Leisen Schrittes ging sie die Gasse hoch, an den Ruinen vorbei, wo einst stolze Villen waren, bis sie vor einem Schmiedeeisentor, das bereits aus den Angeln fiel, stehen blieb.
Es war Jahrzehnte her, seit sie das letzte Mal hier war. Der einzige Ort, an dem sie ein wenig Glück und Freude erfuhr. Mayla (der Name bedeutet Hoffnung) zögerte, bevor sie durch das Tor schritt. Es fühlte sich an wie das Gleiten in eine andere Dimension, in der die Zeit für immer stehen bleibt und sich nie etwas verändert. Sehnsucht griff nach ihrem Herzen. „Wo es keine Zeit gibt, gibt es keine Veränderung“, dachte sie und lächelte müde. Gelächelt hat sie schon lange nicht mehr. Auch das schien Jahrzehnte her zu sein. Das letzte Mal vielleicht, als sie einer Bekannten aus der guten, alten Zeit begegnete, die wirklich so alt aussah, wie sie war. Bei Mayla indes schien die Zeit ab einem gewissen Alter stehen geblieben zu sein. Sie sah nie älter aus als 40. Würden die Menschen ihr wahres Alter kennen, hätte man sie schon längst in ein Versuchslabor gesteckt.
Der Kiesweg war noch immer derselbe. Aber links und rechts davon war dunkle, staubige Erde, wo einst allerlei Blumen sprossen und vor allem Büsche mit köstlich süßen Beeren, von denen sie so gerne naschte. Weiter hinten, auf der großflächigen Wiese stand ein Pavillon, in dem sie damals fast ihr Herz verlor. Mayla wagte einen kurzen Blick nach vorne, wo einst die Villa stand. Jetzt war dort auch nur mehr eine Ruine, so wie alles in diesem Viertel, das einmal etwas ganz Besonderes war. Damals waren die Menschen zufrieden und gaben auf den geräumigen Terrassen Soireen mit auserlesenen Menüs, teure Weine und natürlich echten Champagner. Musiker erzeugten eine zauberhafte Stimmung mit ihren wunderschöne Melodien, zu denen in den weitläufigen Grünflächen getanzt wurde.
Fast fühlte sich Mayla in diese Zeit zurück versetzt. Sie sah sich selbst als schöne, junge Frau tanzend in den Armen eines jungen Mannes. Beziehungen, vor allem engere, vermied sie, auch wenn sie damals nahe dran war, sich zu verlieben. Mayla gab sich schon immer gerne geheimnisvoll, obwohl das nicht immer so war. Früher, vor mehreren 100 Jahren, war sie aufgeweckter und konnte kaum ein Gefühl verbergen.
Nun stand sie vor der Ruine, in der sie einmal gar nicht so wenig Zeit verbracht hatte. Zeit - wieder dachte sie an das unergründliche Phänomen Zeit, an die Fließende, nicht enden wollende. „Zeit zertrümmert den Raum“, murmelte sie. Es musste so sein, denn der Ort bleibt der selbe. Was sich stets ändert, ist das, was sich am Ort befindet, wie die ehemalige Villa, die nun eine Ruine aus Mauern und Treppen war. Auch sie, Mayla, blieb und bleibt nicht von der Zeit verschont. Immer wieder zwingt sie die schöne, junge Frau dazu älter zu werden. Wenn auch nur bis sie wie 40 aussah, obwohl sie bereits an die 100 wäre, gab es doch eine äußerliche Veränderung.
Einige Male zählte sie die Jahre und kam auf gute 100 und manchmal auch darüber. Es war aber vielmehr ihr Haar, das mit den Jahren immer heller wird. Mayla wusste, dass es nicht mehr lange dauern wird. Ihr Haar war bereits schneeweiß. Das war das Zeichen. Falten hatte sie nur um den Augen und ein wenig an den Mundwinkeln. Ansonsten war ihre eher bleiche Haut faltenfrei. Mit ihrer Figur hatte sie nie Probleme. Es war eher so, dass sie fast zu dünn war, besonders zu Zeiten, als eher kräftigere Frauen in Mode waren. Mayla lächelte wieder bei dem Gedanken, dass sogar Frauen einst Modeware waren.
Menschen sind schon sehr seltsame Lebewesen. Immer nur mit sich selbst beschäftigt. Auch das war gut für Mayla, sonst wäre ihnen die Frau, die immer wieder jung wird, aufgefallen. Es war ein Fluch. Es musste ein Fluch sein.
Vorsichtig stieg sie die brüchigen Stufen zum Eingang der ehemaligen Villa hoch. Dach gab es keines mehr, aber die Mauern schienen stabil zu sein. So schnell wird schon keine einstürzen. Mayla stellte ihren kleinen Koffer mit einigen Habseligkeiten ab und hockte sich in eine Ecke der ehemaligen Vorhalle. Bei den Habseligkeiten handelte es sich um Kleidung, die sie braucht, wenn sie wieder jung sein wird. Meist sieht sie dann aus, wie ein etwa 14 bis 16jähriges Mädchen und hat ihre, für eine Frau, extreme Größe von etwa 1,80 noch nicht ganz erreicht. Und die Mode ist auch eine andere geworden. Im Grunde genommen gibt es keine Mode mehr, sondern eine Art Endzeitszenario. So wie in diesem ehemaligen Villenviertel sah es fast überall aus. Geisterstädte und ausgetrocknetes Land, wo in einigen Gebieten die Hitze unerträglich geworden war.

Morgana, die „neue“ Morgana, Herrin von Avalon, beobachtete die große, weißhaarige Frau, als sie in die Halle trat und sich müde in einer verstaubten und mit Spinnweben verhangenen Ecke nieder ließ. Mayla, die Frau, die sich ab einem bestimmten Zeitpunkt immer wieder verjüngt und nie sterben kann, ist ihre Tochter.
Es ist Jahrhunderte her, aber für Morgana verging die Zeit langsamer. Auf Avalon gab es eigentlich keine Zeit. Dort war man der Ewigkeit näher. Morgana war noch nicht lange Herrin von Avalon, vielleicht zwei oder dreihundert Jahre lang, als ein lustiger Geselle die Insel hinter den Nebeln besuchen kam. Morgana, das war eher ein Titel als ein Name, denn alle Herrinnen nahmen diesen Namen an, sobald sie eingeweiht waren, nachdem die alte Morgana entweder abgedankt oder „gegangen“ war.
Auf Avalon stirbt man nicht. Auf Avalon „geht“ man. Man schreitet bewusst in eine andere, höchstwahrscheinlich höhere Dimension, um dort neu geboren zu werden oder, je nach dem, welche Aufgaben anstehen, mit einem neuen, jungen Körper erscheint.
Der lustige Geselle blieb eine Weile als Gast in der Burg und suchte oft die Gesellschaft der Herrin von Avalon auf. Es ist nicht verboten, sich zu vergnügen, nur ist es so, dass es auf Avalon nur wenig Herrenbesuche gibt und die Frauen dort, vielmehr die weiblichen Wesen dort, nicht an Körperlichkeiten oder Fortpflanzung interessiert sind.
Morgana war da etwas anders. Ihre Entwicklung schien zu schnell passiert sein und das lag an ihrem Vater, der bereits zu irdischen Lebzeiten eine Legende war und über den es bereits genug Geschichten gibt. Er war es, der sie nach Avalon brachte, um sie in Sicherheit zu wissen. Die Geschichte der Menschheit war ungewiss, aber in oder auf den Zwischendimensionen wie Avalon oder Atlantis oder Shambala sollte seine Tochter es gut haben.
Damals wurde sie noch Manola genannt und musste sich der harten, aber liebevollen Schule der regierenden Morgana unterwerfen. Die beiden hatten keine Probleme miteinander. Probleme gab es auf Avalon schon lange nicht mehr. Es war nur stets ein trauriges Ereignis, wenn eine der Schwestern oder gar die Herrin ging. Aber auch diese Trauer dauerte nicht an, da das Schwinden von Selbstmitleid – und man tut sich ja nur selbst leid, wenn man die geliebten Wesen verliert – zu eine der wichtigsten Lehren gehört. Und die Ausbildung, die auf Avalon gelehrt wird, war für Manola wie geschneidert.
Lange Rede, kurzer Sinn – der lustige Geselle und Morgana hatten etwas miteinander und die neue Herrin von Avalon wurde schwanger. Es war jedoch eine etwas andere Schwangerschaft als auf der Erde, wo Manola einst zwei Töchtern das Leben schenkte. Es war keine sichtbare Schwangerschaft und keine, die neun Monate lang dauert. Auf Avalon sind die Lebewesen feinstofflicher als auf der Erde.
Morgana, die neue Herrin, gebar ihre Tochter, die sie Mayla nannte, kurz nachdem der lustige Geselle seinen Hut schwenkte und sich wieder auf die Reise durch die Zeit machte. Einen Zeitreisenden und eine Herrin von Avalon als Eltern ist schon eine etwas harte Bürde für ein Menschenwesen, wie Mayla eines war. Auf Avalon konnte sie nicht für immer bleiben, da es immer nur eine ganz bestimmte Anzahl der Schwestern geben muss. Wäre die Anzahl eine andere, wäre Avalons ewige Harmonie gestört. Für Morgana, einst Manola, lag nur ein Leben auf der Erde nahe, wo sie auch stets ein Auge auf ihre Tochter haben konnte.
Aber die Erde war nicht mehr das, was sie einst war. Schon, als Manola ihre letzten Jahre dort verbrachte, herrschte überall Krieg und Unsicherheit. Und jene Menschen von einst gab es nicht mehr. Als sie ihre jugendliche Tochter auf die Erde brachte, existierte bereits die zweite Generation Menschheit, deren Evolution um einiges schneller als die letzte, voranschritt. Ein wenig halfen die Zwischendimensionen, der Erde nach, wie unter anderem auch Avalon und vor allem Shangri-La, das Reich über dem Himalaya.

Mayla schien die ersten 15 Jahre ihres Lebens auf Avalon nicht vergessen zu haben. Stets verspürte sie eine schmerzhafte Sehnsucht nach Zufriedenheit und Glück, was sie auf der Erde bis jetzt nirgendwo gefunden hatte. Sie war stets alleine, auf sich gestellt, denn Manola konnte das fast erwachsene Mädchen nicht irgendwelchen Leuten unterschieben, wie man etwa ein Baby in einem Korb vor die Türe stellt und hofft, dass es ihm einmal gut gehen wird, wie das bei ihrem Vater der Fall war. Ihm ging es nicht gut, aber das lag nicht an den Leuten, die ihn aufnahmen. Aber das ist eine andere Geschichte, über die, wie bereits erwähnt, schon viel zu oft beschrieben wurde.
Es lag nicht an der Einsamkeit Maylas. Es lag an den Menschen, die so kalt geworden waren und nur an sich selbst dachten. Die Umwelt war ihnen egal und der Nächste jeder sich selbst. Bald schon brachen Kriege unter den unterschiedlichen Völkern aus, die sich abermals gebildet hatten und bald gab es nur mehr verwüstetes Land und dort, wo noch Menschen lebten, waren hohe Mauern um gewissen Ballungszentren gebaut. Für einen kurzen Zeitraum besann sich die Menschheit und es gab eine Art Hohe-Zeit, wie man das nannte. Villen entstanden und die Menschen nahmen sich mehr Zeit füreinander. An diese Zeit dachte Mayla gerne. Diese Zeit verbrachte sie sehr oft in dieser Villa, wo besonders schöne Feste gefeiert wurden. Niemand wusste, wem all die Villen in diesem oder in anderen Vierteln gehören, aber jeder durfte sie betreten und mitfeiern. Hier spürte sie so etwas wie Verbundenheit, was sie an etwas erinnerte, woran sie eigentlich gar keine Erinnerung mehr hatte.

Morgana litt während der ersten Zeit ohne ihre Tochter sehr. Es war hart, sie auf der Erde zurück zu lassen, wo alles immer ungewisser wurde. Wie bereits erwähnt, war es schon in Manolas letzten Lebensjahren auf der Erde nicht mehr friedlich und auf keinen Fall sicher. Und sie wusste damals noch nicht, welche Fähigkeiten Mayla hatte. Sie war anders, das war klar, denn sie sprach schon auf Avalon mit den Bäumen, wie mit den Schwestern und ihrer Mutter. Es schien, als würden die Bäume ihr antworten, als gäbe es da eine ganz besondere Verbindung zwischen ihnen. Es waren vor allem die großen, alten Bäume. Mayla schien mehr eine Baumelfe als ein Menschenkind zu sein.
Es gab auf Avalon ein kleines Wäldchen aus Banyanbäumen, deren Wurzeln sich über der Erde ineinander verknoteten. Dort hielt sich Mayla oft und gerne auf. Sie tanzte, mit heller, klarer Stimme singend, auf den Wurzeln und schmiegte sich an die dicken Stämme, als wolle sie mit ihnen verwachsen.
Zu gerne hätte die Herrin von Avalon (genannt Morgana, einst Manola) ihre bezaubernde Tochter versteckt, um sie zu behalten. Aber sie wusste von der Verantwortung und der Pflicht, die sie einst im Schwur vor der alten Morgana übernommen hatte. Nach all diesen Jahren, in denen sie all ihre Schwächen abgelegt und zu einer wahren Herrin, eine der besten, auf Avalon geworden war, wollte sie fast eine neue Schwäche überrumpeln. Sie hätte den Frieden zerstört, wenn sie Mayla selbstsüchtig auf Avalon behalten hätte. Warum das so war, wusste niemand. Es passierte bereits zwei mal und das, so wurde beschlossen, kann kein Zufall sein.
Das erste Mal kam eine Hexe auf Avalon und mischte sich unbemerkt unter die Schwestern. Plötzlich brach unter den Elfen ein Krieg aus. Baumelfen wandte sich gegen Blumenelfen und schließlich kämpften auch die Feen untereinander, bis auch die Zwerge und Trolle Unfrieden stifteten. Die Kriege waren vorbei, als die Schwestern die Hexe erkannten, die sich immer als eine der Schwestern getarnt hatte. Aufmerksam wurde damals Morgana, - die erste Morgana, der man die Schuld an all diese bösen Taten auf Avalon gab. Sie wurde selbst Hexe genannt und für eine bestimmte Zeit von Avalon verbannt. Als sie wieder zurück kommen durfte, wurde sie eine der vorbildlichsten Herrinnen, was auch Manola geschafft hat, die durch ihre Ehrlichkeit und ihr starkes Herz der Urmorgana am ähnlichsten ist.
Das zweite Mal war es eine Zeitreisende, die sich entschloss, länger als nötig auf Avalon zu bleiben. Es geschah das selbe wie damals. Kriege brachen aus und diesmal gab es sogar wilde Auseinandersetzungen zwischen den Schwestern. Durch die Aufzeichnungen im großen Buch, welche von einer der Schwestern (die Hüterin des Buchs genannt) täglich gemacht werden, schien es, dass das Problem erkannt geworden war. Also bat man die Zeitreisende zu gehen und alles war wieder gut. Das wollte Manola, bei all der Liebe zu ihrer Tochter, keinesfalls riskieren.

Aber alles der Reihe nach. Manola entschied sich, als ihre Tochter etwa 14 war (ab diesem Alter war man auf Avalon eine erwachsene Frau), sie auf die Erde zu bringen. Natürlich wusste sie, dass es die alte Erde, wie sie sie kannte, nicht mehr gab und eine neue Generation Menschen heran gewachsen war, von der sie so gut wie nichts wusste. Aber das musste sie riskieren. Und auch, dass ihre Tochter sehr verärgert sein wird, wenn sie sie alleine zurück lässt.
Es war nur eine Reise. Zur Feier des Tages. Mayla kannte den Grund nicht, warum ihre Mutter mit ihr auf die Erde ging. „Damit du mal etwas anderes kennenlernst“, hatte sie gesagt und dabei sehr seltsam gewirkt. Ihre Stimme war anders. So als würde sie kaum sprechen können.
Der erste Eindruck auf der Erde war Erschrecken. Sie kamen an einer Stelle hervor, die nahe einer Großstadt liegt. Hier waren die Häuser nicht so hoch und wirkten etwas freundlicher als in der Stadt, wo es nur viereckige, in die Wolken ragende Betonriesen gab. Grünflächen waren so gut wie keine zu sahen. Der Boden war zubetoniert und Mayla, wie auch ihre Mutter, spürten, wie Mutter Erde nach Luft rang. Mayla dachte nur: „Ich will hier weg!“ Und als sie sich umdrehte, war ihre Mutter weg. Verschwunden. Von einer Sekunde auf die andere weg. In Luft aufgelöst.
Der nächste Eindruck, den Mayla von der Erde hatte, war Angst. Erschrecken und Angst, was sie nie kennen gelernt hatte. Auf Avalon war alles anders. Die Luft, die Umgebung und vor allem die Stille vermisste Mayla als erstes. Und dann schrie sie, was ihre zarte Stimme hervor bringen konnte. Sie schrie so lange, bis sie vor Erschöpfung zusammenbrach. Niemand hörte sie und niemand sah sie. Vorerst war sie durch einen Zauber Manolas geschützt. So lange, bis sie auf der Erde zurecht fand und stets untertauchen könnte, bevor die Menschen erkennen konnten, dass sie anders war. Zurück nach Avalon konnte sie nicht. Sie wusste nicht wie. Natürlich versuchte sie es mehrmals und rief innerlich ihren Lieblingsbaum. Aber von hier aus schien die Verbindung nach Avalon tot zu sein.
Nach dem Zusammenbruch und tiefem Durchatmen, erblickte Mayla dort, wo ihre Mutter stehen sollte, eine Leinentasche, in der oben auf ein Papier lag. Mit zitternden Händen nahm sie es und las, warum sie von nun an auf der Erde leben musste und für längere Zeit nicht auf Avalon zurückkommen durfte. Es täte ihr unendlich leid und das Herz wäre ihr gebrochen, schrieb Manola und Mayla lachte ironisch dazu. „Ja, klar, das Herz ist ihr gebrochen“, lästerte sie, denn nach dem Erschrecken und der Angst kam nun Wut hinzu. Dann stand da noch: „p.s. Anbei ein Zauberring, den du immer tragen solltest. Wenn der gelbe Stein auf dem Ring oben ist, bist du für die Menschen sichtbar. Drehst du ihn nach innen, bist du unsichtbar.“ Manola schrieb auch, dass sich Mayla niemandem auf der Erde anvertrauen dürfe, denn Menschen seien immer unberechenbar.
Es lag auch Kleidung in der Tasche. Zwei lange, bunte Kleider, wie sie Mayla auf Avalon stets getragen hatte und bequeme Hosen, wie auch Schuhe, Pullover und Jacken, falls es kalt sein sollte.
Auf Avalon war es nie kalt und auch nie wirklich heiß. In den Zwischenwelten, welche Menschen für Phantasie halten, herrschen stets angenehme Temperaturen. Es gab dort auch Lebewesen, welche Menschen für Phantasie halten, wie etwa Elfen, Feen, Zwerge und Wesen, die ein Zwischending von Mensch und Tier sind. Früher, ganz früher, lebten sie mit den Menschen auf der Erde. Erst, als die Menschen den Bezug zur Natur verloren, zogen sich die Wesen zurück und gründeten die Zwischenwelten, zu denen nur mehr wenige Menschen Zutritt hatten. Später, als fast überall die so genannte Zivilisation herrschte und fast alle Naturvölker ausgelöscht waren, zogen sich die Zwischenwelten vollkommen zurück.
Als dann die Menschheit der ersten Generation ausstarb, kümmerten sich die Wesen der Zwischenwelten um die Erde, da sie ziemlichen Schaden erlitten hatte. Sie pflegten die alte Mutter, denn auch sie lebten von ihrer Kraft und Energie. Schließlich kamen sie zur Übereinkunft, zusammen mit Göttin Gaia, es nochmal mit Menschen zu probieren.

Mayla legte sich die Leinentasche über die Schulter, nachdem sie bequeme Hosen und einen Pulli übergezogen und das Kleid, das sie noch auf Avalon getragen hatte, zu den anderen beiden Kleidern in der Tasche verstaut hatte. Es waren, wie der Ring, Zauberdinge, die, wenn man sie anzog, sich nach den Wünschen des Trägers verwandeln. So konnte Mayla stets die neueste Mode tragen. Aber das war ihr Moment vollkommen egal. Sie war plötzlich müde und wollte einen bequemen Schlafplatz finden. Also ging sie auf die Stadt zu. Es war kühl, hart und laut. Jeder Schritt tat fast weh, da sie immer nur Erde oder Gras unter ihren bloßen Füßen gewohnt war. Man würde sich die Füße verletzen, wenn man barfuß gehen würden, da nicht nur Schmutz, sondern teilweise auch Glasscherben herumlagen. Hier war überall harter Untergrund und die Schritte der Menschen, denen sie begegnete, waren durch das Schuhwerk laut. Ihre Stimmen waren lauf und die seltsamen Fahrzeuge, in denen sie sich auch weiter bewegten, waren noch lauter. Mayla bewegte sich vorsichtig in der Stadt, obwohl sie den Zauberring nach unten gedreht hatte. Sie wurde mit so viel Neuem konfrontiert, dass sie zuerst gar nicht wusste, wohin sie schauen soll.

Manola sagte sich, als sie wieder auf Avalon war, sie würde ihre Tochter zurückholen, wenn eine neue Schwester gebraucht wird. Aber dazu kam es nie, da die Herrin von Avalon ein viel zu schlechtes Gewissen und sogar Angst vor Maylas Zorn hatte.
Sie hatte ihre Tochter überhaupt nicht auf die Erde und auf die Menschen vorbereitet. Aber es schien als hätte Manola selbst alles, was es auf der Erde durch Menschenwerk gab, vergessen. Nur eines konnte sie nie vergessen,- ihre tiefe Liebe zu ihrem Daddy. Aber wie gesagt, das ist eine ganz andere Geschichte, von der es ohnehin viel zu viele Geschichten gibt. Dennoch muss es erwähnt werden, denn Manola hätte ihm ihre avalonische Tochter zu gerne vorgestellt. Aber er kam zu dieser Zeit nicht auf Avalon, obwohl sie ihn innerlich sehnlichst herbei wünschte. Kim (so wurde ihr Daddy auf der Erde genannt und später hieß er Arima, was der Name war, den ihm sein Vater aus der Leuchtenden Welt geben wollte) spürte es wohl, aber es schien, als würde die Kraft ihm das Wiedersehen verbieten. Wie immer das auch gemeint ist. Vor allem dachte Manola daran, den großen Arima zu fragen, ob es vielleicht möglich wäre, Mayla auf die Leuchtende Welt zu bringen.
Die Leuchtende Welt ist die natürliche Weiterentwicklung der alten Erde. Einige der früheren Menschen hatten es geschafft, sich zum so genannten Guten zu entwickeln und wurden Leuchtende Wesen. Was die zweite Generation Menschen betrifft, deren Schicksal ist ein anderes.
Aber diese Geschichte ist ohnehin schon kompliziert, als wollen wir sie mit den alten Geschichte nicht noch komplizierter machen. Dennoch hängt alles mit dem Phänomen Zeit zusammen. Man bedenke nur, dass Manolas Vater zu seinen Lebzeiten auf der Erde bereits in die so genannte Zukunft reiste, indem er der Leuchtenden Welt einen Besuch abstattete. Wäre es da nicht weniger verwunderlich, wenn die neue Herrin von Avalon Generationen von Evolutionen überlebt, da auf Avalon so gut wie keine Zeit vergeht? Und es muss ja nicht immer alles verständlich erklärt werden.

Mayla lebte sich aber gut auf der Erde ein, obwohl sie sich nie wirklich wohl dabei fühlte. Die ersten Eindrücke lösten wohl ein unheilbares Trauma aus. Sie hasste die Menschen von Anfang an und hatte kaum Vertrauen zu diesen kalten und lauten Wesen. Bei ihrem ersten Besuch in der großen Stadt hatte sie nach der ersten Aufregung Zeit, sie zu beobachten, wie sie hektisch links und rechts an ihr vorbei eilten, als könnten sie sie sehen, obwohl sie durch den Zauberring unsichtbar war. Nur wenige rempelten sie an und wandten sich dann überrascht um. Alles war grau in grau. Nicht mal in den Schaufenstern der Kaufhäuser gaben sich die Menschen mehr Mühe. Es gab auch kaum etwas zu sehen darin, da immer weniger Geld zum Einkaufen vorhanden war. Deshalb war die erste Zeit für Mayla auch nicht leicht. Dennoch brauchte sie etwas zu essen, wenn auch nicht so viel wie die Erdenmenschen. Auf Avalon war man genügsam, obwohl gutes Essen an der Tagesordnung war. In einer Welt, wo alles grünt und blüht, wird man schon mit den Augen satt, da braucht es keine Kohlehydrate und keinen Zucker, um an hohen Blutdruck und Schlaganfällen zu leiden, wie in der Welt der Menschen, wenn es ihnen an Nahrung nicht fehlt.
Oftmals wunderte sich Mayla in ihrem ersten Leben auf der Erde über die Menschen. Gut, es gab bald Krieg und da war es verständlich, dass sich jeder selbst schützen wollte. Aber später, als der Aufschwung kam und die Menschen wirklich leben, das Leben genießen hätten können, machten sie sich durch harte Arbeit kaputt.
Mayla schlug sich selbst mit Raubzügen durch ihre Leben. Es war für sie zu gefährlich, sich einen Pass oder Ausweis zu besorgen. Man würde zu viele Fragen stellen und dann könnte es durchaus sein, dass man sie in ein Versuchslabor steckt, wie ihre Mutter in dem Brief unter anderem gewarnt hatte. Aber Mayla lebte nie in Überschwang. In keiner Beziehung. Das brauchte sie nicht. Bescheidenheit war für sie nicht nur eine Zier, sondern ihre Lebensart.
Bald bemerkte sie auch, dass es viele Menschen nach Süden zog, wo es immer warm war und man sich nie vor der Kälte schützen musste. Damals gab es noch Flugzeuge, mit denen sie reisten. Das war nach dem ersten Krieg, den Mayla erlebt hatte und nach ihrem dritten Leben. Aber mal langsam, denn die erste Wandlung sollte schon beschrieben werden und vor allem auch die Überraschung oder viel mehr Verwirrung der alten Frau, die plötzlich wieder blutjung war.
Wie gesagt, Mayla hatte sich relativ gut eingelebt. Sie wusste, wo sie schlafen konnte und zu essen und zu trinken hatte sie auch genug. Ihr Hunger- und Durstgefühl steigerte sich zwar, aber sie brauchte dennoch viel weniger Nahrung als die meisten Menschen. Was ihr in den ersten Jahren auch auffiel, war, dass sie sich schwerer fühlte. Es ging nichts mehr so leichtfüßig, als sie das erste Mal in die Stadt ging – ja, damals fast schwebte. Das lag nicht nur am Älterwerden, sondern die Masse ihres Körpers verdichtete sich. Die Wesen auf Avalon sind um einiges feinstofflicher. Man könnte sagen, sie sind dem ähnlich, was Menschen den Ätherleib nennen. Auf der Erde wird ein Wesen, das von den so genannten Zwischenwelten oder Zwischendimensionen der Erde auf die Erde kommen, mit der Zeit dichter, was dann logischerweise dazu führt, dass sich diejenigen Wesen schwerer fühlen.
Mayla spürte, dass irgendetwas nicht mit ihr stimmt. Die wenigen äußerlichen Veränderungen (wie gesagt, sie sah nie wirklich alt aus) waren ihr natürlich aufgefallen, - vor allem das weiße Haar, aber vor allem fühlte sie sich besonders müde. Es gab in der Nähe der Stadt noch ein kleines Wäldchen, was eine Seltenheit war, denn im Krieg, den Mayla miterleben musste, wurde so ziemlich alles den Erdboden gleich gemacht. Aber dieses Wäldchen, auf der anderen Seite der Stadt, blieb und war oft Maylas Zuflucht, wenn ihr die Menschen und ihr Lärm zu viel wurden. In der Nähe von Bäumen wurde sie immer ruhiger. Sie fühlte sich mit ihnen einfach mehr verbunden als mit Menschen. Das war auch schon auf Avalon so und Manola (auf Avalon „Morgana“ genannt) hätte keine Angst haben müssen, die Anzahl der Schwesternschaft durcheinander und deshalb Disharmonie zu bringen. Mayla war viel mehr eine Baumfee als eine Schwester, was durchaus vorkommen kann, auch wenn ihre Eltern die „Oberschwester“ und ein Zeitreisender waren. Abstammung ist auf Avalon und den anderen Zwischenwelten keineswegs genbedingt. Aber wir wollen nicht vorgreifen.
Mayla hockte sich schwer atmend an einen der hohen Nadelbäume und schloss die Augen. Sie wusste bereits, was für Menschen der Tod bedeutet und fühlte, dass es bei ihr nun auch so weit war. In den Kriegszeiten (sie waren zehn Jahre nach ihrer Ankunft auf der Erde) hatte sie viele Menschen sterben sehen, aber auch viele vor dem Tod gerettet. Damals wurde nicht nach Ausweisen gefragt, denn Krankenschwestern waren mehr als gefragt und man war dankbar für jede Hilfe. Es war nicht leicht für Mayla. Wieder fühlte sie Angst und auch Abscheu, aber sie rang sich durch und tat viel mehr als nötig war. Manche Menschen konnte sie durch ihre avalonische Kraft, die noch immer in ihr pulsierte, heilen und das, ohne sich zu verraten. Nach Kriegsende machte sie sich wieder unsichtbar und hielt sich meistens abseits von den Menschen auf.
Jetzt schien es, als würde auch sie sterben. Das Atmen fiel ihr immer schwerer. Es dämmerte bereits. Im Westen, in die Richtung, in die sie blickte, ging gerade die Sonne unter. Mayla schien einzuschlafen. Aber sie starb. Tatsächlich. Es war kein Leben mehr in ihr. Tot saß sie an den Baum gelehnt, den sie sich als Sterbebeistand ausgesucht hatte. Und nach Stunden, etwa um Mitternacht, geschah das Wunder. Der tote Körper regte sich und Mayla war von einem Moment auf den anderen wieder das junge Mädchen, als das sie mit ihrer Mutter auf die Erde gekommen war.

Im ersten Moment wusste sie nicht, wo sie war und was sie war. In den ersten Stunden schien all ihre Erinnerung weg zu sein. Gedankenlos irrte sie in dem kleinen Wäldchen von Baum zu Baum, hielt sich torkelnd an Baumstämme fest, sackte zusammen, raffte sich wieder auf und schließlich wagte sie sich auf den Weg in die Stadt, weil sie meinte, Hilfe zu brauchen. Sie suchte nach ihresgleichen. Sie suchte nach Wesen, die Hände und Füße hatten wie sie. Bäume sind anders. Sie sind nicht wie sie und doch...
Mayla drehte sich nach dem kleinen Wäldchen um und schließlich fiel ihr alles wieder ein. Es war, als hätten ihr die Bäume einen Teil der Erinnerung wieder gegeben. Sie war dort hin gegangen, um zu sterben. Aber sie war nicht tot. Oder doch? In der Menschenwelt hatte sie auch Bücher gelesen. Immerhin brachte Manola ihr lesen, schreiben und ein wenig Mathematik bei, um sie wenigstens in dieser Hinsicht auf die Welt der Menschen vorzubereiten. In manchen Büchern stand etwas von Geistern und dass es Menschen gibt, welche die Geister der Verstorbenen sehen können.
Mayla wollte es darauf ankommen lassen und drehte den Ring, an den sie sich auch wieder erinnern konnte, nicht nach unten, um unsichtbar zu sein. Der erste, den sie anrempelte, wandte sich pöbelnd um: „Pass doch auf, du Göre!“ Göre? Mayla fasste eine ihrer langen Haarsträhnen. Ihre Haare waren wieder dunkel, fast schwarz. Mayla blieb stehen und wagte einen Blick in eine Auslage, um ihr Spiegelbild zu prüfen und erschrak. Im nächsten Moment, nach dem ersten Schrecken, drehte in einer unbelebten Passage den Ring nach unten.
Es gab niemanden, den sie fragen könnte, was mit ihr passiert war. Sie musste alleine durch, aber sie tat sich nie selber leid. Mayla war eine Kämpferin durch und durch und ließ sich nie unterkriegen. Angst war zwar noch immer da, denn eine Menschenwelt ohne Angst zu ertragen, war unmöglich. Und auch Wut. Wut spürte sie oft, wenn sie all die Dummheiten der Menschen mitbekam. Aber all das entwickelte sich zu einer Vorsicht und steten Aufmerksamkeit, die Mayla half, vielleicht mehr als 10 derartige Leben auszuhalten.
Beim zweiten Mal war sie wieder sehr erstaunt und brauchte etwas länger, um sich an das Wichtigste zu erinnern: nicht auffallen! Auch an den Ring musste sie sich erinnern, sonst hätte sie auf der Erde nicht überleben können. Arbeiten war nicht drin, denn einen Ausweis oder Pass hätte sie nicht einfach so bekommen. Sie hätte es mit Schwarzarbeit versuchen können, aber für welche Arbeit wäre Mayla geeignet gewesen? Ihr selbst fiel nichts ein.
Je öfter sie starb und sich wieder verjüngte, umso mehr vergaß sie, woher sie gekommen war und mit wem. Das Bild ihrer Mutter verblasste mehr und mehr und die Erinnerung an Avalon wurde zu einer latenten Sehnsucht.
Aber das Leben wurde etwas leichter, als sie in einem Buch (Mayla las gerne. Oft zog sie sich mit einem Buch an einen einsamen Platz zurück und las stundenlang) über den Süden las, und dass es dort immer warm und sonnig und es nur selten Regen gibt. Natürlich waren die Bücher auch gestohlen, wie alles, was sie am Leib trug und was sonst noch nötig war, um zu überleben, aber Bücher trug sie stets wieder ungesehen zurück. Es waren also nur Leihbücher und Maylas einzige Leidenschaft auf der Erde.
Mayla las also, dass die meisten Menschen in den Süden fliegen, wenn sie von der Kälte genug haben. Einen Flugplatz hatte Mayla schon von weitem gesehen, aber man kam dort nur mit Reisepass und Flugkarte hinein. Sich unsichtbar zu machen, war wieder einmal die einzige Möglichkeit. Als Mayla die Sicherheitsschranken passierte, piepsten sie laut und fast hätte sie gedachte, man könne sie sehen. Im Flugzeug war es sehr unbequem, aber Mayla erreichte auch ohne Sitzplatz und mächtiges Durchschütteln (sie hätte sich fast übergeben, aber nur fast!) den ersehnten Süden der Erde, wo es immer warm ist und nur ab und zu regnet.
Heiße Luft wehte ihr entgegen, als sie etwas wackelig (und unsichtbar!) auf den Beinen die Gangway herunter stolperte. So warm wollte sie es auch wieder nicht. In diesem Moment spürte sie wieder tief in ihr diese Sehnsucht nach einem Ort, an dem alles passte, an dem es nichts Gegenteiliges gab wie auf der Erde. Mayla seufzte und machte sich auf den Weg, um den so genannten Süden – zumindest einen Ort im Süden der Erde – zu erkunden. Und das vorerst unsichtbar.

Um klar zu stellen, das, was wir uns in der jetzigen Zeit vom Norden und Süden der Erde vorstellen und darüber zu wissen meinen, ist zu Maylas Zeiten etwas anderes. Die nördlichen Länder, wie etwa die Europas, oder Kanada, Sibirien – also eben das, was wir generell den Norden nennen, gab es damals nicht mehr. Das waren Eiswüsten. Mayla lebte etwa in Mitteleuropa, wo es während der Wintermonate schon zweistellige Grade unter Null haben kann, während es im Sommer die 30° selten übersteigt. Den Süden, den Mayla unsichtbar mit einem Ferienflugzeug (so nannten die Menschen es, da der Süden nur Urlaubsland und nichts Privates war, wodurch die Frage nach den Besitzern der Villen, die Mayla so gefallen haben, auch beantwortet wäre) erreichte, könnte man direkt an den Äquator oder etwas darunter ansiedeln, wo es schon 40° haben konnte, aber die 25° nie unterschritt.
Mayla befand sich also in einem Urlaubsland. Die ganze Urlaubsgesellschaft, samt unsichtbarer Mayla, wurde mit einem Shuttle in ein mit hohen Mauern eingezäuntes Urlaubsparadies mit prächtigen Villen, Gärten, Pools, Sportanlagen und vieles mehr, was den Menschen Vergnügen bereitet, gebracht. Es waren viele Menschen dort, - für Maylas Verhältnisse zu viele. Es gab keinen Ort, wo sie länger allein sein hätte können, außer, sie findet einen Weg nach draußen. Die Tore der umzäunten Mauern waren alle bewacht, als könnte es von draußen Gefahr geben. Das wollte Mayla auch nicht riskieren, auch wenn sie sich für unsterblich hielt. Immerhin war sie zum dritten Mal wieder jung geworden. Sie wusste nicht, wie es ist, wenn sie verletzt worden wäre. Würden ihre Wunden wie durch ein Wunder heilen? Aber darauf wollte sie es nicht ankommen lassen.
Es gab Aussichtstürme an den Mauern, die zwar auch bewacht waren, aber die Urlauber nützen durften, um das wilde Land und das Meer betrachten zu können. Mayla sah zum ersten Mal das große Wasser. Es gab auf Avalon zwar auch große Seen, aber das hier war gewaltig viel Wasser, fand Mayla.
Noch hatte sie kleine Erinnerungen an ihre eigentliche Heimat, aber sie war sich nicht mehr ganz sicher, ob es nicht doch welche an ihre letzten Leben sein könnten. Ihre Mutter hatte sie schon fast vergessen. Sie wusste zwar, dass sie hier her gebracht wurde, denn die Leinentasche, die Kleidung darin und den unschätzbaren Zauberring (dessen Wirkung sie nie vergaß!) hatte sie noch. Den Brief gab es schon nach dem ersten Lesen nicht mehr, da ihn Mayla im Zorn in lauter kleine Stückchen zerrissen hatte. Aber den hatte sie bereits vergessen. Es war ja so, dass Manolas Zauber ein weinig auf ihre Tochter einwirkte. Es lag nicht so sehr an das Vergessen durch die Tode und Verjüngungen, was zwar auch in Betracht gezogen werden könnte, aber es war viel mehr Manolas Zauber, der ihre Tochter vor noch mehr Schmerz schützen sollte. Wenn sie vergessen konnte, war sie glücklicher auf der Erde. Zumindest dachte das Manola.
Aber Mayla war nie wirklich glücklich. Bloß einmal, wie bereits erwähnt, vor dem zweiten großen Krieg und die Villen, die einst in Urlaubsländer (es gab ja nicht nur dieses, in welches Mayla reiste) gebucht werden konnte, in Beschlag genommen wurden, um Feste darin zu feiern. Etwas später breitete sich der Krieg wie ein unheilbarer Virus auf der gesamten Erde aus. Es schien, als wollten sich die Menschen gegenseitig ausrotten.

Es war nicht so einfach wie in der Stadt, im Urlaubsland Fuß zu fassen, da dort nur das arbeitende Volk und nicht einmal das, ständig dort lebte. Mayla arbeitete nicht. Sie war eine Diebin, aber eine, die stets nur das Wichtigste zum Leben nahm und sehr genügsam war. Bald bekam sie heraus, dass es am besten wäre, wenn die nächsten Urlauber durch ein Tor nach innen kamen und sie nach draußen schlüpfen konnte, um sich dort mal umzusehen, auch wenn es gefährlich werden könnte.
Es gab in diesem südlichen Land einige so genannte Urlaubsstädte und nicht alle waren von einer bewachten Mauer umgeben. Mayla hatte davon gehört und nun war sie auf der Suche nach einem etwas lockereren Urlaubsparadies. Irgendwo auf dem Weg traf sie auf eine Kontrollpatrouille und sprang schnell hinten auf dem Jeep auf, der sie – welch ein Glück – in eine dieser Städte brachte, wo die Menschen sich freier bewegen konnten. Mayla fand nie heraus, warum manche dieser Urlaubsdomizile bewacht wurden. Fürchtete man Räuber oder Schlimmeres? Im Endeffekt waren das die zukünftigen Ballungszentren, in denen nur bestimmte Menschen aufgenommen werden und jene, die krank oder zu arm waren, mussten draußen bleiben. Wahrscheinlich wollte man schon damals die Möglichkeiten testen, wo nur die Elite der Menschheit übrig blieb.
Der Jeep hielt in einer Stadt direkt am Meer, wo ein Hafen war, an dem große, wie auch kleine Schiffe anlegten. Es gab auch einen Yachthafen, in dem sehr reiche Leute ihre Yachten und Boote liegen hatten. Es wirkte tatsächlich wie eine Stadt und nicht wie der letzte Ort, der eher wie ein Gefängnis der reichen oder zumindest reicheren Menschen anmutete.
Mayla vergewisserte sich durch einen Griff an den Ring, ob sie noch immer unsichtbar war, denn der Ring hätte durch die unruhige Fahrt verschoben werden können. Am Hafen, wie auch am Yachthafen und der Strandpromenade waren viele Menschen. Aber wenn man zum erstem Mal das Meer sieht, muss man so lange daran entlang gehen, wie nur möglich. Irgendwo fand sie eine einsamere Bucht und hockte sich in den Sand, um den ersten Sonnenuntergang am Meer zu genießen. Erst, als es dunkel war, drehte sie den Ring auf sichtbar und ging zurück in die Stadt, um die Hotels zu besichtigen. Sie waren genauso wunderschön und wie Villen oder gar Schlösser gebaut, wie im Mauer umrandeten Urlaubsdomizil, wenn nicht schöner. Mayla ging eine Gasse hoch, bis zum letzten Hotel und schritt durch ein Schmiedeeisentor und einen Kiesweg entlang. Zur Sicherheit, da sie den Lärm von Menschen hörte, drehte sie den Ring auf unsichtbar.
Jetzt, in ihren letzten Lebensminuten, erinnerte sich Mayla daran, als sie die Villa am Hügel zum ersten Mal gesehen und besucht hatte. Es war lange her. Es war einige Leben lang her. Aber immer wieder kam sie hierher zurück, um die schönste Zeit ihres Daseins auf der Erde zu erleben. Diese schönste Zeit kam erst in diesem Leben, in ihrem letzten, wie es schien, denn noch nie hatte sie sich so müde und irgendwie ausgelebt gefühlt wie diesmal. Auch Manola fühlte es, als sie langsam die morschen Treppen herunter kam und ihre Tochter in der staubigen Ecke des ehemals schönsten Hotels der Stadt, erschöpft an die Mauer gelehnt, sitzen sah.
Mayla seufzte, als sie sich erinnerte, wie sie zum ersten Mal durch das prächtige Portal schritt, die Treppen hoch, bis zur riesigen Terrasse, wo sie einen atemberaubenden Ausblick hatte. Sie fand schnell einen Schlafplatz, denn die Fahrt auf dem Jeep und der Fußmarsch am Meer entlang hatten sie müde gemacht. Irgendwo in einer Ecke der Terrasse stand eine Liege, auf der sie es sich bequem machte. Es war noch immer sehr warm und laut Wetterbericht, den sie im Sender des Jeeps mitbekommen hatte, wird es noch wärmer, - bis zu 42°, was bedeutet, dass in der Nacht auch nur wenig abkühlt. Aber der Ausblick am Morgen, als sie die Augen aufschlug und zugleich die Sonne aufging, entschädigte sie sogar für diese Temperaturen.
Mayla schlief oft auf dieser Terrasse. Sie wollte auch diesmal die Treppen hoch und nach oben, um auf das Meer hinaus zu blicken und nicht zu viele Blicke auf die einst so schöne Stadt werfen, die nur mehr aus Ruinen bestand. Aber sie wollte sich erst einmal ausrasten, um dann später nach oben zu gehen. Jetzt erinnerte sie sich wieder an das Leben, als sie das erste Mal in diese Stadt und in dieses Hotel kam. Sie blieb für eine Weile, aber sie wanderte auch weiter, in andere Urlaubsdomizile, die es hier am Meer zu Genüge gab. So fiel es nicht weiter auf, wenn immer wieder irgendwo Nahrung oder Kleidung fehlte, auch wenn Mayla genügsam war. Aber sie kam immer wieder zu „ihrem“ Hotel zurück. Nur dann nicht, wenn sie spürte, dass ein neues Leben auf sie wartete. Dann zog sie sich zurück in eine Wüstengegend, wo sie eine kleine Oase entdeckte, mit einem Teich und einigen Palmen, die Schatten spendeten. Hier war sie sicher vor Menschen. Wildtiere gab es kaum mehr. Nutztiere ja, denn der Mensch aß noch immer am liebsten Fleisch. Mayla aß alles, aber am liebsten war ihr Obst in allen Sorten.
Der Süden war nun ihre neue Heimat geworden. Manchmal zeigte sie sich den Menschen, setzte sich abends in eine Bar und versuchte sich an einem Drink, der ihr am nächsten Morgen Kopfschmerzen bereitete, oder sie spielte mit einer kleinen Gesellschaft Minigolf, was ihr sogar Spaß machte. Aber sie ließ nähere Bekanntschaften, die sich mehrmals hintereinander trafen, niemals zu, obwohl sie spürte, dass man sie sofort mochte. Mayla hatte etwas an sich, was die Menschen anzog. Es war das Elfenhafte, das Avalonische, das sie spürten und nicht deuten konnten.

Mayla kämpfte sich also schlecht und recht durch ihre Leben und versuchte das Beste aus allem zu machen, auch wenn es ihr sehr oft schwer fiel und sie sich nach der Nähe von großen, starken Bäumen sehnte, von denen es im Süden, in den Urlaubslanden, nur wenige gab. Die Oase war ihr stets ein Trost, mit den schattenspendenden Palmen. Es gab in der Nähe des Hotels am Hügel einen Pinienwald und hinter dem Pavillon, der rechts vor dem Hotelportal stand, drei prächtige Magnolienbäume, an die sie sich gerne lehnte und am liebsten mit ihnen verschmolzen wäre. Diese Neigung, mit Bäumen zu verschmelzen, spürte sie von Leben zu Leben immer mehr. Es zog sie viel mehr zu ihnen, als zu irgendwelchen Menschen, obwohl sie sich in ihrem letzten Leben fast in den jungen Mann verliebt hätte, der sich die meiste Zeit im Hotel am Hügel aufhielt und auf sie zu warten schien. Während der Feste und Abenddarbietungen suchte er stets ihre Nähe und es war Mayla nicht unangenehm. Vielleicht fand sie diese Zeit deshalb als ihre schönste, weil sie etwas Menschliches spürte, obwohl sie die menschliche Liebe mehr als Besitztum als den Wunsch des Wohlwollens für andere empfand. Dennoch war es ein angenehmes Gefühl und sie lehnte sich gerne,während der Tänze, in die Arme ihres Verehrers, der sie „meine Fee“ nannte. Mayla hatte in ihren Leben auf der Erde viele Namen. Den, den ihr ihre Mutter gab, nämlich Mayla, hatte sie längst vergessen. Aber Namen waren ihr gleichgültig. Und so oft wurde sie auch nicht danach gefragt, außer in ihrem letzten Leben, wo sie die Gegenwart der Menschen öfters aufsuchte.

Man bekam in den Urlaubslanden kaum mit, dass im Norden bereits ein fürchterlicher Krieg ausgebrochen war und als er sich in den Süden verlagerte, war es für die meisten Menschen zu spät. Sie sahen die Gefahr nicht kommen, als Bomben abgeworfen wurden, die alles dem Erdboden gleich machten. Mayla flüchtete in die Wüste zur Oase und zog dann immer weiter in den Süden, wo sie sich nur mehr kläglich selbst ernähren konnte. Das war dann die schlimmste Zeit ihres Lebens auf der Erde. Nicht mal nach dem ersten Krieg, wo sie oft als Lebensretterin fungierte, fühlte sie sich so mies und elend, wie in den letzten Jahren, bevor sie nochmals zu dem Ort zurück kehrte, an dem sie sich wohl gefühlt hatte.

Es war kahl um das einstige Hotel am Hügel, das nur mehr aus einer dreistöckiger Ruine bestand, wo es gefährlich war, das marode Treppenhaus zu benutzen, wie Manola es tat, um im rechten Moment bei ihrer Tochter zu sein. Nun war es so weit. Maylas Augen waren geschlossen. Sie atmete nur mehr stoßweise. Manola beeilte sich über die letzten Treppen, lief zu ihrer Tochter, hob sie hoch und konzentrierte sich auf ihre Heimat Avalon.
Im nächsten Moment befanden sie sich auf der Wiese zwischen zwei mächtigen Bäumen, die wie Wächter zu einem Eingang wirkten, der nur wenigen gestattet ist. Manola kniete neben ihrer schlafenden Tochter, die bald ihre Augen öffnete. Mayla lächelte, als sie ihre Mutter erkannte und ihr alles mit einem Schlag bewusst wurde. Manola musste ihr nichts erzählen, ihr nichts beichten und hatte auch den Zorn ihrer Tochter nicht zu befürchten. Sie nahmen sich an den Händen und gingen zum alten Kloster zurück, an dem sich nichts verändert hatte.
Nichts hatte sich hier verändert. Die Wiesen, die Blumen und Büsche und die kleinen Bäche, wie auch Seen und die sanften Hügel, auf dem das alte Baumhaus einer Zwergenfamilie stand. Alles wie gehabt. Mayla seufzte und dachte an die Menschen, die sich in ihrem Leben stets abplagten und alles so ernst nahmen.
Als sie im Klosterhof vor ihrem Lieblingsbaum stand, den sie in ihren ersten Leben so oft angerufen hatte, zog sie ihr Kleid aus und hockte sich nackt an den Stamm, dessen Wurzeln aus der Erde ragten und wie zu einer Umarmung nach ihr fassten. Auch Mayla fasste nach dem Baum, indem ihre Finger und Zehen sich zu langen Wurzeln formten und langsam mit dem Baum verschmelzten.
Manola stand hilflos daneben, aber sie wusste, dass dies geschehen wird, dass sie ihre Tochter von nun in diesem Baum wissen wird. Es half nichts, sie zurück zu rufen. Mayla hatte sich entschlossen und gab ihrer Mutter zu verstehen, dass die ganze Evolution ist nur ein dummer Gedanke sei. Nur das Sein ist es, was zählt. Und wenn aus diesem Sein nur eine winzige Idee verloren geht und wir mit dieser Idee mitgehen, entsteht so etwas wie ein Universum.
„Aber das Leben ist doch schön!“ rief Manola ihr zu.
„Es ist nicht echt, nicht wahr“, entgegnete Mayla, die immer mehr mit dem Baum verschmolz. „Es ist nur eine Idee, die zu etwas Festem geworden ist. Aber das Feste verändert sich. Es vergeht. Auch Avalon wird bald vergehen, weil die Erde vergeht. Ohne ihre Kraft kann es die Zwischenwelten nicht mehr geben. Das Leben ist sinnlos, bedeutungslos. Man muss das nicht negativ auffassen. Es ist nun mal so, dass nichts, was man im Leben tut, Sinn ergibt oder Bedeutung hat. Man kann es nicht ernst nehmen, wenn man die Wahrheit erkannt hat. Und ich weiß, solange es diese Idee im festen Zustand noch gibt, ist die einzige Existenz, die dem Wahren nahe kommt, die Existenz eines Baums. Bäume bewegen sich nicht, sie tun nichts, aber sie sind da.“
Manola ging oft zum alten Banyanbaum und sprach mit ihrer Tochter. Es war eine Prophezeiung, denn bald sollte es die Zwischenwelten wirklich nicht mehr geben. Die Entwicklung ging trotzdem noch weiter, so lange, bis aus Manola und vielen anderen Wesen die Ganzheit Sila wurde und sie sich am Ende mit einer anderen Ganzheit, genannt Arima, vereinigte und somit wieder das ewige, reine und unverwundbare Sein hergestellt wurde (wird?).