Eine Geschichte

Günther Stein, unser Manager hat ein Brett vor dem Kopf. Er lässt nur das gelten, was er für richtig hält, obwohl er eigentlich nichts zu sagen hat. Manager ist er ja auch nicht. Zumindest nicht in dem Sinn des Wortes, was es bedeutet. Er sucht für uns bloß die Locations, wie man heute so sagt, wo wir unsere Flyer verteilen können, ohne von der Polizei vertrieben zu werden. Standorte sozusagen. Orte, wo sich diese Leute in Uniform herumtreiben.

Auf diesen Flyern stehen von uns erfundene Weisheiten, wie etwa: Wenn du am Morgen schon lachst, scheint den ganzen Tag die Sonne. Na ja, schon etwas weiser, aber mir fiel im Moment nichts Besseres ein. Wir wollen so was wie eine neue Religion gründen. Eine Sekte, wenn man so will, obwohl ich das Wort nicht so mag. Sekte klingt so einengend, so dogmatisch. Obwohl Religion noch dogmatischer klingt. Wir wollen keine Gesetze machen, wie etwa: Wenn du dieses oder jenen nicht tust, wirst du nicht erlöst werden. Wir wollen außerdem nicht erlöst werden. Wir sind ja schon erlöst und genau das wollen wir den Leuten sagen, auch wenn wir es selbst nicht wissen.

Man kann es ja mal versuchen. Sagt auch Günther Stein, mit dem ich mal was hatte. Aber seit er in der Gruppe tätig ist, haben wir unser Verhältnis beendet, weil es nicht gut tut, in einer Gruppe Paare zu haben, die irgendwann eh auseinander gehen. Und Streit wollen wir schon gar nicht. Oder Eifersucht. Alles schön neutral und jeder für sich und doch alle zusammen. Klingt doch gut. Oder?

Zunächst sind wir noch zu acht. Günther und ich – mein Name ist übrigens Ursula Motte – hatten zuerst die Idee, so eine Art spirituelle Gruppe zu gründen. Das klingt gut! Spirituelle Gruppe! Wir suchen ja noch nach einen Namen für unsere Weisheiten und da haben wir uns gedacht, wenn wir mehr Mitglieder zusammen kriegen, könnten wir uns gemeinsam einen aussuchen. Meine zwei ehemaligen Schulfreundinnen, die Haller Susi und die Monika Bleiersdorfer konnte ich überreden und Günther sprach seine besten ehemaligen Kameraden an, den Pfundner Hans und den Blauberg Emil. Emil würde mir gefallen. Der ist genau mein Typ – nicht zu groß, nicht zu dünn und auch nicht zu dick, hat üppiges Blondhaar, das ihm bis über die Schultern reicht und einen eher unscheinbaren Bart, der etwas dunkler ist als sein Kopfhaar. Er ist irgendwie so ein Jesustyp und würde als sogenannter Anführer gut für unsere spirituelle Gruppe passen.

Ich hab ja vorhin erwähnt, dass wir nicht wissen, dass wir schon erlöst sind. Sozusagen würden wir die Leute anlügen, wenn wir das sagen. Aber eigentlich tun wir das nicht. Wir wünschen uns doch, dass wir bereits erlöst sind. Im Grunde genommen ist ja alles okay, wenn man es vom richtigen Blickwinkel aus sieht. Es gibt nicht wirklich was zu bedauern oder zu betrauern, da wir ohnehin wissen, wie es auf der Welt so zugeht. Sterben, sozusagen gehen tun wir alle mal. Keiner bleibt über. Und im Grunde genommen ist ja das die Erlösung, denn im Grunde genommen, wenn man es genau nimmt, sind wir ja schon tot. Wir sind genau in dem Moment tot, in dem wir entstanden sind, - als Vaters flinker Samenkern Bekanntschaft mit einem Ei der Mutter machte und sich die beiden vereinigten – zu Eins wurden, wo natürlich auch zwei, sozusagen Zwillinge, werden können. Auch Drillinge oder Vierlinge. In unserer Straße hat eine Frau Fünflinge bekommen. Das stand sogar in der Zeitung und im TV wurde ebenso ein Bericht über sie und ihre fünf gesunden Jungs gebracht. Lauter Buben!

Also sind wir gleichzeitig lebendig und tot. Wir haben den Tod immer vor Augen und er begleitet uns das ganze Leben lang, bis er uns dem Leben entzieht und erlöst. Aber einen Totenkult wollen wir natürlich nicht aufziehen und auch nicht die Leute zum Selbstmord überreden, weil sich das vielleicht so anhört, als wäre es egal, da wir eh schon tot sind. Ganz im Gegenteil! Wir wollen den Leuten sagen, wie toll das Leben sein kann, wenn man es nur vom richtigen Blickwinkel aus sieht. Und das kann ja wirklich jeder für sich ausmachen.

Mal ein Beispiel: Letzte Woche ist Ilonas Vater gestorben, nachdem ihre Mutter ein Monat vorher an einem Gehirntumor aus dem Leben geschieden ist. Er hat ihren Verlust nicht verkraftet und hat sich aus dem Fenster gestürzt. Hätte er ja zum Leben gesagt, sich auf ein neues Abenteuer eingelassen – es muss ja nicht gleich eine neue Frau sein! - aber vielleicht Urlaub oder den Jakobsweg gehen – also sich irgendein Ziel setzen, um den Verlust zu überwinden oder auszugleichen, - wäre das schon ein anderer und vielleicht auch der richtige Blickwinkel gewesen. Ilona und ihre Eltern waren unsere Nachbarn. Ja, waren, denn Ilona musste zu ihrer Tante übersiedeln und die Wohnung neben unserer wird neu vermietet.

Klar ist es nicht einfach, so einen Verlust zu überwinden, aber man darf sich nicht hängen lassen. Irgendeinen Grund muss es doch geben, warum wir hier sind, auch wenn wir ihn nie wissen werden. Im Grunde genommen wissen wir eh nichts. Wir glauben nur zu wissen. Und genau deshalb finde ich den Spruch - Wer nichts weiß, muss alles glauben – ziemlich bescheuert.
Aber da werden die Leute schon selbst drauf kommen. Darauf kommt es doch an. Selbst drauf kommen und sich nicht alles sagen lassen müssen. Das hab ich dem Günther schon hundert mal gesagt, wenn er drauf bestanden hat, dass wir hier oder dort keine Flyer verteilen können, weil dort ständig ein Polizist seine Runden dreht. Er aber meint, alles zu wissen und alles zu kennen und alle anderen sind Idioten. So was sagt er tatsächlich. Alle anderen sind Idioten. Es gibt mehr Narren draußen als in den Irrenhäusern. Sagt Günther und vielleicht hat er ja recht.

Die meisten Menschen meinen, es müsste nach ihrer Pfeife getanzt werden und wenn nicht, kommt das große Gejammere. Man braucht Durchsetzungsvermögen predigen sie. Was für ein Quatsch! Man braucht Flexibilität! Und nicht ständig sich durchsetzen müssen. Wozu denn? Das Wichtigste ist doch Nahrung und ein Dach übern Kopf. Wer das tagtäglich hat, kann sich schon glücklich schätzen und der muss sich auch gegen nichts und niemand durchsetzen. So was bringt immer Streit und aus Streit wird Krieg.
Man braucht Persönlichkeit. Man muss was her machen. Was für ein Quatsch! Man braucht gar nichts, außer Nahrung und ein Dach übern Kopf. Und vielleicht Freunde, mit denen man sich unterhalten kann und die einem unter die Arme greifen, wenn man mal was braucht, was natürlich umgekehrt ebenso der Fall ist. Füreinander da sein, ist doch eine schöne Sache. Und genau das sollte die Gruppe auch sein.
Leider haben wir bisher nur wenig Anklang. Ein älteres Pärchen kam dazu und meinte, es werde in ihrem Freundeskreis umhören, ob noch jemand mitmachen würde. Das Pärchen heißt Anton und Melitta Sommer und ist so um die 40. Ist ja nicht schlecht, wenn ältere dabei sind. Vielleicht sind wir, so um die 20 bis 25 etwas zu jung, um den Leuten zu sagen, was Sache ist. Aber, wie gesagt, das wollen wir auch nicht. Wir wollen ja, dass die Leute sich selbst am eigenen Schopf aus ihrem vermeintlichen Sumpf ziehen, dass sie den Sumpf anders sehen – vielleicht als Luxuspool mit Wassermassage. Ja, es kommt immer nur auf den Blinkwinkel an. Ich denke, wir werden uns Blickwinkelgruppe nennen. Genau das werde ich bei unserer nächsten Sitzung vorschlagen und vielleicht bringen die Sommers dann auch neue Leute mit.

Unsere Sitzungen sind in einem alten stillgelegten Kinosaal, den wir, laut Bürgermeister, benutzen können, ohne was zu verändern. Die Sitze sind noch im Saal, wo rund 100 Leute Platz haben. Auf dem Podium vor der Leinwand, haben wir einen Tisch und Sessel errichtet, wo immer ein Redner oder eine Rednerin Platz nimmt und notiert, was besprochen wird. Wir haben also keinen bestimmten Anführer, außer Günther Stein, der sich ständig als Manager unserer Gruppe ausgibt, denn bei uns kann jeder vorbringen, was er denkt und für richtig hält.

Die Frage ist jetzt, was bringt das alles? Können wir von der Gruppe leben? Erstens, was bringt schon was? Und leben tun wir in und nicht von der Gruppe. Von uns hat schon jeder einen Job und zwei von uns studieren sogar – sind also nicht auf den Kopf gefallen, wie Günther und ich, die sofort nach der Grundschule nach einen Job suchten und nun Hilfsarbeiter in der Fabrik am Ende unserer Kleinstadt sind. Unsere Gruppe soll ein Ausgleich sein. Ein bisschen Nachdenken über das Leben und so. Kann ja nicht schaden, auch wenn wir nie auf einen grünen Zweig kommen.
Und die Gruppe kostet nichts. Der alte Kinosaal wurden uns kostenlos zur Verfügung gestellt. Na ja, Stromkosten, da wir ja Licht in der fensterlosen Halle brauchen, sind zu bezahlen. Aber das ist nicht der Rede wert. Und die Flyer druckt Hans aus, weil der einen Computer hat, den er auf der UNI auch braucht. Er ist einer unserer Studenten. Er und die Haller Susi. Beide BWL, wo man sagt, dass das heute fast jeder studiert. Kann aber in jeder Firma und Fabrik gebraucht werden. Na ja, und die beiden haben keine armen Eltern.

Während ich mir das alles jetzt durch den Kopf gehen ließ, kommt mir schon Hans entgegen und bringt mir die versprochenen Flyer. Ich hatte Vormittagsschicht und hab jetzt Zeit, sie an der Kreuzung, wo unser zweiter Supermarkt – die Kleinstadt braucht ja unbedingt zwei Supermärkte! - ist, zu verteilen. Ich stell mich zwar nicht direkt vor die Tür, da sie mich dort sicher schnell vertreiben, aber in der Nähe der Parkplätze ist es gut, weil ich da einige Flyer auch unter die Scheibenwischer der Autos stecken kann.
Wie gesagt, es stehen einige Weisheiten auf den Zetteln und dass wir uns auf Ihr Kommen in zwei Tagen im alten Kinosaal freuen würden. Unsere Gruppe gibt es jetzt fast ein halbes Jahr. Es ist also kein gutes Zeichen, dass wir nur zu acht sind. Mal sehen. Vielleicht kommen in zwei Tagen mehr dazu. Der Sommer geht zu Ende. Die Tage werden kälter und kürzer und vielleicht suchen die Menschen nach etwas, das ihr Leben bunter macht und da wäre doch unsere Gruppe – die Blickwinkelgruppe – doch das Richtige.