Wege?“
„Ich höre nicht zum ersten Mal, dass es eine schwere Sünde ist, Magdalena. Steht nicht auch geschrieben, dass der Messias frei von jeder Sünde ist? Dass er von einer Jungfrau geboren ist?“
„Bist du von einer Jungfrau geboren?“
„Meine Mutter hatte keinen Mann, und doch ist sie meine Mutter“, sagte Joshua.
Magdalena erhob sich.
„Ich habe von deinen Jüngern gehört, dass ihr morgen dieses Tal verlassen wollt. Wenn es dir recht ist, würde ich gerne mit euch kommen“, sagte sie leise, aber entschlossen.
Auch Joshua stand auf und legte beide Hände auf Magdalenas Schultern, die jedoch in dem Moment, wo seine Hände sie berührten, zurück wich. Joshua senkte seinen Kopf und hielt seinen Umhang, der sich abermals gelöst hatte, mit beiden Händen zusammen.
„Es ist mir recht“, sagte er leise und sah Magdalena nach, wie sie in der Dunkelheit verschwand.
Joshua seufzte tief. Er hatte den Schmerz in seinem Herzen gespürt, als seine ehemalige Geliebte vor ihm zurück wich. Es war diesmal nicht nur Magdalenas Schmerz, sonder auch seiner. Das wollte er nicht. Er wollte niemandem wehtun.
Diese Nacht verbrachte Joshua heraußen. Er ging nicht mehr zurück zu Johannes in die Höhle, auch wenn er wusste, dass dieser ohne ihn nicht schlafen kann. Joshua konnte ja auch nicht schlafen. Zu viele Gedanken quälten ihn...
Als am Morgen die Sonne aufging, kamen die Jünger und Jüngerinnen (!) langsam aus den Höhlen an den See, um sich zu erfrischen. Joshua saß an seinem Lieblingsbaum und beobachtete sie nachdenklich. Die Frage, was sich diese Menschen von ihm erwarten, stand wie ein eben herabstürzender Felsen über ihm.
Dann hörte er die Jünger und Jüngerinnen wieder streiten. Vor allem Jokanaans ehemalige Jünger waren abermals aufgebracht. Sie wollten zwar Jokanaans Worte glauben, dass Joshua der Messias ist, aber da er so ganz anders als ihr ehemaliger Meister war, fiel es ihnen nicht leicht.
In diesem Moment kam eine Gruppe Menschen über den Weg zum See. Joshua erhob sich und ging hinunter ans Ufer zu den sich waschenden Jüngern und Jüngerinnen, die noch immer stritten.
Unter der Gruppe Menschen erkannte er seine Mutter Maria, die das Streitgespräch der Jünger mitbekam. Ohne Joshua oder die anderen zu grüßen, fragte sie: „Steht nicht geschrieben, dass der Messias von einer Jungfrau geboren wird?“
Joshua wartete ab und ging nicht auf seine Mutter zu.
Die Menschen blickten erstaunt auf die in schwarz gekleidete Frau, die fast ihr ganzes Gesicht unter einem Schleier verbarg.
„Joshua ist mein einziger Sohn“, sprach sie weiter. „Auch wenn ihr meinen Worten nicht glauben mögt, werde ich euch jetzt sagen, dass ich Jungfrau war, als ich Joshua geboren habe. Ich habe auch eine Zeugin mitgebracht – die Hebamme, die mich damals untersucht hat, als ich schwanger war, und die mich noch mal untersuchte, bevor Joshua geboren wurde.“
Eine alte Frau neben Maria, die bereits so gebückt war, dass sie kaum ihren Kopf heben konnte, nickte nach diesen Worten.
„Es ist die Wahrheit“, sagte sie nur mit schwacher Stimme.
Jakobus senkte seinen Kopf. Er fühlte, wie eine unangenehme Hitze in ihm aufstieg. Nur kurz dachte er daran, die Wahrheit zu sagen.
Auch Joshua senkte seinen Kopf und blickte gerade deswegen auf Jakobus, der in diesem Moment in seinem Blickfeld war, und bemerkte dessen Regung. Aber auch er schwieg.
„Aber ich bin nicht gekommen, um damit zu bezeugen, dass Joshua der erwartete Messias ist“, sprach Maria weiter und trat nun an ihren Sohn heran. „Ich bin gekommen, um dich nach Hause zu holen und dem hier ein Ende zu machen. Joshua, du begibst dich in große Gefahr, wenn du so weiter machst. Man redet bereits sehr viel von dir, - vor allem im Tempel in Jerusalem ist man dem gegenüber abgeneigt, was über dich gesagt wird.
Joseph, der ehemalige Hohepriester, war bei uns und warnte mich. Er war es, der mir riet, dich nach Hause zurück zu holen.“
Joshua lächelte sanft.
„Mutter, mein Zuhause ist überall, wohin ich meine nackten Füße setze“, sagte er, wandte sich von ihr ab und entfernte sich.
Er wartete nicht ab, ob ihm jemand folgte. Er blickte nur kurz zu der Höhle hoch, in der die letzten Nächte sein Lager war. Dort stand Johannes und schien auf ihn zu warten. Joshua winkte ihm zu, - und der Junge lief so schnell er konnte zu ihm.
„Wir wandern weiter, Johannes“, sagte Joshua und setzte seinen Weg fort, während der Junge mit gesenktem Kopf ihm folgte.
„Joshua, ich habe Angst um dich“, sagte Johannes nach einer Weile.
Joshua blieb stehen und wandte sich um. Er sah dem Jüngling prüfend in die Augen, der seinem Blick, ebenso wie Magdalena standhalten konnte.
„Warum hast du Angst um mich?“ fragte er sanft.
„Ich bin nicht so dumm, wie alle annehmen“, begann Johannes zaghaft. „Auch wenn ich nicht lesen und schreiben kann und kaum etwas weiß, so kann ich doch zuhören und mir auch darüber Gedanken machen.“
„Niemand glaubt, dass du dumm bist, Johannes“, sagte Joshua schnell, aber der Junge winkte lächelnd ab.
„Du nicht, und das weiß ich. Das habe ich sofort gefühlt, als du in meine Kammer gekommen bist. Das ist aber nicht der Grund, warum ich nur zu dir Vertrauen habe und nur dich in meine Nähe lasse. Ich hatte schon immer Angst vor den Menschen, - sogar vor meinen Eltern. Ich habe auch Angst vor den Menschen, die bei uns sind. Sie lieben dich nicht, Joshua. Sie lieben dich nicht so, wie du bist. Sie lieben dich so, wie sie dich gerne sehen würden. Und wenn du nicht aufpasst, machen sie dich zu dem, den sie gerne sehen würden. Deshalb hab ich Angst um dich.“
Joshua war nicht erstaunt über die Worte des Jünglings, den man heute einen Autisten nennen würde. Er fühlte schon lange, dass in Johannes mehr steckte, als er vor anderen zeigte.
Joshua lächelte schweigend und ging langsam mit Johannes Hand in Hand weiter. Der Junge sprach die Gedanken aus, die ihn die ganze letzte Nacht gequält hatten. Joshua fühlte ebenso, dass seine Gefolgschaft, die nun immer näher kam, ihn zu dem machen will, den sie gerne sehen würde...

Nach einigen Tagen Wanderschaft durch kleinere Dörfer, wo Joshua, der mit seinen Jüngern und Jüngerinnen schon von weitem gesehen wurde, stets wie ein König empfangen wurde, kamen sie in eine größere Stadt.
Joshua vermisste immer mehr die früheren Tage, wo er noch als Unbekannter durch Dörfer und Städte wanderte und die Unterhaltungen sehr ungezwungen waren. Jetzt fühlte er auch von den Bewohnern eine bestimmte Erwartung...
Auch in der größeren Stadt war ihm sein Ruf bereits vorausgeeilt. Viele Kranke säumten den Weg. Man hatte einige sogar in Bahren auf die Straße getragen, wovon die meisten gelähmt waren. Die Menschen drängten sich um Joshua. Jeder wollte ihn berühren, oder von ihm berührt werden.
Aber Joshua fühlte sich nicht mehr wohl. Er spürte so tief in sich, dass dies nicht mehr sein Weg ist. Nein, er war nicht der, den die Menschen erwarten, und er konnte ihre Erwartung auch nicht erfüllen. Fast war ihm bei diesem Gedanken schwarz vor den Augen geworden, aber unter dieser Menschenmenge war es ohnehin nicht möglich umzufallen. Sie schob und drängte ihn weiter, bis er rechts von sich eine kleine Seitengasse sah, wo der Weg noch frei war. Zwar musste er einige Menschen von sich stoßen, - aber die Flucht gelang. So schnell er konnte, lief er die Seitengasse entlang, bog links ein und lief weiter bis zu einem Toreingang und vor Verfolgern sicher war. Hinter dem Tor hörte er noch ihre Schritte und Rufe, - aber sie liefen vorbei.
Plötzlich fasste eine Hand nach ihm und zog ihn in den Flur.
„Keine Angst“, hörte er eine weibliche, sehr angenehme Stimme. „Ich habe bemerkt, dass du vor der Menschenmenge fliehen willst. Ich habe dich vom Fenster aus beobachtet.“
Joshua konnte die Frau nicht genauer sehen. Es war zu dunkel. Etwas unbeholfen stolperte er ihr die Treppen hinterher, indem sie ihn noch immer an der Hand weiter zog.
Die Frau öffnete eine Türe und schob Joshua in einen dunklen Raum. Sie zündete die Fackeln an den Wänden an. Josua blickte sich um. Der Raum war sehr kostbar eingerichtet. Es roch nach teurem Öl und Parfüm. In jedem Winkel des Raums standen Abbilder fremder Götter – zumindest sahen die Statuen wie Götter aus. Rund um die Wände lagen breite Kissen aus Samt und Seide, auf dem Boden wertvolle Teppiche, - mehrere kleine Tischchen, die kunstvoll bearbeitet waren, standen vor den Kissen. Die Fenster waren ebenso mit einem kostbar aussehenden Stoff verhangen. In der Mitte des Raumes stand noch eine Statue – eine weibliche Göttin, vollkommen nackt. Joshua wandte sich ab und sah seine „Retterin“ zum ersten Mal an.
Sie war eine wunderschöne Frau mittleren Alters, hatte langes, schwarzes, offenes Haar, große, stark geschminkte, dunkle Augen und war nur sehr dürftig bekleidet, nachdem sie den langen, schwarzen Umhang wie zufällig über ihre nackten, schmalen Schultern zog und zu Boden fallen ließ. Joshua musste augenblicklich an das Mädchen in Jerusalem denken, von dem er damals nächtelang geträumt hatte...
Lächelnd setzte sie sich auf ein Kissen und blickte zu Joshua hoch.
„Ich bin nicht hier, um mit dir Geschäfte zu machen“, sagte Joshua schnell mit etwas belegter Stimme, als die Frau mit der rechten Hand neben sich auf ein Kissen klopfte, um ihm damit anzudeuten, er solle Platz nehmen.
„Das weiß ich“, sagte sie mit angenehmer Altstimme und lächelte wieder.
Nur zögernd setzte sich Joshua an den angedeuteten Platz, - jedoch mit etwas mehr Abstand.
„Dein Gewand ist zerrissen“, stellte die Frau fest und wollte es berühren, - aber Joshua fuhr fast erschrocken zurück.
Sie lachte hell auf.
„So etwas wie dich habe ich noch nie erlebt. Hast du Angst vor Frauen?“
Joshua senkte stumm seinen Blick.
„Du bist Joshua, angeblich der Messias, von dem in letzter Zeit sehr viel gesprochen wird. Nicht wahr?“ fragte die Frau und lehnte sich bequem zurück.
„Woher weißt du das?“
Sie lachte wieder auf.
„Das war nicht schwer zu erraten. Wer sonst würde für so einen Menschenauflauf sorgen? Warum bist du vor den Menschen geflüchtet?“
Joshua sah die Frau an. Er fand, dass sie sehr schön ist, - vor allem die Augen, die eine ganz besondere Wärme ausstrahlten. Sein Blick wanderte an ihren langen, schlanken Hals herab, bis zu dem sehr offenherzigen Decollete.
„Verwirre ich dich so sehr, dass es dir gleich die Sprache verschlägt?“ fragte sie lachend.
Dann stand sie auf, ging kurz in einen anderen Raum und kam mit einer Kanne und zwei Schalen zurück. Sie schob ein kleines Tischchen an die Seite Joshuas und füllte die beiden Schalen mit heißem Tee. Eine davon reichte sie ihm, die andere behielt sie selbst und lehnte sich wieder zurück, während sie in kleinen Schlucken sehr geräuschvoll den Tee schlürfte.
Joshua hockte mit gekreuzten Beinen auf einem der Kissen, die Schale in seinen Händen und blickte die Frau prüfend an.
„Du kannst ruhig trinken. Es ist nur Tee, - keine Droge“, sagte sie lächelnd. „Und wenn du Hunger hast, lass es mich ruhig wissen. Ich habe genug im Hause.“
Joshua schüttelte nur den Kopf und nippte kurz an der Schale. Der heiße Tee tat gut, denn ihn fröstelte leicht. Sein Gewand war an der Seite aufgerissen, und nach der Hetzjagd, wobei er ins Schwitzen gekommen war, wurde ihm in dem kühlen Raum etwas kalt. Die Frau schien es zu bemerken und stand wieder auf.

Diesmal ging sie durch den zweiten offenen Mauerbogen, der, wie auch der andere, die Räume nur durch einen bunten Perlenvorhang trennte. Als sie zurückkam, trug sie ein dunkelrotes Gewand und einen blauen Umhang in ihren Händen und legte dies neben Joshua.
Dann setzte sie sich wieder und nickte ihm zu.
„Das ist für dich, denn ich sehe, dass du frierst. Wenn du dich schämst, kannst du in den Raum gehen, in dem ich eben war und dich umziehen“, sagte sie und goss sich weiteren Tee in ihre Schale.
„Was verlangst du dafür? Ich habe kein Geld, um zu bezahlen“, sagte Joshua leise und blickte auf die kostbaren Gewänder neben sich.
Die Frau lachte wieder und zog das fast durchsichtige, dunkelblaue, mit rotem Muster verzierte Kleid über ihre nackten Beine, die sie wie Joshua gekreuzt hatte.
„Ich verlange gar nichts von dir, außer, dass du mein Gast bist“, sagte sie und rückte näher zu ihm.
Josua schloss kurz seine Augen, als er die Berührung ihres Armes an seinem spürte. Diesmal wich er nicht zurück.
„Lass mich mal deine rechte Handfläche sehen“, sagte sie mit dunkler Stimme.
Joshua blickte ihr geradewegs in die Augen.
„Wozu?“ fragte er fast zu laut.
„Ich werde dir aus deiner Handfläche die Zukunft voraussagen, - übrigens auch kostenlos“, sagte sie und lächelte abermals.
Joshua stellte die Schale auf das Tischchen und hielt ihr seine rechte Hand entgegen.
„Wunderschöne Hände hast du“, sagte sie wieder sehr leise, fast mehr zu sich selbst und streichelte sanft über Joshuas lange, schlanke Finger seiner rechten Hand. „Fast wie Frauenhände, - und auch etwas kindlich. Auch dein Gesicht ist wunderschön, und wie ich so sehen kann, dein gesamter Körper.“
Lächelnd streifte ihr Blick Josuas nackte Seite, deren zarte Haut durch den zerrissenen Stoff seines Leinenkleides schimmerte.
„Du bist noch sehr jung. Dein Bartwuchs ist sehr spärlich, als ob er erst in letzter Zeit eingesetzt hätte.“
„Ich dachte, du willst mir aus der Handfläche lesen und mir nicht die Vorzüge meines Gesichtes oder meines Körpers darlegen“, sagte Joshua und lächelte.
Die Frau blickte ihm noch immer in die Augen. Joshua fand, dass sie, wie Magdalena und Johannes, erstaunlich lange seinen Blick aushalten konnte.
„Nun gut, dann lass mal sehen, was die Linien deiner zarten Handfläche verraten“, sagte sie nach einer Weile.
Mit dem Zeigefinger ihrer rechten Hand fuhr sie die Linien nach, während Joshuas Hand in ihrer linken ruhte.
Plötzlich schloss sie seine Hand und ließ sie aus, als ob sie sich an ihr verbrannt hätte. Die Frau wirkte erschrocken und atmete auch einige Male tief durch, bevor sie aufstand und dann nervös im Raum auf und ab ging.
„Was du gesehen? War es denn so furchtbar?“ fragte Joshua lächelnd, der von Wahrsagerei gar nichts hielt.
Die Frau blieb stehen und blickte, noch immer verwirrt oder erschrocken, auf ihn herab.
„Vergiss einfach, dass ich in deine Handfläche gesehen habe“, sagte sie und setzte sich wieder an seine Seite.
„Ja, vergiss es“, wiederholte sie noch mal und trank aus ihrer Schale.
Joshua fasste nach ihrem Arm und hinderte sie so am Weitertrinken. Er neigte sich zu ihr und blickte ihr fest in die Augen.
Sie fühlte, wie ihr Herz plötzlich schneller schlug. Närrin, - dachte sie, - was willst du denn von diesem jungen Mann? Du könntest seine Mutter sein, - und doch – diese Gefühle...
Wie in Trance stellte sie die Schale auf das Tischchen zurück, ohne ihren Blick von Joshuas leuchtenden Augen zu wenden und kam seinem Gesicht immer näher, bis sich fast ihre Nasenspitzen berührten.
„Was hast du gesehen?“ fragte Joshua forsch.
„Ich habe in den Linien deiner Hand erkannt, dass es für dich nur Liebe gibt.“
„Und das hat dich so erschreckt?“ fragte er lächelnd.
Die Frau neigte ihr Gesicht zur Seite, aber Joshua legte seine Hand unter ihr Kinn und zwang sie so, ihm wieder in die Augen zu sehen. Ganz langsam näherten sich ihre Lippen und berührten sich sanft. Joshuas Zittern war nun ein anderes, das sich sehr schnell auf den Körper der Wahrsagerin übertrug.
Bald lagen sie auf den weichen Kissen und drückten ihre nackten Leiber aneinander. Joshua fror nicht mehr...
Obwohl die Frau viel älter als Joshua war und vielleicht wirklich seine Mutter hätte sein können, fand er an ihrem Körper nichts auszusetzen. Sie war sehr zärtlich und konnte seine Liebe schamlos genießen. Das war es, was Joshua mehr liebte, als einen jungen, von den Menschen schön genannten Körper. Ihm ging es um das Gefühl, das die Menschen auf ihn übertragen, - und diese Frau hatte sehr viel Gefühl zu geben...
Nach mehr als einer Stunde gingen beide in einen kleinen Raum, wo eine große Schüssel mit Wasser stand, um sich zu waschen. Joshua zog sich dann sein neues Gewand über.
„Rot steht dir gut, - und es schlägt sich nicht einmal mit dem rötlichen Glanz deiner lockigen Haarpracht“, sagte Astarte, die ihm ihren Namen in der letzten Stunde zugeflüstert hatte.
Als beide wieder gemütlich auf den Kissen saßen und frisches Obst genossen, fragte Joshua abermals, was sie in seiner Handfläche gesehen hat.
„Dass du nur Liebe gesehen hast, glaube ich dir nicht“, setzte er lächelnd hinzu.
Astarte senkte ihren Blick.
„Deine Reden haben sich bereits herum gesprochen und lösen auch sehr viel Unruhe unter den Schriftgelehrten und Hohenpriester in Jerusalem aus. Du hast recht, indem du sagst, dass sich Gott in allem offenbart. Aber mehr noch als in allem, offenbart er sich in dir, Joshua – und das weißt du, denn du musst ihm oft sehr nahe sein. Auch das kann ich in deiner Handfläche erkennen.“
„Was hat dich wirklich erschreckt, dass du meine Hand so schnell losgelassen hast?“ drängte Joshua.
„Wie stehst du zu deiner Gefolgschaft?“ stellte Astarte eine Gegenfrage.
Nun war es Joshua, der den Blick senkte.
„Ich glaube, du musst es mir gar nicht sagen“, sagte die Frau und stand auf. Mit wiegenden Schritten ging sie an ein Fenster und lüpfte leicht den Vorhang. „Ich kann einige deiner Jünger auf der Straße sehen. Sie reden mit den Menschen dieser Stadt. Weißt du, was sie sagen?“
„Wahrscheinlich reden sie über mich, dass ich der Messias bin, der sie befreien wird“, sagte Joshua leise, noch immer mit gesenktem Blick.
Astarte kam zurück zu ihm und kniete sich vor ihm nieder.
„Und bist du der Messias?“ fragte sie lächelnd.
Joshua schüttelte stumm seinen Kopf.
Astarte stand wieder auf und ging langsam im Raum auf und ab.
„Du solltest nicht zulassen, dass sie Lügen über dich verbreiten und dich damit zu etwas machen, was du gar nicht bist.“
Joshua blickte nach ihren Worten auf.
„Ich kann es nicht mehr aufhalten, Astarte“, sagte er mit belegter Stimme. „Sag mir nun endlich, was du in meiner Handfläche gesehen hast.“
Obwohl Joshua anfangs über diese Art von Wahrsagerei gelächelt hatte, fühlte er nun, dass doch etwas dran sein könnte.
Astarte stand vor ihm und blickte mit traurigen Augen zu ihm hinunter.
„Ich habe deinen nahen Tod gesehen, Joshua“, sagte sie sehr leise.
„Wie nah?“ fragte er und blickte zu Astarte hoch.
„Sehr nah, Joshua.“
„Warum werde ich sterben?“
„Schau nach unten, dann siehst du den Grund“, sagte Astarte und wies mit einer Hand zum Fenster.
Josua zog die linke Braue nachdenklich hoch.
„Meinst du damit, dass mich die Menschen nicht verstehen?“ fragte er nach einer Weile.
„Ach, Joshua, dich werden sie lange nicht verstehen, - auch in mehreren hundert Jahren nicht. Sie werden deine Worte drehen und wenden, wie es ihnen passt und sie mehr und mehr verfälschen, bis von dir selbst gar nichts mehr in ihnen steckt. Aber sind das deine Worte, die deine Jünger da unten verbreiten? Weißt du wirklich, was sie über dich sagen, wenn du nicht bei ihnen bist?“
„Was sagen die Menschen über mich?“ fragte Joshua und erhob sich.
„Sie sagen, du bist der Messias und wirst die Römer aus Jerusalem jagen, um selbst König der Juden zu werden. Sie sagen, du wirst das Land zum Paradies machen, wie es einst euer Gott versprach.“
Joshua blickte wieder zu Boden.
„Man hört aber auch andere Dinge über dich, - vor allem von den ehemaligen Jüngern eines gewissen Täufers.“
„Jokanaan, - er war mein Vetter“, unterbrach Joshua und sah Astarte in die Augen.
„Einige dieser Jünger sagen, dass du dich nicht wie der Messias verhältst und gegen die Heiligen Schriften lebst. Sie sagen, du würdest dein Lager auch mit Männer, nicht nur mit Frauen teilen. Ebenso sagen sie, du würdest den Sabbat nicht ehren und an diesem Tag heilen. Das alles ist bereits bis nach Jerusalem vorgedrungen. An deiner Stelle würde ich nicht in diese Stadt gehen, denn dort erwartet dich der Tod.“
Astarte schwieg eine Weile, dann sprach sie weiter: „Was ich auch in deinen Handflächen sehen konnte, war, dass du dich sehr einsam fühlst – und das schon seit sehr langer Zeit, - schon als du noch ein kleiner Junge warst. Es scheint, als ob du wüsstest, dass diese Welt nicht deine Heimat sein kann. Du fühlst dich fremd und nirgendwo zugehörig.“
„Wer bin ich in deinen Augen?“, fragte Joshua und ging langsam auf Astarte zu.
„Es hat mich gewundert, dass du mein Heim betreten und nichts gegen meine Götterstatuen gesagt hast. Aber jetzt ist es gar nicht mehr so seltsam für mich, dass du meine Gastfreundschaft angenommen hast, denn keiner aus deinem Volk würde sich mit einer wie mir abgeben.“
„Du meinst, weil du keine aus meinem Volk bist?“ fragte Joshua und streichelte der Frau sanft über die Wange.
„Auch deswegen, aber doch viel mehr, weil ich auch eine käufliche Frau bin, was du ja sofort bemerkt hast, als du sagtest, du willst mit mir keine Geschäfte machen“, sagte Astarte, nahm Joshuas Hand, die auf ihrer Wange ruhte und küsste sie.
„Ich bin nicht hier um über Menschen zu urteilen. Es muss jeder selbst wissen, was er aus seinem Leben macht und wie er mit seinen Mitmenschen umgeht.“
Astarte nickte und ließ seine Hand los.
„Du bist anders, Joshua. Vielleicht bist du ja doch der Messias, der von euren Heiligen Schriften vorausgesagt wurde, aber wenn du es bist, haben sich die Heiligen Schriften dennoch geirrt.“
Joshua wandte sich um und ging zur Ausgangstür.
„Ich danke dir für alles, aber nun muss ich gehen“, sagte er leise. „Nachts ist eine gute Gelegenheit, um unerkannt weiter zu kommen.“
„Was machst du mit deinem alten Kleid?“ fragte Astarte.
Josua zuckte mit den Achseln und blickte sie lächelnd an.
„Willst du es als Andenken behalten? Es ist zwar wertlos, weil es zerrissen und alt ist, - aber ich habe es geliebt.“
„Ich weiß es zu schätzen“, sagte Astarte sichtlich ergriffen. „Und ich werde es in Ehren halten.“
Joshua öffnete die Türe und horchte nach draußen. Es war alles ruhig.
„Leb wohl, Astarte“, sagte Joshua lächelnd und reichte ihr seine rechte Hand.
„Sei vorsichtig, mein Junge – vorsichtig und tapfer“, sagte sie und senkte ihren Blick, um ihre Tränen zu verbergen.
Joshua hob mit der anderen Hand ihr Gesicht am Kinn hoch und blickte sie liebevoll an.
„Weine nicht um mich, Astarte“, sagte er leise, fast flüsternd. „Ich weiß selbst, dass mein Tod sehr qualvoll wird. Nur frag mich nicht, woher ich das selbst weiß...“
Joshua lächelte ihr noch einmal zu, ließ ihre Hand sanft los und verschwand in der Dunkelheit.
„Seht das Lamm Gottes“, murmelte Astarte und schloss die Türe.

Die Dämmerung hatte bereits eingesetzt. Die Gasse war menschenleer, als Joshua durch das Tor schritt. Als er die Stadt verlassen hatte, war es bereits Nacht.
Joshua war wirklich müde, und als er auf einem Feldweg weiterwanderte, der zur einen Seite von einem Wald gesäumt war, um dort nach einem Nachtplatz zu suchen, kam plötzlich Johannes hinter einem Baum hervor. Der Junge warf sich weinend in Joshuas Arme.
„Es ist ja gut. Ich bin wieder bei dir“, tröstete ihn Joshua und streichelte über sein Haar.
Nach und nach kamen die anderen Jünger und Jüngerinnen aus dem Wald, - ihnen voraus Jakobus.
„Deine Mutter ist wieder nach Hause gegangen. Ich bat sie, mit uns zu kommen, aber sie hat sich geweigert“, sagte Jakobus und führte seinen Bruder und Johannes, der Joshuas Hand nicht mehr los ließ, zu seinem Schlafplatz.
Die anderen der Gefolgschaft legten sich auch wieder zum Schlafen, obwohl sie zu gerne gewusst hätten, wo Joshua in der Zwischenzeit war. Aber Jakobus gebot ihnen Einhalt.
„Ich muss dir etwas erzählen, Joshua“, sagte er, als sie etwas abseits der anderen auf einer Decke, unter einem breiten Baum, Platz genommen hatten. „Aber ich muss es dir unter vier Augen sagen“, sprach Jakobus weiter und blickte auf Johannes.
„Du kannst offen vor ihm sprechen. Er ist der einzige unter euch, dem ich voll und ganz vertraue“, sagte Joshua und blickte Jakobus prüfend in die Augen.
Der senkte seinen Blick und räusperte sich.
„Wenn du meinst“, sagte er und sprach dann flüsternd weiter. „Das, was deine Mutter am See gesagt hat, ist vielleicht doch nicht die Wahrheit.“
Jakobus sah Joshua wieder an. Er suchte nach den richtigen Worten, - und er hatte Angst, sie auszusprechen.
Joshua lächelte.
„Ich glaube, ich weiß, was du mir sagen willst, - Vater“, sagte er leise, fast flüsternd, und Jakobus sprang augenblicklich auf.
„Woher weißt du das?“ stieß er hervor.
Joshua ermahnte ihn, ruhig zu sein und bat ihn, sich wieder zu setzen.
„Woher weißt du es?“ fragte Jakobus abermals, als er neben Joshua saß und blickte ihn verwundert an.
„Ich habe es in deinen Augen gesehen, als Mutter von ihrer Jungfernschaft sprach. Mutters tiefer Schlaf ist kein Geheimnis. So konnte ich mir auch einen Reim darauf machen, wie ich wirklich gezeugt wurde“, sagte Joshua flüsternd.
„Es war nur ein mal, Joshua, - ein einziges Mal.“
„Und durch dieses einzige Mal wurde ich gezeugt. Also bin ich doch nicht der Messias, der von einer Jungfrau geboren wird.“
Jakobus legte einen Arm um Joshuas Schultern.
„Aber das darf niemand wissen, Joshua. Schwöre mir, dass es zwischen uns beiden ein Geheimnis bleibt. Und auch du“, Jakobus blickte hinüber zu Johannes, der an Joshuas anderer Seite saß, „erzählst es niemandem.“
Johannes senkte seinen Blick und schüttelte stumm seinen Kopf.
„Warum soll es niemand wissen?“ fragte Joshua.
„Sie alle glauben an dich, Joshua. Und denke nicht, dass ich nicht an dich glaube. Vielleicht sogar sehr viel mehr als sie. Ich kann deine leuchtende Gestalt sehen, wie sie schwebt, - und ich weiß, dass du wirklich Menschen heilen kannst. Viele unserer Begleiter zweifeln an dir, weil dich nicht alle leuchten und schweben sehen. Aber ich weiß, was ich sehe, - und viele andere wissen es ebenso.
Du zweifelst doch selbst über gewisse Worte in den Heiligen Schriften und legst sie anders aus. Es muss ja nicht stimmen, dass der Messias von einer Jungfrau geboren wird. Aber auch wenn es nicht stimmt, die Menschen, selbst deine Mutter, nehmen es an, weil das nur unser Geheimnis ist.
Verstehst du, was ich meine?“
Joshua senkte nach Jakobus’ Worten seinen Blick.
„Ich kann es wirklich nicht mehr aufhalten“, sagte er leise.
„Was hast du gesagt?“ fragte Jakobus.
„Nichts. Lass uns schlafen. Ich bin müde“, sagte Joshua und legte sich seufzend auf die weiche Decke.

Das Passah-Fest war nahe, und die meisten der Gefolgschaft Joshuas bestanden darauf, nach Jerusalem zu pilgern. Joshua selbst hielt noch immer nichts von diesen Riten – sein Gott befand sich nicht nur im heiligen Tempel...
Aber dann willigte er doch ein, sie zu begleiten. Knapp vor Jerusalem kamen ihnen zwei Schriftgelehrte entgegen. Joshua erkannte einen von ihnen sofort, - es war Joseph, der Hohenpriester. Der andere stellte sich mit Namen Nikodemus vor.
Sie nahmen Joshua beiseite und rieten ihm, besser nicht in die Stadt zu gehen. Er soll seine Gefolgschaft alleine ziehen lassen, denn wenn man ihn erkennt, wird man ihn festnehmen – wegen Gotteslästerung.
„Wann habe ich Gott gelästert?“ fragte Joshua und lächelte.
„Die Menschen sprechen davon, dass du gesagt haben sollst, Gott würde sich nicht nur im Menschen offenbaren, sondern auch in den Tieren, den Pflanzen, - eben überall. Und als man dich fragte, ob er sich auch in den Schweinen offenbart, sollst du – ja – gesagt haben. Das genügt den Männern im Tempel, um dich der Gotteslästerung anzuklagen“, sagte Joseph.
„Ich halte niemand von seinem Glauben ab. Ich sprach nur von mir selbst, - wie ich Gott fühle“, rechtfertigte Joshua.
„Das weiß ich, mein Junge“, sagte Joseph zärtlich und nahm Joshuas Hand. „Aber es wäre dennoch besser für dich, nicht in die Stadt zu gehen. Ich habe außerhalb, nicht weit von hier ein kleines Haus, - in dem kannst du dich aufhalten, während deine Gefolgschaft in Jerusalem das Passah-Fest feiert. Ich werde dir in dieser Zeit, mit meinem Freund hier, Gesellschaft leisten.“
Joshua schloss seine Augen und seufzte. Er wusste in diesem Moment, dass seine Zeit noch nicht gekommen war, diese Erde zu verlassen. Aber dieser Moment offenbarte ihm noch viel mehr. Wieder fühlte er sich so eng mit dem Lichtwesen verbunden, dass er sein zukünftiges Leben fast ganz vor seinem inneren Auge sehen konnte.
Als Joshua seine Augen wieder öffnete, packte ihn Joseph an den Schultern.
„Geht es dir nicht gut, Immanuel?“ fragte er besorgt. Der Hohenpriester nannte ihn noch immer Immanuel, bei seinem ersten Vornamen.
„Doch, - es geht schon wieder“, sagte Joshua und fasste sich an die Stirn, auf der ihm eben der kalte Schweiß ausgebrochen war. Er fühlte auch, dass er sehr blass geworden sein musste.
„Oh, Jerusalem“, sagte er leise, fast flüsternd, während Joseph ihn noch immer festhielt. „Du hast schon immer deine größten Propheten getötet.“
Dann wandte er sich von Joseph ab und ging zu seinen engsten Jüngern, Jakobus, Johannes, Thomas, Simon Petrus und Markus, die nicht weit von ihm beisammen standen.
Sie waren einverstanden, dass er in der Zwischenzeit in Josephs Haus auf sie warten wird, - nur Johannes wollte bei ihm bleiben. Er nahm Joshua schnell an der Hand und drückte sich fest an ihn.
Natürlich kam es unter den anderen Jüngern wieder zu Streitigkeiten, denn wie sieht das aus, wenn ausgerechnet der Messias am Passah-Fest nicht im Heiligen Tempel erscheint? Joshua wollte sich nicht mehr auf diese Streite einlassen, - er ging mit Johannes an seiner Hand, Joseph und Nikodemus einfach weiter und kümmerte sich nicht mehr um die lauten Rufe seiner Gefolgschaft, wo unter anderem auch das Wort „Feigling“ fiel.

Joshua, Johannes, Joseph und Nikodemus machten sich inzwischen schöne Tage und unterhielten sich auch sehr angeregt, wobei Joshua wieder sehr frei von seinem Traum berichten konnte.
„Es wäre eine wundervolle Vorstellung, wenn das alles in Erfüllung gehen würde“, sagte Joseph. „Aber wer von den Menschen wäre bereit, dies durchzuführen?“
„Ich glaube nicht, dass ich von dieser Zeit spreche, in der wir jetzt leben“, sagte Joshua. „Selbst wenn jetzt schon einige Menschen dazu bereit wären, so zu leben, wird es immer welche geben, die dagegen sind und viel lieber mit einem Volk mitziehen, um sich dort irgendwelchen Gesetzen zu unterwerfen.
Versteht doch, - wenn mein Traum jemals in Erfüllung gehen würde, so würde es unzählige Gesetze geben – für jeden einzelnen Menschen ein eigenes. Aber ich würde dies nicht mehr Gesetze nennen, sondern viel mehr die absolute Offenbarung Gottes.“
„Wäre das nicht ein Chaos, wenn jeder nach seinem Willen lebt?“ fragte Nikodemus.
„Es geht nicht um den Willen, Nikodemus“, sagte Joshua sanft lächelnd. „Es geht um das Wahre im Menschen, - darum, dass er sich selbst vollkommen erkennt und auch danach lebt. Das Wahre erzeugt kein Chaos. Das Wahre ist nur Liebe, - Liebe zu sich selbst wie zum nächsten. Es wird alles Eins sein, - und doch besteht dieses Eine aus so vielen unterschiedlichen Teilen, wie man doch jetzt schon erkennen kann, wenn man die Natur erblickt. Keine Pflanze gleicht einer anderen, kein Tier gleicht einem anderen. Seht doch die Mütter der Tiere, die sofort ihre Kinder erkennen, obwohl für uns Menschen alle Lämmer fast gleich aussehen. Auch die Menschen unterscheiden sich äußerlich vom anderen. Und warum nur äußerlich? Sie unterscheiden sich doch auch innerlich voneinander, - also können sie nicht zu Tausenden ein und demselben Gesetz unterstehen. Wir Menschen sind nicht besser als das Leben um uns herum, - als alle Tiere, als alle Pflanzen, aber wir können uns dennoch als Weiterentwicklung dieser Lebewesen betrachten und auch danach leben. Tiere verteidigen ihren Platz, ihr Futter, - erkennen dies als Eigentum an, - aber wir Menschen könnten darüber hinausgehen. Wir müssen nichts verteidigen, wenn wir uns alle als ebenbürtig betrachten, - wenn wir endlich erkennen, dass wir alle nur Menschen sind, die sich nicht unbedingt Judäer, Galiläer, Samariter oder wie auch immer nennen müssen. Was sagt es schon über einen Menschen aus, der behauptet, er sei ein Judäer? Nichts sagt es aus!
Aber all dies muss der einzelne Mensch erst überwinden. Und ich weiß selbst, dass es nicht damit abgetan ist, wenn ich dies den Menschen sage, denn es muss aus ihnen selbst kommen. Sie selbst müssen bereit dazu sein.
Ich bin kein Prediger und schon gar nicht der Messias. Ich halte nichts von den Gesetzen unserer alten Propheten, von Gemeinschaften oder Sekten, obwohl man von mir behauptet, ich würde mit einer Sekte herumwandern. Mir geht es um den einzelnen Menschen, - um jeden einzelnen Traum eines Menschen, den er nicht nur träumen, sondern auch leben sollte.

Die Welt wird deshalb keine Einheitswelt sein – ganz im Gegenteil, denn erst dann wird sie sich als individuelle, bunte Welt darstellen, was sie ja jetzt schon ist. Aber jetzt ist das alles noch verborgen in den Herzen der Menschen, wobei das Hervortreten dieses Verborgenen wohl durch den Egoismus der Mächtigen verhindert wird.
Die Menschen müssten erkennen, dass nicht nur ihre Träume, sondern auch die Träume ihrer Nächsten genauso Wirklichkeit und Wahrheit sind wie ihre eigenen. Niemand muss den anderen um etwas beneiden, was er nicht hat – denn jeder ist anders, - jeder Traum hat seinen eigenen Anteil an der Göttlichkeit.
Die wahre Einheit, die ich sehe, ist eine bunte, die aus so vielen Teilen besteht, wie es Lebewesen gibt. Erst dann wird sich der wahre Gott vor unseren Augen bewusst offenbaren. Erst dann werden wir wirklich bewusst erkennen, was alles göttlich ist. Und wer würde dann noch auf den Gedanken kommen, Gott selbst um etwas zu beneiden, Gott zu hassen, wenn doch all das, was wir wahrnehmen und sind, Gott selbst ist?“
Nach dieser Rede Joshuas herrschte eine Zeit lang nachdenkliches Stillschweigen im Hause des Josephs. Nur Johannes, dessen innere Welt nur aus bedingungsloser Liebe zu Joshua bestand, rührten diese Worte kaum auf die Art, wie sie Joseph und Nikodemus zu verstehen glaubten. Johannes hörte nicht die Worte, - er versank viel mehr in dem weichen, sonoren Klang Joshuas Stimme und drückte sich, während Joshua sprach, wie ein kleines Kind an ihn, wobei sein schwarzer Lockenkopf an seiner Brust ruhte.
Viele der Jünger beanstandeten dieses Verhalten immer öfter, - besonders, als der Junge bereits auf die Zwanzig zuging, und nachts noch immer an der Seite Joshuas lag und sich zärtlich an dessen Körper drückte. Hier sahen sie nicht das Wunder, wo sich doch der Junge noch immer ängstlich vor Berührungen anderer Menschen scheute.

Aber das war nicht alles, was Joshuas Gefolgschaft an ihm beanstandete. Noch immer war es bei einigen unter ihnen verpönt, Frauen mitzunehmen, - und als Joshua, nachdem die Gefolgschaft wieder zusammen war und weiterzog, einmal an einem Brunnen aus dem Becher einer Samariterin Wasser trank, verließen ihn sogar einige.
Die Art, wie er mit den Menschen umging, konnten viele nicht verstehen. Wie er ein anderes mal eine junge Frau, die als Ehebrecherin gesteinigt werden sollte, in aller Öffentlichkeit schützend in seine Arme nahm und dadurch die Steinigung verhindern konnte, - diese Sünderin auch noch in seine Gemeinschaft aufnahm, die dann sogar an seiner Seite das Nachtlager mit ihm teilen durfte, kostete dem angeblichen Messias wieder einige Mitglieder.
Joshua wusste ja nun, was die Mehrheit seiner Gefolgschaft von ihm erwartete und dies auch unter dem Volk verbreitete. Selbst als er das Passah-Fest in Josephs Haus verbrachte, stifteten viele seiner Gefolgschaft in Jerusalem vor dem Tempel einige Unruhe, indem sie die Schriftgelehrten, samt Hohenpriester, öffentlich verhöhnten. Viele Menschen wollten unter einem der Anstifter sogar Joshua selbst gesehen haben.
Joshua wusste selbst, dass die schönste Zeit seiner Wanderschaft längst Vergangenheit war, und dass sich nicht nur seine Gefolgschaft, sondern auch sehr viele Menschen unter dem Volk, etwas von ihm erwarteten, was er niemals tun konnte. Und ebenso wusste er, dass er dieses Missverständnis nicht aufhalten konnte.
Er war in Wirklichkeit kein Messias wider Willen. Es wäre ein Leichtes für ihn gewesen, das alles aufzuhalten, indem er die Gefolgschaft einfach verlassen hätte und wieder alleine des Weges gegangen wäre, was er ihnen in letzter Zeit mehrmals angedroht hatte. Aber er fühlte eine Kraft in ihm, die ihm sagte, dass dies alles einfach so passieren muss und auch passieren wird.

Jedes Mal, wenn Joshua mit seiner Gefolgschaft über Jerusalem stand, die jedes Jahr zum Passah-Fest zum Heiligen Tempel pilgerte, wurde ihm mehr und mehr sein Schicksal bewusst. Die Visionen standen immer klarer vor seinem inneren Auge, wodurch sich auch seine innere Unruhe und Angst vergrößerte. Er war noch immer ein Mensch, - gefangen im menschlichen Bewusstsein, - und selbst, wenn er bereits den Großteil dieses Bewusstsein erkannte, so fühlte er doch noch immer Schmerz, Angst und Trauer.
Einmal las ihm Joseph etwas aus alten Schriften vor, was Joshua bis tief ins Herz hinein erschütterte.
„Er erhob sich wie eine schwache Statue, wie ein Schössling, der einem dürren Boden entsprießt; er hatte weder Anmut noch Schönheit. Mit Schmach überhäuft, von den Menschen verlassen, wendeten alle das Antlitz von ihm; mit Schande bedeckt, galt er für ein Nichts. Und das, weil er sich mit unsren Leiden belud, weil er unsre Schmerzen auf sich nahm. Man hätte ihn für einen Mann, von Gott geschlagen, von seiner Hand berührt, gehalten. Unsre Verbrechen sind es, die ihn mit Wunden bedeckt, unsere Missetaten, die ihn zermalmt haben; die Züchtigung, die uns die Vergebung gewonnen, hat auf ihm gelegen, und seine Male waren unsere Heilung. Wir waren wie eine irrende Herde, jeder hatte sich verloren, und die Sünde aller hat sich auf ihn entladen. Zertreten, gedemütigt, hat er den Mund nicht geöffnet; er hat sich wie ein Lamm zum Opfer führen lassen; wie ein Schaf stumm ist, vor dem der es schert, hat er seinen Mund nicht geöffnet. Sein Grab ist angesehen wie das eines Sünders, sein Tod wie der eines Gottlosen. Aber von dem Augenblicke an, wo er sein Leben dargebracht hat wird er eine zahlreiche Nachkommenschaft entstehen lassen, und die Sache Jehovas gedeihet in seiner Hand.“
Wie schrecklich werden sie ihn, den Schönsten der Schönen, zurichten, dass man weder Anmut noch Schönheit an ihm erkennen wird? Was wird er alles auf sich nehmen müssen, bevor er endlich diese Welt verlassen wird? Und wozu das alles? Er hatte doch keine so dringende Botschaft an die Menschen, dass sie ihn deswegen verurteilen könnten? Er erzählte ja nur von seiner inneren Welt, - von seinem Glauben, der doch in jedem Menschen ein anderer ist, da sich Gott in jedem anders zeigt. Selbst, wenn das Volk meint, nur an den Einen Gott zu glauben, so war doch auch dieser Glaube von Mensch zu Mensch verschieden. Warum konnten sie dies nicht bewusst wahrnehmen?
„Wie kommt es, dass du daran glaubst, dass sich diese Schrift, welche den Messias prophezeit, erfüllen wird, wo du doch behauptest, nicht der Messias zu sein?“ fragte Joseph und nahm besorgt Joshuas Hand, als dieser wieder blass wurde und sich kalter Schweiß auf der Stirn bildete.
Joshua blickte wie durch einen Nebel auf Josephs Gesicht.
„Das kann ich dir nicht sagen“, sagte er leise, fast flüsternd. „Ich weiß es einfach, - und ich glaube, dass sehr viele Schriften von den alten Propheten wie fremde Stimmen aus anderen Welten zu ihnen sprachen. Und diese Schrift ist eine davon. Nur vergiss nicht, - die Schriften wurden von Menschen niedergeschrieben.“
„Wo sind diese anderen Welten, Joshua?“ fragte Joseph fast verzweifelt.
„Sie sind hier“, sagte Joshua und konnte endlich wieder lächeln. „Sie haben keine festen Orte, - genauso wie unsere Welt keinen festen Ort hat. Es ist alles Eins, Josef – wir müssen es nur wahrnehmen und erkennen. Wären diese anderen Welten nicht hier, wo auch diese Welt ist, hätte kein Prophet die Stimmen wahrnehmen können. Aber diese Stimmen sprechen eine andere Sprache, - für sie gibt es eigentlich keine Worte, wie wir sie kennen. Also liegt es an den Menschen, an den Propheten, dies alles zu entschlüsseln und in Worte zu fassen, die wir verstehen können.
Ich bin kein Messias, Joseph, - und ich werde auch nicht alle Sünden der Menschheit auf mich nehmen, weil es keine Sünden gibt. Wer einen anderen Menschen Sünder nennt, der nennt Gott einen Sünder.
Aber ich weiß, dass sich einiges dieser Schrift, die du mir eben vorgelesen hast, erfüllen wird. Und ich fühle, dass die Zeit bald reif dazu ist.“
Auch Joseph konnte Joshua immer weniger verstehen, und doch liebte er die Gesellschaft dieses schönen Mannes mehr als alles andere und lauschte, fast mit derselben Andacht wie Johannes, seiner sanften Stimme.

Es mag so scheinen, als ob Joshua nie zu größeren Menschenmengen sprach, und sich eher zurück hielt, wobei viel mehr seine Jünger in der Öffentlichkeit standen und sehr viele Reden über ihn verbreiteten, die mit ihm selbst kaum übereinstimmten.
Sicher kam es sehr oft vor, dass Joshua und seine Gefolgschaft, die sich bereits sehr verringert hatte, eine größere Menschenmenge umringte. Die meisten wollten von Joshua geheilt werden, oder ihn nur berühren, um sich dadurch ein langes und gesundes Leben zu sichern. Es lag also sehr oft an dem Glauben dieser Menschen, die wirklich vollkommen davon überzeugt waren, dass bereits eine Berührung ausreicht, um gesund zu werden. Joshua spürte die Berührung immer, und selbst wenn bloß sein Gewand leicht gestreift wurde, sah er die Energien der Menschen, die sie sich durch ihren Glauben selbst holten, ohne dass er der Überbringer sein musste.
Bald aber war dies den Menschen in den Gebieten, in denen sich Joshua und seine Gesellschaft aufhielt, zu wenig. Auch sie wünschten sich, dass er endlich nach Jerusalem geht und genauso blitzartig den Thron erobert, wie er sie geheilt hatte.
Einige Menschen begannen auch bald an Joshua zu zweifeln, weil es ihm nicht immer möglich war, Kranke zu heilen. Sie verstanden nicht, was er damit meinte, wenn er sagte, dass die Energien dieser Menschen aufgebraucht und sie für die Reise in eine andere Welt bereit sind. Was bedeutete für diese Menschen eine andere Welt? Viele setzten dies mit „Himmelreich“ gleich, wie es auch einige der Jünger taten, wenn sie zu den Menschen sprachen.
Joshua sprach nur sehr selten zu mehreren Menschen zugleich, - ihm lag mehr daran, sich mit Einzelnen zu unterhalten, wo er auf sie eingehen und ihnen auch zuhören konnte. Erst am Einzelnen konnte er seine Kraft so richtig auslassen, - einen traurigen Menschen durch tröstende, aufmunternde Worte wieder aufrichten, - einem Bettler sagen, dass er genauso ein Mensch ist wie alle anderen und sich seiner Armut nicht zu schämen braucht. Und ganz besonders lag ihm an den Kindern, wo er einmal sehr zornig seine Gefolgschaft ermahnte, als sie die Kinder von ihm wegjagen wollten.
„Macht es wie die Kinder, die alles zum ersten Mal sehen, ohne es zu benennen und alles einfach aufnehmen wie es ist.“

Joshua fühlte, dass das letzte Jahr seines Lebens angebrochen war. Die Angst, die Traurigkeit und auch das Gefühl, nie wirklich verstanden zu werden, breitete sich von Tag zu Tag mehr in ihm aus.
Sehr gerne wäre er dem Rat seiner Mutter gefolgt, die noch immer ab und zu den Jüngern und Jüngerinnen folgte, wenn diese mit Joshua in der Nähe des kleinen Dorfes waren, nach Hause zu kommen. Er bekam ja auch mit, dass das Volk viel mehr von ihm erwartete und auch, dass Jerusalem bereits gefährlich kochte und er genauso gut in den umgrenzenden Dörfern und Städten festgenommen werden könnte. Es gab ständig Aufruhr in Jerusalem, vor allem durch die Zeloten, von denen auch einige unter Joshuas Gefolgschaft waren. Viele von ihnen wurden schon von den Römern, wie auch von den Soldaten des Tempels festgenommen und zu Tode verurteilt.
In diesem letzten Jahr hielt sich Joshua sehr oft im Haus von Magdalena und Martha und deren Bruder Lazarus auf. Ihr alter Vater war vor drei Jahren gestorben.
Lazarus litt in letzter Zeit an einer sehr seltsamen Krankheit. Er fiel einfach um und war wie tot, dass auch Ärzte nur mehr den Tod feststellen konnten. Aber nach wenigen Stunden erwachte Lazarus und war wieder gesund, als wäre nichts geschehen.
Einmal aber lag Lazarus bereits zwei Tage und zwei Nächte tot in seinem Bett. Niemand hatte mehr Hoffnung, dass er aufwachen würde. Also entschloss sich Martha, ihn zu begraben, - denn Joshua, der ihre letzte Hoffnung war, war mit seiner Gefolgschaft diesmal nicht in der Nähe.
Erst am nächsten Tag, nach dem Begräbnis, kam er mit seinen Jüngern und Jüngerinnen in das kleine Dorf, um seine beiden Freunde im Haus zu besuchen. Martha eilte ihm weinend entgegen.
„Ich weiß nicht, ob ich für euren Bruder etwas tun kann“, sagte Joshua zweifelnd und nahm die beiden Schwestern, Magdalena, die dem Begräbnis nicht beiwohnen konnte, da sie bei Joshua und seiner Gefolgschaft war, und Martha, tröstend in seine Arme.
Zwei der kräftigeren Jünger wälzten den Stein zur Seite. Sie hielten sich ein Tuch vor die Gesichter, da es bereits sehr eigenartig aus dem geöffneten Grab roch. Es handelte sich aber nicht um Leichengeruch, sondern eher nach Verdauung, die, obwohl Lazarus in eine todesähnliche Ohnmacht gefallen war, noch immer funktionierte.
Joshua trat in das Grab, und in dem Moment erhob sich Lazarus und kam ihm, in Leichentücher gehüllt, stolpernd entgegen. Joshua fing den armen Mann auf und führte ihn heraus.
Es waren nicht nur die Gefolgschaft und die nächsten Familienmitglieder Lazarus’ anwesend, sondern auch Leute aus dem Dorf und aus angrenzenden Dörfern, die meistens ein Stück mit Joshua und seinen Leuten wanderten.
„Er kann sogar Tote erwecken!“ „Er ist der Messias!“ – drangen die erstaunten Rufe zu Joshua durch, der selbst wusste, dass Lazarus nicht wirklich tot war.
„Lazarus war nicht tot“, sagte Joshua etwas lauter, um von den umstehenden, neugierigen Menschen verstanden zu werden. „Er hat eine sehr seltsame Krankheit, die ihn immer wieder in einen todesähnlichen Schlaf fallen lässt.“
Ein älterer Mann aus der Menge trat vor.
„Ich habe mit eigenen Ohren gehört, als der Arzt seinen Tod feststellte“, sagte er.
Joshua senkte seinen Kopf und schwieg. Er wusste bereits, dass keine Entgegnung nützen würde, denn wenn Menschen etwas sehen wollen, sehen sie es, - und wenn sie etwas nicht sehen wollen, sehen sie es nicht. Dann half er den beiden Schwestern, Lazarus aus den Leichentüchern zu wickeln und legte ihm seinen Umhang über die nackten Schultern.

Natürlich verbreitete sich dieses Wunder sehr schnell und drang auch bis nach Jerusalem, wo vor allem der Sanhedrin, die Schriftgelehrten und Hohenpriester des Heiligen Tempels, sehr nervös wurden. Sie wussten, dass sie jetzt schnell handeln mussten, um das Volk nicht noch mehr aufzustacheln. Gotteslästerung würde für ein Todesurteil durchaus genügen, aber sie wollten mehr in der Hand haben, was gegen diesen selbsternannten Messias spricht. Sie wussten, dass auch Zeloten zu seinen Jüngern gehören. Das letzte Mal als die Jünger und Jüngerinnen in Jerusalem waren, fielen auch einige Worte gegen die römische Besatzungsmacht, da sie Joshua zu gerne auf dem Thron sehen würden. Aber die Männer des Sanhedrins wussten ebenso, dass sie diesen Aufrührer nicht in der Öffentlichkeit verhaften können, denn für das Volk war er noch immer der Messias. Also mussten sie sich etwas einfallen lassen...

Das Passah-Fest war wieder nah. Einige der Jünger waren bereits vor wenigen Tagen in Jerusalem, um einiges vorzubereiten, - wie sie zu Joshua sagten. Darunter einer, der sich Judas nannte. Er gehörte einst zu den Zeloten und war einer der eifrigsten, der Joshua zu gerne als neuen König der Juden sehen würde.
In ihm sah der Sanhedrin seine Chance. Die Schriftgelehrten und Hohenpriester erkannten seinen Eifer. Also baten ihn der Hohenpriester Kaiphas und sein Schwiegervater Annas, am späten Abend in sein Haus. Judas wusste, wie alle anderen aus der Gefolgschaft, dass Joshua nichts daran lag, König zu werden. Er sagte oft genug zu ihnen, dass er von Politik nichts hält und auch nichts davon versteht.
Aber nun bot sich doch eine Chance, dass Joshua direkt gezwungen werden könnte, eine politische Laufbahn einzuschlagen. Kaiphas meinte, dass die Tempelpolizei Joshua in einem Augenblick festnehmen müsse, wo er alleine ist, - um das Volk nicht unruhig zu machen, welches ja nicht wissen kann, aus welchem Grund der Messias gefangen genommen wird. Man wird ihn in den Tempel bringen und ihm den Vorschlag machen, zuerst das Amt des Hohenpriesters anzunehmen, wodurch er dann immer noch, dank seiner unvorstellbaren Kraft, König der Juden werden könnte.
Judas war vorerst noch misstrauisch.
„Und was, wenn er das Amt nicht annimmt?“ fragte er.
„Er wird es annehmen!“ sagte Annas und lächelte schmierig. „Kein vernünftiger Mann würde es abschlagen, wenn als Alternative das Todesurteil steht.“
Judas meinte, er müsse das noch mit den zwei anderen Jüngern Joshuas, die sich auch schon in Jerusalem befinden, besprechen.
„An deiner Stelle würde ich niemandem etwas davon sagen“, meinte Kaiphas. „Je mehr davon wissen, um so eher könnte etwas zu deinem Meister durchdringen, und unser Plan würde fehlschlagen.“
Judas war sicher nicht wohl dabei, als er den Aufenthalt Joshuas vor dem Passah-Fest verriet, aber schlussendlich sah auch er darin die einzige Chance, seinen Meister endlich zu den Taten zu bewegen, welche bereits die meisten Menschen von ihm wünschten.
„Natürlich sollst du auch für deinen Mut belohnt werden“, meinte Kaiphas und überreichte Judas einen Beutel voll Geldstücke.
Als der eifrige Mann gerade das Haus verließ, lief ihm Joseph, der Hohenpriester, über den Weg.
„Was hast du in Kaiphas Haus zu suchen?“ fragte er.
Judas meinte, diesem Mann vertrauen zu können, und obwohl er wusste, dass Joseph ein sehr guter Freund Joshuas war, aber doch auch dem Sanhedrin angehörte, erzählte er ihm von dem Plan.
„Du Narr!“ zischte Joseph. „Glaubst du wirklich, Immanuel lässt sich kaufen? Oh, Judas – wenn du ihn diesen Männern auslieferst, ist das sein Todesurteil.“
„Mein Meister wird das Angebot annehmen“, sagte Judas zuversichtlich.
„Falls er überhaupt eines bekommt“, meinte Joseph traurig und eilte davon.

Joshua war mit seinen Jüngern und Jüngerinnen bereits bei Josephs Haus angekommen. Einige von ihnen zogen weiter in die Stadt, wo sie eine Bleibe bei Verwandten hatten, da im Haus nicht Platz für alle war. Aber die engsten Freunde und Freundinnen Joshuas blieben bei ihm. Sie hatten sich vorgenommen, erst am nächsten Tag nach Jerusalem zu gehen. Das Passah-Fest war erst in einer Woche – zu der Zeit, wo Joshua nicht mehr leben sollte...
Er fühlte es diesmal besonders intensiv, deshalb war er auch viel ruhiger und wirkte auf seine Jünger und Jüngerinnen, die ihn besonders gut kannten, traurig.
Vor allem Magdalena war sehr bemüht um ihn, die ihn noch als lustigen, meist lachenden Menschen kannte. Auch Johannes, der noch immer am liebsten in seiner unmittelbaren Nähe war, fühlte die Traurigkeit seines geliebten Freundes.
In diesen Tagen hielt sich Joshua sehr oft im angrenzenden Garten auf. Er wollte alleine sein, - alleine mit dem Lichtwesen, um es um Rat zu bitten. Aber das Lichtwesen hatte keinen Rat für ihn. Es schien genauso, wie Joshua selbst, zu wissen, dass der Weg zu Ende gegangen werden muss...
Dort im Garten blickte er zu einer Erhebung hoch, kniete davor nieder und grub weinend sein Gesicht in den Schoß. So verweilte er, bis ihn jemand an der Schulter berührte.
Es war Joseph, der bei ihm kniete und dem das Herz selbst ganz schwer wurde, als er Joshua weinend vorfand. Die beiden Männer umarmten sich. Obwohl Joshua den Wunsch hatte, alleine zu sein, war er jetzt froh, in einem seiner ältesten Freunde Trost zu finden und auch ein bisschen menschliche Wärme zu spüren.
„Du darfst nicht hier bleiben, Immanuel“, sagte Joseph nach dieser innigen Umarmung und erzählte ihm von Judas und dessen Plan.
„Auch wenn du meinst, das Volk hinter dir zu haben, so wird es für Kaiphas doch sehr einfach sein, dich den Menschen in Jerusalem als Scharlatan und Hochstapler hinzustellen“, schloss er seine Rede ab.
Joshua hörte ihm fast ungerührt zu.
„Eine Wahrsagerin hat mir einmal aus der Hand gelesen“, sagte Joshua leise. „Sie muss Schreckliches gesehen haben. Und als ich sie verließ, hörte ich hinter mir ihre Worte. Sie sagte: ‚Seht das Lamm Gottes.’ Und wie hast du mir letztes Jahr aus deinen Schriften vorgelesen? Wie ein Schaf stumm ist, vor dem der es schert...
Joseph, niemand kann den Lauf der Welt aufhalten. Auch wenn wir uns fragen, wozu das alles? – so muss das Schicksal dennoch erfüllt werden. Glaube mir, - auch wenn ich nicht hier bleibe, werde ich den Häschern in die Hände fallen. Es gibt keinen Ausweg mehr. Ich bin diesen Weg gegangen und werde ihn auch zu Ende gehen.“
„Wozu, Immanuel? Glaubst du, durch deinen Tod etwas an den Menschen verändern zu können?“ fragte Joseph händeringend.
„Ja, vielleicht ist das noch die einzige Möglichkeit, ihnen die Augen zu öffnen.“
Joshua nahm die Hände seines alten Freundes.
„Worte haben nichts bewirkt, Joseph, - und ich weiß, sie können auch nichts bewirken, wenn die Menschen nicht selbst in sich suchen und finden. Ich habe ihnen oft gesagt, wie ich fühle, - wie ich selbst Gott fühlen kann, aber sie haben nichts verstanden. Stattdessen sehen sie nur in mir Gott, aber nicht auch in ihnen selbst. Sie verherrlichen mich und meine Worte, statt in sich selbst das Göttliche zu suchen.“

Am nächsten Tag wollten sie in die Stadt gehen. Joshua, der immer nur barfuss ging, hatte sich, als er am Morgen aus dem Haus ging, einen Dorn in den Fuß getreten, dass er nur schwer auftreten konnte. Thomas hatte eine herrenlose Eselin, mit einem Füllen, eingefangen und bat Joshua, auf diesem Tier wie ein König in Jerusalem einzureiten. Joshua wehrte zuerst ab, - aber auch die anderen drängten ihn, - legten ihre Umhänge auf den Rücken der Eselin und hoben Joshua hinauf. Er hatte nicht mehr den Willen, etwas dagegen zu sagen. Er fühlte sich fast schon wie eine Marionette, deren Fäden viel mehr von den Jüngern gezogen wurden...
Aber es war leichter für Joshua, als den doch langen Weg in die Stadt zu fuß zu gehen.
„Lach doch wieder, Joshua“, sagte Johannes, der die Eselin führte. „Wenn du mit so einem traurigen Gesicht in Jerusalem einziehst, wird dich niemand für einen König halten.“
Joshua seufzte und blickte liebevoll auf seinen jüngsten Freund, der noch immer wie ein kleines Kind wirkte. Ihm konnte er keinen Vorwurf machen. Der naive junge Mann würde nicht verstehen, warum sich Joshua niemals als König fühlen könnte. Für Johannes hatte die Bezeichnung „König“ ja auch nicht die Bedeutung, welche die Jünger und Jüngerinnen ihr gaben...

Die Stadt war bereits überfüllt von Pilgern und Fremden, dass es gar nicht so einfach war, sich einen Weg durch die Straßen zu bahnen. Einige Jünger und Jüngerinnen, die voran schritten, priesen laut rufend die Ankunft ihres Meisters, dass sich mehr und mehr Neugierige um sie drängten, ihnen aber Platz zum weitergehen machten.
Joshua, der noch immer auf der Eselin saß, versuchte zwar zu lächeln und winkte einigen Menschen zu, die ihm zujubelten. Aber so ganz war er nicht da, - wollte auch nicht da sein, zumindest nicht auf diese Art. Er erinnerte sich an seinen ersten Besuch in Jerusalem, wo er noch ein halbwüchsiger Junge unter der Menge war, um den sich niemand scherte. Seitdem hatte er diese Stadt nicht wieder betreten. Er wusste selbst nicht, warum er mehr und mehr Abneigung gegen Jerusalem bekam, wo er doch damals so fasziniert von dieser Stadt und den vielen Menschen war. Damals hatte er noch nicht so viel gesehen, - damals war diese Reise etwas ganz Besonderes für ihn. Damals war er richtig begeistert von dem völkerreichen Anblick, - den leicht bekleideten Mädchen, den bunt und vornehm gekleideten Fremden. Nun aber, wo er dieses Bild wieder vor Augen hatte, missfiel ihm all das. Er hatte erkannt, dass die Menschen immer nur das Äußere sehen wollen, - das Innere, das doch genauso, wenn nicht viel mehr, da war, vernachlässigen sie.
Joshua blickte auf die Seite, zu einer Häuserwand, wo an einem Haus eben ein Fenster geöffnet wurde. Eine junge Frau lehnte sich heraus und sprach kurz mit Magdalena, die eben daran vorbei ging. Joshua erinnerte sich, dass Magdalena ihm einmal von ihrer weit entfernten Cousine Salome erzählt hatte, die angeblich Schuld an Jokanaans Tod hatte. Joshua blieb fast das Herz stehen, als das Mädchen den Kopf hob und sich ihre Blicke trafen. Wie erstarrt hockte er auf der Eselin und drehte seinen Kopf zurück, um sie nicht aus den Augen zu verlieren. Am liebsten wäre er abgestiegen, zu ihr geeilt – aber die Menschen riefen nach ihm, und Johannes zog die Eselin weiter.

Beim Tempel angekommen, befand sich Joshua noch immer wie in Trance. Noch immer sah er das wunderschöne Gesicht der jungen Frau vor sich, - fühlte ihre Blicke am ganzen Körper. Es war ein Gefühl, als ob ein mächtiges Feuer in ihm erweckt worden wäre, das ihn nun schmerzlos verbrannte.
„Meister, komm, wie gehen in den Tempel!“ hörte er die Worte seiner Jünger und fühlte, wie sie ihn von dem Reittier herunter hoben.
Wie im Traum setzte er einen Fuß vor den anderen die Stufen hoch. Er spürte die Wunde des Dorns nicht mehr...
Jakobus reichte ihm etwas zu trinken.
„Das wird dich erfrischen“, meinte er.
Joshua aber kam nur langsam wieder zu sich. Er sah die Händler und Geldeintreiber vor dem Tempel und auch in den Tempelhallen.
„Ist das nicht viel mehr ein Haus zum Beten, denn als Händel zu treiben?“ fragte er, wobei er diese Frage viel mehr sich selbst stellte.
Aber einer der Händler hörte seine Worte, sprang auf und schrie Joshua entgegen: „Willst du jetzt auch die Menschen hier in Jerusalem mit deinen Sprüchen rebellisch machen?“
Der Mann hob seine Hand und wollte Joshua ins Gesicht schlagen. Aber die Jünger waren aufmerksam, und es dauerte nicht lange und schon war eine gewaltige Rauferei im Gange.
Joshua trat einige Schritte zurück. Mit Schrecken blickte er auf seine Jünger, die gar nicht sanft mit den Händlern und Geldeintreiber umgingen.
„Hört auf!“ schrie er endlich, so laut er konnte und versuchte sogar, einige Raufbolde voneinander zu trennen. „Hört endlich auf, euch zu schlagen! Wer Gewalt sät, wird Gewalt ernten! Das, was man sät, erntet man! Wenn ihr jedoch Liebe sät, werdet ihr Liebe ernten!“
Immer öfter schrie er diese Worte, bis ihn die Menschen erhörten. Es könnte aber auch durchaus sein, dass es viel mehr an der Tempelpolizei lag, die gefährlich näher kam, und sich die Jünger etwas schneller entfernten.
Joshua machte dieser Zwischenfall noch trauriger. Aber er rügte seine gewalttätigen Jünger nicht. Schweigend ging er mit ihnen um den Tempel herum. Durch eine Hintergasse verließen sie die Stadt, um zu Josephs Haus zurück zu gehen.

Dort angekommen, ging er in den Garten zurück – alleine, obwohl Johannes fast weinend bat, ihn begleiten zu dürfen. Der Junge war bei der Rauferei nicht dabei. Er hielt sich, zitternd am ganzen Körper, im Hintergrund und hatte panische Angst um seinen Liebling, den man fast geschlagen hätte.
Es ist schwer zu beschreiben, was nun in Joshua vorging. Er dachte an Josephs Worte, dass ihn einer seiner Jünger dem Sanhedrin ausliefern wird. Er dachte an das Angebot, war sich aber genauso sicher wie Joseph, dass es niemals zur Sprache kommen wird, - dass es viel mehr eine List war, um Judas gesprächig zu machen. Aber würde es dieses Angebot geben, - was würde er nun tun? Joshua dachte an die junge Frau am Fenster. Er war sich nun sicher, dass es Salome, Magdalenas Cousine, war. Und er hatte in diesem Moment gespürt, dass sie dasselbe Feuer gefühlt hat wie er. Ihr Blick war zuerst erstaunt, als könne sie nicht glauben, was sie da sieht. Ihm ging es ja genauso. Aber gleich darauf lag so viel Liebe in ihrem Blick, - so viel Begehren, - der Wunsch, ihn zu umarmen, bei ihm zu sein und ihn nie wieder loszulassen. Sie fühlten beide dasselbe, dessen war sich Joshua sicher. In Gedanken malte er sich aus, wie er auf einem Thron sitzt, - zu seiner rechten Salome, seine Königin...
Joshua seufzte und ließ sich unter einem Baum nieder. Warum jetzt? Warum erst jetzt? Er schloss seine Augen, um Salomes Gesicht besser vor sich zu sehen. Wie schön sie war, - den zarten Körper in ein blaues, einfaches Kleid gehüllt, - das lange, dunkle Haar fiel sanft auf die schmalen Schultern, als sie sich am Fensterrahmen abstützte, ihren Kopf hob und ihm direkt in die Augen blickte. Ihre fast schwarzen Augen hatten eine unendliche Tiefe, in die Joshua rettungslos gefallen war.
Als er seine Augen wieder öffnete, saß das Lichtwesen, wie er, mit gekreuzten Beinen, vor ihm und blickte ihn nachdenklich aus gelb leuchtenden Augen an. Noch immer war Joshua hingerissen von seiner Schönheit und Vollkommenheit. Nun aber war er noch mehr erstaunt, denn das zarte Gesicht des Leuchtenden Wesens erinnerte ihn an Salome. Das Gesicht der jungen Frau war vielleicht nicht ganz so vollkommen, - aber da war etwas, was er durchaus in beiden sah.
Joshua seufzte wieder und senkte seinen Blick.
„Ich habe versagt“, sagte er flüsternd und spürte im nächsten Moment die sanfte Berührung des Lichtwesens auf seinem Arm.
„Warum sollst du versagt haben?“ fragte es und lächelte.
„Ich hätte meiner Gefolgschaft verbieten sollen, den Menschen etwas über mich zu sagen. Ich hätte selbst zu den Menschen sprechen sollen, so wie sie es getan haben. Ich hätte zu großen Menschenmengen sprechen sollen, nicht zu den einzelnen.“
„Und was hättest du ihnen sagen sollen?“ fragte das Lichtwesen wieder.
„Dass sie an keinen Gott glauben dürfen, dass jeder Gott, an den sie glauben, sie verschlingt und es ihnen unmöglich macht, ihre eigene Göttlichkeit zu erkennen.“
„Sie hätten dich nicht verstanden, Joshua“, sagte das Lichtwesen sanft.
„Es haben ja auch die einzelnen Menschen nicht verstanden, was ich gesagt habe“, sagte Joshua fast flüsternd und blickte das Lichtwesen an.
Es war so wunderschön, dass ihn dieser Anblick wieder besänftigte. Sein langes, goldfarbenes Haar fiel weich über die zarten und doch muskulösen Schultern über seine Brust und wie ein schäumender Wasserfall aus Gold in seinen Schoss. Obwohl Joshua nie sein Geschlecht sehen konnte, glaubte er, dass es ein androgynes Wesen sein muss.
Es kam aus der Zukunft, wie es ihm einmal verriet und hatte wohl schon unzählige Leben hinter sich, die es nun bewusst erkannte und deshalb der Mann, wie auch die Frau in ihm vereint war.
Wenn es aus der Zukunft kommt, - überlegte Joshua weiter, - und es Luzifer und sein Reich besiegt hatte, während Jokanaan ihn im Jordan taufte, dann muss dieser Sieg auch erst in der Zukunft stattfinden.
„Deine Gedanken sind richtig“, spürte Joshua die sanfte, weiche Stimme des Lichtwesens in seinem Inneren. „Für euch Menschen sind die Götter, Göttinnen, Engel und Dämonen noch da. Sie werden euch so lange beeinflussen und daran hindern, vollkommen zu werden, so lange ihr auf sie hört. Und es werden mit der Zeit noch mehr kommen, die euch hinters Licht führen werden, damit ihr Lehren verbreitet, die euch noch mehr an sie binden.
Aber der Tag wird kommen, an dem ihr erkennen werdet, dass alles in euch selbst ist, - dass es keinen Gott gibt, der lobt oder straft. Das wird der Tag sein, an dem ihr endlich wirklich erwachsen werdet und jeder einzelne Eigenverantwortung übernimmt.“
„Es liegt nicht an dir, Joshua“, sprach das Lichtwesen sanft weiter „obwohl die Menschen in der Zukunft in dir einen neuen Gott sehen werden. Wir beide wissen, dass du kein Gott bist und mit dem Reich der Götter, Göttinnen, Engel und Dämonen nichts gemeinsam hast, - aber die Menschen der Zukunft werden dies lange nicht wissen.
Es mag dies der vielleicht letzte Ruf aus diesem Reich sein, indem ein Wesen aus ihm, welches ihr den Einen Gott nennt, dich deinen eingeborenen Sohn nennt. Viele Menschen werden ihr Herz scheinbar an dich verlieren, aber es wird dieser Eine Gott sein, der ihnen alles Bewusstsein nimmt und sie zu seinesgleichen macht, wo es ihnen unmöglich sein wird, ihre eigene Vollkommenheit zu erkennen.“
„Kannst du ihnen nicht helfen?“ fragte Joshua.
„Ich habe getan, was ich tun konnte. Ich bin kein Wesen, das beeinflusst. Das sagte ich dir bereits. Die Menschen müssen bereit sein, um diese, meine Tat der Befreiung zu erkennen, - und ich weiß, der Tag ihrer Bereitschaft wird kommen. Erst dann werden alle Wesen frei sein, und das Universum wird wieder Eins sein.“
Joshua strich sich mit beiden Händen über das Gesicht. Ihm schwindelte bei diesen Gedanken.
„Deine Tat der Befreiung, als du Luzifer besiegt hast, liegt schon für mich in der Vergangenheit, - und doch willst du sagen, dass sie erst in einer weit entfernten Zukunft fühlbar sein wird?“ fragte er im Flüsterton.
Das Lichtwesen nickte nur.
„Aber was habe ich damit zu tun? Warum verwickelst du mich in etwas, was mich gar nichts angeht?“ fragte Joshua verzweifelt.
„Durch dich war es mir möglich, an Luzifer heranzukommen. Ja, es mag dir grausam erscheinen, dass ausgerechnet du zu einem Spielball außerweltlicher Wesen wurdest. Aber ich weiß auch, dass du all diese Ereignisse bald mit anderen Augen sehen wirst.
Ich habe dir doch gesagt, dass du und ich gleich sind. Wir beide sind Eins, Joshua. Das, was du vor dir sitzen siehst, ist deine Zukunft. Das, was du als meine Worte in dir fühlst, sind deine Worte der Zukunft.
Als Mensch würdest du sagen, ich bin dein ganz persönlicher Gott. Aber ich bin kein Gott, sondern nur ein Wesen, welches die Ganzheit seines Selbst erkannt hat. Ich lebe alle Leben der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft gleichzeitig. Ich lebe auch dein Leben, Joshua. Und ich weiß, du hast dies erkannt, sonst würdest du mich nicht sehen, nicht wahrnehmen können.
Alle Menschen, alle Lebewesen könnten dies erkennen, denn sie alle sind so ein Wesen wie ich. Sie müssen nur auf ihr Herz hören, Joshua. Aber das kannst du niemandem sagen, denn du weißt ja selbst nicht, wie du es vollbringst, mich zu sehen. Du wusstest auch nicht, wie es möglich ist, Luzifer als deinen Zwillingsbruder wahrzunehmen.
Es ist ganz einfach, Joshua. Du warst bereit, - und das zu einer Zeit, wo die Menschen in ihrer Entwicklung erst ganz am Anfang stehen. Aber die Menschen spüren, dass du anders bist. Sie werden es noch lange spüren. Viele, viele Jahre nach deinem Tod werden sie noch über dich sprechen.“
„Und zu einem Gott machen“, flüsterte Joshua.
Wieder strich er sich seufzend über das Gesicht. Als er aufblickte, war das Lichtwesen nicht mehr zu sehen. Aber Joshua fühlte wie immer, dass es „da“ war.

Magdalena näherte sich leise dem Baum, hinter dem Joshua saß. Sie sah noch den sanften Lichtschein und Joshuas erschrockenen Blick, als sie vor ihm stand.
„Ich weiß, du willst alleine sein“, sagte sie entschuldigend. „Aber Johannes weint und ist kaum zu beruhigen. Er glaubt, du hast uns verlassen.“
Joshua schwieg. Er sah nur zu Magdalena hoch.
Zögernd kniete sie sich vor ihm auf den Boden, wo er noch vor wenigen Augenblicken das Lichtwesen wahrgenommen hatte.
„Ich möchte dir noch etwas sagen, Joshua“, begann Magdalena leise, mit niedergeschlagenen Augen. „Damals vor der Höhle, am See, wollte ich dich nicht abweisen. Es war meine Eifersucht, die das getan hat, obwohl ich damals, als wir uns am Feld verabschiedet haben, sagte, dass du kein Mann bist, den man als Ehemann besitzen kann, denn du bist für alle da. Nur habe ich das damals anders gemeint, weil ich fühlte, dass du für Höheres geschaffen bist. Du hast mir auch sehr viel über dich gesagt, was meine Gefühle noch bekräftigt hat. Aber jetzt scheint es, dass dir alles durch die Finger gleitet, Joshua. Du siehst müde aus und bist im letzten Jahr alt geworden.“
Magdalena neigte sich vor und fasste eine Strähne seines langen Haares.
„Siehst du, - es sind einige graue Haare darunter“, sagte sie und versuchte zu lächeln.
Aber es gelang ihr nicht. Stattdessen kullerten Tränen über ihre Wangen.
Joshua nahm sie schnell in seine Arme und streichelte ihr sanft über das Haar.
„Ich bin kein Mann, der für alle da ist, Magdalena“, sagte er flüsternd. „Ich wollte den Menschen nur am eigenen Beispiel zeigen, dass man auch in Armut glücklich leben kann.“
Magdalena löste sich von ihm.
„Und – warst du glücklich?“ fragte sie.
Bei dieser Frage spürte Joshua einen brennenden Schmerz in seiner Brust. Ja, er war glücklich, aber das ist länger her. Damals, als er noch alleine durch die Länder zog...
„Weißt du, dass ich oft daran denke, was aus meinem Leben geworden wäre, wenn ich in deinem Dorf wäre und dich zur Frau genommen hätte?“ sagte er und blickte Magdalena tief in die Augen.
Sie wischte sich die Tränen ab und schüttelte ihren Kopf.
„Nein, Joshua. Du hast nie daran gedacht, - auch damals nicht. Wenn ich dich nicht gebeten hätte, an den Feldern auf mich zu warten, wärst du einfach gegangen. Ich habe mich dir aufgedrängt, und jetzt weiß ich auch, dass du kein Mensch bist, der andere zurück stößt. Liebe ist für dich das Wichtigste, - egal welcher Art. Deshalb lässt du es auch zu, dass Johannes dein Lager mit dir teilt. Vielleicht spürst du nicht einmal Lust, wenn er dich berührt, oder du ihn berührst, aber ich denke, du fühlst das Glück in dir, einen anderen Menschen damit glücklich zu machen. Bei mir war es nichts anderes, Joshua.“
Nach diesen Worten stand Magdalena auf und ging langsam zurück zu den anderen.
Joshua sah ihr nicht nach. Er spürte, dass sie die Wahrheit gesagt hatte, - dass sie seine Gefühle, die ihm bis jetzt noch nie bewusst wurden, in Worte gefasst hatte, - in sehr wahre Worte. Joshua dachte an Astarte, die Wahrsagerin. Er konnte ihre Gefühle spüren, wie sie sich auf ihn übertrugen. Es war Glück. Sie war glücklich, in den Armen eines jungen, schönen Mannes zu liegen und von ihm begehrt zu werden, - obwohl es nicht unbedingt das Begehren war, was sie vielleicht von ihm wollte. Dasselbe war bei der Ehebrecherin, die er vor den Menschen gerettet hatte, als man sie steinigen wollte.
„Derjenige von euch, der ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein“, hatte er damals gesagt und die Frau in seine Arme genommen. Niemand warf einen Stein. Nach und nach verließen sie den Ort, - und Joshua und die Sünderin kehrten zurück zum Gefolge. Sie wurde von ihrer Familie verstoßen und hatte kein Heim mehr. Joshua bot ihr an, mit ihm zu kommen, bei ihm ihr neues Zuhause zu finden. Und so teilte sie mit ihm und Johannes in der ersten Nacht das Lager. Johannes machte es nichts aus, dass eine Frau bei Joshua lag, - Hauptsache, er durfte neben ihnen liegen bleiben. Joshua hatte gar nicht vor, mit der Frau intim zu werden. Er wollte sie nur halten, ihr Trost spenden, um so über ihre verlorene Heimat hinwegzukommen. Aber es kam anders, - und doch war er in diesen Momenten glücklich, weil er Liebe und Glück geben konnte.
„Ich habe in den Linien deiner Hand erkannt, dass es für dich nur Liebe gibt“, hatte Astarte gesagt. Sie hätte hinzufügen müssen: „Bedingungslose Liebe, die nach nichts verlangt.“
Joshua verlangte nichts, - er gab nur...
Vielleicht hatte ihn Magdalena ja doch verstanden.
Joshua strich sich über die Haare, die ihm wieder weit über die Brust reichten. Graue Haare? Alt geworden? Er lächelte. Aber Magdalena hatte Recht. Er fühlte sich auch müde und alt, obwohl die einzigen Alterserscheinungen wirklich nur ein paar graue Haare waren. Sie fühlte sein Inneres, sein müdes Herz, denn äußerlich war er noch immer ein „Sohn“, - der Sohn Gottes, wie ihn viele Menschen jetzt schon nannten...

Die nächsten Tage litt Joshua unsagbar. Nur mehr selten hielt er sich bei seinen Jüngern auf und vermied, so gut es ging, jedes Gespräch. Er war lieber alleine im Garten, unter dem Baum, wo er der bedingungslosen Liebe und ständigen Gegenwart des Lichtwesens am nächsten war.
Gerne hätte Joshua mit Magdalena geredet, sie über Salome ausgefragt, um sich gewiss zu sein, ob sie es wirklich ist. Aber Magdalena blieb in diesen Tagen in Jerusalem.
Joshua spürte, dass es bei Salome, falls sie die junge Frau am Fenster war, anders war. Es war sicher auch eine bedingungslose Liebe, denn sollte sie nicht in Erfüllung gehen, wovon Joshua in den letzten Nächten immerzu geträumt hatte, würde es an seiner Liebe zu ihr nichts ändern...

Magdalena kam erst am letzten Abend, kurz vor dem letzten Abendmahl, - in Salomes Begleitung...

Salome war so aufgeregt und nervös wie noch nie in ihrem Leben, als sie und Magdalena die Stadt verließen und zu dem Garten hoch gingen, wo das gemietete Haus des Messias stand. Sie sah ihn schon von weitem, wie er vor einem Baum, neben dem Haus, an den Stamm gelehnt, hockte.
Als sie und Magdalena näher kamen, hatte er seine Augen geschlossen.
„Komm weiter. Er betet. Da will er nicht gestört werden“, flüsterte Magdalena und zog ihre Cousine weiter, um ins Haus zu gehen.
Dort lernte sie weitere seltsame Männer und Frauen kennen, die alle wie Bettler aussahen. Mit einem, den alle den griechischen Philosophen und beim Namen Thomas nannten, unterhielt sie sich sehr lange. Er klärte sie über viele Dinge auf, die sie noch nie in ihrem Leben gehört hatte und davon auch nur wenig verstand. Aber sie war fasziniert von den Reden dieses so gelehrten Mannes.
Plötzlich stürmte ein älterer Mann ins Haus und schrie ständig: „Verrat! Verrat!“
Alle schienen in Aufruhr zu sein und scharrten sich um ihn, dessen Worte sie nicht mehr verstehen konnte, da er nur mehr flüsterte und dann alle aufgeregt durcheinander redeten. Es war Jakobus, der eben von Joseph, dem Hohenpriester, erfahren hatte, dass Judas Joshua heute Nacht an den Sanhedrin ausliefert will.
Salome blieb im Eck auf einer Truhe sitzen und beobachtete die außer sich geratenen Männer und Frauen. Es waren viele Frauen dabei, - fast so viele wie Männer, - und sie schienen sich ebenfalls die Jünger des Messias zu nennen. Auch Magdalena war unter ihnen und redete aufgeregt mit.
Plötzlich musste sie zur Tür sehen. Ein ziemlich starker Sonnenstrahl drang herein und blendete sie, dass sie die Hand schützend über die Augen halten musste, um die Gestalt, die sich in diesem Sonnenstrahl entpuppte, zu sehen. Langsam kam sie näher, auf sie zu und setzte sich lächelnd neben sie auf die Truhe.
Es war Joshua, der Messias, - und niemand, nur sie, bemerkte, dass er den Raum betreten hatte.
„Sie werden mich heute nacht gefangen nehmen und zu Tode verurteilen“, sagte er, und blickte sie noch immer lächelnd an.
Salome befand sich wie in Trance. Anders konnte sie es nicht nennen. Sie wusste auch nicht, was sie mehr beeindruckte. Waren es seine Augen, die tausend mal mehr Ausstrahlung hatten, als die des geköpften Gefangenen, - oder war es seine Stimme, die sie einhüllte wie ein warmer, schützender Mantel, der sie aber nicht von außen, sondern von innen wärmte. Schon vor wenigen Tagen, als sie ihn vom Fenster aus gesehen hatte, spürte sie diese außergewöhnliche Ausstrahlung, die sie sofort gefangen nahm und seitdem nicht mehr losließ.
Das, was er sagte, konnte sie nicht sofort verstehen. Erst, als er es das zweite Mal wiederholte, erkannte sie den Sinn seiner schrecklichen Worte.
„Warum?“ brachte sie mit gebrochener, ihr selbst fremden Stimme heraus.
„Der Held muss geopfert werden. Ich habe einmal gehört, dass ein Held jemand ist, der nicht geopfert wird, sondern einer ist, der sich selbst opfert. Und ebenso habe ich gehört, dass ein Held stets glaubt, er sei unsterblich, denn nur aus diesem Grund ist er fähig dazu, sich selbst zu opfern. Ich bringe das Feuer und reiße ihre Mauern nieder, aber das wissen sie noch nicht“, sagte Joshua, lächelte wieder und stand auf.
Erst jetzt wurde er von seinen Jüngern und Jüngerinnen wahrgenommen und umringt. Jeder wollte ihm einreden, dass sie sofort aufbrechen und die Stadt verlassen müssen.
Joshua hörte sich das eine zeitlang an, bis er mit einem lauten, fast donnernden „Ruhe“ die Lärmenden zum Schweigen brachte.
„Ich gehe nirgendwohin“, sagte er dann sanft. „Das Opferlamm muss geschlachtet werden.“
Salome glaubte, sich in Gesellschaft lauter Irrer zu befinden. Noch nie hatte sie Menschen auf diese Art reden gehört. Schon Thomas hatte sie verwirrt, - aber dann erst recht Joshua, von dem sehr viele glaubten, wie sie in der Stadt gehört hatte, er wäre Gottes leiblicher Sohn.
Wie hätte so was möglich sein können, dass jemand Gottes leiblicher Sohn ist? Magdalena hatte sie in der letzten Nacht aufgeklärt, dass seine Mutter schwanger geworden ist, ohne je einen Mann gehabt zu haben. Und das soll wirklich so gewesen zu sein.
Unter der Gefolgschaft Joshuas war es ruhig geworden. Sie setzten sich schweigend und nachdenklich blickend an die reich gedeckte Tafel. Salome nahm neben Magdalena Platz, - gegenüber von Joshua, der mit gesenktem Blick den Ehrenplatz übernommen hatte. Der Stuhl zu seiner linken Seite war leer.
Sie schienen alle auf etwas zu warten, - bis ein schwarz gekleideter Mann zur Tür herein kam, sich entschuldigte, weil er zu spät kam und noch etwas in der Stadt zu erledigen hatte. Als ihn Joshuas Blick traf, errötete er und setzte sich schnell und schweigend an seine linke Seite auf den freien Stuhl. Salome verfolgte mit offenem Mund diese Szene und verstand absolut nichts.
Dann begannen sie ruhig mit dem Essen. Niemand sprach ein Wort, bis plötzlich Joshua ein Stück Brot in den Becher Milch tauchte und es dem Mann an seiner linken Seite reichte.
„Geh jetzt, und tu, was du tun musst“, sagte er leise, ohne den Mann anzusehen.
Dieser sprang wutentbrannt auf, dass sein Stuhl krachend zu Boden fiel.
„Ja, ich werde es tun!“ schrie er wild. „Einer von uns muss ja etwas tun! Oder glaubst du, durch deine unverständlichen Worte könntest du unser Volk retten?!“
Dann warf er noch einen verächtlichen Blick in die Runde und lief aus dem Haus.
Thomas, der zwei Stühle weiter von Joshua saß, wollte aufstehen und ihm nachgehen, - aber dieser neigte sich schnell vor und hielt ihn am Arm zurück. Er sagte nichts. Er sah ihn nur durchdringend an, als ob sein Blick mehr als Worte sagte.
Ja, es musste auch so sein, - dachte Salome und blickte bewundernd zu ihm hinüber. Er sah mich nur an, und ich konnte mich selbst in seinem Blick erkennen.
In diesem Moment trafen sich ihre Augen. Salome erstarrte, aber sie hielt diesem intensiven Blick, der sie am ganzen Körper liebkoste, stand. Hitze stieg in ihr auf, und es entkam ihr auch ein leises Stöhnen, als sie den Blick wirklich fühlen konnte, wie er in sie eindrang und ihr Innerstes streichelte. Sie saß nicht mehr auf dem Stuhl, befand sich nicht mehr in diesem Haus – nein, sie lag nackt auf einer riesigen Wolke und neben ihr Joshua, der sie in seinen starken Armen hielt. Auch er war nackt und drückte seinen wunderschönen Körper fest an ihren, bis er ihn durchdrang – bis sie nur mehr aus einem einzigen Körper bestanden. Salome blickte an sich herab – sie war nur mehr Licht und fühlte Joshua in sich. Dieses Gefühl auszusprechen war unmöglich – es war mehr als Glückseligkeit.
Mit einem Ruck wurde sie aus diesem wunderschönen Traum heraus gerissen. Magdalena, die neben ihr saß, gab ihr einen Stoß in die Rippen.
„Sieh ihn nicht so an“, zischte sie, und Salome schloss schnell ihre Augen.
Ihr Herz raste und sie zitterte am ganzen Körper, dass sie nicht mehr fähig war, weiter zu essen.
Nur kurz wagte sie noch einen Blick zu Joshua, der ihr lächelnd zunickte.
Nun war sie mehr als verwirrt. Was sollte sie von all dem halten? Die Menschen behaupten, Joshua wäre der Sohn Gottes, der Messias, - ja, vielleicht sogar Gott selbst. Nein, - das darf nicht sein, denn ihre Gedanken wären dann sündig. Sündig? Sagte Magdalena nicht, Joshua hätte gepredigt, dass am Menschen selbst nichts Sündiges ist, - dass sich der Mensch nur selbst zur Sünde macht?
Sie verstand überhaupt nichts mehr. Nur mühsam konnte sie sich vom Stuhl erheben, und es war ihr egal, was man von ihr dachte, als sie wortlos und so schnell wie möglich den Raum verließ, um in die Nacht hinaus zu gehen.
Dort ließ sie sich weiter hinten im Garten neben einem Baum nieder und begann bitterlich zu weinen. Obwohl ihr langsam kalt wurde, wagte sie es nicht mehr, in das Haus zurück zu gehen. Magdalena dachte sicher, sie wäre zurück in die Stadt, in das Haus ihrer Tante, gegangen. Es war ihr alles egal. Am liebsten würde sie neben diesem Baum erfrieren, so durcheinander war sie.
Dieses Gefühl, diese so reale Vision, die sie eben hatte, verwirrte sie total.
Wie sagte Joshua?
„Ich bringe das Feuer und reiße ihre Mauern nieder.“

„Ich bringe das Feuer und reiße ihre Mauern nieder.“
„Oh ja, mir hast du das Feuer gebracht. Ich habe sogar diese wilde Hitze in mir gefühlt. Und du hast auch meine Mauern niedergerissen. Nackt war ich vor dir – wirklich nackt, - nackter kann man gar nicht sein“, drangen die Worte wie von selbst über ihre Lippen.
„Aber du hast verstanden, obwohl du meinst, nicht zu verstehen“, hörte sie die sanfte, so wohlklingende Stimme Joshuas.
Salome fuhr erschrocken hoch. Neben ihr stand Joshua, wie aus dem Nichts erschienen.
„Nein“, sagte er lächelnd, als hätte er ihre Gedanken gelesen und nahm ihre zitternden Hände. „Du hast mich nicht kommen sehen, weil du so sehr in Gedanken versunken warst. Ich vollbringe keine Wunder, wie man mir nachsagt. Das, was sie Wunder nennen, ist nur ihre Unkenntnis.“
„Aber du kannst in der Luft schweben“, stammelte Salome. „Das hat mir Magdalena gesagt“, setzte sie gehetzt hinzu.
Joshua lächelte wieder sanft.
„Durch bedingungslosem Glauben ist dem Menschen fast alles möglich“, sagte er leise, fast flüsternd, neigte sich zu Salome herunter, und hauchte einen Kuss auf ihre Stirn.
Salome schloss die Augen. Die Stelle auf ihrer Stirn, wo er sie eben geküsst hatte, brannte schmerzlos.
Mit einem Moment war sie wieder sie selbst. Zumindest nannte sie es so, weil ein Großteil ihrer Verwirrtheit verdrängt wurde.
„Du darfst nicht sterben“, sagte sie und drückte Joshuas Hände, die er noch immer sanft in seinen hielt. „Wozu soll das denn gut sein?“
„Glaubst du wirklich, dass mir diese Menschen das Leben nehmen können?“
Salome sah ihn zweifelnd an. Hatte sie es nun mit einem Verrückten zu tun, oder wusste er wirklich so viel?
Plötzlich hörten sie laute Stimmen und ein seltsames Klirren, wie von Rüstungen – als ob man Schwerte ziehe würde. Diese Geräusche kamen schnell näher, bis Salome erkennen konnte, dass es wirklich Soldaten waren.
„Komm mit mir“, sagte sie und wollte Joshua vom Baum wegziehen. „Komm mit in das Haus meiner Tante. Wir werden dich verstecken, bis Ruhe ist, - dann kannst du in der nächsten Nacht die Stadt verlassen.“
Aber Joshua blieb stehen und sah ihr ruhig in die Augen.
Salome blickte genauer in sein Gesicht. Das war kein Schweiß auf seiner Stirn – es war Blut! Joshua schwitzte Blut. Er hatte Angst...
Schon waren die Soldaten bei ihnen und versetzten Salome einen Stoß, dass sie zu Boden fiel. Joshua packten sie brutal, banden seine Hände – obwohl er sich nicht wehrte – auf den Rücken und wollten ihn abführen.
Im nächsten Moment stürmten die Männer und Frauen aus dem Haus – einige von ihnen mit Schwertern bewaffnet. Salome schloss ihre Augen und weinte laut. Sie bekam nur irgendwie mit, dass ein kurzer Kampf stattfand, den Joshua mit lauter Stimme unterbrach.
„Hört auf zu kämpfen! Kämpft im Inneren gegen euch selbst!“
Dann war Ruhe. Joshua war gefangen genommen, und die Jünger und Jüngerinnen zerstreuten sich. Magdalena half ihrer laut weinenden Cousine hoch und brachte sie nach Hause.

Joshua wurde von den Soldaten noch in derselben Nacht dem Sanhedrin vorgeführt. Man stellte ihm viele Fragen, aber Joshua sagte kein Wort. Er senkte seinen Blick und schwieg zu allen Vorwürfen. Nur einmal sah er kurz auf und erkannte Joseph und Nikodemus unter dem Rat der Hohenpriester Jerusalems. Aber Joshua hatte keine Hoffnung, dass die beiden ihn vielleicht retten könnten. Es war die Mehrheit, die über das Urteil entschied, - und zwei waren sicher zu wenig...
Joseph mischte sich nur einmal ein, als einer der Soldaten Joshua ins Gesicht schlug, weil dieser noch immer schwieg.
Das Urteil des Sanhedrin stand fest. Am frühen Morgen wollte man Joshua zu Pilatus bringen, der das offizielle Todesurteil bestätigen musste.
Die Stunden bis zum Morgen wurden für Joshua zur Qual. Er wurde in eine Zelle geworfen und von den Soldaten des Tempels bewacht, für die es ein Vergnügen war, den Gotteslästerer und Verrückten, wie sie ihn nannten, zu schlagen und zu verhöhnen.
Joshua fühlte, wie sich das Lichtwesen mit ihm vereinigte und ihm einen Großteil der Schmerzen abnahm. Er nahm auch seine Stimme in ihm wahr, wie es sagte, es werde ihm beistehen...

Für die engsten Freunde Joshuas war diese Zeit ein Albtraum. Nachdem Joshua von der Tempelpolizei gefangen genommen wurde, suchten von der Gesellschaft fast alle das Weite. Nur Jakobus, Thomas, Simon Petrus, Markus, Johannes und Magdalena blieben, nachdem Magdalena die vollkommen aufgelöste Salome nach Hause gebracht hatte. Thomas ging Joshuas Mutter entgegen, die an diesem letzten Abend schon bei Josephs Haus sein wollte. Es war vielleicht ein Glück für sie, dass sie nicht mit ansehen musste, wie ihr einziger Sohn verhaftet wurde. Aber sie sollte mehr sehen...
Am nächsten Morgen gingen die sieben in die Stadt, wo sie Joseph trafen. Er blickte sie nur an, und sie wussten, dass Joshua nicht mehr zu retten war.
Kaiphas und sein Gefolge hatten bereits ganze Arbeit geleistet. Sie verkündeten dem Volk Jerusalems, dass der sich selbst ernannte Messias sich in ihrer Gefangenschaft befindet und zugebenen hat, ein Schwindler zu sein. Also hatten sie nun auch das Volk auf ihrer Seite.
Thomas, Simon Petrus und Markus verließen sofort Jerusalem. Sie wollten das Trauerspiel nicht mitverfolgen.
Was Johannes durchmachte, kann man wohl kaum mit Worten sagen. Er klammerte sich in höchster Verzweiflung weinend an Jakobus, dem Joshua, bevor er nach dem Mahl das Haus verließ, um nach draußen zu Salome zu gehen, gebeten hatte, sich um Johannes zu kümmern.
Maria, Joshuas Mutter, hielt sich noch tapfer. Sie konnte nicht glauben, dass man ihren Sohn wirklich zu Tode verurteilen wird. Aber als sie dann ganz hinten, mit Johannes und Jakobus, bei dem lärmenden Volk stand, welches im Chor rief: „Ans Kreuz mit ihm!“, und Joshua auf die Terrasse von Pilatus’ Palast geführt wurde, brach sie weinend zusammen.
Auch Jakobus wandte sich ab und hatte alle Mühe, den vor Wut und Schmerz schreienden Johannes und die fast ohnmächtige Maria wegzubringen. Magdalena, die sich in ihrer Nähe befand, half ihm, - und zusammen verließen sie die Stadt, um zu Josephs Haus zurück zu gehen.
Dort verbrachten sie furchtbare Stunden des Wartens, da Joseph ihnen versprach, sie weiter zu informieren.

Erst am späten Nachmittag kam er zu ihnen.
„Man hat ihn gekreuzigt“, sagte er mit erstickter Stimme. „Aber ich habe alles in die Wege geleitet, dass ich ihn mit Hilfe zweier Soldaten in knapp einer Stunde vom Kreuz nehmen und in ein Grab legen werde. Es ist das Grab von Nikodemus, welches er schon vor einem Jahr bestellt hatte.
Wir haben auch Glück, dass heute Abend das Passah-Fest ist. An diesem Abend ist es nicht erlaubt, dass Gekreuzigte den Weg zur heiligen Stadt säumen. Aus diesem Grund wurde es mir auch erlaubt, Immanuel selbst vom Kreuz zu nehmen. Wäre heute Abend nicht das Passah-Fest, würde Immanuel dies sicher nicht überleben und tagelang am Kreuz hängen.“
„Wird er jetzt überleben?“ fragte Jakobus bange.
Joseph seufzte tief, bevor er sprach.
„So, wie sie ihn zugerichtet haben – ich weiß es nicht. Wäre er nur gekreuzigt worden, hätte ich mehr Hoffnung, - und ich will nicht wissen, was sie in der letzten Nacht alles mit ihm gemacht haben“, sagte er und schlug sich schluchzend die Hände vors Gesicht.
Nur schwer konnte sich der Hohenpriester beruhigen.
„Ich habe ihn gesehen, als sie ihn zu Pilatus führten“, sprach er mit tränenerstickter Stimme weiter und sah wieder auf. „Er konnte sich kaum auf den Beinen halten. Und dann ließ ihn Pilatus auch noch geißeln. Ich hab noch nie einen Menschen gesehen, der so viel erleiden musste. Als er den Querbalken auf den Todesberg tragen musste, brach er mehrmals unter der Last zusammen. Er wurde am Boden liegend geschlagen und getreten. Erst auf dem letzten Weg, wo es steiler wurde, kam ihm ein Mann aus der Menge zu Hilfe und trug den Balken für ihn.
Ich sah bei der Kreuzigung zu und betete für Immanuel - aber niemals kam nur ein Schmerzenslaut über seine blutigen Lippen. Fast kam es mir vor, als sei er schon tot gewesen, als man das Kreuz mit ihm aufstellte. Aber er lebte noch, denn plötzlich kamen ganz leise Worte über seine blutigen, aufgesprungenen Lippen. Er sagte: ‚Warum hast du mich verlassen?’ Die Soldaten unter dem Kreuz lachten und verhöhnten ihn abermals, indem sie sagten, nun habe ihn sein Gott verlassen und würde ihm nicht helfen, unversehrt vom Kreuz zu steigen.“
Maria schrie auf. Magdalena nahm Joshuas Mutter tröstend in ihre Arme. Johannes saß stumm da, während ihm Tränen übers Gesicht liefen.
„Das war es also“, sagte Jakobus und konnte vor Schmerz nicht einmal mehr weinen. „Ich werde mit dir gehen, wenn du seinen Leichnam vom Kreuz nimmst. Ich möchte sein Grab sehen.“

Nach Sonnenuntergang gingen Joseph, Jakobus und Johannes, der von nun an nicht mehr von Jakobus wich, zum Todesberg. Maria und Magdalena warteten inzwischen am Grab, welches ihnen Joseph genau beschrieben hatte.
„Man hat ihm nicht, wie den anderen Gekreuzigten, die Beine gebrochen“, sagte Jakobus, als sie vor dem Kreuz standen.
„Wahrscheinlich, weil sie gesehen haben, dass er schon tot ist“, sagte einer der beiden Soldaten, - anscheinend Josephs Bekannte, - die den Querbalken langsam herunter ließen.
„Was hat dieser junge Mann nur verbrochen, dass sie ihn so hassen?“ fragte der andere Soldat und musste sich abwenden, als Joshua leblos vor ihnen am Boden lag.
„Er hat ihnen gezeigt, wie man wirklich lebt“, sagte Joseph.
„Und wie lebt man wirklich?“ fragte der Soldat.
„Indem man seine Träume nicht nur in sich behält, - indem man Innen und Außen verbindet, - es Eins werden lässt, weil alles Eins ist.“
„Verstehst du das?“ fragte der Soldat.
Joseph schloss kurz seine Augen und seufzte nur.
Er und Jakobus legten Joshua auf das Leichentuch, hüllten ihn darin ein und trugen ihn langsam zum Grab. Auch die beiden Soldaten folgten ihnen. Zuletzt folgte Johannes, der sich nur mehr schleppend weiterbewegte, dem kleinen Trauerzug.

Als Joshua im Grab auf dem Leichentuch gebettet lag, knieten sie alle weinend vor ihm nieder. Plötzlich sah Joseph, wie sich Joshuas Hand bewegte. Er stieß Jakobus in die Seite, der neben ihm kniete. Jakobus sprang auf, beugte sich über Joshua und nannte mehrmals seinen Namen.
„Hol Wasser“, befahl Joseph Magdalena, die sofort nach draußen eilte.
Joshuas Augen waren blutverklebt. Nur mit Mühe konnte er sie öffnen.
„Er lebt“, stieß seine Mutter hervor und trat von der anderen Seite zu ihm.
Joshua sah seine Mutter an, dann Joseph und dann wieder seine Mutter. Er wollte etwas sagen, aber er hatte noch nicht die Kraft dazu.
Magdalena kam mit einem Eimer Wasser. Sie tauchte einen Becher hinein und gab Joshua zu trinken. Er schaffte nur einen Schluck, dann quälte ihn ein furchtbarer Husten.
Johannes kniete noch immer am Boden. Er hatte Angst. Für ihn war das alles zu viel gewesen. Er konnte es nicht ertragen, seinen Liebling so zu sehen...
Aber Joshua streckte seine Hand nach ihm aus. Nur zögernd fasste Johannes zu und robbte auf den Knien näher. Dann brach alles aus ihm heraus. Laut weinend, fast schreiend drückte er Joshuas Hand an seine Stirn.
Die beiden Soldaten, die draußen Wache hielten, kamen nun auch herein.
„Es ist ein Wunder, dass er noch lebt“, sagte einer von ihnen.
Magdalena reinigte später Joshuas Wunden und pflegte sie mit einer kostbaren Salbe, die ihr Joseph gegeben hatte.

Am nächsten Tag ging es Joshua etwas besser. Er konnte bereits reden, wobei es viel mehr ein Flüstern war. Wieder sagte er zu Jakobus, er müsse ihm versprechen, sich um Johannes zu kümmern, bei dem er spürte, dass dieser einen sehr großen Schock erlitten hatte. Der Junge saß zwar meistens bei ihm, aber er brachte kein Wort mehr heraus – so wie früher, als er noch bei seinen Eltern versteckt in einem kleinen Abteil der armseligen Hütte lebte.
Seiner Mutter hatte Joshua nur wenig zu sagen. Er bat sie mehrmals, wieder nach Hause zu gehen.
„Du wirst wieder gesund, Joshua, - und dann werden wir zusammen nach Hause gehen“, sagte Maria schluchzend.
„Ich bin meinen Weg in dieser Welt zu Ende gegangen“, sagte Joshua mit noch schwacher Stimme. „Aber das ist nicht wirklich das Ende, und es gibt keinen Grund zur Trauer. Wir alle werden uns wiedersehen.“
Dann äußerte er abermals die Bitte an seine Mutter.
„Geh zurück in dein Heimatdorf, aber nimm Johannes mit dir und sei wie eine Mutter zu ihm. Er braucht ständig einen Menschen um sich, dem er vertauen kann. Johannes weiß, dass du meine Mutter bist, deshalb wird er dir vertrauen. Er vertraute in diesen Tagen auch Jakobus.“
Mehr sagte Joshua nicht, denn mehr wollte er seiner Mutter nicht zumuten. Er spürte ja, dass die letzten Tage für sie genauso hart waren wie für ihn.
Nur schweren Herzens verließ Maria, zusammen mit Johannes, Jerusalem und kehrte nach Hause in ihr Heimatdorf zurück.

Joshuas Grab wurde ständig von Joseph, Jakobus oder Magdalena bewacht. Immer war einer (eine) von ihnen bei ihm, bemüht, ihn wieder ganz gesund zu machen.
Am dritten Tag, - es war fast Abend, saßen Jakobus und Magdalena an Joshuas Lager, als Magdalena plötzlich erwähnte, dass Salome zu Hause ständig weint und nicht weiß, dass Joshua noch immer lebt.
„Bring sie zu mir“, bat er Magdalena und richtete sich noch etwas mühsam auf.
Magdalena sah Joshua erstaunt an.
„Nein, ich habe eine bessere Idee“, meinte Joshua, als er Magdalenas Blick sah. „Einer von euch soll sie nach Damaskus bringen. Jakobus, am besten machst du das. Rasier deinen Bart und verhüllte dich, dann wird dich niemand wiedererkennen. Ich werde euch in zwei Tagen folgen.“
„Warum Damaskus?“ fragte Jakobus, der ebenso überrascht war wie Magdalena.
„Ich war noch nie in Damaskus, und außerdem ist diese Stadt nicht von den Römern besetzt. Auch ich werde meinen Bart rasieren, selbst wenn er noch immer etwas spärlich ist, und mein Haar schneiden. So wird niemand auf den Gedanken kommen, mich für den Messias zu halten, der vor Tagen in Jerusalem gekreuzigt wurde und nun vom Tode auferstanden ist, wie es in den alten Schriften prophezeit wurde.“
„Wo du eben von der Kreuzigung sprichst“, wandte Jakobus ein. „Joseph erzählte, dass du knapp vor der Ohmacht etwas gesagt hast, - etwa mit den Worten: warum hast du mich verlassen? Wer hat dich verlassen, Joshua?“
Joshua lächelte, obwohl er noch ziemliche Schmerzen hatte. Er erinnerte sich, als das Lichtwesen ihm in der Zelle wissen ließ, dass es ihn begleiten und ihm die ärgsten Schmerzen abnehmen wird. Aber zu der Stunde der Kreuzigung fühlte Joshua, wie es sich mehr und mehr von ihm entfernte. Es sagte, es müsse ihn nun sich selbst überlassen, um seinen angeblichen Tod glaubhaft aussehen zu lassen. In dem Moment spürte Joshua all die Qualen der letzten Stunden. Der Schmerzensschrei erstickte in ihm, stattdessen brachte er noch die Worte, die Jakobus eben genannt hat, über seine Lippen, bevor er in Ohnmacht fiel.
„Ich war im Fieber, Jakobus, - und ich kann mich nicht mehr erinnern, was ich gesagt habe und warum ich etwas gesagt habe“, schwindelte Joshua und senkte seinen Blick.
Obwohl Jakobus, wie auch Magdalena fast alles über sein Geheimnis wussten, wollte er es diesmal für sich behalten.

Am nächsten Morgen begaben sich Jakobus und Magdalena in die Stadt. Salome war außer sich vor Freude, dass Joshua noch lebt.
„Dann war mein Traum also die Wahrheit“, sagte sie mit Tränen in den Augen, als Jakobus und Magdalena ihr in ihrem Zimmer alles offenbart hatten.
„Welcher Traum?“ fragte Magdalena.
„In der Nacht des Passah-Festes träumte ich, dass ich auf den Todesberg gehe. Ich stand plötzlich vor dem Kreuz und blickte zu Joshua hoch. Ich war alleine dort. Alles war ruhig und sehr dunkel. Plötzlich hob sich eine hell leuchtende Gestalt aus den toten Körper Joshuas, die aber sein Aussehen hatte, nur mit dem Unterschied, dass Joshua eine Lichtgestalt war. Diese Lichtgestalt neigte sich zu mir herunter, stieg ganz aus dem toten Körper, kniete sich zu mir und nahm mich in seine Arme. Es sagte, es wird mich von hier wegbringen, - in eine fremde Stadt, wo wir zusammen leben werden und uns nichts mehr trennen wird.“
Jakobus und Magdalena sahen sich überrascht an.
„Joshua hat mich aufgetragen, dich nach Damaskus zu bringen“, sagte er dann. „Er wird in wenigen Tagen nachkommen.“
Vor Freude weinte Salome auf, und Magdalena umarmte sie.
„Er liebt dich, Salome“, flüsterte sie ebenfalls unter Tränen. „Enttäusche diese so kostbare Liebe nie. Ich wünschte, er hätte mich so geliebt.“
Dann wandte sie sich um und verließ das Haus. Magdalena ging nicht mehr zurück zum Grab. Joshua war ja nicht alleine. Joseph war bei ihm. Sie ging am Haus Josephs vorbei, blickte in den Garten und erinnerte sich an das letzte Gespräch mit Joshua. Aber sie wollte nicht mehr nachdenken. Ihr Herz war plötzlich seltsam frei, - eine Freiheit machte sich in ihr breit, die sich kaum mit Worten erklären ließ. Und augenblicklich verstand sie Joshua. Oh ja, er war schon ein Mann, den man als Ehemann besitzen kann. Er war ein Mensch wie alle anderen, selbst wenn er diese außergewöhnliche Ausstrahlung und Schönheit, wie auch diese seltsamen Augen hatte. Das unterschied ihn nur äußerlich von den anderen. Aber innerlich war jeder Mensch anders. Hier gab es keinen Unterschied mehr. „Denn wozu unterscheiden, wenn doch alles unterschiedlich ist?“ Fast konnte sie diese Worte, die Joshua einmal zu ihr sagte, jetzt hören.