Sterne fallen nur nachts vom Himmel


„Rückwärts einparken!“ – „Kann mal jemand ans Telefon gehen?“ – „Stell die Schachtel bitte auf den Tisch.“ – „Gestern stand da doch noch ein Baum.“ – „Hast du die Schlüssel eingesteckt?“ – „Ich hab vergessen Salat einzukaufen.“ – „Morgen komm ich dich wieder besuchen.“ – „Wir müssen noch einmal über die Straße, dann sind wir da.“

In unkontrollierter Reihenfolge dringen die Stimmen ans Ohr. Bilder wechseln sich traumartig ab. Nur eines deutet auf eine mögliche Realität, - die Wand hinter dem Rücken und der Boden unter den Füßen. Aber nicht einmal das ist ganz sicher. Manchmal gibt der Boden nach und öffnet sich über einen endlosen Abgrund. Dann ist wieder Fallen angesagt; ein unendlich langes Fallen, bis die Bilder und Stimmen verschwinden. Die Königin der Leere thront unerbittlich auf ihrem Stuhl aus Menschenknochen und lächelt eiskalt, obwohl der Schweiß aus allen Poren dringt. Aufwachen gibt es nicht. Anfangs war noch die Angst da. Jetzt, nachdem sich ständig Leere und Chaos abwechseln, gibt es nur noch Hoffnungslosigkeit.

Was passiert, wenn Bedeutungslosigkeit bewusst erkannt wird? Was, wenn ich weiß, dass mich niemand braucht, niemand an mir interessiert ist und Interesse nur vorgegeben wird, um sich selbst Bedeutung zu geben? Jeder und alles kann ersetzt werden. Der oder die Einzelne ist nicht wichtig.
Es sagt sich so leicht: „Nimm dich nicht wichtig!“ Wenn es aber wirklich bewusst wird, wenn ich erkenne, dass ich mutterseelenallein im Nirgendwo stehe und nicht einmal mehr weiß, ob ich stehe, liege oder sitze, dann – ja, dann bricht alles auseinander und wird nie wieder zusammengefügt.

Schneegestöber mitten im Sommer. Kinder tollen im Winter im Schwimmbad herum und springen vom Turm auf das Eis, das plötzlich bricht und einen Vulkan auslöst. Die Mutter bringt den kleinen Bruder heim und stellt das Essen auf den Tisch. Der Frühling färbt die Blätter bunt und der Herbst bringt alles zum Blühen. Wenn es doch nur so einfach wäre. Aber ganz so ist es nicht. Manchmal färbt auch der Herbst die Blätter bunt und plötzlich, von einem Moment auf den anderen ist Sommer oder Winter oder vielleicht auch Frühling, wo es noch immer schneit. Und die Mutter bringt den Vater heim und legt ihn in das Gitterbett wie den kleinen Bruder.

Nur Beobachter sein. Es gibt keine Sprache mehr. Wer würde das auch verstehen? Es ist auch gar nicht sicher, ob das alles auch wirklich genauso passiert. Jemanden fragen? Wozu?
„Stellt mal bitte wieder die Realität ein, die ich gewohnt bin.“
Gewohnheiten gehören verändert. Alles verändert sich. Nichts bleibt wie es einmal war. Aber - um Gottes Willen – nicht so schnell!
Gott? Es gibt nur mehr Gottlosigkeit. Selbst der Teufel hat sich verabschiedet. Keine Gegensätze mehr. Trennung ist Illusion. Es ist alles Eins.

Eins! Wenn ein Bild in das andere übergeht. Wenn eine Stimme die andere übertönt und plötzlich alle Stimmen zu einer einzigen werden. Mit den Bildern ist es das Selbe. Aber der Verstand macht da nicht mehr mit.
Verstand ist unwichtig. Man muss über ihn hinausgehen.

Wir werden unmenschlich, wenn wir uns auf all das einlassen. Nur – was ist menschlich? Es gibt nichts Menschliches. Das ist nur ein Wort, wie es viele Wörter gibt, die keine Bedeutung haben.
Da ist es wieder, dieses Wort: „Bedeutung.“ Nichts hat Bedeutung.
Anfangs hat es wehgetan. Dann kam die Angst. Und dann war da nur noch Hoffnungslosigkeit.

Wissen kann niemand abstellen. Wenn ich weiß, dass ich unwichtig und bedeutungslos bin, gibt es kein Zurück mehr. Loslassen ist ein schwerwiegender Prozess der nur in den Wahnsinn führt. Wie bewundernswert sind sie, diese Menschen, die tagtäglich aufstehen, zur Arbeit gehen, nach Hause kommen, sich an den gedeckten Tisch setzen, zu Abend essen und ohne einen Gedanken an die Welt zu verschwenden, zu Bett gehen, um morgens wieder aufzustehen. Sie fragen sich nicht einmal, ob es wirklich einen Gott oder einen Teufel gibt. Es ist eben so, dass man sonntags in die Kirche geht und wochentags wird gearbeitet, um Geld zu verdienen.
Nicht einmal im Osten schert sich jemand um Illusionen oder die Einheit von allem. Dort wird dem Westen nachgeeifert und Profit gescheffelt.
Beneidenswert und bewundernswert diese Kleingeister!

Vielleicht ist ja doch alles Bestimmung? Aber so sehr den Verstand zu verlieren kann doch niemals geplant sein! Ist es auch nicht. Es ist der Wunsch anders zu sein als alle anderen. Das wäre ja nun erreicht.

Der Boden kommt wieder näher und berührt die Füße. Oder nähern sich die Füße dem Boden? Es ist nicht mehr einfach, das Gleichgewicht zu halten, wenn es keine Unterschiede mehr gibt. Links und rechts ist ein und das Selbe; ebenso wie schwarz und weiß, gut und böse oder schön und hässlich.
Jemand sagt: „Das Leben ist schön.“ Wie das, wenn nicht einmal mehr die Hoffnung existiert?
Traurig? Nein, weder traurig noch fröhlich! Hier regiert die Königin der Leere, an der das Bewusstsein vorüberzieht, als gäbe es kein Morgen.

Tag und Nacht wechseln sich viel zu schnell ab, als dass sie bemerkt werden würden. Jahre vergehen spurlos und hinterlassen keine gegangenen Wege. Nur manchmal kommen sie noch, die unzähligen Bilder und Stimmen. Ansonsten thront sie stolz auf ihrem Stuhl aus Menschenknochen und blickt stoisch ins Nichts. Der bodenlose Abgrund kümmert sie nicht mehr. Wenn ihr jemand einen kleinen Ball zuwirft, prallt er von ihr ab. Keine Außenwelt mehr. Keine Innenwelt mehr. Von der Einheit eingeschlossen. Es könnte aber auch sein, dass sie die Einheit umschließt, ohne dies wahrzunehmen.

Es gibt nur Therapeuten, die ins Leben zurückführen können. Therapeuten, die aus der Einheit ausbrechen, um zu ihr vorzudringen, gibt es nicht. Wahrscheinlich würde sie es auch nicht mehr zulassen, jetzt, wo sie sich von allen anderen unterscheidet. Ja, sie ist die Einzige, die sich von der Einheit unterscheidet. Sonst ist alles gleich, alles eins.

Es war nur ein Traum, als sie eines Nachts in den Wald ging und seltsame Wesen sah, die ihr Angst machten. Vor einem alten Baum saßen sie und murmelten Zauberformeln. Und irgendwo in einem hohen Gebäude gab es eine Konferenz, wo in einer Ecke heiße Maroni verkauft wurden. Ihre einstige Nachbarin verkaufte sie an berühmte Kunden, während sie, die spätere Königin der Leere, ihren Kater in den Armen hielt. Noch dachte sie an die seltsamen Wesen im Wald; in jenem Wald, der gleich ans hohe Gebäude grenzte. Die Wesen waren braun und hatte faltige Haut am ganzen Körper. Sie waren nicht groß, aber ihre Zähne, die man beim Murmeln der Zaubersprüche sehen konnte, sahen spitz und furchterregend aus. Plötzlich bat die Nachbarin sie, ihr beim Einpacken der Maroni zu helfen. Sie ließ ihren Kater auf den Boden und dachte erst später, dass sie ihn nicht auf die Straße lassen darf. Kunden standen Schlange vor der Maronibude und einer beschwerte sich, warum das so lange dauert. Die Nachbarin weinte und die spätere Königin der Leere ging ihren Kater suchen, der sich sicher verlaufen hatte. Im Wald sah sie etwas Schwarzweißes liegen, das wie ihr Kater aussah, aber es war ein kleiner Hund, der verletzt war. Warum half ihm niemand? Sie konnte nichts tun, als nur ihn vom Boden heben und in das hohe Gebäude tragen, in dem ein Tumult ausgebrochen war, weil das mit den Maroni noch immer zu lange dauerte. Die Nachbarin weinte noch immer und sie, die spätere Königin der Leere, ging zu ihr um sie zu trösten.

Träume dieser Art gab es viele, bevor sich ihr Wunsch erfüllte, anders zu sein als alle andere. Sie waren die Vorboten, als sie sich mit dem Loslösen und dem Gedanken, sich nicht mehr wichtig zu nehmen, beschäftigte. Es gab damals keinen anderen Weg, weil ihr das Leben, wie es nun mal war, nicht mehr gefiel. Überall nur Krankheiten und viel zu viele alte Leute, die nur mehr aufs Sterben warteten. In den Nachrichten gab es laufend Schreckensnachrichten über sintflutartige Regenschauer und Erdbeben. Wie könnte man sich da auf den nächsten Tag freuen?
Aber die anderen Menschen waren ihr damals schon egal, weil sie wusste, dass sie niemandem helfen kann. Für Spenden hatte sie kein Geld. Und wer weiß schon, ob Spenden dort ankommen, wo sie nötig sind?
Es war viel mehr die Angst um sich selbst, die damals noch vorrangig war, obwohl sie sich täglich mehrmals diesen Spruch aufsagte: „Freiheit ist die Abwesenheit der Sorge um sich selbst.“ Das hatte sie in einem ihrer Lieblingsbücher gelesen, die sie auf den Gedanken brachten, sich von allem zu lösen und sich nicht mehr wichtig zu nehmen.

Jetzt gibt es nichts mehr zu tun. Niemand muss wirklich lernen, nichts zu tun, da dies der natürliche Zustand ist. Aber wer würde das glauben? In das menschliche Bewusstsein ist eingeprägt, dass stets alles in Bewegung ist. Alles fließt. Das kann nur einer gesagt haben, der nicht wirklich „sehen“ kann. Denn wer „sieht“, weiß, dass alles Stillstand ist und es in Wirklichkeit nie Veränderungen geben kann.
Jetzt, als Königin der Leere, die erhaben auf ihrem Stuhl aus Menschenknochen thront, weiß sie das. Stolz lächelnd hält sie die Einheit in ihrer rechten Hand. Die linke Hand hält den Zauberstab, in dem die Zaubersprüche der seltsamen Wesen eingeprägt sind. Man darf sie nie herauslassen, sonst fügt sich alles wieder zusammen, was einst auseinander gebrochen ist. Ab und zu fliegen einige Bruchstücke in die Leere, aber sie ist stark genug, um sie nicht mehr wahrzunehmen. Jetzt ist sie frei!

In der Freiheit ist alles möglich. Ein am Horizont verharrender Drache, der Feuer speit. Das Feuer verleiht der Leere ein Spektrum von gelbem bis rotem Licht, das wie Farbe ineinander verrinnt. Die Königin der Leere hebt ihren Zauberstab und schwebt dem Drachen aus uralter Vorzeit entgegen.

Als kleines Mädchen hatte sie die Gabe, sich in alles, was sie sich vorstellte, zu verwandeln. Einmal war sie ein schwarzes Pferd, das mit ihren Eltern spazieren ging. Sie blickte an sich herab und sah die schlanken Fesseln, wie sie elegant dahin schritten, und sie spürte, wie die lange, schwarze Mähne im sanften Wind wehte. Damals liebte sie Pferde.

Nun aber, wo sie die gewöhnliche Welt hinter sich gelassen hat, beginnt sie sich für Drachen zu interessieren. Die Königin der Leere schafft sich eine neue Welt mit all den Tieren, die schon längst ausgestorben sind. Direkt neben ihr schwebt ein Einhorn mit breiten Flügeln. Phönix schien sich aus Asche zu erheben, aber da war nichts, wovon er sich erheben könnte. Er glitt ganz einfach aus dem Zauberstab, den die Königin der Leere nur einmal kurz schwenkte. Den Zauberspruch hielt sie noch im Stab gefangen. Noch war es nicht so weit, die Einheit auf ihre eigene Welt los zu lassen.
Der Feuervogel gesellt sich zum Drachen, der noch immer am Horizont wie eine leblose Statue verharrt. Er wartet nur auf die Königin der Leere, die auf ihn zuschwebt und sich auf deinen Rücken setzt. Erst dann fliegt er los. Ihm folgen das fliegende Einhorn und der Feuervogel. Doch die neue Armee ist noch nicht vollendet. Die Königin lacht laut. Es ist das erste Geräusch in der Leere – ein fröhliches Lachen, das alles ansteckt. Es ist eine Fröhlichkeit ohne Gegensatz. Die Gegensätze gibt es nicht mehr und es wird sie auch nie wieder geben. Die Königin, die sich in eine edle Drachenreiterin verwandelt hat, lässt Gegensätze nicht zu.

Die Einheit in ihrer rechten Hand zeigt manchmal Risse, als möchte jemand oder etwas zu ihr durchdringen. Jetzt kennt sie wieder das Lachen, das jedoch zu einem neuen Lachen geworden ist. Früher war ihr Lachen nur ein Lachen, um nicht zu weinen. Und wenn sie früher weinte, weinte sie, um nicht zu lachen. Das ist jetzt vorbei. Jetzt gibt es nur das Lachen und die Fröhlichkeit und den Flug durch eine neue Welt, die durch nichts mehr zerstört oder verändert werden kann, außer, wenn sie es will. Sie hat die alleinige Macht. Das Lachen lässt die Risse in der Einheit einfach verschwinden.

Tiere! Die Leere soll angefüllt werden mit lauter Tiere, von denen einige sprechen können, ohne laute Worte zu gebrauchen. Es sollen Tiere sein, die keine Nahrung brauchen, die immer satt und glücklich sind. All das ohne jemals Gegensätze zu kennen.
Die edle Drachenreiterin erschafft ein neues Bewusstsein!

„Als Kind hat sie sich mit unsichtbaren Gestalten unterhalten. Das konnte sie stundenlang und brauchte nie andere Kinder.“
„Nun ja, als Kind ist das gewissermaßen normal.“
„Aber sehnen sich Kinder nicht nach anderen Kindern?“
„Einzelkinder, vor allem, wenn sie sehr behütet sind, unterscheiden sich sehr von Kinder mit Geschwister. Das Problem liegt jetzt aber woanders, denn mit 35 ist sie kein Kind mehr.“
„Die Fantasie ist ihr geblieben. Sie hat immer gerne gezeichnet und gemalt. Und sie hat viele Geschichten geschrieben, die aber kaum jemand verstanden hat. Ihre Ansichten, die sie an den Tag gelegt hat, waren auch nicht gerade normal.“
„Ja, wahrscheinlich hat sie sich jetzt in eine Fantasiewelt geflüchtet, aus der sie alleine nicht mehr heraus kommt. Wir haben alles versucht. Gespräche fruchten nicht, weil sie nicht zuhört und auch Medikamente zeigen keine Wirkung.“
„Ich würde sie gerne sehen.“
„Das halte ich momentan für keine gute Idee.“
„Was tut sie den ganzen Tag? Schläft sie wenigstens in der Nacht?“
„Tagsüber lehnt sie bewegungslos an der Wand in ihrem Zimmer. Sie steht von selbst auf. Und abends bringen sie Schwestern ins Bett. Das lässt sie widerstandslos zu. Leider nimmt sie keine Nahrung zu sich, weshalb wir sie intravenös ernähren müssen. Wir befürchten nur, dass sie das nicht mehr lange durchhält.“
„Mein Gott, sie war schon immer so dünn. Dann hat sie jetzt noch mehr abgenommen.“
„Warum ich Sie zu mir gebeten habe, ist, ob sie mir vielleicht sagen können, ob Ihre Tochter irgendein Erlebnis nicht verdauen konnte. Ist irgendetwas passiert?“
„Sie hat sich uns nie wirklich anvertraut. Wie gesagt, anders war sie schon immer. Das haben auch die Lehrer in den Schulen festgestellt. Sogar in der Kunstgewerbeschule, wo ohnehin viele Verrückte herumlaufen, ist sie aufgefallen. Ach ja, sie hat Haschisch geraucht, - aber nicht lange. Vielleicht ist da etwas zurück geblieben?“
„Wie lange hat sie geraucht?“
„Keine Ahnung. Als wir sie einmal erwischten, hat sie uns geschworen, es nie wieder zu tun. Damals war sie so um die 17. Nach der Schule bekam sie einen Job als Schaufensterdekoratörin einer großen Firma. Nach vier Jahren hat sie den Job geschmissen, weil sie nicht mehr so viel unterwegs sein wollte. Sie hat einen Servierkurs gemacht und ist auf Saison gegangen. In den letzten zwei Jahren hat sie nichts mehr getan und bei uns gewohnt. Na ja, sie hat viel gemalt und viel geschrieben und ist kaum aus ihrem Zimmer gegangen.“
„Haben Sie sie nie gefragt, was sie weiterhin machen will?“
„Sie meinte, sie wird wieder auf Saison gehen, weil das Geld bald ausgeht. Nun ja, und dann, eines Morgens haben wir sie im Badezimmer mit aufgeschnittenen Armen gefunden. Es war so schrecklich…“
„Gab es nichts, das darauf hin gedeutet hat?“
„Nein, wirklich nicht. Sie war wie immer. Sie war nun mal sehr ruhig und hat wenig gesprochen. Sie hatte auch keine Freunde oder Freundinnen. Von Männerbekanntschaften weiß ich überhaupt nichts. Abends ist auch nie ausgegangen. Eines weiß ich, - sie liebte Tiere. Vor einem Jahr ist ihr ein Kater zugelaufen, den sie mit nach Hause genommen hat. Er war ihr Liebling, der sogar bei ihr Bett geschlafen hat. Und jetzt sucht er sie überall…“
„Nun, wir werden sehen, was wir tun können. Danke für das Gespräch.“
„Bitte, Herr Doktor, tun sie alles, damit unsere Tochter wieder gesund wird.“
„Wir werden uns bemühen, aber sehen Sie, - wenn ihre Tochter nicht mitmacht, gibt es nur mehr sehr wenig Hoffnung.“

Die edle Drachenreiterin bekommt von alldem nichts mit. Ihr Lachen glättet die Einheit, als sie nur kurz kleine Risse aufweist. Stolz hockt sie auf ihrem Drachen, der eine unbestimmte Farbe hat. Flüsternd weist sie ihm den Weg, als er seine riesigen Flügel ausbreitet. Flankiert vom fliegenden Einhorn und dem Feuervogel rasen sie durch die Leere. Nur ganz langsam manifestieren sich hinter ihnen Löwen, Tiger und Wölfe, - alle mit Flügel ausgestattet, um mit den vielen Vögeln, - darunter Adler, Falken und Geier - mithalten zu können.
Die einstige Königin der Leere hat nun ein ganz bestimmtes Ziel. Sie weiß, irgendwo in der unendlichen Leere wartet jemand auf sie.

Lange Zeit existierte absolute Dunkelheit. Es brauchte Zeit, um den Richtungswechsel zu erkennen. Erst dann drängten sich kurz einige Lichtstrahlen in das Dunkel. Vorsichtig lernte er zu gehen und durchstreifte bald die Höhle, die ab und zu von Blitzen erhellt wurde. Es war eine wunderschöne Höhle, mit Tropfsteinen, die alle möglichen Farben aufwiesen. Der Weg war eben, nur auf der linken Seite plätscherte ein unterirdischer Bach, dessen Wasser so köstlich war, dass er ab und zu davon trank. Lange Zeit wanderte er durch die Höhle, bis es langsam immer heller wurde. Die Dunkelheit war gebrochen. Nun konnte er die ganze Pracht des Inneren erkennen und ließ seiner Fantasie freien Lauf.
Irgendwo hörte er lautes Atmen und Feuer strömte ihm entgegen. Die Wärme tat gut. Furchtlos schritt er weiter, bis er an eine Abzweigung kam. Dort lauschte er auf das Atmen und folgte ihm. Er ging nicht lange, bis er auf einen riesigen Drachen stieß, dessen Augen ihn liebevoll anblickten. Der Drache schien sogar zu lächeln. Intuitiv streichelte er ihm über die breiten Nüstern und setzte sich auf seinen Rücken. Der Drache bewegte sich schnell und bald hatten sie die Höhle verlassen.

Die edle Drachenreiterin, mit ihrem Gefolge, hat den Höhlenausgang bereits erspäht, als ein Drache, mit Reiter, ihn verlässt. Sie verweilt in dem wundervollen Anblick, als der riesige Drache – wohl um ein Drittel größer als ihrer – seine breiten Schwingen ausbreitet und auf sie zufliegt. Der Reiter auf ihm nickt ihr zu. Sie erwidert das Nicken. Worte sind nicht mehr nötig. Beide wissen, wohin die Reise geht. Sie setzen ihren Flug fort, bis sie im Nichts auf ein überdimensionales Tor stoßen. Der Flug muss nicht abgebrochen werden, denn das Tor schwingt langsam auf, dass sie direkt hindurch fliegen können. Es ist das Tor in eine andere, in eine neue Welt.

Aus dem Sanatorium werden zwei Särge getragen. In einem liegt die Frau, die vor drei Wochen einen Selbstmordversuch begangen hat. Im anderen liegt ein junger Mann, bei dem bereits als Kind starker Autismus diagnostiziert wurde. Er verließ nie sein Zimmer, bis auf gestern, als er wie ferngesteuert in das Zimmer der 35jährigen Frau ging und sich neben sie auf den Boden setzte. Eine Stunde später waren beide tot.
Die Mutter der Frau steht am Ausgang und weint. Sie ist flankiert von den Eltern des jungen Mannes, der nur 25 Jahre alt wurde. Wenn sie nur wüssten, dass für ihre Kinder gerade jetzt eines ihrer größten Abenteuer beginnt…


Vor ihren Augen erheben sich schwarze, überdimensional hohe, schroffe Felsen. Ysil, so der Name der edlen Drachenreiterin, befürchtet kurz, mit ihrem Drachen an den Felsen zu zerschellen. Aber steil schwingt er sich nach oben. Jetzt sieht Ysil eine Stadt, die in die Felsen gebaut wurde. Erst, als sie näher heran fliegen, erkennt sie, dass die Stadt nur ein Gemälde ist, das dreidimensional erscheint, - so wie einst die Welt, in der sie lebte und an die sie sich kaum noch erinnert.
Bela, so der Name des edlen Drachenreiters, taucht neben ihr mit seinem schwarzen Drachen auf. Beide nähern sich den Felsen, auf denen die dreidimensionale Stadt gemalt wurde. Die Bilder verändern sich nicht wirklich und doch – auf einmal scheint die Stadt aus lauter Höhleneingänge zu bestehen. Elegant tauchen die beiden Drachen, mit ihren Reitern, in einen der Höhleneingänge ein. Zuerst ist es eng dort drinnen. Die Drachen legen ihre Flügel an, wodurch ihr Flug noch schneller wird. Ysil und Bela wird leicht schwindlig. Sie schließen die Augen. Als sie spüren, dass ihre Drachen einen Boden berühren und still stehen, öffnen sie die Augen wieder.
Sie befinden sich in einer riesigen Halle, deren Boden und Wände wie Gold glänzt. Säulen und mächtige Statuen zieren die Halle. Statuen, die einstigen Wesen gelten, - einige sind halb Mensch, halb Tier. Ysil lächelt verzückt, als sie ihren Feuervogel darunter entdeckt, unter dessen ausgebreiteten Schwingen menschliche Arme und Hände zu sehen sind. Auch Pegasus, der geflügelte Hengst, steht aufgebäumt neben einer mit Rosen geschmückten Säule. Eine Herde Einhörner säumt grasend einen riesigen Thron, den Ysil und Bela erst jetzt ausmachen können. Er steht vor der Schmalseite der Halle, unter einem riesigen Fenster aus buntem Glas, durch das seltsam flackerndes, rötliches Licht scheint, als würde es außerhalb der Halle eine Feuersbrunst geben. Ehrfürchtig blicken Ysil und Bela auf die Gestalt, die von dem kunstvoll verzierten Thron auf sie hernieder starrt. Seine Augen scheinen von innen heraus zu brennen, obwohl sie nicht rot sind, aber doch eine unwirklich erscheinende grelle Farbe haben. Türkis leuchtend, wie ein Korallenmeer, glitzern sie um die großen Pupillen. Die beiden Drachenreiter steigen von ihren Tieren und nähern sich langsam dem Thron. Noch können sie nicht ausmachen, ob es sich bei der Gestalt um einen Mann oder um eine Frau handelt, erscheint sie ihnen doch viel mehr androgyn. Ihr Haar reicht bis zum Boden, sogar bis über die Treppen des Throns hinab und ist tiefschwarz, fast bläulich schwarz. In ihm tanzen kleine silberfarbene Sterne. Es sieht aus, als würden die Sterne ständig von dem breiten Diadem, auf ihrem Haupt, herabregnen. Der zierliche und doch muskulöse Körper wird von einem kunstvoll gewickelten türkisfarbenen und in sich gemusterten, mit Goldfäden durchwobenem Stoff, umhüllt. Nur die Arme, an denen sich harte Muskeln abzeichnen, sind zu sehen – und die Hände, die ruhig auf den Lehnen des mächtigen Throns liegen. Es sind Hände, wie gezeichnet – zart, mit langen, schlanken Fingern, die allesamt mit kostbaren Ringen geschmückt sind. Nur zögernd wagen es Ysil und Bela, wieder auf das Gesicht der Gestalt zu sehen, als sie die Stufen zum Thron erreicht haben. Die Einhornstatuen um den Thron scheinen zurück zu weichen und senken ergeben ihre gehörnten Köpfe.
Die Gestalt lächelt sanft, was ihr mädchenhaftes Gesicht noch schöner macht. Ysil spürt ihr Herz bis zum Hals klopfen, und Bela zittert leicht neben ihr. Beide wagen nichts zu sagen, bis die Gestalt ihre Stimme erhebt, die nicht außerhalb zu sein scheint, sondern in den Körpern der beiden Drachenreiter widerhallt.
„Seid willkommen in der Halle der Urahnen!“
Die Stimme streichelt beide in ihrem Innern. Sie ist zwar tief, könnte aber durchaus auch zu einer Frau gehören.
„Es ist schon lange her, seit ich das letzte Mal Besuch bekommen habe.“
Ysil findet als erste ihre Stimme wieder: „Wir wissen nicht, wie wir hier her gekommen sind.“
Die Gestalt lächelt abermals.
„Ich weiß“, taucht die Stimme wieder in die Körper Ysils und Belas ein. „Kein Wesen weiß jemals, wie es irgendwohin gekommen ist. Es passiert ganz einfach. Auch ich weiß nicht, wie ich hier her gekommen bin. Mag sein, weil es schon zu lange her ist, als ich mich in diese Halle und auf diesem Thron wieder fand.“
„Ich glaube, wir sind tot, aber so genau kann ich mich nicht erinnern“, findet auch Bela seine Stimme wieder.
Die Gestalt lacht hell auf und kitzelt im Innern die Körper der beiden, woraufhin auch sie lachen müssen.
„Nein, nein, - den Tod gibt es nicht. Das ist nur eine alte Mär der Menschheit, weil sie sich nicht erklären können, was mit den Menschen geschieht, die sich plötzlich nicht mehr bewegen, nichts mehr sagen und sich langsam auflösen. Alles nur Schein! Die Wirklichkeit sieht anders aus. Selbst all das hier“, die Gestalt hebt ihre Arme und breitet sie aus, als würde sie die gesamte Halle umarmen wollen, „ist nur Schall und Rauch.“
„Was ist die Wirklichkeit?“, will Ysil wissen.
„Das, meine Liebe, weiß niemand.“
„Wenn du aber sagst, dass die Wirklichkeit anders aussieht, dann…“
„Wirklichkeit verändert sich nicht“, unterbricht die Gestalt Ysil, „aber all das hier verändert sich ständig. Und nicht nur das, denn all das hier ist nur eine Fassade, hinter der sich wieder eine Fassade verbirgt und selbst hinter dieser Fassade verbergen sich wiederum unzählige Fassaden. Auch wir sind nichts anderes als Fassaden, bedingt durch das Bewusstsein und die Energie.“
„Ich verstehe nicht, was du sagst. Kannst du das genauer erklären?“ fragt Bela.
„Erklärungen sind hier falsch am Platz“, sagt die Gestalt und erhebt sich vom Thron, um anschließend langsam, fast majestätisch, die Treppen hinab zu schreiten.
Ysil und Bela staunen, denn die Gestalt ist gut um zwei Köpfe größer als Ysil und einen Kopf größer als Bela, obwohl Bela schon 1,90 misst.
„Die Wirklichkeit bekommen wir nicht zu fassen“, spricht die Gestalt weiter, als sie vor den beiden Drachenreitern steht. „Ich könnte sagen, alles ist Wirklichkeit, weil alles aus einer einzigen, unendlichen und ewigen Energie hervorgeht, - und doch wäre es falsch.“
„Ich habe einmal gehört, dass ein Tropfen Meerwasser dieselbe Qualität hat, wie das gesamte Meer“, sagt Ysil und blickt ehrfürchtig zur Gestalt hoch, deren langes Haar wie ein schwarzblauer Schlepp die Treppen herab wallt.
„Mag schon sein, dennoch hat ein Tropfen Meerwasser nicht dieselbe Quantität, wie das gesamte Meer. Vergleiche dieser Art bringen nichts, da sich die einzige, unendliche und ewige Energie mit nichts vergleichen lässt.“
„Nicht einmal mit Gott?“ wirft Bela ein.
Die Gestalt lacht hell auf.
„Wer braucht denn einen Gott?“ fragt sie lachend und spricht ernst weiter: „Vor Äonen – so glaube ich – bildete sich aus der einzigen, unendlichen und ewigen Energie etwas, das wir Bewusstsein nennen. Dieses Bewusstsein teilte sich in unterschiedliche Stadien auf, die man durchaus Blasen nennen könnte. Die einzige, unendliche und ewige Energie füllte diese Blasen aus und schuf so unzählige Universen und Lebewesen in diesen Universen.
Du“, sagt die Gestalt und blickt auf Bela, „hast geglaubt, ihr seid tot. Und jetzt frage ich dich, wie könnte die einzige, unendliche und ewige Energie tot sein? Sie tut nichts anderes als von einer Bewusstseinsblase zur anderen zu wandern und das ständig. Wie ein Meer tauchen ihre Wellen hinab und hinauf und wieder hinab und abermals hinauf. Immer wieder!
Durch ein tieferes Bewusstsein, das uns eigen ist, passiert etwas, das uns sagt, dass wir existieren. Dadurch haben wir so etwas wie ein Ich entwickelt. Nur – dieses Ich ist nichts anderes als eine Fassade, so wie diese Halle und alles in ihr Fassade ist. Würden wir ein anderes Bewusstsein unser eigen nennen, wäre statt dieser Halle etwas anderes da, - eine ganz andere Fassade. Manche Bewusstseinsblasen sind uns sehr ähnlich, - wie etwa das der Tiere und sogar das der Pflanzen, weshalb wir Tiere und Pflanzen wahrnehmen, genauso wie uns Tiere und Pflanzen wahrnehmen. Manche Menschen meinten, Pflanzen können nicht wahrnehmen, aber da haben sie sich enorm getäuscht. Bewusstsein ist nichts anderes als Wahrnehmung. Und haben nicht einige weise Menschen einst gesagt, dass Wahrnehmung Täuschung sein kann?“
„Woher weißt du das alles? Und – hast du einen Namen?“ fragt Ysil.
„Manchmal nennt man mich Arima. Ja, ihr könnt mich Arima nennen“, sagt die Gestalt lächelnd. „Nun, ich weiß das alles, weil ich – zumindest das, was das Ich genannt wird – an verschiedenen Orten gleichzeitig bin. Ihr werdet auch bald in dieses Bewusstseinsstadium, oder wie ich es am liebsten nenne, in diese Bewusstseinsblase eintauchen.
Bewusstsein entwickelt sich ständig und es verändert sich auch ständig. Fast scheint es so, als würde die einzige, unendliche und ewige Energie durch das Bewusstsein lernen, aber dem ist nicht so. Das Bewusstsein, auch wenn es nicht wirklich getrennt von der Energie ist, passt sich schrittweise der Energie an, weil nur die einzige, unendliche und ewige Energie vollkommen ist.“
„Wer bist du?“ fragt Bela.
Arima lächelt.
„Ich sehe mich als Wächter der Energie. Und manche nennen mich auch so: Guardian, einer meiner vielen Namen. Ich und einige Ganzheiten schaffen die Neue Welt.“
„Ganzheiten?“ fragt Ysil verblüfft.
„Das sind jene Wesen, - wie auch ihr bald solche sein werdet, - die an verschiedenen Orten gleichzeitig bewusst existieren. Das ist nichts Besonderes, nur eben eine Entwicklung des Bewusstseins.“
„Bist du ein Mann oder eine Frau?“ wagt Bela zu fragen.
„Weder noch“, sagt Arima sanft lächelnd. „Und doch haben wir Ganzheiten beide dieser Geschlechter in uns. Es ist nicht mehr wichtig, Mann oder Frau zu sein.“
„Aber wie vermehrt ihr euch?“
Arima lacht wieder einmal hell auf.
„Nichts und niemand vermehrt sich. All das scheint nur so, und das haben wir als Ganzheiten erkannt. Menschen hielten ihre Kinder für Besitz, so wie sie vieles für Besitz gehalten haben. Kinder waren nicht einmal ein Geschenk der Energie. Kinder waren und sind die Energie selbst, die sich dazu entschlossen hat, einen weiteren Aspekt in eben jene Bewusstseinsblase zu senden.
Menschen meinten stets, etwas selbständig zu tun. Was für ein Irrtum! Und doch schien es so, als hätten Menschen so etwas wie einen eigenen Willen. Früher, als ich noch auf der Erde war – obwohl ich es JETZT noch immer bin, aber das ist ein anderes Thema, - also, - früher, als ich noch auf der Erde war, sagte ich stets, dass sich Menschen bloß entscheiden können und das sei der ganze Wille, den sie haben. Heute weiß ich, dass sich Menschen nicht einmal entscheiden konnten. Auch weiß ich, dass niemand sich entscheiden kann, - auch wir als Ganzheiten nicht. Wir und alles unterliegen der einzigen, unendlichen und ewigen Energie. Nur wenn sie WILL, geschieht auch etwas.“
„Moment!“ sagt Ysil unwirsch, „Wir unterliegen nichts und niemandem, denn wir SIND diese Energie!“
Arima lacht laut auf.
„Gut aufgepasst, Mädchen! Ja, ja, wir sind diese Energie, - wir und alles, was wir wahrnehmen und selbst das, was wir noch nicht wahrnehmen können. Nur gibt es da einen Haken, nämlich das Ich, das zuerst kultiviert werden muss, um sich gänzlich bewusst zu sein, dass alles diese Energie ist.“
„Kultiviert?“ wiederholt Ysil.
„Das ist nur ein Wort. Im Grunde genommen meine ich etwas ganz anderes, nämlich, etwas zu tun, ohne sich von diesem Tun etwas zu erwarten. Du warst da draußen, bevor du mit Bela und euren Drachen durch das Tor geflogen seid, diesem Tun schon sehr nahe.“
„Woher weißt du…“
Mit einer schnellen Handbewegung bringt Arima die Frau zum Schweigen.
„Ich weiß es, weil ich der Wächter bin und weil sich deine Schöpfungen in dieser Halle manifestiert haben, nachdem ihr durch das Tor geflogen seid. Sie sind nur Statuen, noch keine wirklichen Lebewesen, aber das ist, weil du zu wenig Kraft hast – dich zu wenig der Energie anvertraut hast. Dein Ich ist noch etwas zu sehr im Vordergrund. Aber deshalb seid ihr ja hier. Und jetzt kommt mit.“
Mit langen Schritten geht Arima durch die Halle auf das Tor zu, durch das Bela und Ysil gekommen sind. Kurz vor dem Tor, wo die beiden Drachen ruhig verharren, bleibt er stehen und streichelt den Tieren sanft über die Nüstern. Dann biegt er nach rechts ab, wo sich ein weiteres Tor befindet. Ungeduldig wendet sich Arima nach Ysil und Bela um.
„Kommt endlich und nehmt eure Drachen mit!“
Die beiden gehorchen. Sie staunen, als sie durch das geöffnete Tor gehen. Eine weitere Halle offenbart sich ihnen und mitten in ihr steht ein riesiger, goldfarbener Drache.
„Das ist Izmyr, einer der ältesten noch lebenden Drachen. Ich glaube, er ist gute hunderttausende von Jahren alt, wenn nicht älter“, sagt Arima und setzt sich auf den Rücken des edlen Tieres.
Erst jetzt fällt Ysil und Bela auf, dass sie den Namen ihrer Drachen nicht wissen. Arima scheint ihre Gedanken zu hören.
„Der schwarze Drache, den du, Bela, reitest, - er ist auch schon sehr alt, aber doch jünger als Izmyr. Sein Name lautet Graziella – und er ist ein weiblicher Drache. Der Drache mit der unbestimmten Farbe ist männlich und noch relativ jung – vielleicht acht- oder neuntausend Jahre alt. Sein Name lautet Ferryn.
Und jetzt setzt euch auf eure Drachen. Wir machen eine Reise.“
„Wohin?“ fragen Ysil und Bela wie aus einem Munde.
„In ein anderes Bewusstsein. Die Drachen werden uns dabei helfen, es zu erreichen“, antwortet Arima.
„Die Drachen? Warum die Drachen?“ fragt Ysil.
„Weil sie die ältesten intelligenten Lebewesen sind und mehr wissen, als wir drei zusammen“, sagt Arima lächelnd.
In diesem Moment öffnet sich an der gegenüberliegenden Wand ein weiteres Tor zu einem nachschwarzen Himmel, den nur vereinzeln kleine Sterne zieren. Arimas goldener Drache schreitet zum Tor und stürzt sich mit ausgebreiteten Schwingen hinaus. Ysil, mit Ferryn und Bela, mit Graziella tun es ihm gleich.

Der Raum wirkt steril. Ein Arzt und eine Krankenschwester beugen sich über eine Frau, die mit gespreizten Beinen vor ihnen liegt. Die Frau schreit laut auf. Plötzlich ist sie ruhig. Die Krankenschwester, eigentlich eine Hebamme, hält ein blutverschmiertes, schreiendes Baby in ihren Armen und legt es auf den Bauch der Frau, die mit verschwitzten Gesicht lächelt.
Arima und Ysil stehen daneben und beobachten alles.
„Wo ist Bela und wo sind die Drachen?“ fragt Ysil.
„Die Drachen warten auf uns außerhalb dieses Bewusstseins, und Bela beobachtet das Selbe wie du – seine Geburt“, antwortet Arima.
„Die Menschen hier können uns nicht sehen, oder?“ fragt Ysil und Arima schüttelt seinen Kopf.
„Das ist meine Mutter“, sagt Ysil mehr zu sich selbst.
„Fühl dich in das Baby hinein – das ist wichtiger für dich, als deine Mutter“, sagt Arima streng.
Ysil versucht es, aber sie kann nichts fühlen.
„Geh tiefer, Ysil“, mahnt Arima. „Das Baby hat noch alles in sich, was du erst wieder erlernen musst.“
Ysil ahnt, was der Wächter meint.

Bela erlebt seine Geburt abermals, und doch, wie ihm Arima sagt, ist es das erste Mal. Auch Bela fragt nach Ysil und den Drachen, - und Arima antwortet ihm das Selbe wie er Ysil geantwortet hat.
„Wie kommt es, dass du gleichzeitig an verschiedenen Orten bist? Wie machst du das?“ fragt Bela, aber Arima ermahnt ihn, sich in das Baby hinein zu fühlen.

Ysil und Bela fühlen sich plötzlich zweigeteilt. Ein Teil von ihnen liegt auf dem Bauch der Mutter, - ein anderer Teil beobachtet, wie der eine Teil von ihnen auf dem Bauch der Mutter liegt. Das Baby schreit nicht mehr. Es kann wieder die Wärme der Mutter fühlen, aber doch auch eine Trennung, die es unruhig macht.
Wie im schnellen Zeitraffer fühlen Ysil und Bela, wie sich ihr anderer Teil mehr und mehr von etwas entfernt, das sie von nun an ihr wirkliches Selbst nennen.

Im nächsten Moment befinden sich die drei wieder auf ihren Drachen und fliegen durch graue Wolken bis ins schwarze All hinauf.
„Jetzt werdet ihr dieses Leben nie wieder vergessen“, ruft ihnen Arima zu, als sie auf einem der ersten Planeten landen.
„Ich bin dieses Leben und auch ich bin das hier“, stammelt Ysil. Bela pflichtet ihr stumm nickend bei.
„Ihr seid noch viel mehr“, sagt Arima und steigt von seinem goldenen Drachen. „Aber für heute habt ihr genug gelernt. Jetzt braucht ihr Ruhe.“

Als Ysil erwacht, befindet sie sich in einem niedrigen, quadratischen Raum. Direkt in der Mitte dieses quadratischen Raumes liegt Ysil in einer quadratischen Versenkung, die mit einer weichen Polsterung ausgestattet ist. Ysil erhebt sich und blickt nach oben. Der Raum hat keine Decke. Ysil blickt direkt in den azurblauen Himmel. Sie steht auf und geht zur Nordseite des Raumes. Die Wände reichen ihr bis zum Hals, sodass sie den nächsten Raum, ebenso quadratisch, erkennen kann. So gesehen ist der Raum, in dem sich Ysil befindet, auch eine Art Versenkung. Gerade als sie sich mit den Armen an der Mauer hochstemmen will, nimmt sie eine Stimme wahr. „Leg dich wieder auf die Polsterung!“ Ysil gehorcht. Als sie mit dem Rücken auf der Polsterung liegt und nach oben in den azurblauen Himmel blickt, spricht die Stimme abermals: „Fühl dich wie ein Blatt im Wind und lass sich nach oben wehen!“ Als sich Ysil wie von selbst erhebt und nach oben schwebt, weiß sie, dass es ihre eigene Stimme war. Andererseits war es auch eine andere Stimme, die ihr eine Zeit lang fremd war und die sie nur selten gehört hat und doch war sie ihr vertrauter als das, was sie bis jetzt ihre eigene Stimme nannte.
Nach jedem Raum, in dem Ysil nach oben schwebt, fühlt sie sich kräftiger – energiereicher und auch bewusster. Im untersten Raum war sie wirklich wie ein Blatt im Wind, trotz des Willens, nach oben zu schweben. Im nächsten Raum waren ihre Sinne bereits geschärfter, und als sie schließlich aus dem trichterartigen Gebäude heraus schwebt, ist Ysil, als würde sie in unzählige Teile zerrissen, wobei ihr jeder einzelne Teil vollkommen bewusst ist. „Das ist die Ganzheit des Selbst!“, sagt die Stimme und alles in Ysil lächelt.

Bela ergeht es ähnlich. Auch er erwacht in einem nach oben hin offenen Raum, nur ist der Raum kreisrund. Als er sich erheben will, hört er ebenso eine Stimme, die ihm gleichzeitig fremd und mehr als bekannt ist. Und als er wie ein Blatt im Wind nach oben durch das trichterartige Gebäude schwebt, setzt er sich zur Ganzheit seines Selbst zusammen, obwohl er in unzählige Teile zerrissen wird.

Ein Teil Arimas sitzt auf dem Thron in der riesigen Halle. Er hat seine „Schüler“, mit Hilfe der Drachen, eingewiesen. Wahrscheinlich wird er abermals lange warten müssen, bis wieder jemand kommt. Aber Zeit spielt hier keine Rolle. Das hat er auch Ysil und Bela gesagt, bevor sie einschliefen und er sie in die trichterartigen Räume trug. Die beiden waren geradezu entsetzt, als er ihnen weismachte, dass sie bereits mehrere hunderttausend Jahre die Erde verlassen haben, obwohl es den beiden so schien, als wären sie erst wenige Tage „tot“. Sie fragten Arima, ob jeder Mensch auf diese Art stirbt.
„Nicht jeder“, antwortete Arima. „Die Menschen müssen bereit sein. Aber nur wenige sind es. Man könnte sie an einer Hand abzählen. Das liegt am menschlichen Bewusstsein. Es ist zu gering, um all die Geheimnisse um uns zu erfassen. Aber einigen gelingt es, so wie euch beiden. Für die meisten Menschen ist es so, als würden sie wirklich sterben, weil sie alles vergessen und ihrer Ganzheit nicht nah genug sind.“
„Was ist die Ganzheit?“ fragte Ysil.
„Das Bewusstsein all dessen, was du wirklich bist, - sozusagen der Aspekt der einzigen, unendlichen und ewigen Energie, der dich ausmacht. Erst, wenn alle Lebewesen dies erkannt haben, sind wir bereit für die Neue Welt.“
„Was ist die Neue Welt?“ fragte Bela.
„Das ist nur eine Benennung für etwas, das ich euch schwer erklären kann. Es handelt sich um reines Bewusstsein, das sich der einzigen, unendlichen und ewigen Energie vollkommen angepasst hat. Durch dieses Bewusstsein, das sich aus allen Lebewesen entwickelt hat, ist es der einzigen, unendlichen und ewigen Energie möglich, bewusst zu erschaffen.
Denkt einmal an das Leben der Menschen. Sie fügen sich gegenseitig Leid zu und fragen sich dann, wie ‚Gott’ das nur zulassen kann. Es liegt aber nicht an Gott, weil es keinen Gott gibt. Es liegt auch nicht an den Menschen. Es liegt einzig und allein am Bewusstsein. Damit will ich den Menschen keine Schuld absprechen, obwohl – nun, - so etwas wie Schuld gibt es nicht, auch wenn der Mensch instinktiv weiß, oder wusste, wie es JETZT der Fall ist, was Recht und was Unrecht ist.“
„Jetzt?“ warf Ysil verwirrt ein.
„Ja, JETZT!“ sagte Arima sanft lächelnd. „Denn JETZT gibt es keine Menschen mehr und keine Erde mehr, wie ihr sie gekannt habt. Das liegt an der Entwicklung des Bewusstseins. Die Menschen und die Erde haben sich verändert. Und auch diese Veränderung wird sich abermals verändern.
Das heißt nicht, dass etwas für immer vergeht, denn all das befindet sich für immer im allumfassenden Bewusstsein, das einst die Neue Welt erschaffen wird. Manche werden sagen, dass die Neue Welt so etwas wie das Paradies ist, von dem die Menschen stets geträumt haben.
Als ich euch sagte, dass wir alle einer einzigen, unendlichen und ewigen Energie unterliegen, hast du, Ysil, richtig gesagt, dass doch wir diese Energie sind. Aber für Menschen war es schier unmöglich, die Gesamtheit ihrer Ganzheit zu erfassen, denn erst dann hätten sie WISSEN können, dass sie selbst Energie SIND.“
„Dann war die Energie das Böse, das alles in der Menschenwelt zugelassen hat“, meinte Bela.
„Nein“, sagte Arima schnell. „Es lag am Bewusstsein, das noch nicht so weit entwickelt war, um alles zu erkennen. Denk nur an ein Kleinkind. Ist es böse, wenn es unwissentlich etwas anstellt? Nun ja, Menschen sagen, auch Unwissenheit schützt vor Strafe nicht. Aber wie ich schon mehrmals sagte, kann hier nichts wirklich verglichen werden, auch wenn es ein wenig eurem Verständnis helfen mag. Ein Kleinkind weiß nicht, wenn es etwas Böses anstellt. Es weiß es erst, wenn es die Rügen der Eltern über sich ergehen lassen muss. Mit dem Bewusstsein ist es ähnlich. Es muss wachsen, um wirklich vollkommen zu werden, - um so rein und vollkommen zu werden, wie die einzige, unendliche und ewige Energie, aus der es hervor gegangen ist.“

Nicht nur ein Teil Arimas sitzt auf einem Thron in einer riesigen Halle, - auch ein Teil Ysils und ein Teil Belas sitzt auf einem Thron in einer riesigen Halle, - und noch einige Teile der Ganzheiten, deren Namen hier nicht wichtig sind, sitzen auf einem Thron in einer riesigen Halle. Sie alle warten auf Lebewesen, die bereit sind. Und in der Nebenhalle harren die Drachen aus und warten auf den Flug in die Unendlichkeit…

Ende