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#1 | Die Rebellen (K) datum

08.08.2015 09:45 (zuletzt bearbeitet: 07.01.2019 15:56)

Irgendwo in den Nebenstraßen heulte eine Sirene auf, - kurz darauf ertönte das Quietschen von Autoreifen und schrille Schreie.
Die Schritte der beiden Mädchen wurden schneller. Es war nicht ungefährlich, alleine durch diese zerbombte Gegend, zu gehen. Das Treffen sollte um die Ecke statt finden.
Das größere der beiden Mädchen blieb kurz stehen und blickte zum grauen Himmel hoch. Es war alles grau in grau, - die zerfallenen Häuserwände, die aufgebrochenen Straßen und der Himmel, der keine Sonnenstrahlen mehr durch ließ. Am Horizont stieg dichter Rauch auf. Er stammte von dieser Fabrik, von der man nicht so recht wußte, was dort gearbeitet und erzeugt wird.
Plötzlich stand ein Mann vor den beiden Mädchen, die wie gehetzt um die Ecke liefen. Er packte die beiden am Arm und lief mit ihnen über die Kreuzung. Dann bogen die drei in eine Häusereinfahrt ein. Das große Mädchen erschauderte kurz. Es wußte, wo es sich befand. Schwer atmend lehnte es sich an die noch stabile Mauer der Ruinen des Innenhofs. Sein Blick wanderte über das Gelände hinüber zu einer eingeschlagenen Tür. Man konnte ein bißchen in das zerfallene Haus sehen. Ein dunkler Korridor, der daran erinnerte, daß dort einmal ein Lift war, der die Bewohner des Hauses zu ihren Wohnungen hoch brachte. Tränen kullerten dem Mädchen über die Wangen, als es die Erinnerung fühlte. Das dritte Stockwerk des Hauses hatte keine Fenster mehr. Sie waren ausgebrochen, samt dem Fensterstock. Nur schwer konnte es ahnen, wie viele Räume diese Wohnung hatte. Die Zwischenwände standen nur mehr Zentimeterhoch, und von der Einrichtung fehlte jede Spur. Es war alles nur mehr Beton und Ziegelwerk. Das große Mädchen wischte sich die Tränen ab und seufzte. Zu gerne wäre es dort hochgegangen, um die Erinnerung tiefer zu spüren, aber es war zu gefährlich, in diese zerfallenen Häuser, zu gehen, die jeden Moment einstürzen konnten. Aber die gelebte Erinnerung war da. Es kannte sie aus den Büchern und natürlich von den Erzählungen seiner Großeltern und Eltern und vor allem vom liebsten Menschen, seiner Tante. Es war nicht wirklich seine Tante, - das Mädchen nannte sie nur so.
Der junge Mann blickte schweigend auf die beiden Mädchen. Sie schwiegen alle drei, da sie fühlten, daß aus dem Treffen nichts mehr werden kann. Sie hatten die Sirenen und die verzweifelten Schreie gehört. Und dann auch die Schüsse, die sie nicht hören wollten. Die beiden Mädchen wollten auch nicht nachsehen, was passiert war, da sie es bereits wußten, als sie dem Mann, ihnen gegenüber, in die Augen blickten. Er hatte Tränen in den Augen.
Es waren sicher alle tot, - erschossen von den Polizisten der Armee.
Manchmal machten sich die Polizisten die "Arbeit" und nahmen Rebellen fest, was aber nur mehr selten geschah. Viel lieber erschossen sie diese Streuner, die nur mehr aufständisch waren und noch mehr Probleme machten, wie ohnehin schon waren.
Es gab keine Namen mehr. Im großen Amt gab es für jeden eine Nummer. War diese Nummer im Computer registriert, hatte man das Recht, sich in der Stadt aufzuhalten, - wenn nicht, wurde man verhaftet, oder sofort erschossen, was eigentlich kein Unterschied war, denn die Verhafteten wurden nie wieder gesehen....
Rebellen hatten keine Nummern. Man durfte nicht mehr laut denken. Es war schlimmer zu dieser Zeit, als damals im zweiten Weltkrieg. Heute war auch Krieg, aber dieser Krieg kam nicht aus anderen Ländern. Er kam vom eigenen Land, von den Politikern, die ihr Volk beherrschen wollten. Zu dieser Zeit hätte man keine Politiker mehr gebraucht. Ihre Arbeit war sinnlos, weil es nichts mehr zu wirtschaften gab. Aber die "hohen Tiere" wußten sich zu wehren und zwangen die Bevölkerung in die Knie. Die meisten spielten mit und kamen durch diese Unterwürfigkeit manchmal sogar ins große Rathaus, wo die besten Nummern ausgegeben wurden. Es war nur mehr ein Katz- und Mausspiel. Verdächtige gab es viele, - es gab auch Machtkämpfe unter den hohen Tieren. Aber so richtig konnte man dieses Spiel nicht mehr durchschauen. Hunger und Elend gab es überall, außer man hatte in guten Zeiten sparen gelernt. Aber diese guten Zeiten waren schon lange vorbei. Es war der letzte Wirtschaftsaufschwung, wo in der ganzen Welt Arbeit und genug Nahrung war. Aber lange konnte man sich nicht über Wasser halten, denn wo nichts mehr ist, kann man nichts mehr holen.
Das große Mädchen seufzte wieder. Ja, dieser letzte Wirtschaftsaufschwung. Damals war es noch ein Baby, - ein kleines Mädchen von höchstens drei Jahren. Es konnte sich nicht mehr daran erinnern. Aber es wußte alles von den Erzählungen. Abseits der Stadt erinnerte nur mehr ein kleiner Steinehaufen daran, daß hier einmal eine große Halle gestanden ist. Dort fand das Konzert statt, - wenige Monate vor seiner Geburt. Oh, wie sehr wünschte es sich, doch früher geboren worden zu sein. Dieses Konzert, worüber so viel gerätselt wurde, - das eigentlich den letzten, großen Wirtschaftsaufschwung bewirkt hatte.
Der junge Mann schaute vorsichtig um die Ecke und winkte den Mädchen zu. Sie folgten ihm langsam.
Das große Mädchen blickte sich noch einmal um. Das Haus, - die eingebrochene Tür ließ es nicht in Ruhe. Kann man die Zeit nicht mehr zurück drehen? Nein, wir können die Hände der Zeit nicht mehr zurück drehen...
Träume werden wahr, wenn man nur ganz fest daran glaubt. Das Mädchen kniff die Augen zusammen, daß ihm alles wie im Nebel erschien. Für einen Moment hörte es den früheren Straßenlärm, sah die bunten Geschäfte, die Lichter und die großen, schönen Häuser. Den Hof, wo in der Mitte einmal eine Rasenfläche und Bäume waren, - wo Kinder spielten und lachen durften. Darunter die Parkgarage, in die man von der Vorderseite des Hauses hinein fahren konnte. Dort oben im Haus, im dritten Stockwerk, bewegte sich der Vorhang...
Das Mädchen schloß seine Augen und wandte sich ab. Zögernd folgte es seiner Freundin und dem jungen Mann.
Es muß etwas unternommen werden! Die Rebellen waren zu leichtsinnig. Sie sahen ja auch keinen Sinn mehr darin, sich gegen das System zu wehren. Sie hatten Angst. Die meisten von ihnen unterwarfen sich ja doch wieder und kehrten in die Neue Stadt zurück, wo man ihnen wieder eine Nummer gab, - oder sie einfach erschoß.
Der Mann winkte den Mädchen zu und bog in eine Seitenstraße ein, von der er gekommen war. Er war noch ein Rebell.
Die Mädchen gingen alleine weiter. Es war ein gefährlicher Weg. Hier in diesem Ruinenhaufen lebten nur Rebellen und Gesindel. Man wußte nie genau, wen man hier treffen wird. Für die Oberen aus der Neuen Stadt war es eine Art Jagdspiel, wenn sie mit ihren Panzerwagen, bis auf die Zähne bewaffnet, hier her kamen. Aber es war auch für sie nicht ungefährlich, denn die Rebellen hatten selbst Waffen, sogar Bomben.
Man wollte dieses zerfallene Viertel schon lange einnehmen und neu aufbauen, um die Stadt zu vergrößern. Es würde wieder ein bißchen Arbeit geben. Aber die Rebellen gaben nicht auf. Sie hielten dieses System nicht für gut. Es war zu viel Unterdrückung dabei. Und nicht nur das, - die Menschen sahen noch immer nicht, daß sich ihr Lebensstandard ändern muß, um die Erde zu retten. Es wurde ja noch immer alles vergiftet. Wasser war schon knapp, und daß der Himmel grau war und kaum mehr Sonnenstrahlen durchkamen, ließ die Obrigkeit kalt. Und, daß es keine Grünflächen mehr gab, sondern nur mehr verfaultes, braunes Moder, war ohnehin egal. Es gab ja Beton. Ja, vielleicht machen sie Beton in dieser Fabrik? Sie fuhren mit großen Lastwagen überall hin, wo gebaut wurde. Große Tonnen befanden sich auf den Lastwagen. Einige behaupten, daß es giftiger Müll ist. Ja, der Müll war auch so eine Sache. Draußen, vor der Stadt, wo einst ein großer Park war, befand sich jetzt die Mülldeponie, die man nur mit Gasmasken und Schutzkleidung betreten konnte. Das große Mädchen ging oft dort hinaus und beobachtete die bedauernswerten Menschen in ihren grauen Plastikanzügen und den häßlichen Gasmasken. Man konnte nicht unterscheiden, ob Mann, oder Frau dort arbeiten. Sie sahen wie Außerirdische, mit ihrer Kleidung, aus. Außerirdische....
Das Mädchen seufzte und sah zum Himmel hoch. Man konnte keine Sterne mehr sehen. Nur diesen einen Stern wollte es zu gerne einmal sehen. Aber das war nicht möglich. Nicht nur, weil es die graue, dichte Nebeldecke nicht mehr zuließ, sondern weil dieser Stern unerreichbar weit weg war.
Es war nicht einfach, diese Erinnerung zu begreifen. Das Mädchen lächelte bitter und ging weiter. In dieser Gegend kam es sich immer verloren vor. Das war eine andere Welt, in der sie von der alten Zeit noch weiter weg geschleudert wurde. Hier war die Erinnerung tot, - vergangen. Hier lag Traurigkeit, - Trauer um eine Zeit, in der es zu gerne gelebt hätte. Es war nur einmal dort, als es mit Tante einkaufen war. Sie gingen selten einkaufen, aber damals wollte ihm Tante die Neue Stadt zeigen, die es seit damals nie wieder sehen wollte. Alle wichtigen Nahrungsmittel wurden ins Haus geliefert. Sie waren reich und konnten sich noch alles leisten. Dem großen Mädchen paßte das nicht so recht. Es mochte diese noch heile Welt nicht, da es das Elend im Rebellenviertel kannte. Die Neue Stadt war nicht groß, nicht einmal ein Drittel vom Rebellenviertel. Es lebten nur Reiche dort, sogenannte Politiker, die über die Arbeiter verfügten, die abseits der Stadt, neben der Mülldeponie, in Betonbunker lebten. Die Arbeiter waren nicht glücklich, obwohl sie alles zum Leben, - wohl bemerkt zum bescheidenen Leben, - hatten. Man erkannte sie sofort an ihrer blauen Einheitstracht, die von der Obrigkeit vergeben wurde. Deshalb nannte man sich auch die Blauen. Die Blauen waren überall, auch in der Neuen Stadt, - aber nur zum Arbeiten. Geschäfte durften sie niemals betreten, sonst würde man ihnen die Nummer nehmen und sie müßten ins Rebellenviertel flüchten, wo sie nur mehr darauf warten würden, bei einer Jagd erschossen zu werden. Die Geschäfte waren nur für die Oberen und die Reichen, zu denen auch das große Mädchen gehörte.
Seine Freundin, die einen blauen Overall trug, winkte ihm zu und ging weiter zu den hohen, kahlen Betonbunkern. Das große Mädchen sah ihr nach, bis sie in einem dieser Bunker verschwunden war.
Es war froh, daß sie die Rebellen nicht getroffen hatten. Seine Freundin wollte die Rebellen kennenlernen und sich ihnen anschließen. Damit hätte sie wahrscheinlich ihre ganze Familie in Gefahr gebracht. Jetzt wußte das große Mädchen, daß es seine Freundin nie wieder ins Rebellenviertel mitnehmen wird.
Heute war freier Tag, - Sonntag nannte man das früher.
Seufzend ging das große Mädchen weiter. Der Weg war noch weit, und es gab nichts mehr zu sehen, als nur modriger, brauner Boden. Also schwebte es wieder in Erinnerungen.
Damals, als es mit Tante in der Neuen Stadt war, - es war gerade 9 Jahre alt, sprachen sie zum ersten Mal über Urgroßvater. Wie er war, - wollte das Mädchen von seiner Tante wissen. Man konnte ihn nie beschreiben, - man mußte ihn einfach erleben. Er war großartig und verstand einfach alles. Urgroßvater, - wie gerne hätte es ihn gekannt, - ihn erlebt. Er ist immer bei dir, - sagte Tante damals und lächelte unter Tränen. Er fehlt uns sehr, - noch mehr als dir, denn du hast ihn nicht gekannt, - sagte Tante und wischte sich die Tränen aus den Augen. Ich habe ihn auch nicht so gekannt, wie ich ihn hätte kennen müssen, - sagte Tante, - viel zu spät haben wir erkannt, wer er wirklich ist.
Es war immer alles zu spät, dachte das große Mädchen und blickte zur Einfahrt des großen, schönes Hauses, in dem es mit seiner Familie lebte, hoch. Früher war rund herum alles voller Bäume und Sträucher. Jetzt gab es nur mehr unmittelbar neben dem Haus eine Grünfläche und ein paar Bäume, was wie ein Wunder war. Es lag ein Zauber auf diesem Haus und seiner unmittelbaren Umgebung. Der Zauber einer unsterblichen Liebe....
"Hallo, Maria!"
Die zarte Knabenstimme riß das große Mädchen aus dem Traum. Es war sein Bruder, der auf den Stufen vor der Haustür hockte und mit einem kleinen Handcomputer spielte. Sein Onkel Alexander hatte ihm dieses Spiel gebastelt.
Als das Mädchen die Stufen hoch ging, stand der Junge mit einem breiten Lächeln auf. Er war nicht so groß wie seine Schwester und auch nicht halb so stark. Er war schmächtig und blaß. Sein Haar war seidig und glänzte haselnußbraun. In leichten Locken legte es sich über die schmalen Schultern.
Das Mädchen lächelte verbittert und streichelte dem Jungen übers Haar. Es schien, als wollte es seinen Bruder umarmen, aber es riß sich los und ging energisch ins Haus.

Wütend knallte es die Tür zu und warf seine abgetragene Lederjacke auf den Garderobenschrank.
Unflätig fluchend marschierte es in die Küche und setzte sich müde auf einen Stuhl. Seine Mutter stand am Herd und blickte prüfend auf das Mädchen. Sie schwieg, obwohl sie sich immer Sorgen machte, wenn ihre Tochter aus dem Haus war. Sie hatte gelernt, daß jeder Mensch das tun muß, was er tun will, auch wenn man es selbst nicht für das Beste hält.
Maria wirkte unruhig und nervös, nicht mehr so wütend, als sie vor kurzem noch die Haustür zugeknallt hatte. Sie stand auf und holte sich aus dem Eisschrank ein Glas Milch. Dann setzte sie sich wieder, strich das schwarze Haar aus der Stirn und trank das Glas Milch in einem Zug leer. Erst jetzt entledigte sie sich ihrer derben, braunen Lederstiefel. Wieder blickte die Mutter prüfend auf ihre Tochter.
Maria stand abermals auf und trug die Stiefel in den Vorraum. Seufzend blickte sie in den Garderobenspiegel. Sie sei besonders hübsch, hat man ihr schon oft gesagt. Sie selbst fand das nicht so. Sie war niemals eitel. Maria verzichtete auf jede Schminke und Gesichtscreme. Sie wusch sich täglich, nur mit Wasser und kämmte auch ihr hüftlanges Haar regelmäßig. Das war schon genug Pflege für die Eitelkeit. Viel mehr war sie auf ihre Kraft bedacht. Sie hatte einen stählernen Körper wie ein Mann, muskulös und durchtrainiert. Maria lächelte, als sie ihre Arme hob und die Muskeln stark hervor traten. Ja, sie hatte sehr viel dafür geschwitzt und hart daran gearbeitet, bis ihr junger Mädchenkörper diese Formen angenommen hatte. Schon mit zwölf begann sie mit diesem schweren Training. Sie erinnerte sich, als sie das erste Mal die vielen Geräte im Fitnessraum, im Keller des Hauses, sah. Es war noch immer alles wie damals. Jedes Gerät stand an seinem Platz, wo es damals vor vielen Jahren gestanden hat. Alles im Haus stand an seinem Platz, wie damals. Ein seltsames Gefühl durchflutete sie damals, als sie das erste Mal die schwere Hantel in ihre Hände nahm. Zärtlich streichelte sie darüber und war versucht, das Eisending an ihre Lippen zu führen, um vielleicht noch ein bißchen die Aura ihres Urgroßvaters aufzunehmen.
Lächelnd senkte Maria den Blick vom Spiegel und wandte sich der Wand gegenüber zu. Das Bild dort oben, ein altes Foto von ihrem Urgroßvater, - ihre Großmutter hatte es gemalt. Es sah so lebensecht aus, als ob er jeden Moment aus dem Rahmen steigen würde, um seine Urenkelin zu begrüßen.
Maria faßte an ihr langes, schwarzes Haar. Es war beinahe so dicht und lang wie das ihres Urgroßvaters.
Sie spürte wieder den Blick ihrer Mutter. Langsam drehte sich Maria um und ging auf ihre Mutter zu. Dann lagen sie sich in den Armen.
"Wie schön war er, Mama?", fragte Maria mit gebrochener Stimme.
Una, ihre Mutter, schwieg. Sie wußte keine Antwort mehr darauf. Es war schon zu lange her. Das wahre Bild hatte sie zwar noch im Herzen, aber das Gefühl, wenn ER vor ihr stand, - wenn sie diesem wunderschönen Hünen in die Augen sah, - das war bereits zu weit weg. Sie wußte nur eines, - es war einfach unbeschreiblich.
Mutter und Tochter lösten sich voneinander und gingen zusammen in die Küche.
Oben fiel eine Tür zu. Leise Schritte klangen über die Treppe, bis in den Vorraum. Ein großer, schlanker Mann tauchte in der Tür zur Küche auf. Sein Oberkörper war nackt, auch seine Füße. Er trug weite, schwarze Hosen. Sein dunkles Haar war dicht und kurz geschnitten. Es war Marias Vater, Julian. Er war auch einmal ein Rebell, - in den früheren Zeiten, als es noch leichter war und sich die Rebellen überall unerkannt aufhalten konnten. Damals gab es noch keine Neue Stadt. Damals war zwar auch alles zum Großteil zerbombt und aufgerissen, aber heute ist es trotzdem ganz anders. Heute hatte jede Stadt seine Grenzen, und die Stadt an sich hatte auch Grenzen, - so wie hier im "damaligen" München. Die Neue Stadt, das Rebellenviertel, das Arbeiterviertel und die Mülldeponie, - alles hatte seine Grenzen. Hier draußen, das war auch ein eigenes Viertel, - es war das Viertel der Reichen, die sich um all das, was rund herum geschah, nicht kümmern brauchten. In Marias Augen waren das die Schlimmsten. Aber was sollten sie tun? Es war nun mal nicht zu ändern. Klar, die unterdrückten Arbeiter waren nicht glücklich, aber sie mußten keine Angst vor Hunger und Erfrieren haben. Und die Rebellen? Ja, die schon! Aber die wollten es auch nicht anders, - sie wehrten sich gegen Arbeit und gegen das System. Die Neue Stadt stand über all dem. Dort lebten die Politiker und die großen Geschäftsleute. Früher war alles gemischt, und Politiker gab es auch nicht so viele. Da gab es nur den Bürgermeister und die Stadträte. Regiert wurde vom Land und vom Staat aus. Heute regiert man von jeder Stadt aus. Es gab keine Länder mehr, - zumindest nicht politisch.
Marias Vater setzte sich seufzend an den Tisch. Auch ihm war es nicht recht, was seine Tochter machte. Er hatte Angst um sie. Mitunter äußerte er sich auch mißbilligend darüber. Aber Verbote gab es auch von ihm keine.
Marias Mutter richtete das Essen an. Es waren acht Gedeckt auf dem großen Tisch.
"Essen!", rief Marias Mutter laut.
Von draußen kam Marias Bruder, Eric, stürmisch zur Küche herein. Etwas bedächtiger kamen Marias Großeltern und die Schwester ihrer Großmutter, mit ihrem Mann, aus dem Wohnzimmer in die Küche. Schweigend setzten sich alle an den Tisch und begannen zu essen.
Es war eine einfache Kost. Obwohl man zu den Reichen zählte, mußte man sich doch einschränken. Es war nicht mehr sicher, ob der Lieferant aus der Neuen Stadt immer alles bringt, was man bestellte.
Maria war nicht hungrig. Lustlos stocherte sie im Teller herum, bis sie die Gabel neben das Teller legte und auf ihre Großmutter blickte. Ihre Großmutter war die Tochter Urgroßvaters. Sie war seine einzige Tochter. Sein Sohn war bereits tot. Maria konnte sich zwar an ihn erinnern, aber es war schon lange her. Als sie ungefähr 4 Jahre alt war, ist er gestorben. Kurz darauf starb seine Frau. Sie soll einmal sehr hübsch gewesen sein. Sie war einmal Fotomodell. Und er war ein Rockstar wie sein Vater, - Marias Urgroßvater. Das Leben damals, vor so vielen Jahren, konnte sich Maria nicht vorstellen. Ob es schön war, konnte man ihr nicht sagen, aber doch hätte sie viel lieber zu dieser Zeit gelebt. Damals gab es Musik, Konzert in großen Hallen. Alles war frei und grenzenlos. Es hat so schön begonnen, das Leben damals. Die Menschen waren zuversichtlich. Niemand hätte wirklich gedacht, daß es einmal so kommen würde. Das war alles utopisch, wie aus einem Zukunftsroman, der sich dann ja doch realisierte. Nummern, - die Menschen sind Nummern geworden, - in Computer gesteckt. Sie werden alle überwacht. Utopie, die real wurde....
Marias Großmutter aß ungerührt weiter, obwohl sie die Blicke ihrer Enkelin spürte. Großmutter sah nicht so alt aus, wie sie war. Klar, sie hatte tiefe Falten um Augen und Mundwinkel, und ihre Haut war auch nicht mehr so frisch. Sie war zwar schlank, aber doch legten sich kleine Fettpölsterchen um ihre Hüften. Sie war schon immer etwas molliger als ihre Schwester, die eigentlich nicht ihre Schwester ist. Urgroßvater und Urgroßmutter hatten sie damals adoptiert, weil sie keine Kinder mehr bekommen konnten. Damals waren sie keine Menschen mehr, - damals wußten sie schon, daß sie einmal ihr Leben auf einem weit entfernten Stern weiter führen werden. Stern, das ist auch nicht so richtig, denn es ist eine Dimension, die mit der Erde verwandt ist. Eine Dimension, die sich von diesem Lebensstandard von Anfang an abgewandt hatte. Das wäre der wahre Weg der Menschen gewesen, - der Weg des Herzens.
Maria zuckte zusammen, als sie ihr Vater sanft am Arm stieß.
"Warum ißt du nichts?", fragte er leise.
Maria senkte ihren Blick.
"Sie haben wieder Rebellen erschossen", sagte sie mit tränenerstickter Stimme.
"Damit mußt du rechnen", sagte der Vater.
"Damit mußt du rechnen! Es ist nun mal so! Oh, Mann, ich kann eure Weisheiten nicht mehr hören!", fuhr Maria auf und schob krachend ihren Stuhl zurück, um aufzustehen.
Ihre Mutter hielt sie an der Hand zurück.
"Bitte, bleib, Maria", sagte sie leise. "Wir wissen, wie schwer es ist."
"Ja? Und warum unternimmt niemand etwas? Klar, euch geht es ja gut."
"Ja, uns geht es gut!", sagte der Vater ärgerlich.
Maria schüttelte resigniert ihren Kopf und setzte sich wieder. Erst jetzt blickte Großmutter auf und sah ihre Enkelin an.
"Ich weiß, daß du nicht tatenlos zusehen kannst, Maria", sagte sie. "Aber ich weiß auch, daß du mit dem, was du tust, niemandem helfen kannst. Die Armee läßt sich nicht von ein paar Rebellen besiegen. Das, was ihr erreichen wollt, damit bestimmt ihr ebenso, wie die Armee, über alle. Wie wollt ihr wissen, ob das alle wollen?"
"Ich weiß, Oma, - die Menschen sind noch nicht bereit", sagte Maria sarkastisch. "Oma, wir würden die Menschen zu nichts zwingen. Jetzt werden sie zu etwas gezwungen. Die Arbeiter werden unterdrückt und müssen Drecksarbeit machen, die man ihnen anschafft."
"Aber sie tun es und werden es immer tun. Sie leben von dieser Arbeit."
"Ja, Oma. Aber was ist das für ein Leben? Warst du schon einmal in so einem Bunker? Da gibt es nur kleine Luken als Fenster und eine Einrichtung, wo nicht einmal Hunde leben würden. Alles ist aus Beton und Eisen. Und das Essen ist ein Fraß. Die Arbeiter müssen hungern und trotzdem schwer arbeiten."
"Und warum wehren sie sich nicht? Warum übernehmen das die Rebellen?", fragte Marias Vater.
"Die meisten Rebellen waren einmal Arbeiter", sagte Maria erbost. "Sie wissen wie das Leben als Arbeiter ist. Es ist nichts anderes als Gefängnisarbeit, - wie ihr das früher genannt habt. Sie sind Gefangene und werden genauso behandelt. Ab sieben Uhr dürfen sie ihre Bunker nicht mehr verlassen. Ja, sie können zusammen sitzen und plaudern, aber das ist dann die größte und einzige Abwechslung in ihrem Leben. Und dabei muß es leise zugehen, denn die Bunker werden von Polizisten der Armee rund um die Uhr bewacht. Die Arbeiter dürfen kein Geld besitzen, - dürfen logischerweise nicht selbst einkaufen, denn das fertige Essen wird ihnen in Lastwagen gebracht. Aber Essen kannst du das nicht nennen, wie ich schon sagte. Es ist nämlich das, was die feinen Herren und Damen aus der Neuen Stadt übrig gelassen haben. Kinder, wenn sie 10 Jahre sind, werden zum Arbeiten gezwungen und manchmal auch von ihren Familien getrennt, weil sie vielleicht eine der feinen Damen erbarmt und sie adoptiert. Und die Arbeiterfamilie darf sich nicht wehren, sonst werden sie alle erschossen. Es sind Gefangene, Daddy, - nichts als Gefangene."
Als Maria - Daddy - sagte, gab es ihrer Großmutter einen Stich in der Brust. Maria bemerkte das. Sie wußte, daß sie Urgroßvater auch immer Daddy genannt hat. Das hat sich in diesem Haus so eingebürgert.
Maria spürte den dicken Kloß in ihrer Kehle. Sie wollte nicht vor allen weinen.
Langsam stand sie auf und verließ die Küche.

Draußen im Vorraum konnte sie ihren Tränen freien Lauf lassen. Wie mechanisch setzte sie einen Fuß vor dem anderen die Treppen hoch.
Vor einer Tür im Korridor blieb sie stehen. Es war die Tür zum Schlafzimmer ihrer Eltern. Es war einmal das Schlafzimmer ihrer Urgroßeltern. Dort hielt sich Maria am liebsten auf. Dort war ihr Urgroßvater am nächsten. Das große Bett, - es war noch immer das selbe und noch immer so stabil und wie neu wie damals.
Maria trat in das Zimmer und atmete tief durch. Sie wollte nicht mehr weinen und schluckte tapfer alles hinunter.
Vor dem Bett kniete sie nieder und streichelte über die bunte Überdecke. Hier auf dieser Seite hatte er geschlafen. Maria sah zur Wand hoch. Dort hängten Fotos von ihrem Urgroßvater, die Urgroßmutter aufgehängt hatte.
Maria spürte die tiefe Sehnsucht und das Verlangen, diesen besonderen Menschen zu kennen, zu sehen und ihn zu berühren. Nie hätte sie gedacht, daß sie sich in eine Legende verlieben könnte, - in einen Menschen, von dem sie nur vom Hörensagen wußte, daß er ihr Urgroßvater ist. Wie leicht wäre es, wenn er noch hier wäre, - wenn er nur ein einziges Mal erscheinen würde, - nur ein einziges Mal von seinem Stern auf die Erde kommen würde. Spürte er nicht die Sehnsucht seiner Urenkelin? Besonders nachts, wenn sie in ihrem Bett lag und weinte und immer wieder seinen Namen rief. Ja, er würde sie verstehen und unterstützen.
Als sie noch im Bauch ihrer Mutter war, hätte sie seine Hand spüren müssen. Damals war er noch da. Aber beim besten Willen, - daran konnte sie sich wirklich nicht erinnern.....
Er war traurig, als er ging. Er hätte wahrscheinlich selbst gerne gewußt, wie seine Urenkelin einmal wird. Vielleicht wußte er es damals, als seine zärtliche Hand auf dem Ungeborenen lag. Vielleicht wußte er, daß sie es braucht, seine Hand zu fühlen, um seinen Kampfgeist und seine Kraft zu bekommen. Ja, Maria war stark und wußte, was sie tat, und vor allem wußte sie, daß sie es tun muß.
Tante war ihr noch am nächsten. Sie hatten zusammen die Bücher gelesen und darüber bis in die Nacht hinein geredet. Marias Urgroßmutter hatte diese Bücher geschrieben. Sie schrieb über das Leben ihrer Liebe. Es waren mitunter sehr traurige Bücher, - besonders die ersten. Urgroßvater hatte es nicht leicht, - er litt wie kein anderer, und doch verlor er niemals sein Herz voller Liebe. Er war auch ein Rebell, zwar ein sanfter, aber doch ein Rebell.
Maria lächelte, als sie daran dachte, wie ihre Freundin einmal fragte, wer ihr Urgroßvater wirklich war. Sie wollte das Geheimnis hüten, also sagte sie, daß er ein Rebell war.
"Ein Rebell? Aber er war doch Musiker, - der weltberühmteste Rockstar aller Zeiten, wie es ihn noch nie gegeben hat. Und er soll immer jung ausgesehen haben, - sogar mit 90 sah er noch immer wie 20 aus, als er sein letztes Konzert gegeben hat. Man dachte damals, daß er tot ist, aber er hat sich nur vor den Menschen geschützt und lebte als sein Doppelgänger. Er hatte diese gewaltige Ausstrahlung, daß sich jeder Mensch in ihn verlieben mußte. Und man sagte, daß er diese Ausstrahlung wegzaubern konnte. Dann war er sein Doppelgänger Richard. Lebte er wirklich? War dieses letzte Konzert echt, oder nur ein Trick?", wollte die Freundin wissen.
Maria schwieg damals. Sie wollte ihr große Liebe nicht zerreden. Über ihren Urgroßvater wollte sie nur mit Eingeweihten reden, - am liebsten mit Tante und mit ihrer Großmutter.
Mit ihrer richtigen Tante, der Schwester ihrer Mutter, Tante Miriam, sprach sie auch gerne. Tante Miriam hatte keine Kinder, - sie konnte keine haben, weil sie mit ihrem Ehemann nie Liebe gemacht hat. Er würde ihr etwas nehmen, - sagte sie immer. Was, das hat Maria nie richtig verstanden, - das war Miriams Geheimnis, das nur ihr Mann kannte und auch verstand. Es war auch ihm heilig. Er würde es ihr niemals nehmen. Er kannte Marias Urgroßvater nicht persönlich, aber die Erzählung und die Bücher kannte er, und damit verstand auch diese Liebe, die man diesem besonderen Wesen entgegen bringen mußte. Maria konnte zwar ahnen, welches Geheimnis es war, aber darüber nachzudenken, war auch ihr zu heilig.
Urgroßvater gab jedem Menschen das, was er brauchte. Das sagte Großmutter einmal, als die beiden Zwillinge, Arno und Tristan, starben. An die beiden konnte sich Maria nur ganz dunkel erinnern. Sie wären so gewesen wie der Apfelbaum im Garten. Er starb an gebrochenem Herzen, als Urgroßvater die Erde verlassen hatte.
Tante, nicht die richtige Tante, sondern Marias Freundin, - die Tochter eines Freundes ihres Urgroßvaters, dem Gitarristen seiner Rockband, hatte ihr viel über Arno und Tristan erzählt. Sie kannte die beiden gut und wußte alles über sie.
Es war so ungerecht! Warum durfte sie ihren Urgroßvater nicht kennen? Warum konnte er nicht ein bißchen länger auf dieser Erde bleiben? Vielleicht hätte er sich auch den Rebellen angeschlossen, - hätte mit ihnen um ihr Recht gekämpft und wäre dann womöglich im Kugelhagel der Polizisten umgekommen. Dann hätte er ja doch für immer gehen müssen. Es geschieht alles zur rechten Zeit am rechten Ort, - das hat er oft gesagt, wie ihr Tante versicherte. Er mußte also gehen, um dieses Schicksal nicht heraus zu fordern. Vielleicht geht nun sie diesen Weg, den er gegangen wäre, wenn er geblieben wäre.
Noch einmal streichelte Maria über die Bettdecke und blickte zu den Fotos hoch, - zu dem Wesen, das immer jung und schön war, - zu ihrem Urgroßvater.
Urgroßmutter war auch immer jung und schön. Sie hat nun alles Glück des Universums in sich, - sie hat ja ihn an ihrer Seite. Marias Name, das war auch der Name ihrer Urgroßmutter, - ein Erbe, das man niemals vergessen sollte. Manchmal fühlte sie sich auch so wie ihre Urgroßmutter. Besonders wenn sie in den Büchern las, als ihre Urgroßmutter in einer anderen Dimension der Erde war und vergeblich nach Urgroßvater gesucht hatte.

Seufzend stand Maria auf und verließ das heilige Zimmer.
Sie ging weiter zurück im Korridor, wo ihr Zimmer war. Die Möbel in ihrem Zimmer waren einfach, - ein Schrank für das wenige Gewand, ein Nachttisch, ein kleiner Bürotisch und ein Bett. Auf dem Nachttisch stand ein sehr altes CD-Gerät, mit dem Maria immer die Songs ihres Urgroßvaters hört. Er war ja der berühmteste Rockstar alles Zeiten. Maria kannte alle seine Songs. Sie wunderte sich anfangs, wie man in nur so kurzer Zeit so viele Songs aufnehmen kann. So lange war Urgroßvater ja nicht im Musikbusiness.
Urgroßvater hatte viele Stimmen. Damit drückte er seine Gefühle aus. Maria hatte schon sehr früh ihre Lieblingsstimme und ihre Lieblingssongs erkannt. Damals war sie noch ein Baby. Ihre Mutter spielte ihr immer Silent Lucidity vor, wenn sie mal nicht einschlafen wollte. Vor allem diese Stimme machte sie als Baby ruhig.
Mit dieser Stimme, mit der es unzählige Songs gab, war Maria ihrem Urgroßvater am nächsten. Da spürte sie fast seine unmittelbare Nähe. Und dabei hatte sie auch einen kleinen Trost, denn sie durfte alle Songs von damals hören, die noch nicht veröffentlicht wurden. Aber dieser Trost war sehr klein.
Die Wand neben dem Bett war mit Fotos tapeziert, - mit Fotos in allen Größen, wobei das Größte einen Durchmessen von zwei Metern hatte. Es war immer das selbe Foto, - Marias Lieblingsfoto, wie sie sich ihren Urgroßvater am besten vorstellen konnte. Der sanfte, tiefe Blick, der sinnliche Mund, der nur ein scheues Lächeln vermuten läßt und das dichte, schwarze Haar, das von der rechten Seite weit über die Schultern fällt. Man sah auch die zwei Halsketten. Auf der einen war ein kleines, goldenes Kreuz, die er von seiner Mutter bekommen hatte, als er sie das erste Mal gesehen hat. Urgroßvater war ein Findelkind....
Auf der anderen Kette trug er den Stein der Könige. Maria fragte einmal ihre Großmutter, warum man den Stein auf keinem Foto sehen kann. Großmutter sagte, daß man ihn nicht fotografieren konnte, weil er aus einer anderen Welt kam.
Maria legte sich auf das Bett und verschränkte ihre Arme hinterm Kopf. Ihr Blick richtete sich auf die Wand mit den vielen Fotos. Man muß ihn erleben, man kann ihn nicht beschreiben. Man kann nicht mehr sagen, wie es war, wenn er vor einem stand.
Die Sehnsucht war manchmal erdrückend. Nur einmal hatte sie sehr ausführlich mit ihrer Mutter über Urgroßvater gesprochen. Das war, als sie ihr erzählte, daß er sehr oft seine Hand auf ihrem Bauch gehalten hat, als sie mit ihr schwanger war. Ihre Mutter sagte, daß er manchmal sehr traurig war, wenn er das Leben in ihrem Bauch gefühlt hat. Er hätte zu gerne erlebt, wie das Baby geboren wird. Er hätte es selbst heraus geholt, wie er es auch bei seinen Töchtern gemacht hat. Aber die Zeit ließ es nicht mehr zu.
Ob er nicht einmal aus seiner Welt zurück kommen kann, wenn das Baby da ist, - hatte ihn Mutter damals gefragt.
Er darf nicht selbstsüchtig handeln, - hatte Urgroßvater geantwortet.
Aber man sollte doch das tun, was das Herz will.
Das stimmt, - sagte Urgroßvater, - aber das Herz will manchmal viele Dinge auf einmal, und dann sollte man sich sicher sein, daß man das einzig Richtige auswählt. Und das einzig Richtige wäre, was man jederzeit vertreten kann. Für ihn ist es nun das einzig Richtige, auf der Leuchtenden Welt zu bleiben, um alle Gefahren zu spüren. Wenn er auf die Erde zurück kommen und seine Urenkelin sehen würde, wäre er unkonzentriert, und inzwischen könnte eine andere Welt in Gefahr sein. Das könnte er sich niemals verzeihen, und deshalb muß er auf der Leuchtenden Welt bleiben. Das ist nun mal der Weg seines Herzens.
Vielleicht wird sich deine Urenkelin nach dir sehnen, - sagte Mutter.
Dann darfst du eben nicht so viel von mir schwärmen, - antwortete er lächelnd.
Sie braucht nur die Bücher zu lesen, denn wenn man das liest, kann man gar nicht anders und muß sich einfach in dich verlieben, - sagte Mutter.
Urgroßvater lächelte nur. Aber das war kein echtes Lächeln. Er spürte bereits den Schmerz der Sehnsucht, als er abermals seine Hand auf ihren Bauch legte. Wenn andere leiden, quälte es ihn.
Maria bemühte sich oft, nicht an ihn zu denken, aber gegen Gefühle ist man machtlos. Er würde es schon verstehen, denn er versteht ja alles. Er wußte, daß es verschiedene Horizonte gibt und jeder Mensch eine eigene Individualität besitzt.
Das mit dem Horizont war schon genial. Maria hatte selbst schon bemerkt, daß Menschen anders denkende Menschen nicht verstehen können, weil ihr eigener Horizont eben anders ist. Irgendwie lebt jedes Wesen in seiner eigenen Welt, obwohl es nach außen hin immer scheinbar die selbe Welt ist. Und doch ist sie für jeden anders, wie auch seine Gedanken und Träume anders sind. Und dann liegt es doch klar auf der Hand, daß auch der Tod für jedes Wesen anders ist.

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#2 | RE: Die Rebellen datum

08.08.2015 09:46

Das Leben, so wie es Urgroßvater sah, war nur der Tank für den Tod. Man muß auftanken, sein Herz mit den wahren Träumen füllen, um für den Tod vorbereitet zu sein und ihn so zu erleben, wie er für sein Herz bestimmt ist. Wenn man das versäumt, wird der Tod leer sein, - so leer wie das Leben. Das hat bis jetzt noch niemand begriffen. Selbst Gott hat noch keiner begriffen. Wie können die Menschen nur so selbstgefällig sein und glauben, daß nur ihr Gott der wahre Gott ist? Es wäre nicht Gott, wenn er sich nicht für jeden Menschen so geben könnte, wie ihn jeder einzelne braucht.
Urgroßvater hat das vorgelebt. Er gab jedem was er brauchte. So war es auch ganz klar, daß ihn Urgroßmutter manchmal als Gott gesehen hat. Er war die Liebe selbst und hat allen gezeigt, was wahre Toleranz ist.
Vater hat ihr ausführlich erzählt, wie er Urgroßvater das erste Mal gesehen hat. Er erzählt es übrigens noch immer gerne. Es ist seine Lieblingsgeschichte und wohl auch das tiefstes Erlebnis seines Lebens.
Er und Mutter haben heimlich geheiratet. Erst dann kamen sie zusammen in dieses Haus. Urgroßvater sah die beiden schon vom Fenster aus. Er blieb er selbst und ließ seine enorme Ausstrahlung, als er ihnen öffnete. Es war überwältigend, - einfach unbeschreiblich. Mutter hatte Vater schon alles erzählt. Er kannte bereits das Geheimnis. Aber niemals hätte er sich das vorstellen können, als er vor Urgroßvater stand. Zuerst war es ein Schock, dem absolut Gutem und Schönem gegenüber zu stehen. Aber dann, ganz plötzlich, hüllte ihn eine Wärme ein, die er niemals zuvor gespürt hatte. Das war das Herz Urgroßvaters, das noch überwältigender war, als seine äußere Schönheit. Vater brachte kein Wort heraus. Seine Kehle war trocken und sein Mund verklebt. Er konnte nur eines, - sich in die Arme Urgroßvaters stürzen, wo er eine Geborgenheit, wie in Mutters Schoß fühlte. Zum ersten Mal war Vater richtig zu Hause.
Maria seufzte, als ihr diese Gedanken durch den Kopf gingen. Es tat so weh zu wissen, daß er irgendwo weit da draußen ist, - daß er da ist und doch so weit entfernt. Er wartet auf den Endkampf im Reich des Bösen. Nur so kann das gesamte Universum gerettet werden.
Irgendwo in Amerika, in einer großen Stadt, arbeiten Wissenschaftler und Mediziner daran, daß der Mensch nicht mehr altert und vielleicht unsterblich werden kann. Sie wollen über Leben und Tod stehen. Sie wollen, daß nur mehr ein kleiner Teil der Menschheit für immer lebt. Sie würden sich kastrieren und sterilisieren lassen, daß nichts Neues mehr die Welt erblickt. Nur mehr sie, - sonst niemand. Aber dazu wird es nicht kommen, weil sie nebenbei alles zerstören, was man zum Leben braucht. Und das ist gut so, - das ist die gerechte Strafe, weil sie sich zu sehr vom Bösen beeinflussen lassen. Wenn Urgroßvater seinen letzten Kampf nicht gewinnt, wird das Böse sein wahres Gesicht zeigen, und jede Reue wird zu spät sein. Es wird nichts Übersinnliches passieren. Es wird eben nur so sein, daß alles Leben auf der Erde und im Universum verlöscht, weil bereits alles zu verseucht ist. Dann wird es nur mehr Moder und Fäulnis geben, wie jetzt schon in manchen Gebieten der Erde. Wir werden einfach aussterben und mit uns die Träume, weil wir im Leben zu wenig aufgetankt haben.
Am wahren Leben gehen wir ja alle vorbei. Die Urmenschen haben bereits mit dem Untergang begonnen.
Es hätte ohnehin keinen Sinn, etwas daran ändern zu wollen, weil das Schicksal bereits besiegelt ist und wir den Lauf der Zeit nicht mehr zurück drehen können. Die Hände in den Schoß legen und warten....
Das sagte Onkel Alexander einmal, - der Sohn Großmutters Schwester, Cora. Aber Urgroßvater widersprach ihm sofort. Die Welt zu ändern wäre sicher sinnlos, denn sie ist in Ordnung. Man kann nur bei sich selbst anfangen, und man soll bereit sein. Du kannst nicht hinaus gehen und anderen sagen, was sie zu tun, zu denken und zu fühlen haben. Nur dir selbst kannst du es sagen, denn dein Herz, wenn du darauf hörst, wird dich nie belügen. Wenn nur einmal einer damit beginnt, auf sein Herz zu hören, ist der Endkampf schon um vieles leichter.
Wäre es nicht egoistisch, nur an sich selbst zu denken, um einen Tod zu erleben, der für sein Herz gut ist?, - hatte Onkel Alexander gefragt.
Egoistisch wäre es, wenn du andere dazu zwingst, die nicht bereit sind, auf ihr Herz zu hören. Und das wirst du auch niemals können, denn es wäre immer eine Lüge. Du kannst niemandem sagen, daß er sich besser fühlt, wenn er auf sein Herz hört, denn er wird sich nicht besser fühlen, weil er all das Elend um sich noch intensiver fühlt.
Aber wozu soll man dann auf sein Herz hören, gegen den Strom schwimmen, wenn man dann nur noch mehr leidet?
Diese Antwort mußt du dir selbst geben, - hatte Urgroßvater geantwortet und wieder sein geheimnisvolles Lächeln aufgesetzt.
Ein bitteres Leben für einen schönen Tod?, - fragte Alexander.
Wenn dein Herz bitter ist, ist auch dein Leben bitter, und der Tod wird kaum anders sein.
Es war nie einfach, Urgroßvater zu verstehen, aber irgendwie fühlte Maria, daß sehr viel Wahrheit in seinen Worten steckte. Es war zwar nur seine eigene Wahrheit, wie er immer betonte, aber er beeinflußte damit niemanden, denn er ließ immer alles offen.
Hörte sie auf ihr Herz? Sie glaubte schon, sonst würde sie dieses Leben nicht leben, das sie jetzt lebt. Es tat weh, so viel Ungerechtigkeit zu sehen. Darüber konnte sie nicht hinweg sehen. Dagegen mußte sie einfach etwas tun. Sie wäre nicht glücklich, so zu leben wie ihre Familie, die ja auch auf ihr Herz hört. Aber Herzen sind nun mal verschieden. Sie helfen ja auch, wo es nur geht. Großmutters Schwester geht oft heimlich zu den Arbeitern in die Bunker, um sie zu verarzten, wenn sie keine Hilfe bekommen. Das ist ein sehr gefährlicher Weg, denn die Wachposten stehen überall und hätte sie sofort zu den Rebellen gesteckt, auch wenn sie eine Reiche war.
Großmutter hatte ein Geschäft in der Neuen Stadt, wo sie zwar selbst nicht arbeitete, aber sie hatte gute Leute, die manchmal in ihrem Namen Lebensmittel zu den Arbeitern brachten. Ab und zu fuhr sie auch selbst zu den Arbeitern. Ihre Hilfe war still und besonnen.
Aber Maria wollte mehr. Sie wollte dieses Leben ändern. Sie wollte Freiheit und Gerechtigkeit für alle.
...and justice for all!
Dafür mußte sie kämpfen, auch wenn dabei viele ihr Leben verlieren werden, - vielleicht auch sie selbst.
Wird Urgroßvater im Endkampf nicht das selbe tun? Er selbst stellte eine Armee von Freiwilligen auf, von denen auch einige ihr Leben lassen werden. Es wird ein anderer Kampf werden, aber im Grunde doch der selbe, den sie jetzt schon auf der Erde führte.
Maria stand auf und blickte zum Fenster hinaus. Über den großen Park sah sie zwei Menschen kommen. Der eine war ein Freund von Großmutters Schwester. An seiner Hand führte er einen kleinen Jungen, - seinen Enkel, der vor kurzem zwei Jahre alt geworden war. Dieser kleine Junge machte Maria neidisch. Sie wußte, daß er Urgroßvater einmal sehen wird. Er ist einer der Armee.
Die beiden hatten hinter dem Hügel ein kleines Haus. Dort lebte der kleine Junge mit seinen Eltern und seinem Großvater. Sein Großvater war auch einmal Rockmusiker. Er war beim letzten, großen Konzert ihres Urgroßvaters einer der Musiker. Er war der Gitarrist.
Als Maria unten die Tür zufallen hörte, blickte sie zur Einfahrt hinunter. Dort sah sie einen jungen Mann, der sich mühsam zur Haustür hochkämpfte. Sie erkannte ihn sofort. Es war der Mann, den sie mit ihrer Freundin am Vormittag im Rebellenviertel getroffen hatte.

Maria stürmte aus dem Zimmer und die Treppen hinunter.
In der selben Eile verließ sie das Haus und rannte zur Einfahrt hinunter, dem Mann entgegen, der eben auf dem Weg zusammen brach. Zuerst vergewisserte sie sich, ob ihm Polizisten gefolgt waren. Aber ringsum war alles still und nichts zu sehen. Vorsichtig packte sie den jungen Mann und legte ihn sich über die Schulter. Der Mann war sicher schwerer als sie, aber für Maria war das kein Problem. Sie war kräftig genug, ihn ins Haus zu tragen.
Das Genick schmerzte zwar ein bißchen, als sie den Verletzten im Wohnzimmer auf die Couch legte. Großmutters Schwester war sofort zur Stelle. Sie untersuchte den jungen Mann und stellte fest, daß er eine Kugel in der linken Schulter hatte und bereits sehr viel Blut verloren hatte. Der Großvater des kleinen Jungen half ihr beim Verarzten. Es war nicht einfach, die Kugel heraus zu holen. Mit dem Betäubungsmittel mußten sie sehr sparsam umgehen.
Maria ging inzwischen nervös im Wohnzimmer auf und ab.
"Er braucht viel Ruhe", sagte Cora, Großmutters Schwester. "Er ist noch nicht überm Berg. Erst morgen früh können wir sagen, daß er es geschafft hat, - falls er dann noch lebt...."
Die Zeit rannte Maria zwischen den Fingern davon. Sie konnte und wollte nicht mehr warten.
Wütend ging sie in den Vorraum, packte ihre Lederjacke, zog die derben Stiefel an und stapfte aus dem Haus.

Es war bereits dunkel. Jetzt war es nicht mehr so gefährlich, wie am hellen Tag, aber vorsichtig mußte man immer sein. Ihr Weg war der selbe, wie am Morgen. An der Neuen Stadt vorbei, über die Müllhalden, bis zum Rebellenviertel.
Dort drüben am Zaun, wo überall Minen liegen konnten, stand ein Polizist, den Maria viel zu spät entdeckt hatte.
Er war schneller bei ihr, als daß sie weglaufen hätten können. Er wollte ihr Nummernschild sehen. Maria faßte in ihre Jackentasche. Sie fühlte in der Hand das Messer und auch ihren Ausweis. Noch war sie unschlüssig. Ihr Blick schweifte umher. Dann sah sie den großen Panzerbus, in dem sich sicher noch zehn seiner Kollegen befanden. Verrückt war sie ja auch wieder nicht! Sie zückte ihren Ausweis und gab ihm den Polizisten.
Was sie um diese Zeit hier macht?
Spazieren gehen, - was sonst?
Es ist gefährlich, sich neben dem Rebellenviertel aufzuhalten, - meinte der Polizist mit einem undefinierbarem Grinsen.
Maria schwieg und sah dem Mann kalt in die Augen. Erst jetzt sah er sich den Ausweis an. Er las ihren Namen. Er erinnerte sich an die Legende.
Marias Vater und auch ihr Großvater hatten den Familiennamen ihres Urgroßvaters angenommen, - Simon.
Das Grinsen des Polizisten legte sich sofort. Er wurde ernst. Er schien sich mit seinem Blick für etwas entschuldigen zu wollen, das er mit seinem Kollegen getan hätte, - aber jetzt nicht mehr tun konnte....
Das waren keine Menschen mehr, - man konnte sie auch nicht Tiere nennen, denn Tiere waren viel besser als Menschen. Sie hätten Maria vergewaltigt, egal, ob sie zu den Reichen, oder zu den Rebellen gehörte. Sie nahmen sich alles, was zu nehmen war, und dann erschossen sie ihre Opfer, mit der Ausrede, sie hätten sie für Rebellen gehalten. Ja, es war wirklich gefährlich, sich alleine im Freien aufzuhalten. Aber der Name Simon hatte Maria gerettet. Man hatte Urgroßvater nicht vergessen, aber die Legende wurde eine andere, als sie es wirklich war.
Man kannte noch immer alle Songs, - und sein öffentliches Leben war noch immer in allen Zeitschriften aufgehoben, - auch sein angeblicher Tod. Das letzte Konzert war zu wenig glaubhaft, denn man wußte nicht wirklich, was daran stimmte und was nicht. Man machte auch Filme über Urgroßvater, utopische und meist auch sehr kitschige Filme. Ihre Familie hatte sich aus diesen Veranstaltungen immer heraus gehalten. Einige Jahre später, nach dem "Verschwinden" ihrer Urgroßeltern, legte sich die ganze Euphorie wieder und der Wirtschaftsaufschwung, und eine schlimmere Zeit als vorher begann.
Maria hatte noch so ein altes CD-Gerät, mit dem sie die CDs abspielen konnte. Arbeiter durften so etwas nicht haben. Und die Rebellen hatten andere Sorgen. Die Polizisten waren auch gut dran. Sie waren die sogenannten Wachhunde der Regierung. Maria verstand diese Menschen nicht, die sich als Polizisten ausbilden ließen. Das waren für sie nur Sadisten und Mörder. Sie waren schlimmer als alle anderen. Sie durften in der Neuen Stadt leben und hatten allen Komfort, den es zu dieser Zeit gab.
Maria bekam ihren Ausweis zurück. Als sie ihn wieder in die Tasche steckte, kamen die anderen Polizisten näher. Sie umkreisten sie grinsend.
"Laßt sie in Ruhe", sagte der eine Polizist.
"Sie ist hübsch. Sie sieht aus wie eine kleine Raubkatze", sagte einer der Polizisten und faßte Maria ans Haar.
"Faß sie nicht an!", schrie der Polizist und stellte sich schützend vor Maria. "Sie ist Kims Urenkelin!"
Die Polizisten wurden sofort ruhig und machten Maria den Weg frei. Kim war ihnen heilig, obwohl sie nie danach handelten.
Wer sollte die Menschen jemals verstehen? Aber war es nicht immer so? Zwar nicht so kraß, aber damals gingen die Menschen ja auch in die Kirche und beteten für Liebe und Gerechtigkeit, und als sie die Kirche verließen, hatten sie wieder alles vergessen und zeigten mit dem Finger auf andere Menschen.
Jetzt wußte Maria, daß sie einen Trumpf im Ärmel hatte. Sie konnte sich immer zu erkennen geben. Man würde ihr niemals etwas tun, - im Namen ihres Urgroßvaters Kim.

Maria umging den Zaun bis zu der Stelle, wo eine drei Meter hohe Betonmauer das Rebellenviertel umgrenzte. Es war nicht einfach darüber zu klettert, aber für Maria war auch das eine Kleinigkeit. Wie eine Katze sprang sie hoch und zog sich mit ihren kräftigen Armen an der Mauer hoch, um zur anderen Seite herunter zu springen.
Sie war besser ausgebildet als die Polizisten. Sprünge in die Tiefe hatte sie bestens trainiert. Einmal sprang sie sogar vom Dach des Hauses, wobei sich jeder andere sicher verletzt hätte. Aber sie landete unversehrt auf allen Vieren.
Urgroßvater konnte das mit links. Sie hatte vom Konzert gelesen, als er von einem Metallbogen mehr als sieben Meter auf die Bühne herunter gesprungen ist. Ja, sie hatte viel von ihrem Urgroßvater, - den Kampfgeist und das Herz. Vielleicht nicht diese Liebe, wohl aber den Hang zur Gerechtigkeit. Manchmal sagte auch Großmutter, daß sie Kim sehr ähnlich wäre. Nicht nur äußerlich, das lange, schwarze Haar und der muskulöse Körper, sondern viel mehr innerlich dieses Kämpferherz, das nie aufgeben will.
Es war stockdunkel in dieser Gegend, daß man kaum die Hand vor Augen sehen konnte. Aber Maria kannte den Weg. Sie war ihn ja schon oft gegangen. Und sie wußte, wo sich die Rebellen verstecken, wenn sie erbarmungslos gejagt wurden. Es gab ein geheimes Versteck im Untergrund.
Dort vorne lag dieser große Stein, unter dem eine Eisentür in die Tiefe führte. Bis jetzt hatten die Polizisten dieses Versteck noch nicht gefunden.
Maria wälzte den schweren Stein ächzend zur Seite. In diesem Moment stürzte sich eine Gestalt auf das Mädchen. Maria war auf Angriffe immer vorbereitet. Durch den mächtigen Schwung ihres Angreifers war es leicht, sich zu bücken, daß er über Marias Schulter auf den Boden krachte. Maria war sofort bei ihm und hatte seinen Arm im Hebelgriff.
"Ich bin ein Freund", zischte sie und ließ die Gestalt los.
Es war ein junger Mann, - fast noch ein Kind. Zusammen gingen sie in das Versteck hinunter. Maria erzählte den Rebellen, die dort versammelt waren, daß einer von ihnen schwer verletzt in ihrem Haus ist. Die Rebellen wußten nichts von der Verletzung. Der Mann sollte Maria verständigen und sie zu ihnen bringen. Er hatte den langen Weg bis zu ihrem Haus mit der schweren Verletzung geschafft, aber sprechen konnte er nicht mehr. Maria fühlte instinktiv, daß man sie braucht. Sie war die einzige, die das Rebellenviertel sicher verlassen konnte und sich überall sehen lassen konnte, - auch in der Neuen Stadt, wo man Material kaufen konnte, um Waffen zu bauen.
"Anscheinend waren die Bluthunde Remi auf der Spur", sagte Maria.
"Ich habe die Polizisten gehört, aber ich dachte, Remi würde es schaffen", sagte der Junge, der Maria angesprungen ist.
Ja, sie machten es einfach so, wenn sie es drauf hatten. Maria hatte die Polizisten einmal belauscht. Langeweile hatten sie! Es war nichts los, weil sich keiner der Rebellen blicken ließ.
"Holen wir sie uns!", sagte einer der Polizisten, und schon stürmten sie mit ihren Panzerwagen, bis auf die Zähne bewaffnet, das Rebellenviertel. Das war erlaubt, und keiner der Obrigen hatte etwas gegen diese Menschenjagd. Die Polizisten hatten "Narrenfreiheit".
"Wie sind zu schwach für einen Kampf. Sie sind viel besser bewaffnet", meldete sich ein Rebell.
"Sicher werden viele von uns sterben, aber ist es nicht besser zu sterben, als sinnlos weiter zu leben?", sagte Maria.
Da waren sich die Rebellen einig. Lieber tot, als dieses Hundeleben, wo man jeden Moment erschossen werden kann, wenn die Bluthunde wieder Lust auf Jagd bekommen.
Morgen wird Maria mit Tante in die Neue Stadt fahren und Material für Waffen kaufen. Man wird zwar Fragen stellen, aber mit dem Material kann man ja auch etwas anderes bauen. Ihr Onkel Alexander baute selbst gerne verrückte Geräte zusammen, von denen kaum jemand wußte, wozu sie gut sind. Pulver? Nun, Onkel Alexander möchte gerne ein privates Feuerwerk veranstalten!
Onkel Alexander war wirklich ein Spinner. Er war für jede Sache zu haben. Er würde ihr auf jeden Fall beim Bauen für Waffen helfen. In diesen Dingen war er ein Genie. Diesmal würde er wissen, wozu seine selbstgebastelten Geräte gut sind. Er war auch für Gerechtigkeit, aber für stille Gerechtigkeit. Er war kein Kämpfer wie Maria, aber er tat seinen Teil dazu. Schweigen war zu dieser Zeit ohnehin das Beste. Verrat gab es genug, und manchmal kam es auch vor, daß sich Arbeiter gegenseitig verraten, um einen guten Posten in der Neuen Stadt zu bekommen. Arschkriecher gab es noch immer, - es wird sie immer geben.
Maria konnte sich das noch immer nicht verzeihen, was damals geschah, als sie eine andere Freundin bei den Arbeitern hatte. Sie trafen sich fast täglich, und Maria lernte ihr schreiben und lesen, was bei Arbeiter verboten war. Einige Arbeiter wurden neidisch und sahen eine Chance, in die Neue Stadt zu kommen. Ihre Freundin, samt Familie, wurde auf der "Flucht" erschossen, und die andere Arbeiterfamilie lebte nun in der Neuen Stadt.
Marias neue Freundin war anders. Sie wollte weder schreiben, noch lesen, - sie wollte zu den Rebellen gehören. Noch arbeitete sie in der Fabrik, - in der Küche, wo die Arbeiter einmal täglich warmes Essen bekommen. Sie wurden täglich am Morgen von großen Lastwagen, zusammen mit den anderen Arbeitern, von den Bunkern abgeholt und zur Arbeit gebracht. Ihr Vater mußte in den Müllhalden arbeiten, und ihre Mutter putzte die Zimmern im Regierungshaus. Es war nicht immer putzen, was sie tun mußte, - manchmal gefiel sie einem hohen Herren und mußte ihm andere "Dienste" anbieten. Meutern gab es nicht, - darauf stand der Tod.
Marias Freundin würde sich niemals einem hohen Herren hingeben. Lieber würde sie sterben, - ob als Rebellin, oder als Arbeiterin, war ihr völlig egal. Dann schon lieber als Rebellin, mit der Gewißheit, doch etwas gegen diese Ungerechtigkeit getan zu haben.
Aber Maria wollte ihre Freundin nie wieder treffen. Sie wollte nicht noch einmal einen Familie auf ihrem Gewissen haben.
Maria wußte nun, was zu tun war. Unbemerkt schaffte sie den Weg nach Hause.

Der junge Mann lebte noch. Cora saß neben ihm und wischte mit einem feuchten Tuch über seine schweißnasse Stirn. Maria setzte sich zum Telefon und wählte die Nummer ihrer Tante. Sie achtete nicht mehr auf ein verdächtiges Klicken in der Leitung. Angezapft wurden ja auch die Reichen. Es wäre zu toll gewesen, wenn man so eine Familie ausrotten könnte, um das Haus zu erben.
Die Leitung war frei, und die Verbindung kam auch schnell. Der Mann von Tante meldete sich.
Maria beneidete die beiden. Auch sie werden Urgroßvater wieder sehen und in seiner Armee kämpfen.
Der kleine Chris, der Enkel Coras Freund, Angelia, die sie liebevoll Tante nannte und ihr Mann, Angelo, - das waren Marias Zukunftsträume.
Warum wurde sie nicht für die Armee auserwählt? Sie war doch so eine starke Kämpferin. Nun, vielleicht würde es auch hier so eine Art Endkampf geben, und sie würde hier viel mehr gebraucht werden. Und vielleicht erfüllte sich ihr Traum, an den sie so fest glaubte, einmal im Tod.
Tante sagte einmal, daß sich Arnos und Tristans Tod erfüllt haben muß, denn die beiden lächelten, als sie bereits tot waren. Nach Urgroßvaters "Abgang" konnten sie nie mehr lächeln, aber im Tod sahen sie endlich wieder glücklich aus.
Jetzt war Tante am Telefon. Ohne Fragen und Einwände war sie sofort bereit, mit Maria am nächsten Morgen in die Neue Stadt zu fahren.
Der Kampf beginnt, - sagte sich Maria und blickte noch einmal auf den verletzten Rebellen, der fiebernd und zitternd auf der Couch lag.
"Wird er es schaffen?", fragte sie leise, und Cora nickte zuversichtlich.
Auch sie stellte keine Fragen, was Maria in der Neuen Stadt kaufen will. Es schien, als ob alle in der Familie schon wüßten, was geschehen wird. Und doch fühlte sich Maria unverstanden. Sie wollte, daß man sie unterstützt und ihr Mut zuspricht. Statt dessen billigte man es schweigend und manchmal auch mit vorwurfsvollen Blicken, - und das machte Maria unsicher.
Urgroßvater hätte ihr sicher Mut zugesprochen. Natürlich, vom Töten und vom Lebenauslöschen hielt er nie etwas. Er bedankte und entschuldigte sich sogar bei Pflanzen, daß er ihr Leben ausgelöscht hat. Bei Pflanzen! Aber er mußte essen, sonst hätte er sich zu schnell in ein Leuchtendes Wesen verwandelt und hätte seine Mitmenschen gefährdet, da sie dieses Strahlen nicht ausgehalten hätten. Die Zeit war noch nicht reif, um auf die Leuchtende Welt zu gehen.
Leuchtende Welt heißt dieser Stern. Er ist der Vorhof zum Paradies. Leuchtende Wesen haben Menschengestalt, aber sie strahlen heller als die Sonne, daß Menschen erblinden, oder gar sterben würden, wenn sie eines sehen würden. Hier auf der Erde waren Leuchtende Wesen Menschen, mit dunklerer Hautfarbe und schwarzem Haar. Sie sehen sich sehr ähnlich und haben Urgroßvaters Gesichtszüge.
Leuchtende Wesen waren auch einmal Menschen, aber sie lebten genügsam und forschten nach innen, in ihre Herzen, um sie aufzutanken. Sie wären die eigentliche Evolution der Menschen gewesen.
Die Erde wurde in sieben Dimensionen gespalten, eine davon, die Leuchtende Welt, stieß sich ab. Die sechs Dimensionen vegetierten weiter, - ohne Evolution, nur mit Aussterben.
Zwei Leuchtende Wesen waren schon auf dieser Erde, - in dieser Dimension. Urgroßvaters Vater, als er Urgroßvater mit einer Erdenfrau zeugte und Urgroßvaters Großmutter, weil sie Urgroßvaters Mutter warnen mußte.
Es gab nur einen bösen Zwischenfall auf der Leuchtenden Welt, und das war, als ein Dämon König wurde, - Ake.
Durch Ake mußte Urgroßvater sehr viel leiden. Ake wollte, daß er stirbt, aber Urgroßvater überlebte alle Qualen bis zum Kampf, wo er den Dämon Ake auf der Leuchtenden Welt besiegte.
Maria kannte die Bücher ihrer Urgroßmutter schon auswendig. Sie hatte sie sicher schon zehn mal gelesen.
Vor allem das Begreifen, daß Urgroßvater nun der große Retter des Universums sein soll, - nach all den Qualen und Demütigungen, - das war schon stark von ihm. Er wußte ja nicht, was da mit ihm geschehen war. Diese andere Welt, von der er stammen soll, - bis er das endlich verstand, - das war so gut von Urgroßmutter beschrieben, daß Maria immer wieder staunte, wenn sie diese Abschnitte las. Bis er den wahren Glauben zu sich selbst fand, und doch immer wieder an sich selbst zweifelte, bis ihn die Quelle der Kraft, wie er seinen Gott nannte, heilte. Und dann die Verwandlung in Richard, die alle seine Freunde verblüffte. Hier enden die Bücher Urgroßmutters. Kim hatte es geschafft, und ist jetzt der absolute Retter des Universums. Was hätte es da noch zu schreiben gegeben? Klar, Urgroßmutter hätte noch vieles schreiben können, - vom Leben ihrer Familie, ihren Kindern, wie sie groß werden, heiraten, - wie ihre Enkelkinder geboren werden. Aber darüber wußte Maria alles. Großmutter hatte ihr alles erzählt, und Maria hatte das eigentliche Wesen ihres Urgroßvaters aufgenommen.
Besonders interessant war es, mit Tante darüber zu reden. Sie kannte Urgroßvater nur als Richard, - Richie, wie sie immer genannt haben. Sie kannte auch sein Herz, obwohl sie sich nicht oft gesehen hatten. Aber wenn, dann spürte sie sein Herz und war sich nie sicher, ob es diesen Doppelgänger wirklich gibt. Sie fühlte sich immer zu diesem jungen, schönen Mann hingezogen, der genauso wenig alterte wie Kim.
Auch Tantes Mann hatte dieselben Gefühle, wenn er Richie getroffen hat. Und nach dem letzten Konzert kannte man das Geheimnis.
Seufzend ging Maria in ihr Zimmer hoch und legte sich schlafen. Aber nicht, ohne noch einen Blick auf die Fotos gerichtet zu haben.
Urgroßvater, wärst du doch hier...
Sie dachte immerzu an ihn, - ganz besonders vor dem Einschlafen nahm die Sehnsucht noch mehr zu. Die Fotos an ihrer Seite, - ihre Lieblingssongs, - das alles brachte ihn näher.
Maria war bereits 20 Jahre alt, aber sie hatte noch nie einen Mann. Sie wollte keinen. Es war nicht ihr Körper, der sich nach der Liebe ihres wunderschönen Urgroßvaters sehnte, sondern das Herz. Sie kannte ihn ja nicht so wie die anderen, deren Körper sich nach ihm gesehnt haben. Sie wußte nicht, wie es war, wenn er vor einem stand.
Es wäre ein Schock gewesen, - hatte ihr Vater gesagt.
Ja, Urgroßvater hat sicher viele Menschen schockiert, - nicht nur mit seiner außergewöhnlichen Schönheit.
Damals, als er sich in einen riesigen, schwarzen Panther verwandelt hat und seinen Keyboarder Armin derart erschreckt hatte, - diese Stelle las sie auch sehr gerne.
Und auch diese Stellen, wo sie sich so innig geliebt haben. Maria empfand nur Wärme, wenn sie diese zärtlichen Seiten las. Wärme und Glück, daß Urgroßvater endlich diese Liebe fühlen durfte, nach der er sich so lange gesehnt hatte. Er konnte nur eine Frau lieben, und das war Urgroßmutter, - alle anderen Menschen bereiteten ihm Schmerz. Maria hat einmal versucht sich anzufassen, aber sie fühlte sich nicht wohl dabei. Es war ein schmutziges Gefühl. Sie konnte dieses Gefühl nicht verarbeiten. Sie wollte Urgroßvater spüren, aber diese Art von unschuldiger, wahrer Liebe war den Menschen fremd, - auch ihr. Diese Liebe kann man niemals verstehen, wenn man sie nicht selbst empfunden hat. Und das konnten nur Urgroßmutter und Urgroßvater und zum Teil auch seine Freunde. Großmutter und deren Schwester konnten es mit ihren Männern auch zum Teil ausleben, aber es war doch nicht diese Vollkommenheit. Vollkommen auf sein Herz hören, das konnten nur Marias Urgroßeltern.
Maria schaltete seufzend das CD-Gerät aus. Sinnend blickte sie noch einmal auf die Fotos. Dann legte sie sich zurück und schloß die Augen. Die Nachttischlampe an ihrem Bett ließ sie an.
Sie war noch nicht eingeschlafen, als sich die Tür zu ihrem Zimmer leise öffnete. Es war Remi, der Rebell, der schwer verletzt ins Haus gekommen war. Er war ein kräftiger Mann, dem diese Wunde nichts anhaben konnte.
Das Fieber war weg, und er hatte sich in diesen wenigen Stunden Schlaf seine Kraft wieder zurück geholt.
Cora war bereits zu Bett gegangen, als sie bemerkte, daß er überm Berg ist.
Remi war ausgeschlafen und fühlte sich gesund. Er war noch nie in diesem Haus, aber unter einer Tür schien Licht durch, und so vermutete er, daß es Marias Zimmer war.
Langsam kam er ans Bett und blickte lächelnd auf das Mädchen. Marias Augen waren noch immer geschlossen. Die Bettdecke war bis zu ihren Hüften hochgezogen. Maria war nackt, - sie schlief immer nackt.
Bewundernd sah der junge Mann auf die kräftigen Schultern des Mädchens. Es hatte kaum weibliche Formen, nicht einmal die Brüste wirkten fraulich. Es waren feste, muskulöse Brüste, wo man von den Achseln den stark ausgebildeteten Brustmuskel sehen konnte. Das lange Haar umrandete sanft das Gesicht, - das einzig Weibliche an Maria. Remi entdeckte eine gewisse Ähnlichkeit mit Marias Urgroßvater. Es waren die vollen, energischen Lippen, die manchmal wie zum Kuß gespitzt waren, und auch die Brauen, die ständig in Bewegung waren, wenn sie sprach.
Remi setzte sich ans Bett. Erst jetzt schlug Maria ihre Augen auf. Sie hatte den jungen Mann gehört und ihn auch erkannt. Sie kannte die Schritte ihrer Familie, aber diese Schritte waren ihr fremd, - also konnte es nur Remi sein.
"Du bist schön", sagte Remi leise.
Maria schwieg und sah ihn nur prüfend an. Sie zog auch die Bettdecke nicht hoch. Es war ihr egal.
"Du hast Muskeln wie ein Mann", sagte Remi wieder leise.
Er war etwas verlegen und wußte nicht, wie er sich verhalten soll. Seine Augen glänzten, - es war nicht mehr das Fieber....
Remi blickte zur Seite auf die Fotos.

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#3 | RE: Die Rebellen datum

08.08.2015 09:46

"Du bist ihm irgendwie ähnlich", sagte er lächelnd. "Ich weiß nicht viel über ihn, nur, was mir meine Eltern und Großeltern erzählt haben. Man sagt, daß er Männer genauso verrückt machte, wie Frauen. Er war sehr groß und muskulös wie ein Mann, aber sein Gesicht wäre sehr weiblich gewesen. Er hatte Männlichkeit und Weiblichkeit in einem, - so wie du, Maria. Ich glaube, das ist es, was euch so ähnlich macht."
"Ich habe einmal einige seiner Songs gehört", sprach Remi weiter. "Die Polizisten standen hinter der Mauer des Rebellenviertels und spielten im Bus seine Songs. Ich konnte nicht weggehen. In diesem Moment wäre es mir egal gewesen, wenn sie mich erwischt hätten. Ich mußte einfach auf diese Stimme hören. Sie war so sanft und weich und nahm mich richtig gefangen. Auch die Polizisten waren ganz ruhig und schienen in seinen Bann gezogen worden. Der Song war wunderschön. Ich kann mich an die Worte - love - und - lifetime - erinnern."
"Once in a lifetime", sagte Maria leise und holte aus dem großen Stoß neben ihrem Bett eine CD hervor.
Als der Song erklang, wurden Remis Augen noch glänzender.
Fast flüsternd sagte er: " Ja, das war der Song."
"Es ist ein sehr alter Song, damals, als..."
Maria stockte. Sie wollte nichts von dem Geheimnis erzählen.
Ja, damals war Urgroßvater sehr traurig. Er mußte diese Welt verlassen, um auf der Leuchtenden Welt den Stein der Könige suchen, und er mußte seine einzige, große Liebe verlassen. Niemand wußte, wie lange er ausbleiben wird und ob er überhaupt wieder zurück kommt.
Maria weinte immer, wenn sie diese Stellen in den Büchern las.
"Was war damals?", fragte Remi.
"Nichts", wehrte Maria ab und schaltete das CD-Gerät wieder aus.
Dann sah sie Remi prüfend an.
"Du bist gekommen, um mich zu holen. Die Rebellen haben auf mich gewartet. Ich war bei ihnen. Ich werde mit Tante in die Neue Stadt fahren und Material für Waffen kaufen. Wie werden die Armee besiegen, Remi. Wir werden sie alle in Grund und Boden schlagen, - die gesamte Armee und die Neue Stadt. Kein Stein wird auf dem anderen bleiben."
Remi seufzte nur.
"Was ist los, Remi?", fragte Maria und setzte sich auf.
"Ich fühle mich nicht gut, Maria. Heute, als sie mich erwischt haben, habe ich einen Polizisten erschossen. Es war furchtbar, Maria. Es ist nicht einfach, einen Menschen zu töten.
Ich war in einer Sackgasse. Ich hörte die Wagen und Sirenen. Der erste Wagen fuhr an der Gasse vorbei. Dann kamen sie zu Fuß. Einer von ihnen kam in die Gasse. Ich hatte mich hinter einem Mauervorsprung versteckt. Die Pistole, - ich hatte sie von einem Freund, - sie war in meiner Hand, - schußbereit. Und dann stand er vor mir. Ein junger Mann, - er mußte in meinem Alter gewesen sein, - vielleicht sogar noch jünger. Er sah in meine Augen und dann auf die Pistole, die ich auf ihn gerichtet hatte. Das Halfter an seinem Gurt war offen. Er hätte nur seine Pistole ziehen müssen. Ich sah die Angst in seinen Augen, Maria. Schweiß stand auf seiner Stirn. Er war noch ein Junge, - fast ein Kind. Er war sicher nicht älter als 16, oder 17. Er hatte Todesangst und seine Hände zitterten.
Ich hatte auch Angst, - Angst, daß die anderen Polizisten kommen. Und dann sah ich sie schon um die Ecke kommen. Ich schoß, - ich schoß auf diesen Jungen. Ich mußte meine Augen schließen, - dann rannte ich wie verrückt die Gasse hoch. Die Polizisten schossen auf mich, - einer traf mich an der Schulter. Ich wurde zur Mauer geschleudert und entdeckte eine Tür. Ich lief hinein. Es war ein Hof, der an einer anderen Gasse hinaus führte. Dann sah ich die anderen Rebellen. Sie bemerkten meine Wunde nicht und trugen mir auf, sofort zu dir zu gehen und dir zu sagen, daß wir mehr Waffen brauchen.
Ich war wie in Trance, Maria. Ich habe einen Menschen getötet."
"Es war doch nur ein Polizist", sagte Maria.
"Es war ein Mensch, Maria."
"Meinst du, die machen sich Gewissensbisse, wenn sie euch abknallen wie Hunde? Meinst du, einer von ihnen hat nachher ein schlechtes Gewissen?"
"Das kann niemand von uns beurteilen, Maria. Und wenn es auch so ist. Willst du so werden wie sie? Dann gibt es keinen Unterschied zwischen ihnen und uns. Wir knallen uns gegenseitig ab und empfinden Genugtuung. Ist es das, was du willst? Genugtuung?"
Maria seufzte und lehnte sich im Bett zurück.
"Ich will Gerechtigkeit. Ich will, daß alle Menschen die selben Rechte haben. Was sollen wir denn tun, Remi? Meinst du, sie hören auf uns, wenn wir vor das Rathaus treten und sagen, daß wir Gerechtigkeit wollen? Sie würden uns erschießen, bevor noch einer den Mund aufmachen kann. Es gibt keinen anderen Weg, Remi. Gewalt gegen Gewalt."
"Aber Leben zerstören, - wie kannst du das auf dich nehmen? Glaubst du wirklich, daß du dann glücklicher bist und dich frei fühlst, wenn du viele Menschenleben auf dem Gewissen hast? Ich habe nun einen Menschen getötet, und mir geht es miserabel. Ich werde nie fertig damit werden. Willst du, daß wir uns alle so fühlen?"
"Vielleicht sind nicht alle solche Waschlappen wie du, Remi", sagte Maria verächtlich. "Ich war heute bei den Rebellen und wurde von Polizisten erwischt. Sie hätten mich vergewaltigt und mir anschließend den Gnadenschuß gegeben. Aber sie haben meinen Ausweis gesehen, - haben meinen Namen gelesen, - Simon.
Sie ist Kims Urenkelin, - sagte einer von ihnen. Nun, das war meine Rettung. Jede andere wäre Dreck in ihren Augen gewesen. Sie sehen das Leben nicht, Remi. Sie sehen in uns nur Dreck. Diese Menschen haben nicht das Recht zu leben. Wir müssen sie vernichten. Sie verdienen nichts anderes. Sie haben kein Gewissen."
"Hast du schon einen Menschen getötet, Maria?"
"Nein, aber ich weiß, daß die Polizisten keine Menschen sind. So wie sie uns sehen, sehe ich sie auch. Sie sind nur Dreck."
"Fühlst du dich gut dabei? Was sagten sie? Kims Urenkelin? War Kim nicht der Botschafter der Liebe, des Friedens und der Gerechtigkeit? Hätte er in dieser Situation einen Menschen getötet? Würde er einen Polizisten als Dreck sehen?"
Maria atmete tief durch.
"Ich weiß es nicht, wie er handeln würde und wie er es sehen würde. Er ist ja nicht hier", stieß sie hervor und spürte den dicken Kloß in ihrer Kehle. "Oh, mein Gott, - was sollen wir denn sonst gegen diese Ungerechtigkeit tun? Meine Großmutter, - Kims Tochter, - in ihr fließt noch das meiste Blut von ihm, - sagt immer, daß es nicht recht ist, was wir tun. Sie sagt, jeder Mensch muß von selbst in sein inneres Paradies finden. Jeder muß alleine mit dem Schicksal fertig werden, in das er hinein geboren wurde. Niemand kann die Führung für ihn übernehmen.
Aber ich kann das Paradies nicht finden, wenn ich diese Ungerechtigkeit sehe. Rede doch mit den Arbeitern. Sie sind unglücklich, Remi."
"Tun sie etwas dagegen?", fragte Remi.
"Was sollen sie denn dagegen tun, wenn sie Tag und Nacht überwacht werden und andauernd den Revolver im Genick spüren? Haben deine Freunde, - die Rebellen, - noch nie einen Menschen erschossen? Haben sie sich noch nie gewehrt?"
"Sicher haben sie sich gewehrt, aber ich weiß, daß sich nachher jeder elend fühlte. Wir wollen Freiheit und Gerechtigkeit, aber wie wollen wir das finden, wenn unsere Hände genauso blutig sind, wie die unserer Widersacher?", sagte Remi verbittert.
Maria blickte zu den Fotos hoch. Töten ist immer töten, - hatte Urgroßvater gesagt. Egal aus welchem Grund, - ob du nun ein Geisteskranker, ein haßerfüllter Mensch bist, oder es aus beruflichen Gründen, wie zum Beispiel als Soldat tust, - es wird immer töten bleiben, und du mußt selbst damit fertig werden, daß du ein Leben ausgelöscht hast. Nur du mit dir selbst und mit deinem Herzen. Da hilft kein Tapferkeitsorden und keine Strafe, denn am Ende deines Lebens wirst du immer erkennen, daß du Leben ausgelöscht hast.
Die Leuchtenden Wesen, welche in Akes Bann waren, und die Takinos wären gestorben, weil sie Dämonenkraft in sich hatten. Das war nicht töten, als er sie vernichtet, oder besser gesagt - erlöst hatte.
Aber wie war es mit den Tieren und Pflanzen? Das war ein notwendiges Übel, denn er mußte auf der Erde bleiben und Menschengestalt behalten. Er hätte auch Menschenfleisch essen können, - wahrscheinlich noch lieber, weil sie ohnehin tot waren und nur sinnlos vergraben wurden. Was für eine Verschwendung! Man grub sie ein und machte ihnen noch ein Denkmal, von dem niemand etwas hatte. Es wäre doch besser gewesen, diese Leichen, wenn ihr Fleisch gesund gewesen wäre, zu essen und damit das Leben unschuldiger Tiere zu schützen. Aber die Menschen hielten sich schon immer für etwas besseres, daß man ihnen unbedingt ein Denkmal setzen mußte. Tiere, das ist niedriges Leben, ohne Intelligenz, und noch niedriger sind Pflanzen. Ja, das war und ist eben der Standard. Nur Urgroßvater sah das nicht so. Für ihn war Leben Leben, egal welches. Aber er aß nie Menschenfleisch, um die Gefühle der Menschen nicht zu verletzen. Natürlich hatten Tiere für ihn ebenso Gefühle, und er meuterte gegen diese Fabrikation der Nutztiere. Er aß nur Fleisch von Tieren, die bei Bauern artgerecht gehalten wurden. Darauf achtete er immer. Daß sie wenigstens ein bißchen Leben in sich spüren konnten, diese armen Tiere, über die sich die Menschen, so von sich selbst überzeugt, hinweg setzten.
Und die Pflanzen? Urgroßvater sagte einmal, daß jede Pflanze weiß, wozu sie gut ist. Sie lockt mit einem bestimmten Duft Insekten an, um bestäubt zu werden. Wir wissen nicht, wozu wir gut sind.
Gemüse und Obst haben Vitamine in sich, um das Leben anderer zu stärken. Es würde verfaulen, wenn man es nicht pflückt und erntet, also nimmt man es, wozu es sich verpflichtet fühlt. In der Natur ist es immer ein geben und nehmen. Aber was gibt der Mensch?
Nein, Urgroßvater nahm nie vorsätzlich Leben. Er schützte es wirklich, so gut er es auf dieser Welt schützen konnte. Und er wehrte sich auch nie, wenn er von schwächeren Menschen bedroht wurde. Er ließ immer alles mit sich geschehen. Nur wenn es um andere ging, dafür setzte er sich, - wenn es sein mußte, auch mit seinen kräftigen Fäusten, ein. Aber auch da war er immer darauf bedacht, niemanden ärger zu verletzen.
Was würde er heute tun? Würde er kämpfen? Würde er mit Waffen auf Polizisten losgehen?
Kein Mensch ist von Natur aus böse, - sagte er immer. Es gibt immer einen Grund, warum man verbittert und haßerfüllt ist, daß man dann auch töten kann. Aber die Menschen haben zu wenig Zeit, sich mit jedem einzelnen zu beschäftigen. Die Zeit eilt den Menschen davon.
Liebe ist das Zauberwort. Bringe einem Menschen Liebe entgegen und er wird geheilt. Haß und Gewalt vergrößern die Mauern nur, aber Liebe reißt sie gewaltlos und sanft nieder.
Er hatte es ja leicht mit dieser Unmenge Liebe in seinem Herzen. Das sagte Urgroßmutter auch immer. Wenn er gewollt hätte, hätte er das Paradies schon damals erschaffen können. Jeder Mensch hätte auf ihn gehört. Aber das war nicht in Urgroßvaters Sinn. Die Menschen waren nicht bereit. Bereit waren nur die, die ihm wirklich zuhören wollten. Es wird immer Lüge sein, wenn du einem Menschen dein Herz und deine Vorstellung vom Paradies aufzwingen willst. Den Menschen wurden schon zuviel gesagt. Von Anfang an war immer einer da, der ihnen sagte, was sie tun, glauben und sehen sollen. Urgroßvater wäre nur einer von ihnen gewesen. Er wollte die Bereitschaft, den Willen, und das fehlte bei den Menschen. Das alles wird erst sein, wenn er und seine Armee den Endkampf bestreiten. Es muß jeder einzelne bereit sein.
"Sind wir bereit, Remi?", fragte Maria und sah den jungen Mann traurig an.
"Wie meinst du das?"
Maria senkte ihren Blick. Remi nahm ihre Hand und lächelte.
"Du warst jetzt einige Minuten in diesen Fotos versunken, als ob du innerlich mit Kim gesprochen hättest. Meinst du, daß er dir auf deine Fragen eine Antwort geben kann?"
Maria sah überrascht auf, dann schüttelte sie ihren Kopf.
Nein, die Antworten stecken immer nur in dir selbst, - in deinem Herzen. Nein, es war nie leicht für Urgroßvater auf sein Herz zu hören und diese gewaltige Liebe in sich wachsen zu lassen. Er quälte sich selbst dabei, denn er hatte es schwerer als jeder andere Mensch. Er war wirklich großartig.
Urgroßmutter war ihm am nächsten, aber doch war sie von seiner Liebe und Kraft weit entfernt. Er wollte nie Verherrlichung. Er sagte immer, daß er nun mal so ist, wie er ist. Jeder ist für sich großartig, der zu seinem Herzen findet und der zu seiner Individualität steht. Und dann wird er sich nicht mehr für so wichtig nehmen. Im Paradies gibt es keine Selbstgefälligkeit.
"Woran denkst du, Maria?"
Das Mädchen kniff seine Augen zusammen.
"An nichts. Was wirst du jetzt tun, Remi?"
Der Junge spitzte seine Lippen und seufzte.
"Ich kann diesen Mord nicht verantworten, Maria. Und doch habe ich ihn begangen. Ich will nicht mehr zu euch gehören. Ihr wollt Gerechtigkeit und Freiheit. Ich habe noch nie Freiheit genossen, Maria. Ich weiß nur, daß ich mich jetzt weniger frei fühle, als vorher, - jetzt, wo ich einen Menschen erschossen habe."
"Es war ein gewissenloser Mensch, Remi. Er hatte sicher schon mehrere Menschenleben auf dem Gewissen und machte sich nichts daraus."
"Das ist Ansichtssache. Vielleicht wurde er damit fertig, - ich aber nicht. Das gibt mir noch lange nicht das Recht, ihn zu erschießen."
"Aber du hast es getan, Remi. Du hast ihn erschossen. Du hättest vorher wissen müssen, warum du eine Pistole bei dir trägst und warum du sie schußbereit hattest. Durch deine Reue wird er nicht mehr lebendig. Du mußt dazu stehen, selbst, wenn du es nicht für gut befindest. Du änderst mit deiner Reue nichts. Die Rebellen werden beim Aufstand mitmachen, egal, was du tust. Und ich werde es auch tun. Sicher werden wir nicht glücklich sein, wenn wir Polizisten töten, aber es gibt keine andere Möglichkeit."
"Wir könnten fliehen", sagte Remi leise.
"Fliehen? Und die Arbeiter ihrem Schicksal überlassen?"
"Hast du schon einmal ernsthaft darüber nachgedacht, was sein wird, wenn ihr die Neue Stadt und die Armee besiegt? Klar, jetzt werden die Arbeiter mit Fraß versorgt, und Leben haben sie auch keines. Aber wenn sie dann das Recht haben, selbst einkaufen zu gehen, wird zu wenig für alle da sein.
Im Grunde ist das System gar nicht so schlecht. Es gibt nicht mehr viel Nahrung, und das Wasser ist auch knapp. Glaubst du, daß später jeder genügsam damit umgehen wird? Meinst du nicht, daß die ersten die besten Chancen haben werden und die letzten nichts mehr zu kaufen bekommen?
Jetzt teilen sie es in der Neuen Stadt noch gut auf, - zwar ungerecht, aber alle können davon leben.
Falls die Neue Stadt zerstört wird, ist jeder auf sich selbst angewiesen, und ich denke, dann wird es noch furchtbarer sein. Dann werden sie mit Waffen einkaufen gehen und die abknallen, die noch etwas zu kaufen bekommen haben. Sie werden sich für einen Schluck Wasser gegenseitig umbringen.
Hast du auch daran gedacht? Meinst du wirklich, daß du diese Erde noch retten kannst?"
"Du meinst, daß es dann nur mehr Verbrecher geben wird? Jeder gegen jeden?", fragte Maria nachdenklich.
"Dessen bin ich mir fast sicher, - so wie ich die Menschen kenne. Was würdest denn du tun, wenn du hungrige Kinder zu Hause hast und siehst, daß sie dir das letzte Stück Brot vor der Nase wegkaufen und dir niemand etwas abgibt? Würdest du nach Hause gehen und zusehen, wie deine Kinder verhungern? Würdest du nicht einbrechen gehen und vielleicht das Leben eines anderen gegen das deiner Kinder eintauschen? Deine Kinder würden dir sicher näher stehen, als diese Fremden. Und wie dich kenne, machst du diesen Menschen für den Tod deiner Kinder verantwortlich, der zu viel eingekauft hat. Er wird für dich ein gewissenloser Mörder sein. Und was bedeuten dir schon gewissenlose Mörder?
Maria, ihr dürft nicht blind handeln. Ihr müßt auch an die Folgen denken. Und könnt ihr diese Folgen verantworten, wenn sie wirklich eintreffen?"
"Geht es uns jetzt besser?", fragte Maria.
"Was geht dir denn ab? Du gehörst zu den Reichen und hast alles, was du dir zu dieser Zeit wünschen kannst.
Es war doch schon immer so, daß die Reichen und Mächtigen am größeren Topf gesessen sind. Das wird immer so bleiben. Daran könnt ihr mit eurer Revolution nichts ändern. Und wenn es so kommt, wie ich sagte, wird eben der Stärkere am größeren Topf sitzen. Ändern wird sich nie etwas.
Ich habe noch nie so klar nachgedacht wie jetzt, Maria. Ich glaube, es liegt an diesem Haus, wo man Kims Liebe noch immer spüren kann.
Wir müssen der Realität ins Auge sehen und nicht unsere Träume sehen, wie wir es wollen. Jeder hat seinen Traum, und jeder Traum sieht anders aus. Was zählt, ist immer die Realität, und die hat mit unseren Träumen nichts zu tun.
Wenn es auch unerträglich für dich ist, wie die Arbeiter und Rebellen behandelt werden, so ist es doch jetzt besser, als wenn das eintrifft, woran ich glaube."
"So gesehen billigst du das, was die hohen Herren und die Armee machen? Ist es nicht besser, wenn jeder auf sich selbst angewiesen ist und schon jetzt lernen kann, wie man überlebt, - wie man mit wenig Nahrung auskommt? Denn irgendwann wird das sicher der Fall sein, - früher und später wird es sicher so sein, wie du sagtest. Aber dann werden die Menschen noch weniger frei sein, weil die hohen Herren auf die Arbeiter vergessen werden und sich nur mehr selbst verpflegen werden. Wir müssen sie vom größerern Topf vertreiben. Selbst wenn dann das Gesetz des Stärkeren gilt. Aber dann ist sich jeder selbst überlassen und spürt keinen Revolver im Genick, wenn er klug genug ist. Dann hat jeder die Chance zu überleben, wie er es sich selbst vorschreibt und nicht wie es die hohen Herren vorschreiben. Vielleicht siehst du da keinen Unterschied, Remi, - aber ich schon. Und ich bin mir sicher, daß ich die Mehrheit hinter mir habe, - wenigstens die Mehrheit der Arbeiter und Rebellen.
Nein, du gehörst wirklich nicht mehr zu uns, Remi."
Remi stand langsam vom Bett auf und ging zur Tür. Nur zögernd blickte er Maria an.
"Nein, ich gehöre nicht mehr zu euch, - und ich will dieses Leben nicht, - auch nicht das, von dem du sprichst. Ich werde versuchen die Stadt zu verlassen. Vielleicht finde ich irgendwo in den Bergen einen Platz zum Leben."
"Dort gibt es nichts, Remi. Du wirst verhungern und verdursten."
"Ich bin nun für mich selbst verantwortlich. Es sollte niemanden kümmern", sagte Remi und verließ das Zimmer.
Maria schüttelte nur ihren Kopf.
Wenige Minuten später hörte sie die Haustür zufallen. Remi war gegangen.
Sie hörte nie wieder etwas von ihm. War ihm die Flucht aus der Stadt gelungen? Hat man ihn auf der Flicht erschossen? Niemand hörte je wieder etwas von Remi....
Armer Junge, - dachte Maria, - aber vielleicht war er seinem Herzen doch näher und machte das einzig Richtige.
Es gibt keine gewissenlosen Menschen, wenn es manchmal auch so scheint, - hatte Urgroßvater einmal gesagt. Spätestens am Ende ihres Lebens werden sie ihr Gewissen spüren.
Maria war sich schon lange nicht mehr sicher, ob sie das Richtige tut. Sie wußte nur, daß sie so nicht mehr weiterleben kann.
Auf sein Herz hören, - das war etwas, was man nie bereuen darf, - zu dem man auch in der Zukunft noch stehen muß. Auf sein Herz hören, - das ist immer das tun und sagen, das man jederzeit vertreten kann. Es verbindet alle Zeiten miteinander, - Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Gerade deshalb sollte man die Gegenwart bewußt erleben, - jede Sekunde konzentriert genießen, um niemals einen Fehler zu machen. Wenn du auf dein Herz hörst, kannst du niemals einen Fehler machen.
Am nächsten Morgen, als Maria die Treppen herunter kam, war Tante schon da. Sie hatte frisches Brot mitgebracht. Sie und Angelo waren genügsam und teilten immer mit allen Nachbarn, auch wenn sie diese nicht so gut kannten.
Maria blieb auf der letzten Treppe stehen und lauschte. Tante, Großmutter und Mutter unterhielten sich in der Küche.
"Ich habe Angst um Maria, Angelia", hörte sie Mutter sagen. "Du solltest nicht mit ihr in die Neue Stadt fahren. Ich weiß, daß sie nichts Gutes vorhat."
"Sie muß tun, was sie tun muß, Una. Wir dürfen sie nicht von ihrem Weg abhalten", sagte Großmutter.
"Woher soll sie denn wissen, welchen Weg sie gehen soll? Glaubst du, daß sie den rechten Weg geht, Mama? Vertrauen ist schön und gut, aber ich höre aus deinen Worten nur Kims Worte und nicht die deines Herzens. Du bist doch noch immer viel zu sehr in deinen Daddy vernarrt", gab Una trotzig zurück.
"Wie kannst du nur so über Kim sprechen?!", schaltete sich Angelia energisch ein.
"Ich spreche doch nicht gegen ihn. Ganz im Gegenteil, - er hätte das nicht gewollt. In diesem Haus wird doch immer nur daran gedacht, wie Kim gehandelt, - was er gesagt, - und sogar, was er gedacht hätte. Das war doch niemals in seinem Sinn. Es gibt keine Vorbilder, - das ist zweite Wahl, und in der zweiten Wahl ist kein Herz mehr. Das sagte Kim sicher Tausend mal. Er war kein Heiliger, und er wollte niemals ein Vorbild sein. Er wollte nur, daß jeder sein Herz findet, - sein eigenes und nicht Kims Herz. Er gab uns nur die Schlüssel, und ich glaube, ich habe den Schlüssel angenommen und fühle, daß ich mir Sorgen um meine Tochter mache. Das ist es, was mein Herz wirklich fühlt. Dieser Umgang mit den Rebellen ist mir nicht recht.
Man könnte uns das Haus wegnehmen, - uns töten. Denkt denn niemand an die Folgen?
Was wollen die Rebellen denn unternehmen? Sie bauen Waffen und werden genauso töten wie die Armee. Wenn ihr schon in Kims Sinn handeln und denken wollt, - würde er das gut heißen?"
"Denke doch einmal nach, Una", sagte Großmutter. "Maria hätte bei uns ein schönes Leben. Es würde ihr an nichts fehlen. Aber sie denkt an andere Menschen, die es nicht so gut haben, und sie will für diese Menschen kämpfen. Hat Kim nicht gesagt, daß wenn man den rechten Weg geht, - wenn man auf sein Herz hört, - sensibler ist? Aber nicht für sich selbst, sondern für andere Menschen. Man spürt das Leid der anderen viel mehr, und dann muß man handeln, wenn Hilfe erwünscht ist. Die Rebellen wollen sich befreien. Sie wollen ein freies Leben."
"Und das Leben anderer und das eigene riskieren? Wäre das auch in Kims Sinn?", fragte Una zynisch.
Maria atmete tief durch und ging in die Küche. Tante, Großmutter und Mutter sahen sie überrascht an. Maria konnte sich genauso leise anschleichen und überrascht auftauchen, wie Kim.
"Mama hat recht. Wir denken wirklich zu viel daran, wie Kim gehandelt hätte und leben am eigenen Leben vorbei. Wir sollten an unser eigenes Herz denken und unsere Träume und Wünsche verwirklichen.
Ich weiß, Mama, du machst dir Sorgen und kannst nicht anders. Und ich kann auch nicht anders und muß den Rebellen und Arbeitern helfen.
Nein, es wäre sicher nicht in Kims Sinn, das Leben anderer und das eigene zu riskieren. Aber wir haben nicht sein Herz und seine unermeßliche Liebe und auch nicht die Überzeugung, durch die wir die hohen Herren umstimmen können. Kim hätte es sicher geschafft, wenn er überzeugt gewesen wäre, die hohen Herren durch eine Rede umzustimmen. Aber wir haben nicht diese Überzeugung. Wir müssen zu Waffen greifen und mit Gewalt kämpfen.
Die Menschen der Armee sind keine Menschen mehr. Das sind nur mehr Maschinen, die zum Töten programmiert wurden. Jegliche Gefühle wurden ihnen genommen, daß sie die Arbeiter und Rebellen nicht mehr als ihresgleichen sehen können. Glaubt mir, ich empfinde sogar etwas für diese armen Würmer, die in der Armee zugrunde gerichtet wurden, - die manipuliert wurden, - aber sie sind nun keine Menschen mehr, sondern gefühllose Kampfmaschinen. Vielleicht retten wir sie sogar, wenn wir sie töten und sie noch in der letzten Sekunde zu Menschen werden, daß sie bereuen, was sie mit sich selbst anstellen ließen. Es ist sich ja keiner von ihnen mehr bewußt, was geschieht.
Vielleicht sind wir dann auch Mörder, aber Mörder, die sich für ein besseres Leben einsetzen und sich nur gegen diese Ungerechtigkeit wehren. Das hier wird kein Krieg gegen unbekannte Menschen, die unter anderen Voraussetzungen wahrscheinlich Freunde geworden wären, so wie es damals in den Kriegen einmal war. Damals haben sich beide Seiten in die Hosen gemacht, - Freund und Feind. Damals dachte man noch an den Menschen selbst. Aber die Polizisten der Armee denken nicht mehr. Sie wurden dressiert, um nicht mehr zu denken. Bei ihnen wurde sozusagen eine Gehirnwäsche vorgenommen. Die meisten von ihnen haben keine Familie, weil sie nicht mehr fähig dazu sind, zu lieben und für Frau und Kinder zu sorgen. Sie würden sie sogar töten. Ja, sie würden ihre eigene Familie töten. Sie wurden nur dazu ausgebildet, nichts mehr, als nur Haß zu empfinden. Sie sind den Dämonen aus dem Reich des Bösen sehr ähnlich.
Ja, vielleicht würden sie neben Kim die Liebe wieder finden, - aber dieses Herz, das Kim hatte, - ohne ihn zu erheben, - das gibt es wirklich nur einmal in diesem unendlichem Universum. Und ich glaube, wenn es wirklich eine Rettung dieser Art geben würde, wäre er jetzt bei uns.
Denkt doch einmal nach, was passieren wird, wenn die Nahrung knapp wird. Glaubt ihr wirklich, daß die hohen Herren dann noch immer teilen würden? Dann hilft euch euer Geld und der Name Simon nichts mehr.
Ja, ich weiß, Großmutter, du hast ein Geschäft in der Neuen Stadt. Aber meinst du nicht, daß sich dann die Angestellten über deinen Kopf hinweg setzen werden? Die Geschäfte werden von den hohen Herren beschlagnahmt, und du wirst nichts dagegen tun können. Die Gesetze werden nur von den hohen Herren gemacht, von niemandem sonst.
Oh, ja, ihr seid großzügig und gebt den Armen immer etwas ab. Aber ihr könnt ihr Leben damit nicht ändern, und sie wollen, daß sich ihr Leben ändert. Ganz ehrlich, ich würde mir schäbig vorkommen, wenn ich nachts heimlich ins Arbeiterviertel gehe und etwas Essen mitbringe und mich dann zu Hause an den reichlich gedeckten Tisch setze. Mir schmeckt das Essen nicht mehr, wenn ich daran denke, wie sparsam diese armen Leute mit euren milden Gaben umgehen müssen. Da hilft nur eines, nämlich das Zerschlagen dieses brutalen und mächtigen Imperiums.
Remi hat heute nacht unser Haus verlassen, - und auch die Rebellen. Er will sich bis zu den Bergen durchschlagen und von all dem nichts mehr wissen, weil er meint, daß alles hoffnungslos ist. Er sagte, daß es schlimmer wird, wenn die Neue Stadt nicht mehr regiert. Er denkt, daß dann jeder gegen jeden kämpft und die ersten die Geschäfte leer kaufen und den anderen nichts mehr bleiben wird. Kann sein, daß es so sein wird, aber für mich wäre es leichter zu ertragen, als das Leben jetzt.
Trotzdem werde ich noch einmal mit den Arbeitern und Rebellen reden, und ich werde mir anhören, was sie dazu zu sagen haben und mich danach richten."
"Wie willst du das demokratisch lösen? Wird die Mehrheit entscheiden?
Kim sagte einmal, daß es keine Demokratie gibt und man es wirklich keinem recht machen kann. Ein sogenannter Führer, wie du jetzt einer bist, wird immer eine gute und eine böse Seite haben. Einige werden sagen, daß sie es jetzt besser haben, als später, wenn diese Schreckensvision eintrifft, die Remi so treffend erkannt hat", sagte Una.
"Wie soll es sonst gelöst werden, Mama? Es läßt sich nun mal nicht realisieren, daß wir nur für diese Menschen kämpfen, die damit einverstanden sind, und für die anderen lassen wir dieses Imperium. Nein, man kann es wirklich keinem recht machen. Und wie Kim auch sagte, um wieder beim alten und üblichen Thema zu sein, - sind die Menschen noch keine Leuchtenden Wesen und müssen eben so leben, wie sie geschaffen sind. Wir kennen keine Toleranz, sonst hätten wir ja schon das Paradies. Also machen wir das Beste daraus, und das Beste ist für mich und die Rebellen, sich zur Wehr zu setzen und zu kämpfen."
Das Radio in der Küche war immer eingeschaltet. Man mußte die ständigen Nachrichten hören, um immer informiert zu sein. Gerade in diesem Moment war es wieder so weit. Der Sprecher gab durch, daß irgendwo im Norden einen Stadt von den Rebellen erobert wurde. Die Geschäfte wurden geplündert, unzählige Menschen brutal nieder gemetzelt und die Stadt total zerstört. Die Rebellen hatten auch einen beachtlichen Verlust, aber sie haben gesiegt. Wie das Leben in dieser Stadt nun weiter gehen soll, wußte niemand. Man konnte nichts mehr anbauen, denn der Boden war weitgehend verseucht. Nahrung wurde in den Fabriken Großteils chemisch hergestellt, - und manchmal erntete man in Treibhäusern etwas Korn für Brot. Die Treibhäuser wurden aber zerstört und somit auch dieser Boden verseucht. Man wird wahrscheinlich die Stadt verlassen müssen, um eine neue Stadt zu erobern. Nun hatten alle Menschen in dieser Gegend Angst vor den Rebellen.
"Ist es nicht wirklich aussichtslos, wenn die hohen Herren nicht mehr das Sagen haben? Sie konnten noch Nahrung beschaffen, und niemand weiß, wie sie das getan haben. Mit diesem Geheimnis haben sie euch alle in der Hand", sagte Una.
"Sind wir denn dümmer als sie?", fragte Maria.
"Das nicht, aber unerfahren."
"Es muß einen Weg geben, und wir werden ihn finden. Wenn wir siegen, werden wir uns schon weiterhin um die Menschen kümmern."
"Wie denn? Wie die hohen Herren?", fragte Una.
"Sicher nicht, - wir werden niemanden zum Arbeiten zwingen."
"Ach, nein? Und wenn einer keine Arbeit annehmen will, muß er eben verhungern. Oder?"
"Natürlich muß jeder für seine Verpflegung etwas tun."
"Was ist da für ein Unterschied, Maria? Heute werden die Arbeiter gezwungen und bekommen Nahrung, - und wenn sie nicht arbeiten, werden sie ins Rebellenviertel getrieben, oder sofort erschossen, was ihnen das Verhungern erspart. Aber du würdest sie leiden lassen, wenn sie nicht arbeiten wollen."
"Man zwingt sie zu einer Arbeit, die sie nicht wollen. Später können sie sich die Arbeit aussuchen."
Una lachte zynisch auf.
"Es gibt nicht mehr viel Arbeit zum Aussuchen, liebste Tochter! Die Menschen müssen die Arbeit annehmen, die sie bekommen. Wenn du schon einen Weg gehst, mußt du auch an die Folgen denken. Remi hatte schon recht. Er ist noch rechtzeitig ausgestiegen. In dieser Zeit gibt es keinen Ausweg mehr, Maria. Es ist hoffnungslos, - laß dir das gesagt sein.

Antworten

#4 | RE: Die Rebellen datum

08.08.2015 09:46

Es wird immer Menschen geben, die dir von oben etwas befehlen. Und wenn nicht, dann bist eben du selbst der Befehlshaber. Menschen brauchen Gesetze und Regeln. Das war schon immer so. Es wurde ihnen immer gesagt, was sie tun dürfen und was nicht. Dieser Wurm steckte schon von Anfang an in den Menschen, und diesen Wurm kannst du nicht besiegen, Maria. Nicht mit deinen Rebellen. Wir sind nicht mit den Leuchtenden Wesen mitgezogen. Das ist Utopie für uns. Danach kann keiner von uns leben. Diesen Wurm kann nur Kim im Endkampf besiegen."
"Was ist mit dir, Tante? Du wirst doch einmal auf die Leuchtende Welt gehen."
Angelia lächelte und nahm Marias Hand.
"Noch bin ich auf der Erde und muß mit den Menschen nach meinem besten Gewissen leben. Und es liegt mir fern die Menschen zu ändern, die es im Grunde genommen gar nicht wollen.
Du sagst, die Arbeiter und Rebellen wollen ein anderes Leben. Und was dann, wenn nichts mehr zu essen und zu trinken da ist? Wollen sie das Leben dann auch noch? Klar, die Rebellen müssen schon heute für ihre Nahrung kämpfen, und wenn du nicht wärst, wären die meisten sicher schon verhungert. Bei ihnen kann ich den Wunsch verstehen, dieses Imperium zu stürzen. Auch ich bin gegen dieses Imperium, aber wenn ich es ändern sollte, muß ich auch eine Lösung parat haben, und zwar eine Lösung, wie ich das Volk ernähren kann. Und zu dieser Zeit, finde ich, gibt es keine andere Lösung.
Kennst du alle Arbeiter und Rebellen persönlich? Kennst du ihre Gefühle und Gedanken? Weißt du, wie sie über andere denken, über ihre Nächsten? Würden sie helfen? Würden sie immer gerecht teilen? Würden sie genügsam sein und mit aller Kraft versuchen, ein humanes Imperium zu schaffen, wo wirklich alle die selben Rechte haben? Wenn ja, - wenn wirklich ja, dann wäre das Paradies dieser Stadt sehr nah. Aber dieses Ja muß aus dem Herzen kommen, und das mußt du bei jedem einzelnen erkennen, Maria. Wenn nicht, läuft ihr allesamt in euer eigenes Verderben, so wie diese Rebellen, von denen wir eben in den Nachrichten gehört haben. Was werden sie tun? In die nächste Stadt gehen und weiter erobern, bis zu uns, - bis alle Menschen Angst vor ihnen haben? Ist es das, was sie wollen?
Theorie und Praxis, - das sind zwei verschiedene Welten. Eure Idee hört sich ja gut an. Freiheit und Gerechtigkeit für alle. Aber wo es nie Freiheit und Gerechtigkeit gegeben hat, - die man nie gekannt hat und von der man nicht die leisteste Ahnung hat, - wie soll sie so plötzlich da sein? Das alles kommt nicht von selbst. Das alles kann nur in dir sein, - in deinem Herzen, und das muß jeder einzelne erst einmal finden und heraus holen, - wirklich jeder einzelne von euch, und das mit einer Toleranz, die Menschen nie zuvor gelebt haben. Toleranz muß man leben, - nicht davon sprechen.
Ich habe keine Lösung, Maria. Ich kann dir dabei nicht helfen, weil ich diese Menschen nicht kenne, mit denen du die Neue Stadt erobern willst. Du weißt jetzt, was ich unter kennen verstehe. Jeden einzelnen, - jede einzelne Regung dieser einzelnen Menschen. Wenn nur einer dabei ist, der wirklich nur an sich selbst denkt, wird euer Vorhaben euer Verderben sein, und das Morden wird nie mehr enden. Einer für alle und alle für einen, - dieser Spruch könnte euch alle retten.
Du hast gesagt, daß die Polizisten der Armee den Dämonen aus dem Reich des Bösen ähnlich sind. Wahrscheinlich seht ihr euch dann auch wie die Armee, welche Kim aufstellt. Bedenke, Maria, - wie lange Kim brauchen wird, bis er seine Armee aufgestellt hat, - und wie er diese Wesen aussucht. Er prüft sie, Maria, - er prüft sie so genau und weiß, daß sie das wahre Herz für diesen Kampf haben. In Kims Armee wird keiner dabei sein, der nicht dafür geschaffen ist, aus ganzem Herzen gegen die Dämonen zu kämpfen. Vergleiche diesen Kampf niemals mit deinem, Maria. Dieser Kampf ist für das Leben allgemein und nicht für Gerechtigkeit und Freiheit jedes einzelnen. Dieser Kampf bedeutet nur Leben, und er läßt das Leben auch Leben sein, ohne gut und böse zu unterscheiden. Alles ist wahr, - und alles ist wie es ist."
Maria hatte ihrer Freundin gut zugehört, und sie verstand ihren Standpunkt nur zu gut. Sie konnte nicht allen trauen, und sie wußte, daß es Utopie ist, denn noch immer waren die Menschen so, daß sich jeder selbst der nächste ist.
"War es wirklich so, daß sich am Anfang der Menschheit ein Teil losgesagt hat und ohne Nahrung ausgekommen ist? Diese Evolution, welche den Menschen alle Innereien herausgenommen hat und sie zu leuchtende Körper gemacht hat, - das klingt so unvorstellbar und unglaublich. Menschen würden verhungern, wenn sie nichts mehr essen. Sie würden sterben und nicht zu leuchten beginnen.
Wie viele sind damals gestorben, bis sie diese Evolution überstanden haben? Hat Urgroßvater nie davon erzählt?", fragte Maria.
Großmutter blickte auf.
"Sie hatten den Glauben zu leben", sagte sie leise. "Sie wehrten mit ihrem Glauben jede Krankheit ab. Sie standen ganz einfach über ihren Körper. Sie haben das Böse niemals angenommen, das uns die wahre Freiheit genommen hat, von der wir alle träumen. Und diese Freiheit ist auch ein Teil davon, leben zu können, ohne zu essen."
"Warum sind manche Menschen dazu verurteilt, als Menschen geboren zu sein und nicht als Leuchtende Wesen, obwohl sie sich nach diesem freien Leben sehnen?"
"Weil sie zu wenig glauben, und weil es wahrscheinlich ihr Schicksal ist. Das Schicksal irrt sich nie, - genauso wenig wie die Herzen. Und ich für meinen Teil glaube, - die Arbeiter und Rebellen wurden in dieses Leben hineingeboren, und jeder einzelne von ihnen muß selbst aus diesem Leben etwas machen.
Aber worauf willst du eigentlich hinaus, Maria?", fragte Großmutter.
Maria lächelte bitter.
"Wenn wir keine Nahrung brauchen würden, wären wir besser dran."
"Wenn es nicht Nahrung ist, dann ist es eben etwas anderes, was den Menschen die wahre Freiheit nimmt. Daran kannst du nichts ändern, weil die Menschen noch nicht bereit sind."
"Sind wir bereit?", fragte Maria.
"Das mußt du selbst feststellen, wie es dir Angelia geraten hat", sagte Großmutter.
"Was ist denn los mit euch?!", fuhr Maria auf. "Und ich laß mich beinahe von euch mitreißen. Ihr sorgt euch doch gar nicht um mich, sondern um die Menschen, die dann womöglich mit der Freiheit nichts anfangen können!"
"Meinst du nicht, daß du dann auch zu diesen Menschen gehörst, Maria?", sagte Una ruhig. "Wir sorgen uns um dich. Erstens, weil du getötet werden kannst, was das Schlimmste wäre, und zweitens, weil du am Ende sehen wirst, daß es für die Menschen noch keine Freiheit geben kann und du somit umsonst gekämpft hast."
"Es wird mehr Freiheit geben als jetzt, und das genügt mir. Die hohen Herren und ihre Armee gehören vernichtet. Das sind keine Menschen mehr. Und dann ist ohnehin jeder Mensch für sich selbst verantwortlich. Dann haben sie genug Zeit zu lernen, was Freiheit ist. Ich will keine Führerin sein. Ich will nur Gerechtigkeit für alle. Wenn der Kampf vorbei ist, werde ich wieder ruhig in diesem Haus leben können.
Das, was ihr von den Rebellen gehört habt, das haben ohnehin die hohen Herren im Radio durchsagen lassen. Sie sind es, die in Angst leben, - nicht die Arbeiter. Die Arbeiter würden sich freuen, wenn die Rebellen kommen und wenn sie mehr Unterstützung haben.
Und jetzt komm, Tante! Wir haben etwas zu erledigen!"
"Du mußt noch frühstücken, Maria", sagte Angelia, als sie von Maria am Arm gepackt wurde.
Maria lächelte und blickte auf den reichlich gedeckten Tisch.
"Habt ihr altes Brot?", fragte sie.
Una schüttelte verzweifelt ihren Kopf und faßte in die Brotlade. Da war noch altes Brot von gestern.
Maria nahm es und hielt es demonstrativ in die Höhe.
"Die Arbeiter haben auch kein anderes Frühstück, als nur altes Brot, das die hohen Herren übrig gelassen haben. Kaffee, oder Tee bekommen sie nur selten. Sie haben nur Wasser zum Frühstück, und darauf kann ich verzichten."
Dann verließ Maria, mit dem Stück Brot, das Haus. Angelia folgte ihr achselzuckend.

Maria saß schon am Beifahrersitz und kaute an dem Brot, als Angelia in den Wagen stieg.
"Du wirst deine Kraft verlieren, wenn du weiterhin so wenig ißt, Maria", sagte Angelia besorgt und startete den Wagen.
"Die Kraft ist in meinem Herzen", sagte Maria zynisch.
Bis zur Grenze der Neuen Stadt hatte Maria ihr Brot aufgegessen. Sie fuhren schweigend.
Vor den Schranken mußten sie anhalten. Maria sah drei Polizisten in dem Betonhäuschen, das am Straßenrand extra für die Wachen gebaut wurde. Sie sahen zum Fenster heraus und prüften die Autonummer des Wagens in ihrem Computer. Erst dann kam einer von ihnen heraus und lehnte sich am offenen Wagenfenster zu Angelia herein.
"Dich kenne ich doch!", sagte Maria vorlaut. "Bist du nicht gestern nacht drüben am Zaun vor dem Rebellenviertel gestanden?"
Der noch sehr junge Polizist lächelte und nickte.
Die Polizisten der Armee waren alle sehr jung. Der älteste dürfte höchstens 30 sein, denn man brauchte starke und ausdauernde Männer bei dieser Arbeit und vor allem Jugend, die leicht zu beeinflussen war.
Angelia wollte ihren Ausweis vorzeigen, aber der Polizist wehrte ab.
"Es ist schon in Ordnung", sagte er höflich und blickte wieder auf Maria.
"Ich hatte Glück und wurde heute morgen versetzt", sagte er. "Hier an der Grenze zur Neuen Stadt ist es nicht so gefährlich."
"Nein? Ist es dann auch nicht langweilig, wenn ihr keine Rebellen zum Jagen habt?", fragte Maria.
Angelia wurde unruhig und stieß Maria unauffällig am Arm.
Der Polizist grinste und bot Maria eine Zigarette an.
"Danke, ich rauche nicht", sagte sie und verschränkte ihre Arme vor der Brust.
Angelia griff mit zitternder Hand zu, als er ihr ebenfalls eine Zigarette aus seinem Päckchen anbot.
"Du meinst also, daß mir langweilig wird, wenn ich keine Rebellen jagen kann?", fragte der Polizist, noch immer grinsend.
Maria spürte in diesem Moment irgendwie, daß dieses zynische Grinsen nicht echt war.
"Klar! Ich habe einmal gehört, daß es den Polizisten drüben am Zaun langweilig wurde, - also zogen sie los ins Rebellenviertel und knallten ein paar Rebellen ab. Einfach so, - und dann war ihnen nicht mehr langweilig", sagte Maria und blickte dem Polizisten geradewegs in die Augen.
Es waren sanfte, dunkle Augen. Maria wollte nicht, daß ihr dieser junge Mann sympathisch ist, - der zu den Polizisten, - zu ihren größten Feinden gehört. Das war kein Mensch mehr, - das war ein dressierter Killer.
"Es gibt sicher einige unter uns, die das tun, - aber ich war nie dabei", rechtfertigte sich der Mann.
Maria schwieg. Sie fühlte zu sehr die Wut in ihr, und in diesem Moment wußte sie, daß schweigen besser war.
"Dürfen wir passieren?", fragte Angelia leise.
Der Polizist richtete sich auf und nickte stumm. Er öffnete die Schranken, und der Wagen fuhr langsam weiter.
"Du bringst uns alle noch ins Verderben, wenn du so weiter machst!", schimpfte Angelia.
"Es ist doch nichts passiert", lachte Maria auf. "Hast du gesehen, wie er mich angesehen hat? Als ob er mich kaufen möchte."
"Er fand dich eben hübsch."
"Hübsch? Ein Polizist findet nichts hübsch. Wie oft soll ich noch sagen, daß das keine Menschen, sondern Killer sind."
"Man darf nicht alle in einen Topf werfen, Maria. Du hast selbst gehört, daß er versetzt wurde und nicht heiß darauf ist, Rebellen zu töten."
"Einen höheren Posten bekommen nur diese Polizisten, die schon eine Menge geleistet haben. Und was diese Menge ist, kannst du dir sicher vorstellen, Tante."
Angelia sah ihre junge Freundin abschätzend an.
"Langsam kommt mir vor, daß auch deine Gefühle gestorben sind, Maria. Selbst ich habe gefühlt, daß sich dieser junge Mann etwas aus dir macht. Hast du denn überhaupt keine Liebe mehr in dir? Könntest du keinem Menschen verzeihen, der seine Fehler ehrlich bereut und nun bereit wäre, sich zu ändern?
Maria, es steht keinem von uns zu, über andere zu urteilen. Es muß jeder selbst mit seinem Gewissen fertig werden. Und wenn wir sehen, daß sich ein Mensch ändern will, auch wenn er einmal ein Massenmörder war, sollen wir helfen, wenn wir können."
"Was redest du da, Tante? Hattest du wirklich das Gefühl, daß sich dieser Polizist ändern will? Wenn er das wirklich will, würde er seine Uniform ausziehen, seine Waffen ablegen und sich den Rebellen anschließen. Aber das hat er nicht getan."
Maria schöpfte nach Luft und strich sich das Haar aus der Stirn. Ihr war heiß geworden. Warum, das wußte sie nicht so genau.
"Außerdem...", sprach sie gehetzt weiter. "Er würde auch hier auf Menschen schießen, wenn sie die Schranken durchbrechen."
"Das Gefühl hatte ich nicht", sagte Angelia trocken.
"Hast du in sein Herz gesehen?", fragte Maria lachend.
Angelia blieb ernst.
"Menschen sind zu blind, um in das Herz anderer zu sehen, und noch bin ich ein Mensch. Aber ich kann fühlen, und ich fühlte, daß dieser junge Mann kein dressierter Killer ist. Er hat sanfte Augen, - und Augen lügen nicht.
Das hast du doch selbst auch bemerkt, oder nicht?"
Maria winkte ab.
"Laß uns mit diesem sinnlosen Quatsch aufhören. Wo ist das Geschäft, wo wir Material für Waffen bekommen?"
"Waffen?!"
"Nicht direkt, Tante! Ich brauche Eisenrohre, Nägel, Platten und vor allem Schießpulver. Laß mich nur machen. Ich werde dem Mann schon alles erklären. Ich weiß, was ich tu, Tante."
"Hoffentlich", stöhnte Angelia auf und parkte ihren Wagen vor einem Geschäft.

Der Mann hinter dem Laden begrüßte Angelia wie eine alte Bekannte.
"Das ist Maria, die Urenkelin von Kim", stellte sie ihm Maria vor.
Der Mann dürfte im selben Alter wie Tante sein, - überlegte Maria, - und er sah vertrauensvoll aus. Sein Händedruck war fest und ehrlich.
"Was kann ich für euch tun?", fragte er lächelnd.
"Für mich!", sagte Maria. "Ich möchte meinem Onkel eine Freude machen. Er baut gerne verrückte Dinge zusammen, und dazu würde ich Eisenrohre brauchen, nicht zu dicke, aber auch nicht zu dünne. Und dazu Eisenplatten in verschiedenen Größen, - einen Draht, und wenn es möglich ist, Schießpulver, und zwar in verschiedenen Farben. Es ist bald Ostern. Früher, wie ich so gehört habe, machte man Osterfeuer. Aber dieser Brauch ist schon lange aus der Mode gekommen. Mein Onkel würde gerne ein privates Feuerwerk veranstalten, - statt dem Osterfeuer. Nun, - und Nägel würde ich auch brauchen."
Der Mann schöpfte keinen Verdacht. Er führte Maria ins Lager, wo sie nach Herzenslust alles aussuchen durfte.
Das Geld spielte keine Rolle, - davon hatte sie genug.
Es waren drei große Kisten, die der Mann, mit Marias Hilfe, in Angelias Wagen verstaute.
Als der Mann wieder im Geschäft war, legte Angelia Decken über die Kisten.

"Hoffentlich kontrollieren sie uns nicht an der Grenze", sagte sie seufzend, als sie losfuhr.
"Unser netter Polizist? Ach, der wird doch nicht!", sagte Maria und lachte laut auf.
"Meinst du nicht, daß es ziemlich egoistisch von dir ist, andere Menschen in Gefahr zu bringen? Ich denke jetzt nicht an mich, aber der arme Mann könnte sein Geschäft verlieren, weil er uns dieses Zeug verkauft hat, ohne richtig nachzuprüfen. Ebenso könnte Alexander dran sein, wenn sie ihn kontrollieren. Er soll doch aus diesen Teilen Waffen bauen. Oder nicht?"
"Ja, das soll er!", sagte Maria noch immer lachend, und Angelia schüttelte ihren Kopf.
Wieder schwiegen sie bis zur Grenze, wo sie den Polizisten schon von weitem sahen.
Er öffnete sofort die Schranken. Zur Sicherheit hielt Angelia und ließ die Scheiben an ihrer Seite herunter.
"Ihr habt euch nicht lange in der Neuen Stadt aufgehalten", sagte der junge Mann freundlich lächelnd.
"Wir haben nur Geschenke für meinen Onkel gekauft. Wir wußten schon was, und dann dauert der Einkauf nie lange", sagte Maria ebenfalls freundlich lächelnd.
Der Polizist ging hinten am Wagen herum und stellte sich zu Marias Seite. Sie ließ die Scheiben herunter und lehnte sich zu ihm hinaus.
"Paßt etwas nicht?", fragte sie scheinheilig.
"Es ist alles in Ordnung. Ich möchte dich nur genauer ansehen", sagte der junge Mann fast flüsternd und ließ sich zu Maria hinunter.
"Zufrieden?", fragte Maria grinsend.
"Sehr", sagte er, und seine Stimme zitterte leicht.
"Willst du dich einmal mit mir treffen?", fragte Maria und lachte laut.
"Wenn es möglich wäre, - gerne."
"Okay! Heute abend um sieben am Zaun, wo wir uns gestern gesehen haben.
Und jetzt fahr los, Tante!", sagte Maria zu Angelia gewandt.
Angelia winkte dem Polizisten zu, und auf sein Nicken hin fuhr sie los.
"Es kann nur ein Vorteil sein, einen Polizisten zum Freund zu haben. Nicht wahr, Tante?", fragte Maria lachend.
"Spiel nicht mit dem Feuer, Maria. Das kann sehr gefährlich sein", sagte Angelia leise.
"Er spielt mit dem Feuer, - nicht ich!"
Angelia schüttelte wieder ihren Kopf und fuhr geradewegs zum Haus Marias Onkel. Sie hupte vor der Tür.
Nach einer Weile kam Alexander heraus. Er war der Sohn Großmutters Schwester Cora, der Urgroßvater noch sehr gut gekannt hat.
Marias Onkel kam am leichtesten darüber hinweg, daß Urgroßvater nicht mehr bei ihnen ist, - ebenso ihre Mutter. Ihre Beziehung war zwar sehr eng, aber sie sahen auch die Realität, mit der sie nun selbst fertig werden mußten. Von der Vergangenheit und von Träumen kannst du nicht leben, - sagten die beiden immer.
Ja, Una und Alexander waren die Realisten der Familie. Sie sahen, wie die Menschen sind, und nahmen das eben hin. Nur Miriam, Marias echte Tante, war manchmal sehr traurig, und doch war sie glücklicher, als Marias Mutter und Onkel, weil sie ein viel tieferes Geheimnis von Urgroßvater in sich hatte.

"Ich brauche deine Hilfe, Onkel Alexander", sagte Maria, als sie ausstieg und die Kofferraumtür öffnete, um die Kisten heraus zu heben.
Alexander war sofort zur Stelle und half Maria, die Kisten ins Haus zu tragen.
Im Vorraum sah er sich die Stücke an.
"Was soll ich damit?", fragte er verblüfft.
"Waffen bauen, - Gewehre und Kanonen!", sagte Maria eifrig. "Natürlich werde ich dir dabei helfen."
"Soll es nun wirklich zu einer Revolution kommen?", fragte Alexander leise.
"Fang du nicht auch noch an, Onkel! Du sollst nur bauen, - sonst nichts. Für alles andere übernehme ich die Verantwortung."
Alexander nickte und sah seiner Frau entgegen, die eben aus der Küche kam. Ein kleiner Junge folgte ihr, der zu früheren Zeiten gerade in die Volksschule gehen würde. Es war Kim, Alexanders und Zitas Sohn.
Maria hatte keine Augen für den Jungen. Sie war zu sehr damit beschäftigt, die Eisenstücke zu sortieren. Daß er Kim, nach ihrem Urgroßvater, getauft wurde, war ihr nie recht. Sie nannte ihn immer Zwerg, weil er für sein Alter sehr klein und schmächtig war. Kim gab es nur einen für sie, und das war ihr Urgroßvater.
"Bist du alleine gekommen?", fragte Zita und schob ihren Sohn wieder in die Küche.
Maria schlug sich auf die Stirn, dann lief sie nach draußen.
"Du kannst nach Hause fahren. Ich bleibe noch ein bißchen hier und werden dann zu Fuß heim gehen. Danke!", rief sie Angelia zu, die noch immer im Auto saß.
Maria ging wieder ins Haus, als Angelia abfuhr.
Alexander war gerade dabei, die Kisten in den Keller zu schaffen. Die letzte Kiste schnappte sich Maria und folgte ihm.
Zita blieb etwas ratlos im Flur stehen. Maria war ihr nicht ganz geheuer. Sie hatte auch nicht viel Kontakt zu ihr und der Familie ihres Mannes. Sie blieb lieber mit ihrem Sohn zu Hause, wenn er seine Familie besuchte. Sie wußte auch alles über Kim, aber dieses Geheimnis konnte sie nie richtig verstehen. Manchmal kam ihr fast vor, als ob gerade dieses Geheimnis eine Mauer zwischen ihr und ihrem Mann war. Daß er ausgerechnet ihren gemeinsamen Sohn Kim taufen ließ, war ihr auch nie recht. Sie hatte Kim ja nie gekannt. Ihr eigener Großvater war ihr näher, und sie hätte ihren Sohn lieber nach ihm genannt.
"Du hast Kim nicht gekannt, denn wenn du ihn nur einmal gesehen hättest, würdest du alles viel besser verstehen", sagte Alexander einmal zu ihr.
All das klang so wenig glaubhaft für Zita. Sie kannte all diese Geschichten von dieser Legende, diesem Rockstar, der mit 92 noch immer wie 20 aussah, und der sich nach seinem letzten Konzert, mit seiner Frau, in nichts aufgelöst hatte, um auf der Leuchtenden Welt weiter zu leben und auf den letzten Kampf zu warten, um das Universum zu retten.
Manchmal fragte sie sich warum sie Alexander geheiratet hatte. Ja, wenn sie beide alleine waren und er nicht über seinen Großvater sprach, fühlte sie fast die wahre Liebe in seiner Nähe. Aber wenn Besuch von seiner Familie da war, oder er von einem Besuch seiner Familie zurück kam, spürte sie diese Wand. Dann verzog sie sich mit ihrem Sohn in einem Zimmer, wo sie ungestört waren. Diese Legende stellte sich zwischen ihnen. Das alles paßte nicht in ihre Welt.
Zita sah auch die Ungerechtigkeit, und das tat ihr weh. Sie würde auch gerne so sein wie Maria, aber dazu fehlte ihr der Mut. Zita war ein Mensch, der für alles offen war, - der alles akzeptierte, aber sie selbst konnte das nie ausleben. Sie dachte sich immer nur ihren Teil, bevor sie ihn aussprach. Sie schwieg lieber zu allem und verschanzte sich im Haus. Sie hatte ja Verantwortung zu tragen, - für ihren Sohn.
Wenn Alexanders Großvater die Welt retten könnte, hätte er es schon längst getan. Sie glaubte nicht so recht daran. Klar, sie hatte die Bücher gelesen. Ihre Schwiegermutter hatte sie ihr einmal gegeben. Die Bücher waren gut, und es standen auch viele Weisheiten darin, die Menschen wieder zu Menschen machen könnten. Aber trotzdem paßte das alles nicht in diese Zeit, in der man mit Bücher nichts mehr anfangen konnte. Heute zählen nur mehr Taten, - Taten, wie sie Maria vor hat.
Maria wußte nie, daß sie eine stille Verbündete in Zita hatte. Die beiden gingen sich immer aus dem Weg. Vielleicht weil sie sich zu ähnlich waren, - innerlich zu ähnlich. Der Unterschied war auch, daß Maria Kim verehrte, und Zita fühlte sich bedroht von ihm, weil sie immer spürte, daß ihr Mann ihn mehr liebt als sie. Ja, es war Eifersucht, - Eifersucht auf einen Mann, der sie wie eine unbesiegbare Rivalin bedrohte, obwohl er nicht mehr hier war. Zita sah Kim eigentlich nicht als Mann, sondern eher als Frau, - eben als eine Rivalin, gegen die sie niemals eine Chance hatte.
Sie las in den Büchern, wie jeder zu Kim sagte, daß er ihn mehr liebt, als sein eigenes Leben. Aber Kim wollte das nie. Er wollte nie verherrlicht werden. Er betonte auch immer wieder, daß es nicht sicher sei, ob er das Universum retten kann. Er sagte nur, daß es seine Aufgabe ist, - so wie eben jeder Mensch eine Aufgabe hat. Vielleicht ist dieser Endkampf schon vorbei und er hat versagt?
Zita wollte nicht nachdenken. Nein, sie wollte in ihrer Welt bleiben und für ihren Sohn sorgen, dessen Liebe ihr voll und ganz sicher war. Er sollte eine schöne Kindheit haben, denn die Zukunft war schwarz und ungewiß. Das war ihre Aufgabe.
Alexander war ja auch nicht so extrem wie seine Mutter und seine Tante und deren Männer. Die sprachen andauernd nur von Kim, - wie er das und jenes machen würde und so weiter. Alexander sagte ja auch immer, daß sie jetzt leben und nicht in der Vergangenheit. Diesen Satz hörte sie gerne von ihm. In diesem Moment waren sich beide sehr nah.
Nun ja, man kann sagen, daß sie eine glückliche Ehe führten, - vor allem dann, wenn sie andere Paare sahen, - wie zum Beispiel in der Neuen Stadt, die sich andauernd betrügen. Ja, doch, Alexander und Zita waren so glücklich wie man es zu dieser Zeit nur sein kann, - und das Wichtigste, - sie vertrauten einander, - trotz dieser Mauer, - trotz dieser "unwiderstehlichen Rivalin"....
Seufzend ging Zita in die Küche zurück, um sich wieder ihrem Sohn zu widmen. Sie wollte ihm schreiben und lesen beibringen. Wozu, das wußte sie nicht, aber man konnte nie wissen, was die Zukunft bringt. Vielleicht wird sie gar nicht so schwarz. Hoffnung hatten die Menschen noch immer.
Was hatte ihre Schwiegermutter einmal gesagt? - So lange die Menschen Hoffnung haben, wird es keine Aussicht auf das Paradies geben. Erst wenn die letzte Hoffnung stirbt, wenn alles rundum tot ist, werden die letzten Menschen auf das Wahre zurück greifen, - auf das Herz. Dann wird es nur mehr wenige Menschen geben, die Anwert auf das Paradies haben und die Chance, Leuchtende Wesen zu werden. Sie werden den Ursprung noch einmal erleben, um ganz von vorne zu beginnen und die wahre Evolution erleben.
Das mit der Evolution könnte schon stimmen, denn dieser Wurm, der von Anfang an in der Entstehung dieser Gesellschaft wütete, wurde nur zum Verderben. Nur der ungewisse Tod stand bereit, - Aussterben, niemals Weiterentwicklung, seit der Mensch die Führung auf der Erde übernommen hatte.
Vielleicht sah Alexanders Großvater ja doch die Wahrheit. Theorien gab es viele, - vielleicht war das nur eine davon. Er sagte ja immer, jeder soll auf sein Herz hören, auf seine eigenen Träume. Das war eben ihr Traum.
Mit Alexanders Cousine, Miriam, hatte Zita noch nie gesprochen. Miriam war ganz gleich, wie Alexanders Mutter und ihre Schwester. Wenn sie auch nicht über Kim sprach, sondern nur stumm da saß, was sie meistens tat, sah sie in ihren Augen immer nur Kim. Nein, Miriam war ihr überhaupt nicht geheuer. Ebenso ihr Mann, Hendrik, der seine Frau fast wie eine Heilige verehrte. Hendrik hatte Kim nicht gekannt, - ebenso wie sie, aber er schwärmte von ihm wie von einem Gott.
Er wird uns alle retten und ins Paradies führen, auch wenn wir schon längst im Reich der Toten sind, - sagte er immer.

Maria und Alexander blieben bis Mittag im Keller.
Zita hatte das Mittagessen fertig gekocht. Das ließ sich Alexander nicht entgehen.
"Du kannst mitessen", sagte er, als Maria zur Tür ging.
"Danke, - ich werde nach Hause gehen. Du weißt ja nun alles, Onkel. Ich werde morgen wieder kommen. Und denke daran, - wir brauchen die Waffen so schnell wie möglich."
Alexander nickte und schloß hinter Maria die Tür.

Zufrieden schlenderte das Mädchen den Weg hinunter. Es drehte sich noch einmal um. Das Haus war schön, - nicht groß, eben nur ein einfaches Einfamilienhaus. Man konnte heute mit etwas Größerem gar nichts anfangen. Garten und Pool, - das war nur mehr nutzlos, denn kein normaler Mensch würde sich heute in die Sonne legen, oder im Freien baden. Das wäre das Todesurteil. Es war ja schon gefährlich, so wie sie jetzt, mit nackten Armen ins Freie zu gehen. Manche Menschen vermummten sich total und hatten sogar Gasmasken auf. Maria hielt das für übertrieben, denn es wurde von der Neuen Stadt genug Sauerstoff ins Freie gepumpt.
Schlimm war es nur, wenn es regnete, was ja auch nicht mehr oft vorkam. Aber der Regen war seit langem gefährlich. Er ätzte die Haut auf. Es gab sofort Alarm, wenn Regen vorausgesagt wurde. Ja, damals ahnte man diese Gefahren und glaubte genug getan zu haben, um sie aufzuhalten. Ja, man glaubte es nur, - man dachte ja nie direkt an die Nachfahren.
Maria hatte unzählige Leberflecken und Muttermale auf ihrem Körper, - besonders an den Armen. Manche vergrößern sich noch immer. Ihre Hautfarbe war ohnehin sehr seltsam, - nicht direkt braun, eher gelblich und an den stets verdeckten Stellen durchsichtig blaß. Nein, Haut hatte sie keine schöne.
Cora, Großmutters Schwester, die Ärztin war, wollte sie immer untersuchen, aber Maria wehrte ab. Man kann den Tod ohnehin nicht aufhalten, denn er kommt immer zur rechten Zeit. Das sagte Urgroßvater auch immer.
Maria war es egal, wenn sie nur diese Revolution noch machen und das arme Volk befreien könnte. Mehr wollte sie von ihrem Leben nicht. Nur diese verdammten hohen Herren stürzen, - das war ihr Ziel.
Alleine wenn sie ihre Aufmachung sah, brachte das Maria beinahe zum Kotzen.
Vor etwa einem halben Jahr kam ein hoher Herr ins Haus und erkundigte sich nach dem Wohlbefinden ihrer Großmutter. Maria dachte eher, daß er sich vergewissern wollte, ob sie Rebellen versteckt haben. Er sah erschreckend aus, - mit langem, schwarzen Umhang, dessen Kragen steif bis zur Mitte seines kahlen Schädels hoch ragte. Sein ganzer Körper steckte in schwarzem Schweinsleder. An den Füßen trug er derbe Nietenlederstiefel. Geschmückt waren die hohen Herren wie Christbäume. Goldketten am Hals, die bis zum Nabel hingen, und Stahlreifen mit spitzen Stacheln an beiden Armen. Ihre Köpfe waren nie ganz kahl. Manche trugen eine Irokesenfrisur. Der hohe Herr, der damals in ihr Haus kam, hatte in der Mitte seines kahlen Schädels einen langen Zopf, der wie ein Pferdeschwanz auf seinen Rücken baumelte. Geschminkt waren sie auch, - vor allem sehr auffällig um die Augen. Maria nannte es Kriegsbemalung. Man erkannte die hohen Herren also sofort. Es fehlte nur noch eine Peitsche in ihren Händen. Aber Waffen trugen sie nur selten, denn ohne Bodyguards wagten sie sich nie aus dem Haus. Bodyguards wurden übrigens nur die besten und erfolgreichsten Polizisten der Armee.
Leder war die häufigste Kleidung, die man in der Neuen Stadt zu kaufen bekam. Jeder hohe Herr besaß einen eigenen Stall. Das waren Betonbunker, mit kaum lichtdurchlässigen Fenstern, wo die Nutztiere gezüchtet wurden. Ins Freie durfte man sie nie lassen, da sie sonst vergiftetes Gras, das ohnehin nur mehr Moder war, fressen würden. Maria taten diese Tiere leid, die immer im Stall festgebunden waren und nur an einem Platz stehen mußten. Aber das war nun mal Nahrung, und man mußte die Tiere so halten, um von ihnen leben zu können. Tiere in freier Wildbahn gab es keine mehr in ihrer Nähe. Höchstens Hunde, auf die man besser schießen würde, wenn sie einem zu nahe kommen.
Maria war bereits bei der Einfahrt zum Haus. Sie ging nicht mehr so gerne nach Hause. Diese sorgenvollen Blicke ihrer Familie machten ihr Angst. Heute machte ihr sogar Tante Angst. Sie sagte, daß ihre Gefühle tot sind und sie keine Liebe mehr in ihrem Herzen hat. Das schmerzte Maria zutiefst, obwohl sie es nicht gezeigt und mit einem lauten Lachen übertönt hatte. Viel lieber hätte sie geweint und sich an Tantes Schulter gelehnt.
War das nicht Liebe, wenn man für alle Menschen Gerechtigkeit und Freiheit will? War das nicht Liebe genug, wenn man sich für andere Menschen opfern will? Sie würden alles riskieren, - auch ihr Leben, - vor allem ihr Leben, wenn sie nur wüßte, daß ihr Plan klappt.

Der kleine Chris war mit seinem Großvater da. Er war das einzige Kind, das Maria mochte. Und der Kleine mochte sie. Er sprang sofort zu ihr hoch, als sie zur Haustür herein kam. Maria drückte ihn innig an sich.
"Wenn du meinen Urgroßvater siehst, laß ihn von mir grüßen", flüsterte sie und hauchte dem Kleinen einen Kuß auf die Stirn.
Chris bekam das nicht so richtig mit. Natürlich verstand er schon jedes Wort, aber das nicht...
Jetzt kam auch sein Großvater aus dem Wohnzimmer.
"Wir haben uns Sorgen um dich gemacht", sagte er ernst. "Du solltest schon sagen, wenn du länger ausbleibst."
"Ich war bei Onkel Alexander. Ist das ein Verbrechen?", gab Maria trotzig zurück und stellte den kleinen Chris auf den Boden.
"Alexander hat ein Telefon. Du hättest anrufen können", sagte Chris.
Maria schüttelte ihren Kopf und ging in ihr Zimmer hoch.

Dort war sie Urgroßvater wieder nahe.
Es war schon seltsam, - jeder von ihnen dachte, Urgroßvater am besten zu verstehen. Jeder legte es für sein Gewissen am besten verträglich aus, - auch sie. Das hatte sie schon lange erkannt. Also brauchte sich Urgroßvater keine Sorgen zu machen, daß man seine Wahrheit leben würde und auf die eigene vergessen könnte. Jeder Mensch sah die Dinge verschieden, daran konnte man nie etwas ändern. Aber wußten das die Menschen selbst? Dachten sie auch daran, wenn sie von einem Menschen eine andere Meinung, als ihre, hörten?
Urgroßvater kannte die Menschen, und er fühlte sich zu seinen Lebzeiten immer verherrlicht. Man hängte zu sehr an seinen Lippen. Nun, das tut man in gewisser Weise heute noch, zumindest in diesem Haus, und da wohl am ärgsten. Wenn es auch jeder auf seine Art versteht, ist es doch ein kleiner Umweg des Herzens. Und das wollte Urgroßvater nie. Trotz allem verstand er seine Familie und seine Freunde. Es gab für ihn niemals etwas zu verzeihen. Es lag ihm immer fern, über andere zu urteilen. Und wie sagte er einmal? Er würde auch Mörder lieben. Sie haben ebenso einen guten Kern in sich, wie alle anderen Menschen. Obwohl er Töten nie gut heißen konnte, würde er Mörder lieben.
Das sagte Tante heute auch. Man soll einen Menschen nie verurteilen, auch wenn er ein Massenmörder ist. Wenn er sich ändern will, soll man helfen, - mit Liebe helfen. Liebe ist das Zauberwort. Die Tat war schlecht, aber im Täter steckt auch etwas Gutes. Und dieses Gute soll man hervor holen, wenn der Mensch bereit ist.
Maria dachte an den jungen Polizisten. War er bereit? Wirklich bereit?
Sie erinnerte sich wieder an seinen sanften Blick und sah unwillkürlich auf das große Foto ihres Urgroßvaters. Da war eine gewisse Ähnlichkeit, - das Verlangen nach Liebe, nach Verständnis, nach Vertrauen.
Ja, Vertrauen, - das war die Voraussetzung, um einem Menschen helfen zu können. Wenn du ihm nicht vertraust, nicht an ihn glaubst, wird er schwach und wieder straucheln.
Was war nun ihre Aufgabe? Das Befreien der Arbeiter und Rebellen, - oder dieser Polizist?
Vielleicht will er sie in eine Falle locken? Den hohen Herren und der Armee blieb ja nie etwas geheim. Vielleicht ahnten sie etwas von Marias Vorhaben und wollten sie durch einen besonders gutaussehenden Polizisten in eine Falle locken. Gut aussehend? Nun, das war er wirklich. Er war ihr sympathischer, als sie je zulassen wollte.
Aber da war wieder dieses Mißtrauen, das sie nicht haben durfte, wenn sie ihm wirklich helfen will.
Was soll sie nur tun? Noch hatte sie etwas Zeit zum Überlegen, ob sie überhaupt zu dieser Verabredung gehen soll. Wenn sie nun die Rebellen mit einem Polizisten sehen, würden sie dann nicht mißtrauisch werden?
Warum mußte sie auch diese Stelle für das Treffen ausmachen? Es war wie verhext! War es wirklich eine Prüfung für ihr Herz? Dabei konnte ihr niemand helfen. Damit mußte sie ganz alleine klar kommen. Und überlegen, das war nicht der Weg des Herzens, - das war nur das berechnende Hirn. Es muß spontan sein, aber auch nicht zu spontan, denn man muß seine Handlung zu jeder Zeit vertreten können. Menschen können nicht auf ihr Herz hören, - nicht so wie Leuchtende Wesen, die sich niemals irren. Und sie war nun einmal ein Mensch. Aber sie hatte immer nur spontan gehandelt, und nichts und niemand konnte sie von ihrem Weg abhalten.
Maria seufzte und schaltete ihr CD-Gerät ein. Nicht nachdenken, abschalten und sich ihrer Lieblingsstimme ihres Urgroßvaters hingeben. Es lief gerade ihr Lieblingssong, den sie schon im Alter von 8 Jahren so gerne mochte, daß sie ihn täglich hören mußte, - Roads to madness....
Einmal werden wir uns treffen, und wir werden auf den Straßen des Wahnsinns gehen....
War es der Weg des Wahnsinns, - nicht der Weg des Herzens? Was sagte Mutter? Sie wüßte nicht, welchen Weg sie geht. Irgendwie hatte Mutter recht. Sie wußte ja wirklich nicht, ob es der rechte Weg war. Sie wußte nur, daß es so nicht mehr weiter gehen kann.
Es war dunkel draußen. Maria blickte auf die Uhr. Viertel vor sieben. Sie atmete tief durch und stand vom Bett auf. Pünktlich wollte sie nicht sein. Sie hatte sich entschieden. Sie wollte zu dem Treffen gehen. Sie wollte nur fühlen, was dieser Polizist vor hat. Sie würde schon spüren, ob er sie in eine Falle locken will.

Antworten

#5 | RE: Die Rebellen datum

08.08.2015 09:47

Marias Familie war im Wohnzimmer versammelt, als sie die Treppe herunter kam.
Den ganzen Tag hatte sie nichts gegessen, außer ein Stück altes Brot. Jetzt knurrte ihr der Magen, und ein bißchen übel war ihr auch. Aber vielleicht war das nur die Aufregung.
Als sie ihre Jacke überzog, kam Großonkel aus dem Wohnzimmer, - Coras Mann. Er hatte noch immer schöne, dichte Locken wie damals in seiner Jugend. Nur waren sie jetzt schneeweiß.
"Wohin gehst du?", fragte er.
"Ich habe eine Verabredung mit einem jungen Mann", sagte Maria und lächelte geheimnisvoll.
"Darf ich erfahren, wer er ist?"
"Das weiß ich selbst noch nicht", sagte Maria grinsend.
Markus zog seine Brauen zusammen, aber er verstand. Natürlich, wenn man sich noch nicht richtig kennt, kann man auch nicht sagen, wer dieser Mann ist.
"Ist er ein Rebell?", fragte Markus.
"Nein, aber ich werde dir alles erzählen, wenn ich mehr weiß", sagte Maria und warf einen Blick in die Küche.
Der Tisch war bis auf ihr Gedeck abgeräumt. Im Teller lag Wurst, Käse und daneben ein Stück frisches Brot. Maria lief das Wasser im Mund zusammen. Sie ging in die Küche, nahm das Brot, legte Wurst und Käse darauf und biß herzhaft hinein. Dann kippte sie ein Glas Wasser hinunter und verließ mit dem belegten Brot das Haus.

Sie aß auf dem Weg. Viel zu spät wollte sie auch nicht kommen. Das Messer hatte sie diesmal zu Hause gelassen. Heute trug sie nur eine Taschenlampe in ihrer Jacke. Bis sieben Uhr würde sie es nicht schaffen, am Treffpunkt zu sein, aber fünf nach. Das wäre gerade richtig.
Seltsamerweise wurden ihre Schritte immer schneller, obwohl sie das gar nicht wollte. Und ihr Herz klopfte schneller als sonst. So ein Empfinden hatte sie noch nie.
Wieder sah sie diese Augen, sie sanft geschwungenen Brauen und den weichen, aber doch auch sehr energischen Mund. Seine Haarfarbe hatte sie nicht gesehen, denn er trug einen Helm, wie ihn alle Polizisten tragen.
Bald war sie an der Stelle des Zauns. Sie kniff ihre Augen zusammen, um dort vorne eine Gestalt zu erkennen.
Noch sah sie nichts und niemanden. Nicht einmal ein Polizeibus war an der Stelle. Meistens standen sie dort, aber heute war es vollkommen ruhig.
Hatte er sie nicht ernst genommen? Nun, so ernst klang ihre Einladung auch nicht.
Jetzt war sie am Zaun, an der Stelle, wo sie den Polizisten gestern abend getroffen hatte. Zögernd holte sie die Taschenlampe aus der Jackentasche. Es war nicht ratsam, Licht zu machen und sich dadurch bemerkbar zu machen. Wenn nun irgendwo Polizisten in der Nähe waren, würden sie das sehen, und auch die Rebellen könnten darauf aufmerksam werden.
Maria lehnte sich an den Zaun und zwang ihre Augen, in der Dunkelheit etwas zu erkennen. Drüben am Baumstumpf bewegte sich etwas. Und dann sah sie das schwache Licht einer Zigarette.
Maria lächelte. Das mußte er sein. Langsam ging sie zu der Lichtquelle, die in dem Moment verlosch, als sie ganz nahe war.
Die Gestalt am Boden erhob sich. Sie war sehr groß und ohne derber, lederner Polizeiuniform und ohne Helm. Langes, dunkles Haar fiel üppig über breite, nackte Schultern. Maria sah die schimmernde Haut eines muskulösen Oberkörpers. Ihre Augen wanderten am Körper des jungen Mannes hinab. Er trug ganz gewöhnliche Blue-Jeans, die man heute nur mehr selten bekam. Derbe Lederstiefel waren fast Pflicht auf diesem verpesteten Boden.
Maria kam immer näher. Jetzt spürte sie den Atem des Mannes. Ihr Herz klopfte zum Zerspringen. Sie schloß kurz die Augen und atmete tief durch. Gerade in diesem Moment spürte sie seine Hände an ihren Oberarmen. Maria zuckte zurück.
"Verzeih, ich wollte dich nicht erschrecken", sagte der Mann.
Seine Stimme war sanft, was sie erst jetzt bemerkte, - sanft und angenehm tief.
Wieder schloß Maria Vergleiche mit ihrem Urgroßvater. Aber das wollte sie eigentlich nicht.
Nun, irgendwie war es nicht verwunderlich. Urgroßvater war die Liebe selbst, und jetzt in diesem Moment fühlte sie eine tiefere Liebe in ihrem Herzen als je zuvor. Es war ihr nicht unangenehm, als dieser Mann sie berührte.
Jetzt war er auch kein Polizist mehr, - seine Uniform hatte er abgelegt. Nein, das Äußere täuscht, - was zählt, ist das Herz, und im Herzen war er noch immer Polizist. Aber warum sehnte sie sich so sehr danach, seine Arme noch fester zu spüren?
"Du hast mich nicht erschreckt", sagte Maria und hockte sich auf den Boden.
Der Mann tat es ihr gleich, - nur, er rückte etwas näher. Maria blieb in ihrer Stellung, auch als sich ihre Beine berührten.
"Erzähl mir von deinem Urgroßvater", bat der Mann.
"Von meinem Urgroßvater? Oh, Mann, - weißt du denn etwas über deinen Urgroßvater?"
"Eigentlich nichts, außer, daß er gelebt hat, sonst wäre ich nicht da. Ja, wahrscheinlich weiß niemand etwas über seinen Urgroßvater, - da hast du schon recht. Aber so einen Urgroßvater, wie du, hatte wohl kaum jemand. Nicht nur, weil er der größte Rockstar aller Zeiten war. Man rätselte über ihn, - Geheimnisse umgaben ihn, - bis zum Schluß, - bis zu diesem Konzert, als er schon über 90 Jahre alt war und noch immer wie 20 ausgesehen hat."
"Was weißt du von diesem Konzert?", fragte Maria.
"Das, was man mir erzählt hat. Meine Eltern waren bei diesem Konzert. Sie liebten Kims Musik.
Sie standen damals ziemlich weit vorne. Meine Mutter hatte sogar das Glück, die Hand deines Urgroßvaters zu berühren. Sie berührten sich nur kurz, aber meine Mutter konnte diese Berührung bis zu ihrem Tod nicht vergessen."
"Ist deine Mutter so früh gestorben?"
Der junge Mann senkte seinen Kopf und atmete tief durch.
"Sie wurde zusammen mit meinem Vater und meinem Bruder erschossen", sagte er leise.
"Erschossen?!", fuhr Maria auf.
"Nicht so laut, - es könnten Polizisten in der Nähe sein."
"Du bist doch auch Polizist. Hast du Angst vor deinen Kollegen?"
"Ja, ich habe Angst, - genauso Angst wie alle anderen Menschen in dieser Zeit."
"Warum wurden deine Eltern und dein Bruder erschossen?"
"Wegen Meuterei. Meine Mutter war Köchin bei einem der hohen Herren. Vielleicht hast du schon davon gehört, daß die hohen Herren besonders hübsche Frauen für ihre Dienste aussuchen, - und meine Mutter war besonders hübsch. Die hohen Herren brauchen diese Frauen nicht nur für die Arbeit in ihren Häusern. Nun, meine Mutter wehrte sich, und der hohe Herr wurde ziemlich übel von ihr zugerichtet. Ich erfuhr durch Zufall von diesem Zwischenfall und konnte rechtzeitig flüchten. Ich wußte, was geschehen wird, - daß sie meine ganze Familie ausrotten werden. Und das geschah auch. Mutter, Vater und mein 10jähriger Bruder wurden erschossen. Ich war damals 17."
"Wo konntest du dich verstecken?"
"Ich lebte ein Jahr lang in den Müllhalden. Manchmal sah mich ein Arbeiter, der mir zu essen gab. Er hatte selbst nicht viel, und ich rechnete es ihm immer hoch an, daß er mir meistens etwas abgab. Ich sah nicht gut aus. Mein Körper war bereits veräzt, und ausgehungert war ich auch. Und ich hatte keine Nummer mehr.
Sterben werde ich so und so, dachte ich damals, also wagte ich mich in die Neue Stadt. Damals nahmen sie gerade wieder neue Polizisten auf, und ich versuchte mein Glück. Es ist mir bis heute unverständlich, warum sie kein Mißtrauen hatten und mich, ohne etwas nachzuprüfen, aufnahmen. Sie behandelten mich sogar gut. Ich wurde verarztet und wie ein Baby aufgefüttert. Du siehst es ja selbst, - heute bin ich wieder total gesund. Es ist wie ein Wunder."
"Warum bist du Polizist geworden?"
"Es gab keine andere Chance für mich. Als Arbeiter hätten sie mich sofort erschossen, weil ich keine Nummer hatte. Aber wenn du dich als Polizist meldest, haben sie dich immer unter Kontrolle, und du kannst keinen Mist bauen. Eigentlich tat ich es mit der Absicht auf Rache. Ich möchte so weit nach oben kommen, daß ich Bodyguard dieses hohen Herren werde, der meine Familie auf dem Gewissen hat. Ich werde ihn töten, Maria."
"Woher weißt du meinen Namen?", fragte Maria verwirrt, und der Mann lächelte.
"Ich habe deinen Ausweis gesehen."
"Wo ist dein Ausweis?"
Der Mann lächelte abermals.
"Willst du mich kontrollieren?", fragte er und nahm aus der hinteren Hosentasche den Ausweis.
Maria nahm ihn mit zitternden Händen entgegen. Ganz kurz schaltete sie die Taschenlampe ein, um den Namen zu lesen.
"Noe, - das ist ein seltsamer Name. Ist das dein echter Vorname?"
"Meine Eltern tauften mich Norbert. Ich habe den Namen auf Noe gekürzt, da ich ohnehin einen neuen Namen brauchte, sonst hätten sie mich sofort getötet und nicht in die Armeeschule aufgenommen."
Maria gab ihm den Ausweis zurück.
"Wie alt bist du jetzt?"
"Ich bin 23."
"Wie war die Armeeschule?"
"Ich mag nicht gerne daran denken. Dort dressieren sie dich zum Töten und Hassen. Du mußt schießen lernen, -auf Pappmenschen, - und du mußt viel Kondition haben. Körperlich wirst du gestählt, und geistig machen sie dich zu einer Kampfmaschine ohne Herz. Das geistige Training war tödlich. Ich mußte mich wirklich zusammen nehmen, um nicht so zu werden, wie sie es wollten. Es wurden Filme vorgespielt, - Tag und Nacht, wo du fast eine Woche lang nicht schlafen durftest. Wenn du nur ein Auge zugemacht hast, jagten sie dir Strom durch den Körper."
"Welche Filme waren das?"
"Gewalt, - nur Gewalt, wo sie dir zeigen, daß die Menschen alle zusammen nichts wert sind, nur die, die dich füttern und verpflegen. Sie messen deine Gehirnströme, wo sie deinen Haß erkennen können. Es war nicht einfach mitzuspielen, aber ich schaffte es und dachte an den hohen Herren, den ich wirklich hasse."
"Warum erzählst du mir das? Ich könnte in die Neue Stadt gehen und dich verraten. Wir würden dann mehr Essen bekommen, - meine Familie und ich."
"Kims Urenkelin würde das niemals tun. Sie hat sein Blut in sich, - und das war das Blut der vollkommenen Liebe. Aber es ist nicht nur deshalb, Maria. Ich sehe in deinen Augen, daß du ehrlich bist und ich dir vertrauen kann, was man heute nicht mehr von vielen Menschen behaupten kann."
Maria neigte sich weiter vor, um die Augen ihres Gegenübers besser zu sehen. Sie wirkten noch sanfter, als am Vormittag.
"Was hast du alles über meinen Urgroßvater gehört?", fragte Maria und lehnte sich wieder zurück.
Noe war für einen Moment still, dann begann er leise zu erzählen.
"Seine letzten Worte nach dem Konzert, bevor er sich mit seiner Frau in nichts auflöste, - meine Mutter hat sie mir einmal gesagt. Er sagte etwas vom Paradies, daß er es uns bringen wird, aber die Menschen könnten das noch nicht verstehen, weil sie für ein Wunder noch nicht bereit sind. Er sagte, daß er die sieben Schlüssel in die sieben Meere werfen und uns alle befreien wird. Dann war plötzlich ein grelles Licht auf der Bühne, und im nächsten Moment waren Kim und Maria verschwunden, - in nichts aufgelöst.
Als Kim noch mitten in seiner Karriere war, gab es schon genug Rätsel um ihn. Er hatte so eine mächtige Ausstrahlung, daß er damit nicht nur Frauen, sondern auch Männer verrückt machte. Und er hatte nicht nur eine Stimme, sondern viele Stimmen. Wie er das machte, war den Menschen immer ein Rätsel.
Kim war auch eine Gefahr für die Mächtigen. Man versuchte ihn sogar zweimal zu beseitigen. Einmal hetzte man eine wildgewordene Meute Menschen auf ihn, die ihm den Teufel austreiben wollten, und das zweite Mal kümmerte sich eine Geheimorganisation um ihn. Aber damals soll Kim schon tot gewesen sein, und dann tauchte Richard, sein Doppelgänger, auf. Kim täuschte die Menschen und konnte seine enorme Ausstrahlung wegzaubern. Dann war er Richard und gab sich als Doppelgänger aus. Das hat er auch bei seinem Konzert gezeigt.
Ich hätte an Kims Doppelgänger sicher nicht geglaubt, wenn ich ihn damals gekannt hätte."
"Was denkst du, wohin er gegangen ist, als er sich mit Maria in nichts aufgelöst hat?"
"Auf eine andere Welt, denke ich. Für mich war Kim kein Mensch. Ich weiß so ziemlich alles über ihn, was man auch früher gewußt hat. Niemand konnte nachweisen, wer sein Vater war und woher er kam. Schon diese Ausstrahlung sagte aus, daß Kim kein Mensch sein kann. Er hatte wohl auch die Kraft, daß seine Nachkommen genetisch nichts von ihm erbten, was man ja bei deiner Großmutter sehen kann. Aber Kim selbst, - nein, er war nicht von dieser Welt."
"Er wurde hier geboren, Noe."
"Ja, das wurde er. Aber, wo wurde sein Vater geboren? Meine Großmutter erzählte mir, daß man damals Nachforschungen angestellt hat. Aber man fand keine Spur, wer sein Vater war und woher er gekommen war. Kims Mutter wurde in eine Nervenklinik eingeliefert, als sie ihren Sohn das erste Mal sah, der als Findelkind bei Fremden aufgewachsen ist, die ihn schwer mißhandelt haben. Warum wurde sie damals verrückt? Wohl nur deshalb, weil Kim das Ebenbild seines Vaters war. Das stand in dem Bericht von Kims Jugendfreund, Ian Anders. Meiner Meinung nach war Kims Vater ein Außerirdischer, der all seine Kraft seinem Sohn gab.
Hör dir doch einmal den Song Keeper of the seven keys an. Da beschreibt Kim genau, wie er die Welt retten wird. Nun, ob er wirklich sieben Schlüssel in sieben Meere werfen wird, das ist weit her geholt, aber daß er die Welt retten wird, sagte er beim Abschied selbst."
"Willst du damit sagen, daß er noch immer lebt und zwar auf einem anderen Stern?", fragte Maria mit belegter Stimme.
Noe lächelte und faßte nach Marias Hand, die sie ihm fast freiwillig gab.
"Man hat etwas von Bücher gehört, die deine Urgroßmutter geschrieben haben soll. Dort drinnen stehen alle Geheimnisse von deinem Urgroßvater. Und dort drinnen soll auch stehen, wo er jetzt lebt", sagte Noe fast flüsternd.
"Woher weißt du das?", fragte Maria überrascht.
"Damals, nach diesem letzten Konzert wurde euer Haus auf den Kopf gestellt, - auch die Häuser und Wohnungen der Freunde Kims. Im Haus der Zwillinge, Arno und Tristan, fand man das Taschenbuch ihres Vaters, Andy, dem Baßgitarristen Kims Band. Es war sehr rätselhaft geschrieben, - und zwar vom Kennenlernen, bis zu dem Moment, als sich Kim richtig zu erkennen gab, und das nur vor seinen engsten Freunden. Man konnte nie richtig deuten, was Andy damit meinte, als er schrieb:
Kim blieb im Grunde genommen immer der selbe, nur sein Kern vergrößerte sich, - der Kern eines Leuchtenden Wesens.
Sonst konnten die Leute damals nichts verstehen, nur, daß Andy in seinem Tagebuch etwas von Bücher erwähnte, die Kims Frau zu dieser Zeit schrieb, die sie dann ihren Kindern vererben wollte, daß niemals vergessen wird, wer Kim wirklich war. Aber diese Bücher fand man nie.
Was ist ein Leuchtendes Wesen, Maria? Ist Kim ein Leuchtendes Wesen?"
"Wissen das alle Menschen?", fragte Maria.
"Nein, nur die wenigsten und auch nur die in der Neuen Stadt, - vor allem die hohen Herren.
Ich schnüffelte einmal in ihrem Computer herum und fand eine Stelle von diesem Tagebuch. Ich hätte es sonst auch nicht erfahren. Eigentlich wollte ich nur den Mörder meiner Familie finden, und dann bin ich auf das gestoßen."
"Hast du den Mörder deiner Familie gefunden?"
Noe nickte stumm.
"Werden die hohen Herren gegen uns etwas unternehmen?", fragte Maria.
"Ich glaube nicht. Für sie ist Kim tot, und all das Gerede vom letzten Konzert ist nur Unsinn. Für sie war es ein Projektor, der all das auf die Bühne gezaubert hat. Und die Menschen, die darauf bestanden, Kims Hand berührt zu haben, waren nur hysterisch. Und Kims Familie und Freunde sind ohnehin verrückt, - wie er es selbst war. Das ist ihre Meinung darüber. Ihr macht ihnen auch keine Probleme, und das wissen die hohen Herren, - also lassen sie euch in Ruhe."
"Vor einem halben Jahr kam ein hoher Herr in unser Haus. Er erkundigte sich nach dem Wohlbefinden meiner Großmutter. Immerhin ist sie Kims leibliche Tochter. Vielleicht führen sie doch etwas im Schilde."
Noe zuckte mit den Achseln.
"Ich weiß wirklich nichts. Wahrscheinlich sind sie sich doch nicht ganz sicher, ob es ein Projektor war und wollen dabei sein, wenn deine Großmutter stirbt, um zu sehen, ob sie sich auch mit einem grellen Lichtschein in nichts auflöst, wie Kim und Maria. Etwas anderes kann ich mir nicht vorstellen. Die hohen Herren sind es, die verrückt sind, - wahnsinnig kann man schon sagen."
Maria kniff ihre Augen zusammen und neigte sich wieder vor, um Noes Blick zu deuten. Er war offen und ehrlich. Aber sie wußte auch, daß er sich gut verstellen kann. Immerhin hat er das auch selbst gesagt. Er hat die hohen Herren überlistet. Könnte er dann nicht auch sie überlisten?
Maria war nahe dran, diesem Fremden vom Geheimnis ihres Urgroßvaters zu erzählen. Es wäre ihr Recht gewesen, wenn dieser Fremde ihr Mann werden sollte. Bei diesem Gedanken entzog Maria ihm ihre Hand und stand auf.
Was war plötzlich los mit ihr? Was waren das für Gefühle? Noch nie in ihrem Leben fühlte sie sich so zu einem Menschen hingezogen, wie zu diesem Polizisten. Gerade sie, die gegen die Polizisten der Armee kämpfen wollte. Würde er dann auch dabei sein?
Sie drehte ihm den Rücken zu. Im nächsten Moment spürte sie seine Hände auf ihren Schultern.
"Maria, ich weiß, wie schwer es ist, in Zeiten wie diesen, einem Menschen zu trauen, den man nicht näher kennt. Du mußt mir meine Geschichte ja nicht glauben und könntest denken, daß ich dir eine Falle stellen möchte....."
Maria drehte sich urplötzlich um, daß er die Hände von ihren Schultern nehmen mußte.
"Eine Falle?!", unterbrach sie ihn forsch. "Meine Familie und ich haben keine Geheimnisse vor den hohen Herren und der Armee. Meine Großmutter besitzt ein Geschäft in der Neuen Stadt und ist eine sehr angesehene Bürgerin. Du kannst froh sein, wenn ich dich nicht anzeige, nach all dem, was du mir anvertraut hast."
Noe senkte seinen Blick und setzte sich wieder auf den Boden.
"Ich sagte schon, - ich vertraue dir nicht nur deshalb, weil du Kims Urenkelin bist. Ich vertraue dir, weil ich in deinen Augen Ehrlichkeit und dein warmes Herz gesehen habe. Als du gestern vor mir gestanden bist, wußte ich noch nicht, wer du bist. Glaube mir, ich hätte dich verteidigt, auch wenn es mein Leben gekostet hätte. Ich hätte dich niemals meinen Kollegen überlassen. Es war mein Glück, daß du Kims Urenkelin bist.
Aber es ist sinnlos darüber zu reden. Was bedeuten schon Worte, wenn man das Herz nicht sehen kann. Wir hätten uns nicht treffen dürfen, Maria. In dieser Zeit sind alle Menschen mißtrauisch, auch jene, die ein Herz haben. Aber egal, jetzt, wo wir uns nun mal getroffen haben, muß ich alles versuchen, um dein Vertrauen doch noch zu gewinnen.
Maria, ich weiß zuviel von deiner Familie. Ich weiß, daß deine Großmutter und deine Großtante und auch deine Mutter, - einfach deine ganze Familie, heimlich in der Nacht ins Arbeiterviertel gehen und den Arbeitern Nahrung bringen. Ich hatte einmal dort Wache. Als ein Kollege auftauchte, pfiff ich ihm leise zu, um ihn abzulenken. Es war deine Mutter, aber im Dunkeln konnte ich sie nicht richtig erkennen. Als sie verschwunden war, ging ich in die Wohnung dieser Arbeiterfamilie, der sie Nahrung gebracht hat. Sie waren gerade dabei, die Nahrung zu verstecken. Ich sagte, daß sie vor mir keine Angst haben müssen, - ich will nur wissen, wer dieser gute Mensch war, der ihnen das gebracht hat. Sie erkannten mich dann. Der Mann dieser Familie gab mir damals in den Müllhalden immer etwas zu essen.
Ein zweites Mal erwischte ich deine Großmutter. Ich konnte sie gerade im letzten Moment vor meinen Kollegen retten. Ich sprang aus den Wangen und zerrte sie mit mir, weil eben die Wachablöse auftauchte. Deine Großmutter wäre ihnen geradewegs in die Arme gelaufen. Ich mußte ihr den Mund zuhalten, sonst hätte sie sich durch einen Schrei verraten. Wir haben kein Wort gesprochen, als ich sie nach Hause brachte.
Du siehst, ich kenne deine Familie. Nur dich habe ich noch nie gesehen, Maria. Deshalb wußte ich gestern auch nicht, wer du bist."
"Das hat mir Großmutter nie erzählt", sagte Maria und setzte sich wieder.
"Wozu auch? Polizisten sind und bleiben gewissenlose Killer", sagte Noe bitter.
Maria wurde nachdenklich.
"Wann willst du den Mörder deiner Familie töten?", fragte sie leise.
"Ich habe die Chance sein Bodyguard zu werden. Einer seiner Beschützer ist bald 30, und dann wird die Stelle frei. Ich wäre der nächste Anwärter, weil ich das beste Zeugnis hatte. Du hast ja gesehen, daß ich bereits versetzt wurde."
"Wie viele Menschen hast du schon erschossen, Noe?", fragte Maria.
Noe senkte seinen Blick.
"Bis jetzt kamen die Rebellen dreimal zum Zaun. Ich habe immer absichtlich daneben geschossen. Aber meine Kollegen haben getroffen. Es bemerkte niemand, daß ich daneben geschossen habe, weil keiner der Rebellen überlebte. Ich hatte immer das Kommando, und wir hatten immer Erfolg."
"Was passierte damals, als die Rebellen entkommen konnten? Es ist noch nicht so lange her, - es war gestern...."
In diesem Moment wußte Maria, daß sie sich verraten hatte. Niemand konnte wissen, daß das passiert war, wenn er nicht mit den Rebellen in Verbindung war.
Noe lächelte und nahm Marias Hand.
"Hältst du zu den Rebellen?", fragte er leise, und Maria nickte stumm.
"Das ist gut", sagte Noe. "Ihr solltet den selben Aufstand machen, wie die Rebellen in der nördlichen Stadt. Hast du davon gehört?"
Maria nickte wieder.
"Aber das im Radio war nicht die Wahrheit", sprach Noe weiter. "Die hohen Herren haben viel dazu gedichtet. Die Rebellen mordeten nicht brutal. Sie setzte sich nur zu Wehr. Woher sie die Waffen hatten, weiß natürlich niemand. Es ging dort wahrscheinlich nicht viel anders zu als hier. Wie du ja richtig gesagt hast, gingen die Polizisten oft aus Langeweile ins Rebellenviertel, aber dort waren die Rebellen gewarnt. Es waren zu viele für die Polizisten. Und dann kamen die Rebellen über die Grenze. Dieser kleine Sieg hatte ihnen Mut gemacht. In der Neuen Stadt, - dort nennt man es auch die Neue Stadt, - war niemand gewarnt. Bis die Polizisten ihre Waffen zücken konnten, waren die Rebellen schon vorbei. Die Geschäftsleute flüchteten als erstes. Keiner der Rebellen schoß auf die Wehrlosen. Das machten schon die Polizisten, die aus dem Rathaus kamen und keine Flüchtlinge duldeten. Und das schoben sie dann auf die Rebellen. Es waren viele Rebellen, - mehr als 100. Im Nu stürmten sie das Rathaus und schlugen in der Stadt alles krumm und klein. Leider dachten sie nicht an Nahrung, die in den Bunkern geschützt war. Man weiß jetzt nicht, was aus dieser Stadt werden soll, die ja keine Stadt mehr ist, und man weiß auch nichts von den Rebellen, - wohin sie gegangen sind. Ich hörte nur, daß einige Arbeiter und Geschäftsleute mit ihnen gegangen sind. Vielleicht gehen sie weiter in den Norden hinauf, um ihr eigenes und vor allem freies Imperium zu schaffen. Jetzt zittern die hohen Herren überall und wollen ihre Armee um das Doppelte vergrößern. Wenn das passiert, wird es schwer werden, das Regime zu stürzen.
Was habt ihr übrigens in der Neuen Stadt gekauft?"
"Material für Waffen. Mein Onkel und ich werden daran basteln, und ich werde es dann zu den Rebellen bringen. Wir denken schon lange an einen Aufstand, aber jetzt muß es bald geschehen, bevor die Armee verdoppelt wird, sonst haben wir wirklich keine Chance", sagte Maria.
"Du vertraust mir", sagte Noe leise und breitete seine Arme aus.
Maria ließ sich vor und stürzte förmlich in seine Arme. Die beiden jungen Menschen fielen zurück auf den Boden. Maria spürte seinen heißen Atem, als sich ihr Gesicht dem seinen näherte. Ganz sanft berührten sich ihre Lippen. Es war nicht nur für Maria das erste Mal, - auch für Noe. Diese Gefühle, von denen der junge Mann bisher nur träumen konnte, überfielen ihn derart, daß er die Kontrolle über sich verlor. Er warf sich fast auf das Mädchen und drückte seinen Körper auf ihren. Abermals suchte er ihre Lippen und trank aus ihnen.
Sie verloren sich beide und kosteten zum ersten Mal von den süßen Gefühlen der Liebe.
"Es war das erste Mal", sagte Noe, als sich beide die Hosen hochzogen. "Bei dir auch?"
Maria nickte stumm.
"Hat es weh getan?", fragte Noe.
Maria schüttelte ihren Kopf und streckte die Hand nach dem Geliebten aus. Er kam sofort zu ihr und nahm sie in seine Arme.
"Tut es dir leid, daß du es mit mir gemacht hast?", fragte Noe.
"Kannst du nicht endlich deinen Mund halten und diese herrliche Stille genießen?", sagte Maria flüsternd.
Noe lächelte und schloß seine Augen. Er war so voller Gefühle, daß es ihm wirklich schwer fiel, ruhig zu bleiben. Am liebsten hätte er alles hinaus geschrien, so glücklich war er jetzt. Ich liebe dich, Maria, - hätte er ihr tausendmal sagen können, so beflügelte ihn dieses Gefühl.
"Ich liebe dich, Noe", hörte er Maria sagen, und sein Herz klopfte noch schneller. "Ich liebe dich, weil du so bist wie du bist, und ich glaube dir alles, was du mir gesagt hast. Ich hoffe nur, daß du mich niemals enttäuschen wirst."
"Ich werde dir helfen, Maria. Ich werde dir helfen, damit du die Waffen sicher zu den Rebellen bringen kannst."
Maria setzte sich auf und tastete über Noes Gesicht.
"Ich möchte, daß du heute Nacht bei mir schläfst, Noe."
"Ich wollte auch eben sagen, daß du heute Nacht bei mir schlafen sollst, Maria. Ja, ich glaube, bei dir zu Hause ist es sicherer, als bei mir, und deine Familie würde sich sicher sorgen, wenn du nicht nach Hause kommst. Ja, ich schlafe heute Nacht bei dir, Maria. Und jetzt laß uns gehen, bevor die Polizisten kommen."
"Kommen sie?"
Noe blickte auf seine Armbanduhr und sagte: "In einer halben Stunde werden sie hier sein."
"Dann laß uns gehen", sagte Maria und nahm seine Hand.
Sie schmiegte sich an ihn. Engumschlungen gingen sie weiter.

"Hast du keine Angst vor Vergiftungen?", fragte Maria auf dem Weg und streichelte über Noes nackte Brust.
"Solange die Zeit so bleibt, will ich ohnehin nicht lange leben. Aber du würdest mir die Freude am Leben wieder geben, Maria."
"Könntest du wirklich glücklich sein, wenn es rund um uns so viel Elend gibt? Könntest du tatenlos zusehen?"
Noe schüttelte seinen Kopf.
"Du weißt, was ich vor habe. Und da wird es kaum bei diesem einen hohen Herren bleiben. Ich werde das gesamte Rathaus auseinander nehmen. Mit einem guten Plan kann es ein einzelner schaffen. Ich arbeite noch immer an diesem Plan. Die Zeit muß passen, und ich muß wissen, wo sich die hohen Herren genau zu dieser Zeit aufhalten."
Maria blieb stehen und blickte zu Noe hoch. Sie war für ein Mädchen schon sehr groß gewachsen, aber Noe überragte sie gut um einen Kopf. Er dürfte die Größe ihres Urgroßvaters haben.
"Ist es nicht nachts am besten?", fragte sie.
"Nein, da ist es ganz schlecht. Da stehen die Bodyguards besonders wachsam vor den Türen. Die beste Zeit wäre mittags, wo alle im Rathaus in der großen Halle beim Essen sind, - auch die Bodyguards, die sich zwar niemals von ihren Waffen trennen, aber auf einen Überraschungsangriff sind sie sicher nicht gefaßt. Eine Bombe würde genügen, und die ganze Halle fliegt in die Luft."
"Und du?"
"Ich muß mich nur schnell genug in Sicherheit bringen, um nicht mitzufliegen", sagte Noe lächelnd.
"Gibt es noch andere Polizisten deiner Art?", fragte Maria.
"Möglich, aber es gibt sich keiner zu erkennen. Ich tu es ja auch nicht."
Maria seufzte.
"Ist es Mord, wenn man einen Menschen tötet, - auch wenn es ein Polizist, oder ein hoher Herr ist?"
"Ja, Maria, - es ist Mord, denn du weißt nie, was hinter dieser Maske steckt. Aber das mußt du riskieren, wenn du die Freiheit willst."
"Werde ich mir das jemals verzeihen können? Wird das mein Gewissen verantworten können?"
"Diese Frage stellte ich mir in letzter Zeit sehr oft. Aber ich sehe auch das Leid der Arbeiter und Rebellen und den Hohn der hohen Herren. Es ist nicht unser Recht zu urteilen, aber wir haben das Recht, den Unterdrückten zu helfen. Es ist ein Für und Wider, - ich weiß, aber wir müssen zu Taten schreiten, auch wenn es uns innerlich töten wird und wir die spätere Freiheit nicht mehr genießen können. Wir haben dann für andere gekämpft und nicht für uns selbst."
Maria blickte verklärt zu Noe hoch.
"Gibt es dich wirklich, - oder hat dich mein Urgroßvater geschickt?"
Noe lächelte.
"Mag sein, daß er uns zusammen geführt hat, aber das kann niemand wissen.
Nun, so selbstlos handeln wir doch auch nicht. Wir können diese Ungerechtigkeit eben nicht ertragen und müssen etwas dagegen tun. Sie tut uns weh, und daraus wollen wir uns befreien. Mein Motiv ist ohnehin Rache. Eigentlich habe ich mich wegen dieser Sache schon beruhigt, und ich weiß auch, daß durch den Tod des Mörders meine Familie nicht mehr lebendig wird. Aber jetzt könnte ich verhindern, daß die selbe Scheiße nicht noch einmal passiert. Was nach unserer Rache ist, und wie es dann in uns aussieht, das können wir heute noch nicht wissen."
Jetzt war das Mißtrauen endgültig weg. Jetzt war sich Maria sicher. Und dabei wollte sie nie einen Man. Nein, Gefühle kann man niemals vorbestimmen. Sie kommen aus dem Herzen, und das Herz lügt nie.
"Bist du sicher, daß du noch nie einen Menschen erschossen hast, Noe?"
"Warum fragst du? Könntest du mich dann nicht mehr lieben?"
Maria lächelte und ging langsam weiter. Noe folgte ihr.
"Du willst kein Polizist sein, und du warst auch nie einer. Du willst den Arbeitern und Rebellen helfen, indem du ganz alleine die hohen Herren stürzen willst. Ich glaube, auch wenn du ein Polizist warst und unschuldige Menschen getötet hast, dich aber nun ändern willst, - ich würde dich immer lieben."
"Hast du deine Liebe zu mir erst jetzt gespürt, als wir uns auf dem Boden geliebt haben?", fragte Noe, und Maria schüttelte schnell ihren Kopf.
"Nein, es war an der Grenze zur Neuen Stadt, als ich deine Augen sah. Gestern Nacht hatte ich Angst und sah dich nicht richtig an. Obwohl ich dich wieder erkannte, - aber das war, glaube ich, deine Stimme, die ich wieder erkannt habe. Ja, es waren deine Augen, die ich ab diesen Moment nicht mehr vergessen konnte. Ich wollte sie vergessen, weil du ein Polizist bist. Eigentlich hätte ich sofort spüren müssen, daß du kein echter Polizist bist."
"Du hast es gespürt, sonst wärst du nicht zur Verabredung gekommen", sagte Noe und legte seinen Arm um Marias Hüften.
Als sie vor de Haustür standen, fragte Maria: "Wie lange hast du frei?"
"Drei Tage."
"Bleibst du bei mir?"
"Wenn es dir und deiner Familie recht ist, - gerne. Bei mir zu Hause erwartet mich ohnehin nur ein kahles, einsames Zimmer."
"Dann könntest du Onkel und mir morgen beim Bauen der Waffen helfen. Du kennst dich dabei sicher besser aus, als wir."
"Damit mußt du rechnen, daß ich das tu", sagte Noe und küßte Maria noch einmal innig, bevor sie ins Haus gingen.

Antworten

#6 | RE: Die Rebellen datum

08.08.2015 09:47

Die ganze Familie war noch auf, bis auf Marias Bruder, Eric.
Una kam sofort in den Vorraum.
"Gott sei Dank!", sagte sie atemlos. "Wie kannst du uns nur solche Sorgen machen und so lange ausbleiben? Du weißt, daß es nachts besonders gefährlich ist, Maria."
"Mama, ich möchte dir Noe vorstellen. Er ist mein Freund", sagte Maria unbeeindruckt.
Una sah den jungen Mann mit dem muskulösen, nackten Oberkörper prüfend an. Erst dann reichte sie ihm ihre Hand zum Gruß. Noe grüßte leise und senkt fast schüchtern seinen Blick.
Maria nahm seine Hand und ging mit ihm ins Wohnzimmer, um ihn der gesamten Familie vorzustellen. Das hätte sie normal nicht getan, aber sie wollte Großmutter prüfen, ob sie Noe wieder erkennt. Oder wollte sie Noe prüfen? Nein, jetzt war sie sich wirklich ganz sicher. Sie wollte nur Manolas verdutztes Gesicht sehen, und das sah sie dann auch. Großmutter erstarrte, als sie Noe sah. Aber sie faßte sich wieder schnell, denn sie wollte sich nicht verraten.
"Haben wir etwas zu trinken?", fragte Maria. "Wir sollten unseren Gast schon gut bewirten. Immerhin gehören wir zu den Reiche, die sich alles leisten können."
"In der Küche im Eisschrank ist Bier", sagte Manola und stand auf. "Ich helfe dir, Maria."
Maria lächelte in sich hinein. Sie wußte sofort, was jetzt kommen wird.

Als sie mit Großmutter in der Küche war, kam diese ganz nah an sie heran. Zuerst vergewisserte sie sich, ob dieser Mann nichts hören kann.
"Maria, weiß du, wer das ist?", fragte Manola flüsternd, und Maria nickte.
"Und?"
"Was und?", fragte Maria gespielt ernst.
"Wer ist er?", fragte Manola flüsternd.
"Kennst du ihn, Oma?"
Manola nickte und sah ihre Enkelin prüfend an.
"Liebst du ihn, Maria?"
Maria nickte stumm.
Manola seufzte und wußte nicht, wie sie es sagen soll.
"Ich weiß alles, Oma. Er hat mir alles erzählt. Er hat dich einmal erwischt, als du bei den Arbeitern warst. Ja, er ist Polizist. Aber hör dir erst einmal an, wie er das geworden ist. Du müßtest ihm doch vertrauen, denn er hat dich nicht verraten. Er hat dich sogar vor seinen Kollegen gerettet."
"Das stimmt, und es kam mir auch seltsam vor. Er sprach kein Wort mit mir, - außer, daß er meinen Ausweis sehen wollte. Und dann fuhr er mich schweigend nach Hause. Ich wartete die nächsten Tage immer darauf, daß ein hoher Herr mit seinen Bluthunden kommt, um mich zu erschießen. Ich hatte Angst, deshalb habe ich nichts davon erzählt", sagte Manola nachdenklich und nahm Bier aus dem Eisschrank.
"Und jetzt komm, Oma. Noe wird die alles erzählen."

Marias Familie hatte keine Bedenken wegen Noe. Sie machten sich nur Sorgen um Maria, wegen der Rebellen.
Noe fühlte sich wohl in dieser Runde. Er konnte frei reden und fühlte Vertrauen. Zum ersten Mal seit langer Zeit durfte er wieder Vertrauen und Geborgenheit fühlen. Jetzt war er zu Hause, so wie vor vielen Jahren Kims Schwiegersöhne und Unas Mann, Julian. Die Liebe Kims steckte wie durch einen Zauber noch immer in diesem Haus. Und das wird wohl für immer so bleiben. Selbst, wenn das Haus einmal abgerissen wird, oder in sich zusammen fällt, wird man an diesem Platz immer eine ganz besondere Aura spüren, - ein Kraftfeld, welches ein Mann, ein Wesen, zurück gelassen hat, der den Großteil seines irdischen Lebens hier verbracht hatte. Hier an diesem Platz sah er seine Kinder und Enkelkinder heran wachsen, - und nur um Haaresbreite hatte er seine erste Urenkelin verpaßt.
Ja, Noe wurde viel Vertrauen entgegen gebracht, - vor allem, als Manola von ihrem Daddy zu erzählen begann. Es wurde spät, fast Morgen, als alle zu Bett gingen, - aber diese Gespräche machten keinen müde. Nein, dadurch wurden sie alle nur noch kräftiger und zuversichtlicher.
Aus Marias Zimmer hörte man noch Musik. Kims Musik und seine Stimme, die seine Urenkelin am liebsten hörte. Man hörte auch Keeper of the seven keys, Noes Lieblingslied, das ihm seine Mutter früher immer vorgespielt hatte. Und beide versanken dann in den Fotos, die an der Seite des Betts hingen, bevor sie sich wieder in die Arme fielen und ihre junge Liebe auskosteten.

Es war fast Mittag, als Maria und Noe aufstanden.
In der Küche stand noch immer das Frühstück für die beiden.
"Wir werden nur frühstücken. Zum Mittagessen sind wir nicht da", sagte Maria zu ihrer Mutter.
Una hatte schon wieder diesen besorgten Blick.
"Wir werden bei Onkel Alexander sein und Waffen bauen", sagte Maria.
"Kannst du sie nicht umstimmen, Noe?", fragte Una verzweifelt.
"Es kann nicht mehr so weitergehen, Una", sagte Noe. "Wie können wir uns das gefallen lassen? Sie haben meine ganze Familie ausgerottet. Ich habe keinen einzigen Verwandten mehr. Mein Bruder war erst 10, - also noch ein Kind. Wir können die Augen nicht mehr zumachen."
Una seufzte nur. Sie wußte, daß die beiden recht haben, aber sie wollte ihre Tochter nicht verlieren. Sie ahnte, daß die Rebellen hier keine reelle Chance haben. Es waren zu wenige, - es waren keine 100, wie in dieser Stadt im Norden. Es waren höchstens 30, - und 30 Mann gehen eine Armee von mehr als 200 Mann, - das kann niemals gut gehen. Auch wenn jetzt Waffen für die Rebellen gebaut wurden, aber diese Waffen waren Steinzeitmaterial gegen die Waffen der Armee. Und das müßte auch Noe wissen.
Aber Una schwieg.

Die drei Tage Urlaub waren für Noe schnell um. Die Waffen waren fast fertig. Es fehlten nur mehr Kleinigkeiten, die Maria mit ihrem Onkel alleine erledigen konnte.
Es waren die schönsten Tage in Noes Leben, die er wohl nie vergessen wird. Irgendwie fühlte er, daß sein Glück nicht lange halten wird. Er sah auch, daß zu wenig Rebellen waren.
Den Großteil der Waffen konnten er und Maria in der letzten Nacht seines Urlaubs zu den Rebellen bringen.

Am frühen Morgen darauf verließ er Marias Heimathaus und machte sich auf den Weg in die Neue Stadt.
Es war ihm nicht sehr wohl dabei. Was sollte er sagen, wo er war? Polizisten verlieben sich nicht. Sie haben nicht solche Gefühle. Sie durften niemals solche Gefühle haben.
Man überprüfte täglich die Wohnungen der Polizisten und wollte immer wissen, wo sie sich gerade aufhalten, - auch im Urlaub. Die Stadt zu verlassen, dazu brauchte man eine Sondergenehmigung. Natürlich war es für Polizisten eine Kleinigkeit, so eine Sondererlaubnis zu bekommen.

Als Noe vor seiner Wohnungstür stand, sah er, daß sie aufgebrochen war. Man suchte bereits nach ihm.
Zögernd öffnete er die Tür. Er war nicht überrascht, als er einen hohen Herren und zwei seiner Bodyguards in seinem Zimmer sah.
Nur die Ruhe bewahren, - sagte er sich und sah den drei Männern mit eisiger Kälte entgegen.
"Wo waren sie, Nummer 587?", fragte einer der Bodyguards.
"Man hat mich in ein Haus der Reichen eingeladen", sagte Noe, mit bewußt tiefer Stimme, um ein bißchen härter zu klingen.
"Warum haben sie sich nicht gemeldet?"
"Ich wußte nicht, daß ich das melden muß. Ich blieb ja in der Nähe der Stadt", sagte Noe, noch immer mit versteinerter Miene.
"Sie wurden mit einem Mädchen gesehen."
"Das Mädchen hat mich eingeladen. Meine Kollegen an der Grenze können das bestätigen. Am Tag, bevor ich Urlaub hatte, fuhr sie mit einer älteren Frau über die Grenze in die Neue Stadt und lud mich zu sich ein", sagte Noe.
"Was passierte in diesen Tagen?", fragte der andere Bodyguard.
"Es war eklig. Ich möchte nicht mehr so schnell wieder Urlaub haben. Diese Reichen sind zu seltsam. Ich kann sie nicht verstehen. Sie haben viel von ihrer Familie gesprochen, - vor allem dieses Mädchen sprach so viel über ihren Urgroßvater. Das war dieser lächerliche Rockstar Kim."
Der hohe Herr wurde hellhörig.
"Kim?", fragte er. "Sie waren in Kims Heimathaus eingeladen? Das ist doch genial!"
"Genial?!", stieß Noe hervor und verzog, gekonnt gespielt, verächtlich sein Gesicht. "Ich will nie wieder dort hin. Am liebsten hätte ich diese Familie ausgerottet. Sie leben so gut wie die hohen Herren, aber sie leisten absolut nichts. Es sind Faulpelze, die nichts für diese Stadt tun."
Der hohe Herr grinste hämisch.
"Warte noch ein bißchen mit dem Ausrotten, Nummer 587. Vielleicht kommt es einmal dazu, daß ich dich dazu beauftrage. Hat dieses Mädchen angedeutet, daß du ihr gefällst?"
Noe verzog wieder verächtlich sein Gesicht.
"Sie wollte mich küssen, aber ich wehrte ab. So etwas kann ich nicht ausstehen. Und als wir ins Freie gingen, hielt sie meine Hand. Es war einfach widerlich."
"Lüge ihr etwas vor und spiele mit", sagte der hohe Herr. "Wenn du es schaffst, in ihrem Haus als Freund zu gelten, wirst du ab sofort als Bodyguard eingestellt und kannst dir sogar aussuchen, welchem hohen Herrn du dienen willst. Du kannst auch in meine Dienste treten."
Zufälle gibt es ja nicht, es gibt nur Glück, - dachte Noe, als er auf die Nummer des hohen Herrn sah.
Die hohen Herren trugen ihre niedrigen Nummern immer ganz stolz auf der Brust. Es war die Nummer des hohen Herrn, der seine Familie ausgerottet hatte. Noe mußte sich beherrschen, um keine Gefühle zu zeigen. Vor ihm stand nun der Mann, der seine Mutter, seinen Vater und seinen kleinen Bruder auf dem Gewissen hatte.
"Mir ist es ja egal, was ich in meiner Freizeit mache, wenn sie nur schnell wieder vorbei ist und ich wieder für die Armee arbeiten kann. Ja, ich werde mitspielen und diese Göre zu meiner Freundin machen", sagte Noe hart und zog seine Mundwinkel angeekelt nach unten.
Der hohe Herr lachte auf.
"Solche Männer, wie dich, braucht die Armee. Von nun an sollst du mein Bodyguard sein. Willst du für mich arbeiten?"
"Es soll mir eine Ehre sein, hoher Herr", sagte Noe und verneigte sich.
"Nach deinem Dienst wirst du wieder ins Haus dieser Reichen gehen. Das ist ein Befehl! Und wenn dir irgend etwas Verdächtiges auffällt, meldest du es mir sofort. Die Reichen sind uns schon lange ein Dorn im Auge, besonders dieses Haus, in dem es sicher nicht richtig zugeht. Dieser Kim, auch wenn er schon über 20 Jahre tot ist, spukt noch immer überall herum und verweichlicht sogar die Armee, wenn sie sich seine Musik anhören."
"Man sollte es verbieten!", sagte Noe grimmig.
"Ja, das sollte man wirklich, - aber manch hoher Herr hört auch diese Musik, - also können wir es den freien Menschen dieser Stadt nicht verbieten. Man würde uns stürzen, wenn wir zu viel verbieten.
Mein rechter Bodyguard wird dich einweisen, und am Abend hast du wieder frei. Wenn du drei Tage im Haus dieser Reichen willkommen warst, werden sie sicher nichts dagegen haben, wenn du auch heute Nacht bei ihnen bleibst."
Nichts lieber als das, - dachte Noe, aber er durfte sich seine Freude nicht anmerken lassen. Also verzog er wieder verächtlich seinen Mund.
"Befehl ist Befehl! Ja, hoher Herr!", sagte er hart.
"Sie mag wohl deine brutale Art, Nummer 587, also wird sie keinen Verdacht schöpfen, wenn du wieder kommst. Und bei deinem Aussehen ist es auch kein Wunder, denn du bist ein ganz besonders hübscher, stattlicher, junger Mann", sagte der hohe Herr und blickte mit leuchtenden Augen auf Noes nackten Oberkörper.
Dann ging er mit einem der beiden Bodyguards, - der andere blieb bei Noe.
"Du mußt deine Polizeiuniform abgeben. Als Bodyguard bekommst du eine andere Kleidung", sagte er.
Noe betrachtete sein Gegenüber von der Seite, während er seine Polizeiuniform zusammen packte.
Die Uniform der Bodyguards war nicht viel anders. Es war nur ganz neues Leder und paßte viel besser. Die Uniform war enger und extra mit Nieten geschmückt. Die Helme waren Vollvisierhelme, - vorne mit schwarzem Glas, daß man das Gesicht nicht erkennen konnte, aber selbst sah man viel besser, als mit den alten Helmen der Polizisten, die nur billiges Schutzglas über die Augen hatten. Der Vollvisierhelm war bis zu den Schultern verlängert und sah aerodynamisch aus. Wie Roboter wirkten die Bodyguards, was sie im Grund genommen auch waren, denn nur die härtesten und gefühllosesten Polizisten hatten die Chance, Bodyguards zu werden.
Noe war stolz auf sich. Er war ein Meister der Schauspielkunst. Jetzt stand seiner Rache nichts mehr im Wege. Und das war gut so. Maria wollte nämlich so schnell wie möglich mit ihren Rebellen den Angriff starten. Noe würde sich auch informieren, wann die Armee vergrößert wird. Die Chancen für einen Sieg waren jetzt schon gering, aber wenn noch mehr Polizisten kommen, würde es aussichtslos werden.
Die Arbeit war für Noe leicht. Er mußte sich immer nur in der unmittelbaren Nähe seines Herren aufhalten. Das war ziemlich ungefährlich, denn kaum jemand würde es wagen, einen hohen Herren anzugreifen. Es war auch langweilig, aber man mußte stolz darauf sein, einem hohen Herren dienen zu dürfen.
Noe machte sich aber auch Gedanken, weil er ein ziemlich hübscher Mann war, - und er spürte schon in seiner Wohnung den aufdringlichen Blick des hohen Herrn, der vor einigen Jahren auf seine Mutter losgegangen ist. Die hohen Herren nahmen sich auch Männer, - besonders so hübsche Männer, wie er einer war, was dieser hohe Herr auch betont hatte. Und wenn es der Wunsch dieses Herren war, durfte er sich nichts anmerken lassen. Er war ein eiskalter Polizist, der keine Gefühle, außer Haß kannte. Und so weh soll es bekanntlich ja auch nicht tun, denn Polizisten kennen auch keinen Schmerz.

Noe war froh, als sein Dienst beendet war.
Mit seiner neuen Uniform machte er sich auf den Weg zu Maria. Der hohe Herr hatte ihm den Auftrag gegeben, mit dieser Uniform ins Haus der Reichen zu gehen, um Eindruck zu schinden.
Es war Una, die ihm öffnete und im ersten Moment erschrak. Noe nahm schnell seinen Helm ab.
"Ich bin es, Una! Hab keine Angst!", sagte er lachend und umarmte die Frau, nachdem sie hinter ihm die Tür geschlossen hatte.
"Du bist befördert worden!", rief sie überrascht aus.
Dann erzählte Noe von seinem Arbeitstag. Maria hörte ihn von der Küche aus und kam langsam heraus.
"Beschatten sollst du uns?", fragte sie und sah Noe prüfend an.
"Ja, ich soll sofort melden, wenn mir etwas Verdächtiges auffällt", sagte Noe, als er Maria an sich drückte.
Er spürte Widerstand und ließ sie sofort los.
"Was ist los, Maria? Vertraust du mir nicht mehr?"
Marias Blick war noch immer prüfend.
"Man kann nur Bodyguard werden, wenn man als Polizist ziemlich grausam und gefühlskalt ist. Du hast gesagt, daß du bis jetzt keinen Menschen getötet hast. Wie kannst du diesen hohen Herren so täuschen, daß er dir alles glaubt?"
"Das ist mir selbst ein Rätsel, Maria. Glaub mir, bitte. Ich habe dir gesagt, daß bei unseren Einsätzen, die ich mit meiner Truppe hatte, nie ein Rebell lebend davon gekommen ist. Ich war der Leiter dieser Truppe. Ich mußte mitspielen, sonst wäre ich nie ans Ziel gekommen. Wenn ich mich verraten hätte, wäre ich nie an diesen hohen Herren heran gekommen. Und wenn ich mich als Arbeiter gemeldet hätte, wäre ich sofort erschossen worden. Bitte, Maria, - vertraue mir. Ich liebe dich."
Den letzten Satz flüsterte Noe nur mehr, weil ihm die Tränen kamen.
Dieser Tag war fast zu viel für ihn. Immer nur Theater spielen und seine Gefühle unterdrücken, das brachte auch den stärksten Mann um.
Maria erkannte seine Ehrlichkeit sofort und stürzte sich in seine Arme.
"Verzeih, Noe. Ich wollte dich nicht verletzen. Ich dachte eben nie, daß man die hohen Herren so täuschen kann, wie du es konntest."
"Ich weiß, Maria. Aber wenn du Rachegedanken hast, wirst du automatisch härter, und vielleicht haben die hohen Herren diese Härte gespürt. Sie konnten ja nicht wissen, daß sich mein Haß gegen sie richtet, als sie meine Gehirnströme gemessen haben."
"Dann müssen wir also bald handeln. Hast du gehört, was sie vor einer halben Stunde im Radio durchgegeben haben? Die Rebellen haben wieder eine Stadt gestürzt. Es passierte in unserer Nähe, - die nächsten Stadt westlich von hier."
Noe schüttelte seinen Kopf.
"Mein Dienst endete vor einer halben Stunde, und da war ich auf dem Weg zu dir. Ja, das ist eine sehr erfreuliche Meldung."
"Weißt du, ob die Armee vergrößert wird?", fragte Maria.
"Mein Herr hat heute telefoniert, um neue Leute anzufordern, aber er hatte kein Glück, weil sie in den anderen Städten schneller waren. Jetzt wollen sie Arbeiter dazu zwingen, Polizisten zu werden. Aber die Ausbildung dauert mindestens drei Wochen."
"Drei Wochen", sagte Maria nachdenklich. "So lange dürfen wir nicht warten. Nächste Woche ist mein Geburtstag. Diesen Tag möchte ich mir dir feiern. Und am nächsten Tag werden wir angreifen. Bist du dann auch so weit? Es wäre nämlich gut, wenn wir den Angriff zur selben Zeit starten. Schaffst du das?"
Noe nickte.
"Ja, in einer Woche habe ich Zugang zum Waffenlager, und dann ist mein Plan perfekt."
"Waffenlager? Könntest du nicht...."
"Nein, Maria, - ich brauche für jede Waffe eine Genehmigung. Eine Bombe kann ich an meinem Körper verstecken, mehr nicht. Schlag dir das aus dem Kopf, daß ich für die Rebellen Waffen heraus schmuggeln könnte."
"Ich verstehe, Noe. Das wäre zu gefährlich, - du hast recht.
Wie war die Arbeit bei dem hohen Herren?"
"Heute war es noch angenehm ruhig", sagte Noe und lächelte schnell.
Er wollte seine Befürchtung vergessen. Den hohen Herren als Beschützer zu Diensten zu sein, das ließ er ja noch zu, aber Liebesdienste, - nein, daran wollte er nicht denken. Er wünschte sich nur, daß diese Woche schnell um ist, und dann auch wieder nicht, da er Angst um Maria hatte. Er wußte, daß die Chancen nur gering waren, aber er wollte Maria mit seiner Sorge nicht schwächen. Er kannte nun ihre Einstellung, die nicht anders war, als seine. Nur den Kampf gewinnen, und Freiheit und Gerechtigkeit für alle, auch wenn es das eigene Leben kostet. Und er wollte nur seine Familie rächen. Diese paar Tage wollte er auskosten, bis zu letzten Sekunde. Sie wußten beide insgeheim, welche Chancen sie haben.
"Hast du Hunger?", fragte Maria.
"Danke, nein! Ich darf jetzt mit den hohen Herren an einem Tisch speisen, und da gibt es genug zu essen."
Maria lachte, nahm Noes Hand und stürmte mit ihm in ihr Zimmer hoch.

"Zieh diese lächerliche Uniform aus", sagte sie und öffnete die derbe Lederjacke Noes, unter der er nackt war.
"Ich wollte Eindruck bei dir schinden", sagte Noe, dann lachten sie beide.
"Es ist seltsam, Noe", sagte Maria, nachdem sie sich geliebt hatten. "Du bist für mich der erste Mann, und ich bin für dich die erste Frau. Weißt du, daß Urgroßvater auch nur eine Frau lieben konnte?"
"Bei mir wird es auch immer so sein, Maria. Ich werde auch immer nur dich lieben", sagte Noe leise.
"So darfst du nicht denken, Noe. Wir wissen nicht, wie viel Zeit uns bleibt. Jeder von uns könnte sterben. Glaube mir, ich liebe dich wirklich, und ich könnte mir nicht vorstellen, einen anderen zu lieben. Aber wenn du bei deinem Racheangriff stirbst und ich überlebe, kann ich nicht mit Sicherheit sagen, daß ich mich nie mehr verlieben werde. Ich werde dich niemals vergessen, Noe, - dessen bin ich ganz sicher, - aber verlange nicht von mir, daß ich mein Leben lang alleine bleibe, wenn es dich nicht mehr gibt. Vielleicht wird diese Welt doch einmal besser, und dann wäre es möglich, daß ich ein Kind haben möchte. Kims Blut ist in mir, - und das muß ich weitergeben. Es muß in meinem Kind weiterleben, Noe. Wenn es ein Junge wird, werde ich ihn nach dir nennen, - egal, wer sein Vater ist, denn für mich wird dieses Kind auch von dir sein. Und diesen Wunsch richte ich auch an dich. Deine Familie ist ausgestorben. Es gibt nur mehr dich. Und du willst deine Familie rächen. Also, laß sie nicht aussterben, Noe."
Noe spürte die Tränen in seiner Kehle und schluckte. Nur zögernd nickte er.
"Ich verspreche es dir, Maria. Es wird dein Kind, das ich dann in die Welt setze."
Maria nickte stumm. Die beiden hielten sich fest und schwiegen eine Weile.
"Es ist schon seltsam", sagte Noe und blickte auf die Fotos neben Marias Bett. "Als dein Urgroßvater Musik machte, wollte er, daß andere Bands auch Chancen haben, und als er mit seiner Karriere Schluß machte, dachte er, daß es nun so weit ist. Nun, einige hatten auch Chancen, aber die Begeisterung der Menschen ließ nach. Sie akzeptierten nur mehr Kim und diese Bands, die über ihn, oder seine Songs gesungen haben. Er liebte die Musik über alles, und doch starb sie durch ihn aus. Ich glaube, wenn er das gewußt hätte, hätte er niemals Musik gemacht."
"Darüber habe ich mir auch schon Gedanken gemacht, und ich habe deswegen einmal mit Großmutter gesprochen. Sie fragte Kim einmal über dieses Thema aus. Er sagte, daß es damals nichts anderes als Musik für ihn gegeben hat, denn andere Arbeiten hätte er niemals angenommen. Damals lebte er nur für seine Musik. Und er sagte, wenn er gewußt hätte, daß durch ihn die Musik stirbt, hätte es nur eine Lösung für ihn gegeben, - nämlich Selbstmord. Ohne Musik konnte er nicht leben, - und er wußte ja auch nicht, was er mit seiner Karriere auslösen wird. Außerdem gab es für ihn dieses was-wäre-wenn nicht. Damit machte er sich immer über Urgroßmutter lustig, die dieses Spiel besonders liebte."
"Ich habe einmal gehört, daß deine Tante Miriam das Ebenbild deiner Urgroßmutter ist. Stimmt das?", fragte Noe.
"Sie war es einmal, als sie noch jung war. Jetzt ist sie ziemlich gealtert, und meine Urgroßmutter alterte nicht."
"Deine Urgroßeltern, vor allem Kim, waren wohl die einzigen Menschen, die es verdient haben, Menschen genannt zu werden. Es gibt schon lange keine wahren Menschen mehr", sagte Noe leise.
"Ich weiß nicht, ob man sagen kann, daß die Bedeutung Mensch so gut ist. Für mich waren meine Urgroßeltern immer nur Leuchtende Wesen, - also eine Weiterentwicklung der Menschen. Und ich würde sagen, sie waren keine Weiterentwicklung dieser Menschen, wie wir sie kennen, sondern der Menschen, die vor langer, langer Zeit einmal mit der Natur in Freiheit gelebt haben.
Mein Urgroßvater liebte Naturvölker, ganz besonders die Indianer. Sein Lieblingsbuch handelt von Indianern, die eine ganz besondere Macht hatten. Mit dieser Macht regierten sie aber nicht über andere, sondern über sich selbst, weil sie mit dieser Macht ihr Herz fanden, das sie im Tod lebendig bleiben ließ.
Damals, als meine Urgroßeltern noch lebten, hatten sie nur wenig Freunde, und das waren wohl Menschen, welche die Natur und die wahre Freiheit wirklich verstehen konnten. Vor allem aber waren sie bereit.
Großmutter erzählte mir einmal, daß Kims Freunde einmal wollten, daß er das Paradies sofort schaffen soll. Kim hätte es getan, wenn es richtig gewesen wäre. Aber er hätte alle Menschen und Wesen im Universum beeinflussen müssen, und dann wäre er nichts anderes als ein Führer gewesen, wie es sie schon immer gegeben hat. Es wäre nicht der Weg seines Herzens gewesen. Kim sagte, daß er dann gegen seine Einstellung gehandelt hätte. Er war immer gegen das System und die Gesellschaft. Er wußte, daß Menschen von klein auf beeinflußt werden und daß ihnen das Wissen Fremder eingetrichtert wurde. Wenn er nun allen sagen würde, daß sie auf ihre Herzen hören müssen, hätte niemand verstanden, weil noch niemand bereit war. Das bedeutet, daß sie gar nicht anders leben wollten, obwohl sie fühlten, daß ihnen etwas fehlt. Menschen müssen den Willen haben, sich zu ändern, sonst wäre es nicht echt. Und darauf muß mein Urgroßvater nun warten. Er muß warten, bis wirklich alle Lebewesen im Universum bereit sind und ihre Herzen finden können und wollen."
"Ich glaube, ich verstehe", sagte Noe nachdenklich. "Wenn er das Paradies gegen den Willen der Menschen geschaffen hätte, sie also beeinflußt hätte, hätte er im Grunde genommen gar nichts anderes gemacht, als das, wogegen er selbst immer war. Es wäre Zwang und eine Unterwerfung gewesen, wie es sie schon immer gegeben hat. Obwohl er fühlte und wahrscheinlich auch wußte, daß die Menschen dann glücklicher gewesen wären, konnte er es nicht tun, weil es gegen seine Prinzipien war. Er stand also wirklich immer voll und ganz zu seinem Herzen und ging beharrlich seinen Weg."
"Genau, Noe", sagte Maria lächelnd. "Und ich denke, er wußte auch, daß nicht alle Menschen mit dem Paradies zufrieden gewesen wären, denn die meisten hängten noch zu sehr am Materialismus. Sie hätten das Paradies nicht verstanden und wären dann wahrscheinlich auch nicht glücklicher gewesen. Kim sagte, für diese Menschen wäre es so gewesen, als wenn du jemandem heimlich LSD, - das war eine bewußtseinserweiternde Droge, - verabreichen würdest, der keine Ahnung davon hat. Dieser Jemand würde verrückt werden und sich nicht mehr zurecht finden. Genauso wäre es ihm im Paradies ergangen. Und ich habe das so verstanden, daß das Paradies eine Bewußtseinserweiterung ist und die Menschen für diese Entwicklung noch zu wenig entwickelt sind. Kim sagte auch, daß der Weg eigentlich das Ziel ist. Demnach hätte ihnen also der Weg dorthin gefehlt.
Ja, Kim hat schon sehr genau gewußt, was er tun kann und was nicht. Er ist wirklich wie ein Gott, so wie ihn Urgroßmutter immer gesehen hat."
"Glaubst du, daß er uns einmal das Paradies bringen wird?", fragte Noe.
"Sieh dir doch die Menschen einmal an, Noe. Sie werden immer bösartiger. Heute sind noch weniger bereit, als damals. Nein, Noe, wir beide werden das Paradies nicht mehr erleben und wohl auch nicht unsere Kinder.
Erst wenn die Menschen ohne Hoffnung sind, werden sich ihre Herzen öffnen, und sie werden den wahren Weg von selbst erkennen. Noch haben wir Hoffnung."
"Ja, und die kann uns niemand nehmen, weil sie in uns steckt."
"Dann sind wir also noch lange nicht bereit", sagte Maria leise.
"Nein, wir sind noch lange nicht bereit, und das Reich des Bösen ist noch immer viel zu groß. Ja, Kim hat das wirklich richtig erkannt. Nicht einmal die Menschen, die damals für ihn bereit waren, waren für das Paradies bereit."

Die Rebellen waren im Besitz der gesamten Waffen, welche Maria, ihr Onkel Alexander und Noe zusammen gebaut haben. Aber es gab nicht viel Munition. Der Angriff mußte schnell gehen, und jeder mußte sofort treffen. Die Rebellen waren gute Schützen, aber doch nicht so gut, wie die Polizisten der Armee.
Tagsüber war Noe bei seinem hohen Herren, und Maria hielt sich bei den Rebellen auf, um ihren Plan genau auszuarbeiten. Es mußte auf die Sekunde alles klappen. Während Noe den Speisesaal mit einer Bombe in die Luft jagt. müssen die Rebellen die Armee vor der Neuen Stadt angreifen.
Maria hielt sich nicht nur bei den Rebellen auf. Sie ging auch oft in diesen Hof, wo noch die Ruinen der Wohnungen waren, in denen ihre Urgroßeltern einmal gelebt haben, bevor sie das große Haus bauen ließen, in dem Maria nun wohnte. Auch dort im Hof war ein großes Kraftfeld, und sie war Urgroßvater sehr nahe.
Ihr Traum des Todes hatte sich nun ein bißchen geändert. Sie wollte noch immer in Kims Nähe sein, nun aber mit Noe. Instinktiv ahnte sie, daß sie den Kampf gegen die Armee nicht überleben wird, aber sie hoffte, daß die Rebellen siegen werden.
In jeder Stadt bahnte sich bereits Aufruhr an, und bald werden alle Menschen frei sein. Maria hoffte nur, daß sie dann mit dieser Freiheit vorsichtig umgehen werden.

Es war Ende Feber, Marias Geburtstag. Sie feierte mit Noe und ihrer Familie.
"Wann ist Kim gegangen? Mitte September?", fragte Noe.
"Genau am 12. September. Das war das Datum, an dem er seine Frau das erste Mal sah. Mama war damals gerade im 4. Monat schwanger. Der Arzt meinte, daß es eine Frühgeburt werden könnte, und Mama drängte Kim, daß er doch bis zu meinem Geburtstag bleiben soll. Aber seine Zeit auf der Erde war abgelaufen. Sie war eigentlich schon damals um, als er mit seiner Karriere aufgehört hatte. Von da an war es nur mehr die Vorbereitung auf die Leuchtende Welt.
Wie war das mit dir, Noe? Du warst damals doch schon auf der Welt, als mein Urgroßvater noch unter den Menschen war. Hast du nichts gefühlt?", fragte Maria.
"Damals war ich noch zu klein. Aber wie ich schon erzählte, waren meine Eltern bei dem Konzert, und Mutter berührte sogar Kims Hand."
"Sie muß dich anschließend mit dieser Hand gestreichelt haben", sagte Maria und lehnte sich an Noes Schulter.
"Von Daddy ging unheimlich viel Kraft aus, wenn er jemanden berührte", sagte Manola. "Wenn er jemanden umarmte, fühlte man sich wie in Mutters Schoß. Dann hatte man keine Angst mehr. Dann wußte man, daß einem nichts mehr geschehen kann. Und im Grunde kann dir auch nichts geschehen und nichts genommen werden, weil du ja nichts besitzt, - nicht einmal dein Leben."
"Hatte es Kim da nicht ein bißchen leichter, wo er doch Unsterblichkeit besaß?", fragte Noe lächelnd.
"Die Unsterblichkeit ist ihm erst sicher, wenn er das Paradies geschaffen hat. Die Dämonen im Reich des Bösen können ihm das Leben jederzeit nehmen", sagte Manola.
"Also glaubte er wirklich alles, was er sagte", meinte Noe leise.
"Darauf kannst du Gift nehmen. Daddy sagte immer alles aus seinem Herzen", sagte Manola stolz.

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#7 | RE: Die Rebellen datum

08.08.2015 09:48

"Könnte es nicht sein, daß Kim schon lange tot ist? Ich meine, daß er bei einem Kampf im Reich des Bösen sein Leben bereits verloren hat? So wie die Welt aussieht, könnte man es fast glauben", sagte Noe.
"Das würden wir spüren", sagte Cora. "Kim sagte, daß noch viel schlimmere Zeiten kommen werden als diese, als sie die Erde verlassen haben. Er sagte voraus, daß sich die wenigen Menschen, die es dann noch gibt, für einen Tropfen Wasser umbringen werden. Noch ist es nicht so weit, daß das Wasser so knapp ist.
Dieser kleine Junge, Chris, den du gestern kennen gelernt hast, - er wird wie durch ein Wunder diese schreckliche Zeit überleben und mehr als 100 Jahre alt werden. Er hat viel Kraft in sich und das Herz eines Leuchtenden Wesens. Er wird bei den letzten Menschen sein, und dann wird Kim auf die Erde kommen, um diese letzten Menschen, die ohne Hoffnung sind und sich dadurch wieder ihre Herzen holen, retten, und den alten Chris zu sich auf die Leuchtende Welt holen. Chris wird mit Kims Armee das Reich des Bösen besiegen. So wie Angelia und Angelo, die du in diesen Tagen auch kennen gelernt hast. Angelia kanntest du ja schon von der Grenze."
Cora stand auf und holte aus einer Schublade einen Karton, der liebevoll mit einer bunten Schleife zugebunden war. Sie setzte sich zu Noe und öffnete vorsichtig den Karton. Mit zitternden Händen holte sie eine rote Fellmütze heraus.
"Diese Mütze stammt aus der Zukunft. Sie ist von einem roten Wolf", sagte Cora und überreichte sie Noe.
Der junge Mann zitterte am ganzen Körper, als er die Fellmütze in seinen Händen hielt. Im ersten Moment wagte er nicht, sie fester zu berühren, aber nach einer Weile streichelte er sanft über das besonders weiche Fell.
"Der rote Wolf. Das wird Kim sein", sagte er leise, da er das Geheimnis bereits kannte.
"Ja, das wird Kim sein. Jetzt in diesem Augenblick streichelst du über seine Haut", sagte Cora flüsternd.
"Er ist mitten unter uns", stieß Noe mit belegter Stimme hervor und schluckte.
"Das wird er immer sein, auch ohne diese Fellmütze", meinte Maria.
"Was wird mit dieser Mütze passieren, wenn ihr nicht mehr seid? Wird sie bis in die ferne Zukunft erhalten bleiben?", fragte Noe.
"Das glaube ich kaum. Auch wenn Kim unsterblich ist, aber diese Fellmütze stammt ja nur von einem Wolf, in den er sich verwandeln wird. Auch wenn er selbst dieser Wolf sein wird, dessen Fleisch die letzten Menschen retten wird, ist dieses Fell nicht unsterblich und wird einmal zerfallen. Diese Mütze wird außerdem erst in der Zukunft gemacht", sagte Jochen, Manolas Mann.
"Diese Dinge sind für mich unverständlich", sagte Noe stöhnend. "Das geht einfach über meinen Horizont. Etwas kommt aus der Zukunft zu uns, was eigentlich bis heute noch nicht gemacht wurde. Wie kann es das geben? Ich meine, Kim sagte doch einmal, daß die Zukunft immer ungewiß ist, und es im Grund genommen keine Zukunft geben kann, - real gesehen. Und doch kommt diese Fellmütze aus der Zukunft, die es noch nicht gibt. Das ist doch ein Widerspruch."
Manola lächelte und sagte: "Wenn du Kim gekannt hättest, würde auch das über deinen Horizont gehen. Wir alle glauben zwar, ihn verstanden zu haben, aber wir haben ihn nur so verstanden, wie weit unser Horizont eben reicht. Und was die Widersprüche angeht, - Daddy steckte voll damit. Er selbst war der Widerspruch persönlich. Aber doch konnte er alles erklären, weil er den weitesten Horizont hatte. Er konnte sich sogar mit dem höchsten Wesen vereinigen. Und was das höchste Wesen ist, kommt ganz alleine auf unser Herz an. Daddy nannte es die Quelle der Kraft, weil es Leben und natürlich auch Tod gibt. Für uns alle sind das Widersprüche, weil wir so vieles nicht verstehen können. Aber für Daddy gab es nie Widersprüche. Alles ist wie es ist. Es gibt kein Gut, kein Böse, kein Schwarz und kein Weiß. Für Daddy gab es keine Vergleiche, weil eben alles so ist wie es ist.
Er hat uns das einmal mit einem Baum erklärt. Er sagte, wir sollen uns draußen um Garten einen Baum ansehen und ihn mit dem Herzen fühlen. Ohne Vergleiche, denn Vergleiche sind immer relativ. Wir können nicht sagen, daß dieser Baum groß ist, denn wenn er neben einem Wolkenkratzer steht, kann er nicht mehr groß sein. Und ebenso wenig können wir sagen, daß er klein ist, denn neben einer Blume wird nicht mehr klein sein. Ebenso ist es mit der Schönheit und allen anderen Vergleichen.
Irgendwie haben wir das verstanden, - aber nur irgendwie. Mit dem Herzen fühlen bedeutet, das Wesentliche in uns aufnehmen, - und das Wesentliche war nicht einmal das, daß dieses Gewächs, - oder Lebewesen, wie es Daddy nannte, - ein Baum ist. Es ist ein Lebewesen, - ein für uns sehr seltsames Lebewesen, weil es von unserer Lebensart abweicht, aber genauso, wie wir, ein Herz besitzt und genauso Leben in sich hat. Wir sind nicht mehr und nicht weniger als dieser Baum, den wir damals betrachtet haben.
Für Daddy war das ganz normal, weil er eben alles so sah, wie es war. Und deshalb sagte er auch immer, daß die Welt im Grunde genommen okay ist. Okay, - dieses Wort gebrauchte er sehr oft, und wenn er uns Frauen anredete, sagte er immer. Mein Mädchen.
Er war so liebevoll....
Nun, er war eben voll und ganz ein Leuchtendes Wesen. Leuchtende Wesen schauen nicht auf das Äußere. Sie erkennen das Wesentliche, - das Herz. Es wäre unsere wahre Bestimmung gewesen, Leuchtende Wesen zu werden, aber unsere Vorfahren aus der Urzeit haben schon damals das Böse in sich gelassen."
"Wenn es nun kein Gut und kein Böse gibt, warum nannte es Kim dann das Reich des Bösen?", fragte Noe.
"Wie hätten wir Würmer ihn sonst verstehen können?", sagte Manola. "Er mußte es uns mit Worten sagen, daß wir annähernd verstehen, was er meint. Leuchtende Wesen gebrauchen keine Worte. Sie verständigen sich durch Gefühle, die nur aus dem Herzen kommen. Deshalb haben Leuchtende Wesen, wenn sie als Menschen zu uns kommen, mehrere Stimmen, - für jedes Gefühl eine andere Stimme. Leuchtende Wesen können sich gegenseitig niemals täuschen, denn Gefühle kannst du nicht unterdrücken."
"Ich konnte es, als ich diese Ausbildung in der Armee genoß", sagte Noe.
"Nein, denn du hattest deinen Haß auf den hohen Herrn gerichtete, was ja der Wahrheit entsprach. Wäre dein hoher Herr ein Leuchtendes Wesen, hätte er deinen Haß gespürt. Die hohen Herren kannst du täuschen, aber ein Leuchtendes Wesen niemals", sagte Manola.
"Wie ist das, wenn man ein Leuchtendes Wesen ärgert und es Sekunden später auf ein anderes Leuchtendes Wesen trifft? Kann es seinen Ärger sofort wieder vergessen?", fragte Noe.
"Leuchtende Wesen werden niemals geärgert. Dort oben herrscht das Paradies und nur Liebe und Frieden und vor allem Toleranz, die wir Menschen nur als Wort kennen", sagte Cora.
"Nicht nur die Toleranz kennen wir nur als Wort, wohl auch diese Liebe und diesen Frieden, den Leuchtende Wesen leben", sagte Noe leise.
"Wird es morgen so weit sein?", fragte Markus zaghaft.
"Übermorgen. Ich habe die Bombe zwar schon, aber die hohen Herren haben morgen einen großen Feiertag und werden nicht im großen Saal zusammen speisen, sondern im Kreis ihrer Familie. Und wir Bodyguards müssen vor ihren Häusern und Wohnungen Wache halten. Ich möchte alle zusammen erwischen, wenn es möglich ist."
"Wie willst du das anstellen, wo du doch immer an der Seite deines Herrn sein mußt?", fragte Julian, Marias Vater.
"Nun, irgendwann muß auch ein Bodyguard auf die Toilette, und die befindet sich im Flur gegenüber des Speisesaals. Zwei Bodyguards werden vor der Tür stehen. Ich werde beide mit einem Hieb k.o. schlagen, wenn ich aus der Toilette komme, und dann muß alles innerhalb einer Sekunde gehen. Ich werfe die Bombe in den Saal, die sofort hochgehen wird, und so schnell ich kann, muß ich wieder in die Toilette zurück, wo ich einigermaßen geschützt bin. Natürlich werde ich die Druckwelle spüren, und es kann auch sein, daß die Wände des Rathauses einstürzen, - was ich nicht hoffe. Man hat das Rathaus ja ziemlich stabil gebaut.
Nun, und wenn die hohen Herren alle umgekommen sind, werden sich auch die Stadträte und die restlichen Bodyguards nicht mehr zur Wehr setzen, sondern fluchtartig die Stadt verlassen. Und ich hoffe, daß sich diese Nachricht wie ein Lauffeuer bis zur Armee ausbreitet und sie den Rebellen die Stadt überlassen. Diese Hoffnung ist zwar nicht sehr groß, aber sie ist da."
"Ihr seid zu wenig, Maria. In den anderen Städten waren es mehr Rebellen, die hatten wirklich eine Chance", sagte Julian.
"Ich weiß, das habt ihr mir in den letzten Tagen schon zu oft gesagt. Auch Tante hat mir die Ohren voll gesungen. Und sie sagte mir auch, daß Kim immer gegen Gewalt war. Sie hoffte dadurch, mich von meinem Vorhaben abhalten zu können. Aber es gibt keine andere Lösung. Die hohen Herren und die Armee kennen nur Gewalt, und wenn sie diese Gewalt auf Schwächere ausüben, muß man zurück schlagen."

Der Tag der Abrechnung war gekommen.
Noe hatte sich umsonst vor Liebesdiensten, die er seinem Herrn erweisen hätte sollen, gefürchtet. Dieser Hohe Herr bevorzugte nur junge, hübsche Frauen.
Noe war aufgeregt, als es Mittag wurde. Er war schon zu lange in diesem Haus, wo man Kims Liebe noch immer spürte. Kim, der alle Menschen liebte, - auch Massenmörder.... Er sagte selbst einmal, daß er sogar den Mörder seiner eigenen Tochter lieben und ihn niemals verurteilen würde. Und wie man in diesem Haus so hörte, sagte Kim immer die Wahrheit, die aus seinem Herzen kam. Noe konnte Kim verstehen. Er wurde von seinem Herren immer gut behandelt, fast wie ein Sohn. Er gab ihm das beste Essen und hatte ihm oft liebevoll auf die Schulter geklopft. Und er nannte ihn Noe, nicht mehr Nummer 587. In den letzten Tagen führten die beiden sogar einige private Gespräche. Noe hörte ein bißchen heraus, daß sein Herr mit dieser Welt überhaupt nicht zufrieden ist. Einmal sagte er sogar, daß schon alle ihre Herzen verloren haben. Aber wie konnte er das mit seiner Tat vereinbaren, als er damals Noes Familie ausgerottet hatte? Noch dazu einen Jungen von 10 Jahren?
Wenn du einmal getötet hast, hast du nichts mehr zu verlieren, - sagte sein Herr auch einmal, und das war erst gestern.
Nein, ganz gefühllos sind sie auch noch nicht, wohl auch nicht die Polizisten der Armee, denn in der Stunde ihres Todes fühlen sie auch, wenn es auch nur Angst ist. Angst ist nichts Schlechtes, denn auch Angst kann dich zum Herzen führen, - hatte Kim einmal gesagt.
Noe war gar nicht wohl dabei, als er die Minibombe in seine Hosentasche steckte. Er wußte nicht mehr so genau, auf was er sich da einließ. Aber Maria hatte ihm Kraft gegeben. Es war ein Für und Wider, aber wir müssen zu Taten schreiten, auch wenn es uns innerlich töten wird. Das hatte er damals selbst zu Maria gesagt, und damit machte er ihr Mut.
Heute morgen haben sie sich verabschiedet, als ob sie sich nie wieder sehen würden. Maria rief ihn dreimal ins Haus zurück, um ihn immer wieder zu küssen. Er spürte noch immer ihren Körper, auf dem er heute Nacht lag.
Er wußte nicht mehr, wie oft sie sich geliebt haben. Aber er war nicht müde, auch jetzt nicht, denn diese Liebe hatte ihm Kraft gegeben, - so wie sie auch Kim immer Kraft gegeben hatte.
Sie hatten sich noch einmal ihre Lieblingssongs angehört. Roads to madness, - Marias Lieblingssong, mit dieser eindringlichen Stimme von Operation mindcrime/ Empire, der Doppel-LP, die damals veröffentlicht wurde, als Kim noch Musiker war, - und seinen Lieblingssong, Keeper of the seven keys, aus der erfolgreichsten LP Kims Karriere.
Sie haben sich auch viele andere Songs angehört, da Noe nie die Gelegenheit gehabt hat, die vielen Stimmen Kims zu hören. Er war ja nur ein Arbeiterkind, und den Arbeitern wurde jedes Vergnügen genommen.
Noe wunderte sich, als ihm Maria die Unmengen CDs zeigte, die Kim mit seiner Band während seiner Karriere aufgenommen hatte. Zeitmäßig kann sich das niemals ausgehen, um so viele Songs so perfekt aufzunehmen, - dachte Noe, und er dachte auch daran, was Manola sagte:
Kim kann man nicht verstehen, - nur bis zu seinem eigenen Horizont....
"Vergiß mich nicht, wenn ich nicht wieder komme. Aber versprich mir, daß dein Stamm niemals ausstirbt", hatte Maria gesagt.
Und sie gab ihm das selbe Versprechen. Einer von den beiden muß also überleben. Und - einer überlebte....

Maria kam mit den Rebellen gerade über den Zaun. Jeder von ihnen hatte schwere Waffen in seinen Händen. Es waren fast Kanonen, die kaum noch Ähnlichkeit mit einem Gewehr hatten.
Vor dem Zaun standen drei Panzerwagen mit Polizisten. Jeder Schuß traf, bevor die Polizisten überhaupt erkannten, was da passierte. Nur einer von ihnen kam durch und fuhr mit einem Wagen in die Stadt, um Verstärkung zu holen.
Es war totenstill, bis auf die leisen Schritte der Rebellen, als sie über die Straße kamen. Noch ein Häuserblock,- besser gesagt, noch ein Ruinenblock, und dann würden sie zur Kreuzung der Straße kommen, die in die Neue Stadt führt.
Maria blickte zur Seite. Dort an der verfallenen Mauer lehnte eine gebückte Gestalt. Es war Angelia. Maria lachte und hob das schwere Gewehr in die Höhe. Sie war sich in diesem Moment des Sieges so sicher.
"Jetzt kämpfen wir für die Gerechtigkeit, Tante", sagte sie, als sie vor Angelia stand.
Angelias Blick war traurig. Sie fühlte, daß sie das Mädchen nie wieder sehen wird.
Die beiden waren Freundinnen. Von klein auf war Maria ihr Liebling gewesen. Aber dann in der Pubertät veränderte sich Maria rapide. Sie wurde hellhörig und sah das Elend im Arbeiterviertel, und dann hörte sie von den verdammten Menschen, die man Rebellen nannte. Maria war immer mutig. Sie hörte nie auf andere, auch nicht auf Angelia, obwohl sie ihr immer vertraute. Maria hörte immer nur auf sich selbst, - auf ihr Herz.
"Geh nicht ins Rebellenviertel. Das sind Menschen, denen man alles genommen hat. Sie haben nichts zu essen und nur wenig Kleidung. Sie werden dich überfallen, und wenn es sein muß, essen sie auch dein Fleisch", sagte Angelia damals.
Aber Maria hörte nicht. Und man tat ihr auch nichts. Sie trug ja den Namen Simon, der alle Menschen weich machte. Und dann nahm alles seinen Lauf. Maria fand Freunde unter den Rebellen und brachte ihnen heimlich zu essen und Kleidung. Sie war aber nicht die einzige, die diesen Mut hatte. Sogar Arbeiter steckten Nahrung durch den Zaun, obwohl sie nur wenig zu essen hatten. Aber Maria war die größte Hoffnung der Rebellen. Von ihr bekam sie auch Waffen, die sie zusammen mit ihrem Onkel Alexander gebaut hatte.
Und dann hatte Maria die Idee, - eine Revolution! Und die fand heute statt, - zusammen mit ihren wahren Freunden, den Rebellen.
"Würde Kim das wollen?", fragte Maria leise. "Er verstand doch immer alles, und so würde er mich doch auch verstehen."
Angelia blickte dem Mädchen liebevoll in die dunklen Augen.
"Er versteht dich, Maria, und du weißt das. Ja, er versteht alles", sagte sie und nahm Maria in die Arme.
Maria spürte die Traurigkeit und mußte sich ruckartig losreißen.
"Wünsche uns Glück!", rief sie und rannte zu ihren Freunden zurück.
Von weitem hörte man die Sirenen und Panzer der Armee.
Angelia lief, so schnell sie konnte, zurück. Sie wollte zu Marias Mutter, zu Marias Familie. Jetzt brauchten sie alle Trost, den sie sich gegenseitig geben konnten.
Angelia sah nicht mehr, daß von drüben, von der großen Grenze der gesamten Stadt, eine Menschenmenge herüber kam. Es waren die Rebellen der westlichen Stadt, die helfen wollten, um auch diese Stadt zu befreien. Auch Maria sah sie nicht mehr, sonst hätte sie ihre Freunde zurück gehalten, und sie hätten zusammen gewartet.
Es war Schicksal, daß es so kommen mußte.

Noes Plan klappte. Der Speisesaal ging mit einer gewaltigen Wucht und einem lauten Getöse in die Luft und riß auch die Mauern des Flurs mit. Die Treppe nach unten stürzte zusammen, aber die Toilette, in die sich Noe in der letzten Sekunde retten konnte, blieb heil.
Er nahm das Gewehr und stürmte in den Flur. Er wollte nicht sehen, wie es im Speisesaal aussah. Er sprang in die Tiefe, - die Treppe war ja nicht mehr vorhanden. Springen konnte er gut, - das hatte er lange genug in der Armee geübt.
Als er auf der Straße stand, sah er am Horizont die Panzer und Wagen der Armee. Es war zu spät. Sie haben nichts von der Bombe im Rathaus gehört.
Noe verließ fluchtartig die Stadt und lief in Richtung Müllhalden. Dort war er sicher. Bis zum Abend wollte er sich dort verstecken. Mit seiner Lederkleidung und dem Vollvisierhelm war er vor Vergiftungen geschützt.
Erst als es dämmerte, wagte er sich aus dem Versteck und blickte zur Stadt. Dort mußte die Hölle los sein. Er hörte die Menschen jubeln und schreien. Der Revolution war gelungen.

Noes Schritte wurden immer schneller. Am Schluß, als er die Rebellen sah und einige von ihnen wieder erkannte, lief er. Seine Augen suchten immerzu Maria.
Er nahm seinen Helm ab, als er in die Stadt kam und hob seine Arme, um den Rebellen zu zeigen, daß er ein Freund ist. Sie verstanden. Aufgeregt boxte er sich durch die Menschenmenge. Es waren auch Arbeiter gekommen, die jetzt zusammen mit den Rebellen die Geschäfte plünderten. Das hatte man ja befürchtet...
Dort drüben stand ein Rebell, den Noe gut kannte, dem er zusammen mit Maria die Waffen übergeben hatte. Er jubelte nicht. Er sah bedrückt aus.
Noe kam langsam näher. Er mußte nur in die Augen des Rebellen schauen und sah auch das müde Kopfschütteln. Maria hatte es nicht geschafft. Schon der erste Schuß eines Polizisten war ihr Tod.
Noe fühlte sich elend, - nur elend und müde. Er konnte in diesem Moment keine Regung zeigen. Er stand nur da und ließ seinen Kopf und seine Arme hängen. Das Jubeln der Menschen hörte er nicht mehr. Es war ihm auch egal, daß sie alle Nahrungsmittel und Vorräte plünderten. Alles war ihm egal.

Als er nach einigen Stunden, wie im Traum, zu Marias Haus wandelte, wußten sie schon Bescheid. Ein Rebell war da und erzählte von der tapferen Maria.
Noe sagte nichts. Er nahm Marias Mutter schweigend in seine Arme und konnte endlich weinen.
Diese Nacht verbrachte er in Marias Zimmer, - alleine, mit den Fotos, die sie so sehr liebte und mit ihrem Lieblingssong, - Roads to madness...
Er wünschte sich so sehr die letzte Nacht zurück, als sie noch glücklich waren und zuversichtlich in die Zukunft schauen konnten.
"Bring sie sicher ins Reich der Toten, Kim. Sie hat es verdient", sagte er leise und legte sich auf das Bett.
In dieser Nacht fand er keinen Schlaf.

Als Noe am Morgen herunter kam, stand der kleine Chris da und blickte zu ihm hoch. Noe hob den Jungen hoch und drückte ihn an sich.
"Erzähle Kim von seiner Urenkelin, wenn du sie siehst", flüsterte er Chris ins Ohr.
Una lehnte am Türstock zum Wohnzimmer. Sie wollte in dieser Nacht weinen, aber sie konnte keine einzige Träne vergießen. Zu sehr besann sie sich auf die Gespräche mit Kim.
"Deine Trauer könnte den Toten von seinem Weg in den Frieden abhalten", hatte Kim einmal gesagt.
Una stand in dieser Nacht lange am Balkon und starrte zum Himmel hoch, wo einst ihre Großmutter gestanden war, als Kim auf der Leuchtenden Welt den Stein der Könige suchte. Man sah schon lange keine Sterne mehr, aber in dieser Nacht fühlte Una einen ganz besonderen Stern, und in manchen Momenten war ihr, als ob er genau über ihr funkeln würde.
"Wie kann es für diese Welt einen Gott geben?", hörte sie Noe fragen, der den kleinen Chris wieder auf den Boden stellte und langsam auf sie zukam.
"Ich erzähle dir von einem Gespräch mit Kim. Vielleicht verstehst du dann", begann Una. "Es war eines der letzten Gespräche, die ich mit Kim geführt habe, bevor er die Erde verließ.
Ich wollte wissen, wer Gott für mich ist. Kim sah mich zuerst nur an, und dann setzte er dieses geheimnisvolle Lächeln auf, das eigentlich keine weiteren Fragen duldete. Aber ich gab nicht nach und sagte, daß ich doch nur über meinen Gott in meinem Herzen etwas wissen will. Kim fragte mich, ob ich an Gott glaube. Natürlich glaube ich an Gott. Kim fragte mich, warum ich an Gott glaube. Ich sagte, daß es nun mal einen geben muß, sonst wäre das Universum nicht erschaffen worden, denn von nichts kann nichts kommen. Kim lächelte und sagte, - alles ist möglich, denn auch aus dem Nichts kann alles entstehen. Ein plötzlicher Knall aus einem plötzlich entstandenen Kraftfeld, und schon war das Universum da.
Ich sah Kim entgeistert an und fragte, wie er nur an so etwas glauben kann, wo er doch selbst in Gott gebadet hat. Kim sagte, daß ich ihn nach meinem und nicht nach seinem Gott gefragt habe.
Meinst du, daß ich keinen Gott in meinem Herzen habe?, - fragte ich, und Kim sagte, - jeder hat einen Gott in seinem Herzen, auch wenn dieser Gott das Nichts ist, ist er trotz allem ein Gott.
Ich fragte Kim, wie mein Gott aussieht.
Nenne ihn einfach Leben, - sagte Kim, - Leben ist Kraft, die dich atmen, dich bewegen läßt, - mit der du dein Herz auftanken kannst. Leben ist Energie, - und Energie kann niemals sterben, - sie verändert sich nur, aber sie wird niemals vergehen. Es ist etwas Wunderbares, - das Leben in dir, - es ist etwas Göttliches.
Ich fragte, wo mein Gott ist, wenn ich sterbe.
Dann nennst du ihn einfach Tod, - sagte Kim und lächelte.
Er sah meine Verwirrtheit und sprach weiter: - Ich sehe dein Herz und weiß, daß du früher, oder später deinen Gott von selbst gefunden hättest. Aber ich sehe auch Zweifel in dir, und das ist dein Fehler. Du darfst niemals an dir selbst zweifeln, sondern mußt ganz fest an deine Gefühle in deinem Herzen glauben. Was andere glauben und wissen, ist für dich nicht real, sondern nur das, was du selbst fühlst, siehst, glaubst und träumst. Das ist dein Herz, und dann wirst du auch deinen Gott finden. Vielleicht brauchst du in dem Sinn Gott nicht als höheres Wesen, denn das Leben in dir ist auch genug. Und später ist es eben der Tod, wo du alleine durch mußt, und wo dir wirklich niemand mehr sagen kann, was du glauben, wissen, sehen und träumen sollst. Dann wird niemand da sein, der dich in den Tod führt, außer du selbst. Zu viele Menschen glauben an das, was ihnen andere sagen und wohl auch an den falschen Gott. The God that failed, - ein Song, den ich mit der bösartigen Stimme von ...and justice for all aufgenommen habe, - das könnte dir dann auch passieren. Du wartest auf die heilende Hand, die dir versprochen wurde, aber dann siehst du, daß sie sich nicht auf dich zubewegt, sondern noch immer blutig ans Kreuz geschlagen ist. Das ist der Gott eines anderen, - das ist nicht deiner, Una. Und doch ist es auch ein Gott, den du aus Toleranz zulassen mußt. Aber nicht für dich, sondern für andere, die wirklich daran glauben.
Das sagte Kim zu mir. Es war niemals leicht, ihn zu verstehen, auch wenn er uns aus dem Herzen gesprochen hat. Aber heute glaube ich, ihn verstanden zu haben, und heute weiß ich, daß das Leben und der Tod beides göttliche Kostbarkeiten sind. Und gerade deswegen konnte ich heute Nacht nicht weinen, - nicht über Marias Tod. Sie wollte nur eines, nämlich die Freiheit der Arbeiter und Rebellen, und das ist eingetroffen. Egal, ob sie nun lebt, oder tot ist, das war ihr Traum, und er hat sich erfüllt.
Vielleicht ist dein Gott auch das Leben und der Tod, Noe. Ich kann es dir nicht sagen, denn finden mußt du ihn selbst."
Noe nickte schwach. Er hatte nun fast zuviel über Kim gehört und mußte das alles erst einmal verdauen. Ein bißchen verstehen konnte er schon...

Noe verließ schweigend das Haus. Für ihn gab es hier nichts mehr, was ihn wieder zurück führen würde. Marias Liebe und Kims Geheimnis hatte er ja in seinem Herzen.
Jetzt wußte er noch nicht, daß aus seinem Stamm einmal Michael hervor gehen wird, der die letzten Menschen anführen und Kim sehen wird, wie er mit Chris auf die Leuchtende Welt zurück geht. Ja, Noe wird sein Versprechen halten und mit einer Frau ein Kind zeugen. Es wird ein Mädchen sein, - Maria.

Der kleine Chris konnte Marias Tod noch nicht begreifen. Er war noch zu klein. Wenn er alt genug sein wird, wird ihm sein Großvater alles erzählen, und dann wird er auch dieses Foto bekommen, mit dem Autogram von Kim, und dann wird sein Großvater sterben.
Zwei Jahre später werden Manola, Jochen, Cora und Markus sterben.
Die Städte werden frei sein. Kaum etwas wird einmal darauf hinweisen, daß es hier einmal Städte gegeben hat. Nur mehr vereinzelt werden Häuser stehen, und man wird auch nur mehr vereinzelt Nahrung finden.
Kims Familie hatte immer Glück. Sie wurden zwar nicht so alt, wie seine Töchter und Schwiegersöhne, und Angelia und Angelo, aber sie mußten nie hungern und frieren.
Und dann, wenn Kims Blut nur mehr ganz dünn in den Adern seiner Nachfahren fließt, wird sich Chris, mit Michael, auf den Weg machen, um immer weiter in den Norden zu wandern, wo das Land noch nicht so vergiftet ist. Dann werden sie bis ans Ende der Welt gehen. Wo ist das Ende der Welt? Die Welt ist doch rund, also kann es kein Ende geben. Oh, doch, wenn es nur mehr wenige Menschen gibt, die keine Hoffnung mehr haben, dann müssen sie bis ans Ende der Welt gehen, denn Zurück kann es keines mehr geben, da das Land hinter ihnen verseucht und ausgenutzt sein wird. Sie werden immer weiter wandern müssen, um noch ein bißchen Nahrung zu finden, - und einmal wird dann das Ende da sein, wo es kein Weitergehen mehr gibt.
Aber so weit wird es nicht kommen, denn ein roter Wolf wird diesen Menschen Kraft geben. Ein roter Wolf, der sich opfern wird. Am Heiligen Abend wird er wie ein Engel erscheinen und die Welt retten.

Ende

Antworten

Sterne fallen nur nachts vom Himmel (K) � � Tibor (K)