In leicht anklagendem Ton sagte ich, wie unangenehm es mir gewesen sei, als er sich die letzten beiden Tage weigerte, mit mir zu sprechen. Don Juan sah mich mit hochgezogenen Augenbrauen an. Ein Lächeln huschte über seine Lippen und verschwand wieder. Ich begriff, er wollte mir zu verstehen geben, dass ich nicht viel besser sei als la Gorda.
„Ich wollte nur deinen Eugendünkel provozieren“, sagte er stirnrunzelnd. „Der Eigendünkel ist dein größter Feind. Denk mal darüber nach: was uns schwächt, ist unser Gefühl, durch das Tun und Lassen unserer Mitmenschen verletzt zu sein. Unser Eigendünkel bewirkt, dass wir uns die meiste Zeit unseres Lebens von irgendjemandem gekränkt fühlen.
Die neuen Seher empfahlen, der Krieger solle sich nach Kräften bemühen, den Eigendünkel aus seinem Leben auszutilgen. Ich habe versucht, diese Empfehlung zu befolgen, und meine ganze Arbeit mit dir zielte darauf ab, dir zu demonstrieren, dass wir ohne Eigendünkel unverletzlich sind.“
Während ich ihm zuhörte, leuchteten seine Augen plötzlich auf. Ich meinte schon, er werde in ein Gelächter ausbrechen, wozu doch gar kein Grund bestand, als mich plötzlich ein schmerzhafter Schlag auf meine rechte Backe aufschreckte.
Ich sprang auf. La Gorda stand hinter mir – die Hand noch immer erhoben. Ihr Gesicht glühte vor Zorn.
„So, jetzt kannst du über mich reden, soviel du willst. Jetzt hast du wenigstens einen Grund dazu“, schrie sie. „Und falls du etwas zu sagen hast, sag es mir ins Gesicht!“
Ihr Gefühlsausbruch hatte sie anscheinend erschöpft. Sie setzte sich auf den Straßenbeton und fing an zu weinen. Don Juan sagte nichts und lächelte belustigt. Ich war starr vor Wut. La Gorda funkelte mich an, dann drehte sie sich nach Don Juan um und sagte, wir hätten kein Recht, sie zu kritisieren.
Don Juan krümmte sich vor Lachen, fast, dass er sich am Boden wälzte. Er brachte kein Wort heraus. Zwei- oder dreimal versuchte er mir etwas zu sagen, aber schließlich gab er es auf und entfernte sich, seine Gestalt noch immer von einem Lachkrampf geschüttelt.
Ich wollte ihm nachlaufen, und warf la Gorda noch einen letzten bösen Blick zu – so verächtlich fand ich sie in diesem Augenblick -, als etwas Außerordentliches mit mir vorging: Auf einmal begriff ich, was Don Juan so spaßig gefunden hatte. La Gorda und ich waren uns ganz ähnlich. Beide hatten wir einen gewaltigen Eigendünkel. Meine Überraschung und Empörung darüber, geohrfeigt worden zu sein, unterschied sich in nichts von la Gordas Wut und Misstrauen. Don Juan hatte recht. Die Bürde des Eigendünkels ist ein beschwerliches Hindernis.
Ich lief ihm hinterher, in geläuterter Stimmung, und Tränen flossen mir über die Wangen. Als ich ihn eingeholt hatte, erzählte ich ihm von meiner Erkenntnis. Seine Augen funkelten lustig und boshaft.
„Was soll ich jetzt wegen la Gorda tun?“ fragte ich.
„Nichts“, sagte er. „Erkenntnisse sind immer etwas Persönliches.“

„Der Eigendünkel ist keine einfache oder unschuldige Angelegenheit“, erklärte er. „Zum einen ist er der Kern all dessen, was gut an uns ist, aber zum anderen ist er der Kern all dessen, was faul ist. Um den faulen Teil des Eigendünkels loszuwerden, braucht es ein Meisterstück der Strategie. Und wem dies gelungen ist, dem haben die Seher zu allen Zeiten höchstes Lob gespendet.“
Ich wandte ein, dass mir die Vorstellung, den Eigendünkel auszulöschen, auch wenn sie mir oft überzeugend erscheine, doch unbegreiflich sei. Seine Empfehlung, ihn so einfach abzulegen, erschiene mir so unbestimmt, dass ich sie nicht befolgen könne.
„Man muss einfallsreich sein“, sagte er, „wenn man den Pfad des Wissens folgen will. Weißt du, auf dem Pfad des Wissens ist nichts so klar, wie wir es gerne hätten.“

„Wenn der Krieger sein Eigendünkel bekämpft, so geschieht dies nicht aus Prinzip, sondern als Strategie. Du machst nur den Fehler, meine Worte unter moralischem Blickwinkel zu sehen.“
„Aber ich sehe in dir einen sehr moralischen Mann, Don Juan“, sagte ich.
„Du hast lediglich meine Makellosigkeit bemerkt, das ist’s wohl“, sagte er.
„Makellosigkeit, Ablegen des Eigendünkels – das sind mir viel zu unbestimmte Ideen, als dass ich damit etwas anfangen könnte“, stellte ich fest.
„Makellosigkeit, das ist nichts anderes als das richtige Einsetzen von Energie“, sagte er. „Meine Erklärung hat wirklich nichts mit Moral zu tun. Ich habe lediglich genug Energie aufgespart, und das macht mich makellos. Aber um diese Dinge zu verstehen, müsstest du selber genug Energie aufsparen.“

„Die Krieger legen sich ein strategisches Inventar an. Sie listen alles auf, was sie tun. Und dann entscheiden sie, welche von diesen Dingen sich ändern lassen – unter dem Gesichtspunkt, die Verausgabung von Energie hinauszuschieben.“

Im strategischen Inventar eines Kriegers, sagte Don Juan, sei der Eigendünkel derjenige Posten, der die meiste Energie verbrauche – daher das Bestreben, ihn loszuwerden.
„Eines der wichtigsten Anliegen eines Kriegers ist, diese Energie freizusetzen, um mit ihrer Hilfe dem Unbekannten entgegen zu treten“, fuhr Don Juan fort. „Das Umdirigieren dieser Energie – das ist Makellosigkeit.“
Die erfolgreichste Strategie hätten, wie er sagte, die Seher aus der Zeit der Konquista ausgearbeitet, diese unbestrittenen Meister des „Pirschens“. Sie bestünde aus sechs Elementen, die einen Zusammenhang bilden. Fünf davon bezeichnen wir als die Attribute der Kriegerschaft. Kontrolle, Disziplin, Voraussicht, Timing und Wille. Sie gelten für die Welt des Kriegers, der darum kämpfe, seinen Eigendünkel abzulegen. Das sechste Element, das wichtigste vielleicht, gelte für die äußere Welt, und wir bezeichneten es als den “kleinen Tyrannen“.

„Ein kleiner Tyrann ist ein Quälgeist“, erwiderte er. „Jemand, der entweder Macht über Leben und Tod eines Kriegers hat, oder ihn lediglich so lange plagt, bis er seinen Weg verlässt.“

Don Juan sagte, es gebe zwei Untergruppen der kleinen Tyrannen. Die erste Gruppe bildeten jene kleinen Tyrannen, die einen plagen und elend machten, ohne einen wirklich zu Tode zu bringen. Dies seien die „schäbigen, kleinen Tyrannen“. Die zweite Gruppe bildeten jene kleinen Tyrannen, die nur ärgerlich und unendlich lästig seien. Dies seien die „albernen kleinen Tyrannen.

„La Gorda ist eine Klasse für sich“, meinte er abschließend. „Sie ist ein alberner kleiner Tyrann, in voller Aktion. Sie ärgert dich, bis du vor Wut explodierst, und macht dich rasend. Sie ohrfeigt dich sogar. Mit alledem will sie dich Gleichmut lehren.“
„Das ist unmöglich!“ protestierte ich.
„Du überblickst noch nicht alle Bestandteile dieser Strategie der neuen Seher. Bist du erst einmal soweit, dann wirst du wissen, welch ein wirksames und kluges Hilfsmittel es ist, einen kleinen Tyrannen zum eigenen Vorteil zu nutzen. Ich sage dir, diese Strategie ist nur nützlich, um den Eigendünkel abzulegen; sie bereitet den Krieger auch auf die letzte Erkenntnis vor, dass Makellosigkeit das einzige ist, worauf es auf dem Pfad des Wissens ankommt.“

Kleine Tyrannen oder Die Freude des Alchimisten
Bevor ein Krieger dem Unbekannten sicher begegnen kann, muss er seine eigene Wichtigkeit bezwungen haben. An dieser Stelle kommen die kleinen Tyrannen ins Spiel. Sie sind die Personen, die unser Leben zur Hölle machen, wobei die Hölle selbstverständlich darin besteht, daß wir uns maßlos wichtig nehmen und meinen, nicht entsprechend behandelt worden zu sein. Verständlich, daß ein normaler Mensch, der noch alle sieben Tassen im Schrank hat, die kleinen Tyrannen meidet, wo es nur geht. Ein Krieger sucht jedoch irgendwann im Laufe seines Trainings vorsätzlich die Gesellschaft der kleinen Tyrannen. Er beabsichtigt damit, seinem Gefühl der eigenen Wichtigkeit den finalen Stoß zu versetzen, denn kein anderes Element des Kriegerweges ist so stark geeignet den Kriegergeist in Hochform zu bringen wie die kleinen Tyrannen. In ihrer Gegenwart kann er sich nicht leisten, in seinem gewohnten Selbst zu verharren, ohne daß ihm die Welt zur Hölle wird. Die einzige Wahl, die ihm bleibt, ist die Prinzipien des Pirschens rücksichtslos auf sich selbst anzuwenden und sich mit dem Montagepunkt davonzustehlen, bis er eine Position erreicht, wo die eigene Wichtigkeit keine Rolle mehr spielt. In dieser Position unterliegt der Montagepunkt nicht mehr den bindenden Kräften der Selbstreflexion und der Sozialisation, die ihn sonst an die Position der Alltagswelt gefesselt halten. Der Krieger ist frei.
Das Konzept der kleinen Tyrannen fordert natürlich nicht, daß ein Zauberlehrling sich unvermittelt und blindlings der Gesellschaft aller möglichen und unmöglichen Leute aussetzt. Auch geht es nicht darum, unter den Schikanen der anderen zu leiden und zu versuchen, die eigenen Gefühle zu unterdrücken. Damit hätte niemand etwas neues gelernt. Um das Wunder in diesem strategischen Manöver der Zauberer zu begreifen, scheint mir nur ein Vergleich angemessen: das höchste Bestreben der Alchemie. Dem Krieger soll endlich das gelingen, worauf die Alchimisten vieler Jahrhunderte abzielten, nämlich die Verwandlung eines unedlen Materials, z.B. Blei, in pures Gold. Im Allgemeinen unbekannt ist die Tatsache, daß es den Alchimisten nicht um materielle Güter ging ("Aurum nostrum non est aurum mundi." - "Unser Gold ist nicht das Gold der Welt."), sondern daß sie sich einer Sprache der Elemente für den Transformationsprozeß des Bewußtseins bedienten. Das Gold der Alchemie ist das verlorengegangene Wissen und auch bei dem "Stein der Weisen" dürfte es sich um mehr gehandelt haben als einen einfachen Kiesel. Übereinstimmend mit den Alchimisten berichten auch die Tolteken über Gold als die Farbe der Ewigkeit und des Staubes auf den Flügeln der das Wissen hütenden Nachtfalter.
Ein Krieger benutzt nun die kleinen Tyrannen als das entscheidende Agens catalyticum, um die Transformation des Alchimisten glücken zu lassen. Gemäß einem modernen Setting verwendet er als Ausgangssubstanz jedoch nicht Blei, sondern Scheiße. Und siehe da, es klappt! Vielleicht war es der Fehler der Alchimisten, sich nicht über den Ausgangszustand ihres Bewußtseins im Klaren zu sein, ein Krieger allerdings weiß, womit er anfängt, und daß es nicht die kleinen Tyrannen sind, die scheiße sind, sondern er selber. Und während eben diese die Scheiße mitunter buchstäblich aus ihm herausprügeln, verwandelt er sich in reines Gold. Die Freude, die ein Krieger unter den Schlägen empfinden kann, ist - jenseits von Masochismus - die Freude eines Menschen, der endlich einen Weg gefunden hat, sein Ego hinter sich zu lassen und das Unausdenkliche zu erleben. In jenem Moment erwacht etwas im Krieger, eine unbändige Freude, ein Gefühl des Triumphes, und fängt an in seinem Körper zu glühen. Wohl nicht rein zufällig beginnt Carlos Castaneda's Buch Das Feuer von innen mit dem Konzept der kleinen Tyrannen.
Den kleinen Tyrannen in einer anderen Gestimmtheit als der des Kriegers zu begegnen ist sinnlos. Denn solange wir ihnen als Opfer begegnen, stürzen sie uns nur tiefer in Selbstmitleid, anstatt unseren Montagepunkt wegzufegen und die Glut unserer Energiefasern anzufachen. Wer auf einem Weg mit Herz geht, kann warten. Irgendwann sind die kleinen Tyrannen an der Reihe. Und wer nicht ganz taub ist für die Zeichen des Geistes, wird wissen, wann ihm die Stunde des Alchimisten geschlagen hat.

Häppchenweise
und alles zu seiner Zeit.

„Ich wollte nur deinen Eugendünkel provozieren“, sagte er stirnrunzelnd.
„Der Eigendünkel ist dein größter Feind. Denk mal darüber nach: was uns schwächt, ist unser Gefühl, durch das Tun und Lassen unserer Mitmenschen verletzt zu sein. Unser Eigendünkel bewirkt, dass wir uns die meiste Zeit unseres Lebens von irgendjemandem gekränkt fühlen.

Die neuen Seher empfahlen, der Krieger solle sich nach Kräften bemühen, den Eigendünkel aus seinem Leben auszutilgen. Ich habe versucht, diese Empfehlung zu befolgen, und meine ganze Arbeit mit dir zielte darauf ab, dir zu demonstrieren, dass wir ohne Eigendünkel unverletzlich sind.“

„Was soll ich jetzt wegen la Gorda tun?“
fragte ich. „Nichts“, sagte er.
„Erkenntnisse sind immer etwas Persönliches.“