Thygyrill lief immer tiefer in den Wald hinein, bis er das Kampfgeschrei seines Volkes und das der Angreifer nicht mehr hörte. Es geschah alles so plötzlich. Niemand wusste, woher sie kamen, denn niemand hatte sie bis jetzt gesehen, - bis zu dieser Stunde, als sie von allen Seiten in das Dorf kamen und die Bewohner erbarmungslos abschlachteten, noch bevor diese wussten, wie ihnen geschah. Er hätte kämpfen können, so wie sein Nachbar, der ein kostbar aussehendes Schwert aus seinem Haus holte und sich den Angreifern tollkühn entgegen stürzte. Thygyrill sah nicht mehr, wie sein Nachbar starb, - er wusste nur, dass jede Gegenwehr vergebens ist und es nur eines gibt – Flucht, was gar nicht so einfach war, denn die Angreifer hatten das Dorf umzingelt. Immer mehr drangen in das Dorf ein und metzelten alles nieder, was sich ihnen in den Weg stellte. Sie sahen aus wie Tiere – waren alle in Felle gekleidet und waren mit Äxten, Schwertern und schwingenden Stahlkugeln, an denen gefährliche Stacheln waren, bewaffnet. Thygyrill konnte ihre rotleuchtenden Augen und die weitaufgerissenen Mäuler, mit beängstigenden Raubtiergebissen, sehen, - und ihm graute.
Er wusste nicht mehr, wie er es schaffte, unbemerkt an ihnen vorbei zu kommen und immer tiefer in den Wald, der viel mehr ein dichter Dschungel war, hinein zu laufen. Fakt war – er schaffte es und schien der einzige Überlebende seines Dorfes zu sein.
Es war still um ihn, - still und dunkel. Der Himmel über ihm, der nur teilweise wegen der dichten, hohen Bäume sichtbar war, bestand aus dunklen Wolken, welche die sonst strahlende Sonne, verbarg. Auch in Thygyrill sank das noch vor kurzem so Strahlende und Zufriedene tief ab, - statt dessen erhob sich ein Gefühl der Dunkelheit und Einsamkeit wie noch nie. Es war ihm bewusst, dass er sein Dorf, welches er liebevoll „Utopia“ nannte, für immer verloren hatte. Utopia war seine Zuflucht, - der Ort, an dem er sich zurück ziehen konnte, - der Ort, mit dem er sich verwachsen fühlte. Es war schlechthin DAS Paradies. Nie kam ihm der Gedanke, dass es dieses Dorf einmal nicht mehr geben könnte, - dass sich irgendetwas an ihm verändern würde.
Ohne es zu sehen, war ihm nun bewusst, dass die Angreifer nicht nur die Bewohner töteten, - nein, sie töteten auch das Dorf, mit all den individuellen Häusern, wo man sofort wusste, welcher Bewohner zu welchem Haus gehörte. Es bestand eine Symbiose zwischen Bewohner und Haus, - ob es sich nun um einzelne Bewohner oder um Familien handelte, man spürte sofort die Verbindung.
Thygyrill sank auf das weiche Moos und lehnte sich an einen dicken Stamm. Tränen quollen aus seinen Augen, als ob er spüren würde, wie eben sein weißes Haus und sein weißblühender Garten dem Erdboden gleichgemacht wurde.
Noch vor kurzer Zeit saß er gemütlich auf seiner weißen Bank und beobachtete zufrieden lächelnd seine Nachbarn und die Menschen, die vorüber gingen. Nichts schien darauf hinzuweisen, dass diesen glückseligen Zustand jemand oder etwas verändern und zunichte machen könnte. Thygyrill fühlte sich so sicher und durch seine eben gewonnene Erkenntnis fast schon zu erhaben. Ihm waren so viele seiner Leben bewusst geworden, vor allem eines, in dem ihm sein Vater zu einer Wahrnehmung verholfen hatte, die er in diesem vergangenen Leben nicht nutzen konnte. Er war so fest davon überzeugt, dass nun der Moment gekommen ist, wo ihm diese besondere Wahrnehmung offenbart werden wird, die ja schon zum Teil zu seiner Erkenntnis gehörte.
Thygyrill zog die Beine zur Brust hoch, umschlang sie mit seinen Armen und legte den Kopf auf die Knie.
Es war ein so wunderbares Gefühl, sich seiner vielen Leben bewusst zu sein, - nicht mehr im Zweifel zu sein, ob das alles nicht doch nur ein Spiel seiner eigenen Phantasie ist, - so wie er das in einigen seiner Leben empfunden hatte. Er schien sich bewusst zu sein, dass es keine Phantasie gibt, - dass all das, was so plötzlich in ihm auftauchte, nichts anderes ist, als Teile seines unendlichen Selbst.
Ja, es gab sicher unzählige sogenannte erfundene Geschichten – darunter auch bewusste Lügen, aber es lag immer an den Menschen und Wesen selbst, die sich dessen durchaus bewusst waren. Thygyrill war sich dessen früher nie bewusst, statt dessen konnte er das, was allgemein Phantasie genannt wurde, weder leugnen noch beweisen. Er wusste jetzt auch, dass er damals, in einem diesen eher unbewussten Leben, niemals die Chance gehabt hätte, seine Phantasien wirklich leugnen oder beweisen zu können. Es gab so viele Worte, die eigentlich keine Bedeutung hatten, denen aber Bedeutungen gegeben wurden, obwohl man weder mit den Worten und noch weniger etwas mit den Bedeutungen wirklich anfangen konnte. Alles war nur eine Art Vorstellung, - viel mehr Interpretation, - vielleicht, wie sich jeder einzelne das Paradies oder die Glückseligkeit vorstellen mochte. „Träumer“ wurde er dann genannt, - sozusagen ein Lebewesen, welches sich mit den gegebenen Tatsachen nicht abfinden konnte, das sich eine eigene Traumwelt schuf, um damit alle Verantwortung abzuladen. Damals zweifelte Thygyrill aber auch, ob es so was wie Verantwortung wirklich gibt. Man war einfach da, - wurde in ein Leben hineingeboren, in welchem es kaum so etwas wie Wille gab. Es gab Entscheidungen zu treffen, z.B., ob er den Weg links oder den Weg rechts gehen sollte. Aber beide Wege unterschieden sich nicht wesentlich. Also wozu entscheiden? Die sogenannte Realität sah überall gleich aus. Zugegeben, auch die Träume waren sich sehr, sehr ähnlich, aber sie waren etwas, was man noch eher sein Eigen nennen konnte, - etwas was einem nie, außer vielleicht vom Tod, genommen werden konnte. So entschloss sich Thygyrill damals in einem dieser eher unbewussten Leben, die Worte umzukehren. Phantasie war für ihn Realität, und Realität Phantasie. Natürlich machte auch das keinen wirklichen Unterschied, abgesehen von den anderen Menschen, die ihn stets belächelten und einen Träumer nannten, der mit den Tatsachen nicht klar kam.
Warum dachte er ausgerechnet jetzt an eines dieser Leben? Warum fühlte er gerade eines dieser Leben nun so bewusst, als würde er sich direkt darin befinden?
War es vielleicht so, dass er sich in seinem Traum bereits so sehr verloren hatte, dass er gar nicht mehr mitbekam, wie er sich in dieses Dorf „Utopia“ hineingesteigert hatte, als wäre es Wirklichkeit? Gab es all diese Leben nicht wirklich, von denen er noch vor kurzem glaubte, er habe sie bewusst erkannt?
Aufwachen – wieder hämmerte dieser Gedanke so laut und heftig in ihm, wie damals, als er Arkun genannt wurde und von einem fremden, unheimlichen Mann aus seinem Heimatdorf geführt wurde, wobei er es lieber – entführt – nennen würde.
Oder das war nur der Schock, weil Thygyrill nun mit einem Schlag bewusst wurde, dass es sein Dorf „Utopia“ nicht mehr gab? Er wusste, die Angreifer hatten es so zerstört, dass kein Stein mehr auf dem anderen blieb. Bald würde sich der Dschungel über die restlichen Ruinen ausbreiten, - sie unter sich begraben, als wäre nie etwas anderes als immer nur der Dschungel da gewesen.
Thygyrill verließ oft das Dorf, um einen Spaziergang in den Dschungel zu machen, - aber er entfernte sich nie zu weit, da er Angst hatte, sich in diesem Chaos von wilden Bäumen und Sträuchern zu verlaufen und nie wieder in sein geliebtes Dorf zurück zu finden. Er mochte den Dschungel eigentlich nie. Irgendwie war er stets eine Bedrohung für sein Dorf. Sehr oft streckte der chaotische Dschungel seine Arme nach dem Dorf aus, - dicke Wurzeln drängten sich unter dem golden glänzenden Weg nach oben und zerstörten ihn, dass man ihn ständig reparieren und die Wurzeln entfernen musste. Trotzdem kannten die Bewohner des Dorfes keine Angst. Sie machten eben diese Arbeit und sahen sie als lustigen Zeitvertreib an. Nur Thygyrill wurde dabei sehr oft bange, wenn er die Wurzeln unter dem freigelegten Weg sah, die wie verkrüppelte, gespenstische Finger wirkten und nach seinem Dorf griffen, um es zu zerstören. Der Dschungel wollte diese friedliche Oase nicht, in der alles seine Richtigkeit, - seine Ordnung hatte. Thygyrill liebte Ordnung. Sie war sein Zuhause, wo er sich zurecht fand. Hier, im Dschungel, wo alles gleich aussah und doch so verschieden, fühlte er sich verloren und einsam.
Damals, in einem dieser eher unbewussten Leben, blickte er nachts sehr gerne hoch zum Sternenhimmel, aber niemals hatte er den Wunsch, sich in diesem Chaos zu befinden. Da war ihm sein warmes, heimeliges Zimmer viel lieber, in dem er weit über die Sterne hinaus träumen konnte. Da oben im Sternenhimmel sah er nur Kälte und Wirrnis.
Das Dorf war sein warmes, heimeliges Zimmer, aus dem er jetzt vertrieben wurde und sich draußen mitten im eiskalten Sternenhimmel befand, wo es keine Richtung, keinen Ort und keine Zeit mehr geben konnte. Wieder befiel ihn das Gefühl der Unvollkommenheit, über Dinge nachzudenken, die es angeblich gar nicht gibt, die aber doch da sind, - bloß könne er sie nicht begreifen oder wahrnehmen.
Wenn ich etwas nicht REAL wahrnehmen kann, - sagte sich Thygyrill damals, in einem dieser eher unbewussten Leben, - wie kann ich mir dann sicher sein, dass es überhaupt da ist? Man kann jedes Wort, jede Bedeutung erfinden. Jeder kann sagen, - es gibt keine Zeit, - aber jeder empfindet die Zeit, - jeder nimmt wahr, wie sie verstreicht, ob ich nun etwas tue, wodurch die Zeit sichtbar wird, - oder einfach nur bewegungslos da sitze. Die Zeit ist da, - also, wie kann jemand sagen, dass es keine Zeit gibt oder wir die Zeit falsch wahrnehmen. Nein, nicht falsch – unvollkommen, was so viel wie Schritt für Schritt und nicht als Ganzes bedeutet. Würde ich nun die Zeit als Ganzes wahrnehmen, - sagte sich Thygyrill damals weiter, - dann würde ich mich selbst auch als Ganzes, sozusagen völlig anders, wahrnehmen. Vielleicht gleichzeitig als Kind, Erwachsener und Alter? Aber es laufen genug Alte herum, die in dem Fall gleichzeitig Kind, Erwachsener und Alter SIND, und doch nehmen sie die Zeit nicht als Ganzes wahr.
Die Sinnlosigkeit darüber nachzudenken, machte sich damals mehr und mehr in ihm breit. Die Grenzen seines Daseins wurden ihm bewusst und verursachten starke innere Schmerzen, die man Depressionen nannte. Hinzu kam auch noch die Sehnsucht nach dem Tod, wobei noch immer die Hoffnung mitschwang, der Tod könnte etwas verändern, - ihn in ein anderes Bewusstsein bringen, da seine Todesphilosophie die war: Der Tod ist nur ein Schritt in eine andere Dimension.
Philosophie wurde die Lehre des Wissens genannt, - also konnte Thygyrill damals dies alles nicht unbedingt Philosophie nennen, - obwohl unzählige, berühmte Philosophen ähnliche Weisheiten aufgestellt hatten, die mit Wissen nicht wirklich etwas zu tun hatten.
Aber was war Wissen eigentlich? Ich weiß, wenn ich etwas, was schwerer als Luft ist, fallen lasse, dass es hinunter und nicht hinauf fällt. Ich weiß das, weil es ständig passiert und weil noch nie etwas anderes passiert ist. Das selbe Phänomen ist dieses: Alle Raben sind schwarz, weil eben noch nie andere als nur schwarze Raben gesehen wurden. Mag sein, dass es Albinoraben gibt, - aber Thygyrill selbst hat in einem dieser eher unbewussten Leben noch nie einen Albinoraben gesehen. Also musste er daran festhalten, dass es Wissen ist, dass Raben immer nur schwarz und nicht etwa rot, gelb oder blau sind. Ebenso hielt er daran fest, dass es Wissen ist, dass alles, was schwerer als Luft ist, stets zu Boden fällt, - was Schwerkraft genannt wurde. Wissen war also kaum was anderes als die Bestätigung ständiger Wiederholungen.
Hinzu kam dann noch das mit dem Glauben. „Man MUSS glauben“, hatte Thygyrill damals gehört oder in irgendeinem Buch gelesen. Nur – wie kann man sich zu einem Glauben zwingen? Ein Muss ist nichts anderes als Zwang. Aber zum Glauben KANN man sich nicht zwingen.
Wenn ich nun glaube, dass es auch rote Raben gibt, - sagte sich Thygyrill damals, - könnte es durch den Glauben durchaus sein, dass ich auch rote Raben sehe. Ebenso könnte sich ereignen, dass ein Gegenstand, der schwerer als Luft ist, - vielleicht sogar ich selbst, - die Schwerkraft überwinden und fliegen könnte.
Was sich Thygyrill damals von diesem Glauben wirklich erwartete, war aber ganz etwas anderes. Er wollte das, was sich in seiner Phantasie ereignete, was er selbst weder beweisen, noch leugnen konnte, real erleben, - sozusagen bewusst in diese andere Dimension gehen. Es sollte das selbe sein, als wenn er durch ein Tor einen Park betritt. Thygyrill hatte damals sogar so ein Tor gemalt und dahinter eine Landschaft, in der es alles gab – saftig grüne Wiesen, sanfte Hügel, hohe, schroffe Berge, einen Fluss, einen Bergsee, das Meer, - sogar eine Wüste, mit Oase, in deren Mitte ein Pavillon stand. Und so erhoffte er sich von diesem Glauben, plötzlich einmal vor diesem Tor zu stehen. Er würde hindurchschreiten und sich real mitten in seiner Phantasiewelt befinden.
Aber diesen Glauben erreichte er damals nicht. Es war noch immer etwas in seinem Kopf, das ihm sagte: „So etwas ist unmöglich!“ Und solange dieses – Unmöglich – da war, gab es auch diesen Glauben nicht für ihn.
Das einzige, was ihm vielleicht noch helfen könnte, diese andere Dimension real zu betreten, wäre, sich von allem, was ihm jemals gesagt wurde, zu lösen. Und auch das war ein Ding der Unmöglichkeit, denn wie kann ich etwas willentlich vergessen, was ich weiß, oder zumindest zu wissen glaube? Außerdem, was bedeutet – loslösen – überhaupt? Es nicht mehr brauchen? Oder nicht viel mehr: es nicht mehr wollen? Und da war Thygyrill wieder zum Willen zurück gekehrt, den es ja nicht wirklich gab. Den Glauben kann man nicht wollen. Die Wahrnehmung kann man auch nicht wollen. Wenn ich nun wütend werde, - sagte sich Thygyrill damals, - kann ich nicht gleichzeitig wollen, dass ich nicht wütend werde, wenn ich es ohnehin schon bin.
Thygyrill schloss seine Augen. Während dieser Erinnerungen vergaß er ganz auf sein verlorenes Dorf. Er hörte ja auch nichts mehr vom Kampfgeschrei, - schon lange nicht mehr. Er lief ja so lange und so weit, bis er es nicht mehr hören konnte. Das wäre doch auch eine Art des Loslösens, - sich so weit und so lange zu entfernen, bis nichts mehr da ist. Aber das ist eine Frage des Ortes. Ich kann jeden Ort verlassen, wenn ich fähig dazu bin, zu laufen. Noch eine Frage stellt sich hier. Auch wenn ich den Ort verlassen habe, so bleibt er doch in meiner Erinnerung. Wieder eine Frage: Was ist Erinnerung? Woraus besteht sie?
Ich meine damit nicht, aus welchen Ereignissen die Erinnerung besteht, - sagte sich Thygyrill, als er seine Augen wieder öffnete und zu den hohen Baumwipfeln hochblickte, - ich meine viel mehr, WIE geschieht die Erinnerung und WODURCH? Ganz einfach, - durch das Denken!
Thygyrill lächelte und wischte sich die Tränen von den Wangen. Das war das nächste Unmögliche. Und wieder führte ihn die Erinnerung an eines dieser eher unbewussten Leben zurück. Es ist doch lächerlich zu sagen, dass man das Denken ausschalten soll. Sogar buddhistische Mönche denken während der Meditation, auch wenn es nur das winzige Wörtchen „OM“ ist.
Aber darum ging es Thygyrill damals nicht mehr. Er ging ja von sich selbst aus und wusste, dass er niemals für andere sprechen kann. Ob andere nun behaupten, dass es sehr wohl möglich ist, nichts zu denken, man sich zu einem Glauben zwingen kann, und das durch einen unbeugsamen Willen, zählte nicht mehr für ihn. Was er wusste und was für ihn zählte, war, dass er selbst es nicht schaffte, nichts zu denken und sich zu einem Glauben zu zwingen. Er versuchte auch zu meditieren, aber das war ihm auf die Dauer zu langweilig, - außerdem schlief er ständig dabei ein. Es gab damals schon etwas in diesem eher unbewussten Leben, was er viel mehr seine eigene Meditation nannte, nämlich das Schreiben, wo es nur einen einzigen Gedanken gab und alle anderen, die sonst durch seinen Kopf geisterten, abwesend waren. Aber gerade dieses Schreiben nannte er Phantasie, welche sich weder beweisen, noch leugnen ließ.
Als nächstes ertappte er sich bei dem Gedanken, was er überhaupt mit all dem erreichen will, - vor allem, warum er überhaupt etwas erreichen will. Und wieder fielen ihm die anderen ein, die ihn stets einen Träumer nannten, der vor der Realität flüchtet.
Das Paradoxon an all dem waren die Bedeutungen der Worte, die ja nichts anderes sind, als gesagte Gedanken. Phantasie ist ja da, - genauso wie das, was man Realität nennt. Und die Realität selbst wird ohnehin nie wahrgenommen, da alles stets Selbstwahrnehmung und niemals objektive Wahrnehmung ist. Unter objektiver Wahrnehmung verstand Thygyrill damals in diesem eher unbewussten Leben keinen Unterschied zwischen dem Wahrgenommenen und dem Wahrnehmer. Noch verzwickter war es, dass sich selbst das niemals feststellen lassen konnte, denn niemand konnte für einen anderen fühlen, oder nur annähernd wissen, wie der Andere fühlt. Die Frage, ist das Grün einer Wiese wirklich das, als was ich sie wahrnehme? – konnte ihm kein anderer beantworten. Es gab hier nur einen einzigen Weg, - sich auf die eigene Wahrnehmung zu verlassen. Also, wird nun die Realität als solche wahrgenommen, oder wird sie nicht doch von jedem einzelnen individuell interpretiert?
Und gerade von diesen Fragen wollte sich Thygyrill damals lösen, weil sie weder an ihm selbst, noch an der Welt, wie er sie wahrnahm, etwas veränderten. Er wollte sich von all diesen Fragen, ob es andere Dimensionen wirklich gibt, - ob es ein Leben nach dem Tod gibt, - ob es einen Gott oder eine Art unendliche Energiequelle gibt, deren Teile wir sind - lösen, da auch sie absolut nichts an ihm selbst, noch an der Welt, wie er sie wahrnahm, veränderten. Ja, er konnte mit diesen Fragen spielen, - irgendeine Phantasiegeschichte darüber schreiben, - aber ERLEBEN konnte er von all dem nicht wirklich etwas. Es spielte sich alles nur in seinen Gedanken ab.
Erwachen – wieder hämmerte es durch Thygyrills ganzen Körper. Er stand auf und ging weiter in den Dschungel hinein, bis er zu einem kleinen, grauen Haus kam. Das Haus schien eine quadratische Grundfläche zu haben – es war auch an den Seiten gleich hoch wie breit. Das Dach bestand aus dunkelroten Ziegeln und lief spitz nach oben. Von der Seite, woher Thygyrill kam, war eine dunkelgraue Tür – genau in der Mitte. Er ging um das Haus herum. An jeder Seite war ein kleines Fenster, ohne Fensterläden, ohne Glas – einfach nur quadratische Öffnungen. Thygyrill sah nur schwarz, wenn er in das Haus hineinblickte. Also entschloss er sich dazu, die Tür zu öffnen und in das Haus einzutreten. Es bestand nur aus einem Raum, - einem quadratischen Raum, - so wie die Grundfläche des Hauses nun mal war. Im Haus war es taghell, aber Thygyrill konnte keine Beleuchtung sehen. Es befand sich nur ein ganz einfaches Bett mitten im Raum. Das Bett schien aus Messing zu sein. Die Matratze war grau wie die Außen- und Innenwände. Bettwäsche gab es keine. Auf dieser Matratze lag ein nackter, sehr jung aussehender Mann, der an den Handgelenken mit Handschellen an die Messingstäbe des Bettes gefesselt war. Sein ganzer Körper war mit breiten, blutigen Striemen übersät. Thygyrill stand rechts neben dem Bett und blickte auf den Mann, der seine Augen geschlossen hatte. Er lebte noch. Thygyrill sah die geöffneten Lippen und hörte das leise Stöhnen vor Schmerz.
„Leide, Phantasiewesen, leide“, sagte Thygyrill, ohne seinen Blick von dem Mann zu wenden.
Er war ein sehr schöner Mann, - von unbeschreiblich (!) schöner Gestalt und einem ebenso schönem Gesicht. Sein Haar war beinahe hüftlang, von enormer Dichte und blauschwarzem Glanz. Als er seine Augen aufschlug, blickte Thygyrill in zwei leuchtende, türkisfarbene, unergründlich tiefe Bergseen. Sie erinnerten ihn an seine gemalte Phantasielandschaft, in der sich hinter dem Tor ein Bergsee befand, obwohl er es damals nicht schaffte, so ein wunderschön leuchtendes Türkis zu malen. Thygyrill sah auch das Muttermal unter dem linken Auge, welches auch der Mann hatte, der ihn damals, als er sich Arkun nannte, aus seinem Dorf entführt hatte. Ebenso erinnerte ihn das Muttermal, und nicht nur das Muttermal, sondern diese außergewöhnlich schöne Gesamterscheinung des Mannes an seinen Vater, der ihn etwas lehrte, was er aber in diesem damaligen Leben nicht nutzen konnte und von dem er sich diesen Nutzen jetzt erhofft hatte. Nein, es war nicht mehr jetzt. Dieses Jetzt, als er noch vor kurzem auf seiner weißen Bank vor seinem weißblühenden Garten saß und diese Gedanken hatte, war längst vorbei...
„Leide, Phantasiewesen, leide“, sagte Thygyrill abermals, und hielt den Blick des schönen Mannes in seinen Augen stand.
Jetzt fühlte Thygyrill keine Traurigkeit, - aber er erinnerte sich wieder an eines dieser eher unbewussten Leben, als er Angst hatte, seinen Traum zu verlieren, wenn sein Phantasiewesen einmal sterben würde. Ja, auch Phantasiewesen können sterben, indem man sie in irgendeiner Geschichte einfach sterben lässt und nie wieder über sie schreibt. Es wäre ein so einfacher Vorgang gewesen, - aber damals konnte er sich nicht dazu entschließen. Er war schon zu sehr mit ihm verwachsen, - zu lange hatte es ihn in seinem (Phantasie)-Leben begleitet. Und es schien auch immer zu ihm zu sagen: „Ich bin allgegenwärtig.“ Aber sagte es das auch wirklich? War das nicht doch nur ein eigener Wunschgedanke, dass ein Wesen da ist, welches niemand sehen oder wahrnehmen kann, nur er selbst?
Das Phantasiewesen (der unbeschreiblich schöne Mann) schloss wieder seine Augen. Ein tiefer Seufzer drang aus seinem leicht geöffneten Mund.
Auch Thygyrill seufzte. Es war damals nicht nur dieses Buch, welches über einen Mann berichtete, dessen Körper transformiert wurde und der wie von selbst in einen Zustand kam, den niemand wirklich erklären könnte, - nicht einmal dieser Mann selbst, da er dazu ja Worte verwendete, die es in seinem natürlichen Zustand, wie er es nannte, nicht mehr gab, das Thygyrill zum Nachdenken brachte. Thygyrill hatte damals in diesem eher unbewussten Leben dieses Wissen, was gar kein Wissen war, bereits in sich und er war sich bewusst, dass sein Leben, selbst seine Phantasie, nichts anderes als bloß eine der unzähligen Wiederholungen war. Er war nichts Besonderes, nichts, was ihn wirklich von den anderen Menschen (damals war er ein Mensch, - ein weiblicher Mensch) unterschied, obwohl er sich insgeheim wünschte, etwas Herausragendes zu sein. Und schon damals hatte ihm das Phantasiewesen gesagt: „Es besteht kein Unterschied zwischen einem großen Philosophen und einem versoffenen Bettler.“ Dass sich der große Philosoph anders verhält als der versoffene Bettler liegt nur an der Denkweise, - aber denken hat noch keinen Menschen WIRKLICH verändert.
Dieses Buch über den Mann, dessen Körper transformiert wurde, war schon deswegen nichts Neues, da schon das Phantasiewesen einiges davon gesagt hatte, - lange bevor Thygyrill dieses Buch durch Zufall, oder was auch immer, offenbart wurde. Transformation bedeutet Umwandlung. Es war eine vollkommene Umwandlung des Körpers, - also eine WIRKLICHE Veränderung, die einfach so passierte. Zumindest sagte dieser Mann das. Spekulationen gibt es ja zu Genüge...

Und genau das nannte auch das Phantasiewesen schon viel früher eine WIRKLICHE Veränderung, denn es sagte ebenso wie der Mann, der transformiert wurde, dass sich Körper und Geist nicht trennen lässt, - dass es da überhaupt keine Trennung geben KANN, denn es existiert immer nur der Körper, der aber im menschlichen Bewusstsein als Materie, sozusagen als Körper wahrgenommen wird. Ansonsten ist er reine Energie, - form- und geschlechtslos, - sozusagen aus absolut keiner Materie bestehend, wo es außerdem weder Zeit, noch Raum gibt. Thygyrill verstand damals das Nichts darunter, was es aber nicht sei, - wie ihm das Phantasiewesen dies enthüllte. Es ist also nicht einmal das Nichts...
Thygyrill konnte damals nicht sagen, ob er von dieser „Theorie“ schon einmal etwas gehört oder gelesen hätte, aber er war sich ziemlich sicher, dass auch diese „Theorie“ zu den Träumen der Menschen gehörte und kaum was Neues, was Individuelles war. All diese Worte, von denen er manchmal glaubte und mitunter fast überzeugt davon war, dass sie nicht aus ihm selbst, sondern von dem Phantasiewesen kamen, konnten also durchaus auf seinem eigenen Mist gewachsen sein, - bloß mit etwas anderen Ausschmückungen. Wenn er ganz, ganz ehrlich zu sich selbst und seiner Wahrnehmung war, dann war das auch so. Es war sein Mist, der absolut nichts an ihm selbst oder an der Wahrnehmung der Welt veränderte!
Aber auch dieses Buch über den Mann, dessen Körper transformiert wurde – von wem? – änderte damals nichts an Thygyrill, denn es waren nur Worte, Gedanken, und gar nicht einmal so individuelle Gedanken, da doch jedes Wort von allen anderen Menschen ebenso gesagt und gedacht wurde, eben nur in anderer Reihenfolge...
Für einen Moment wäre Thygyrill damals gerne dieser Mann gewesen, - nein nicht direkt dieser Mann, viel mehr wäre er gerne in dessen Zustand gewesen. Aber dann kam ihm der Gedanke (!), dass es niemals der selbe Zustand sein kann, denn dieser Mann sprach von Individualität. „Auf einem bereits gegangenen Weg liegt kein Herz“, diesen Satz hatte ihm auch schon das Phantasiewesen mehrmals gesagt.
Plötzlich wurde Thygyrill wütend, als er vor dem Bett stand, in dem das Phantasiewesen lag und an den Handgelenken an die Messingstäbe gefesselt war. So genau wusste er nicht, gegen wen sich seine plötzlich aufsteigende Wut richtete, obwohl er natürlich ahnte, dass sie sich nur gegen ihn selbst richten kann. Aber die Wut verrauchte bald, denn wieder erinnerte er sich an genau dieses Leben, welches eher unbewusst war, - und in dem er erkannte, dass er sich sehr oft über die Gefühle, die er eben hatte, sehr wunderte. Damals fiel ihm auch ein Satz ein, der auf einem Titel eines Buches stand, er aber dieses Buch selbst nie gelesen hatte. Es war also nur der Titel, der ihn ansprach. „Mich wundert, dass ich so fröhlich bin.“ Und genau diese Gefühlszustände waren es, über die sich Thygyrill damals ebenso wunderte. Sicher, einige dieser Gefühlszustände hatten Berechtigung, falls man hier überhaupt von Berechtigung reden kann. Aber wenn z.B. ein geliebter Mensch stirbt, muss man sich wegen der Traurigkeit nicht wundern. Seltsam, dass er dabei zuallererst an Traurigkeit dachte... Aber es gab auch Gefühlsregungen, die urplötzlich da waren, - für die es kaum eine Erklärung gab. An manchen Tagen war er antriebslustig, lachte gerne und war ebenso gerne unter Leute. Das war eine Art Glücksgefühl. Woher kam es? Und warum? Und dann gab es wieder Tage, da war das Aufstehen am Morgen die reinste Qual, und das ganze Leben hatte auf einmal überhaupt keinen Sinn. Woher kam das? Und warum? Gab es da Auslöser, die Thygyrill nicht bewusst erkennen konnte? Vielleicht irgendein Geräusch, auf das der Körper reagierte und diese Stimmungen in ihm auslöste? Das war noch die einfachste Erklärung, obwohl er nicht wissen KONNTE, ob genau das zutrifft. Was ihn bewegte, war die Tatsache, dass er gegen all diese Stimmungen willentlich nichts tun konnte. Wenn sie da waren, dann waren sie da. Manche Menschen haben damals eingewendet, dass man sehr wohl etwas dagegen tun kann, - aber diese Menschen verstanden Thygyrill nicht, da sie stets für die Zukunft lebten, aber nicht für jeden einzelnen Moment im Jetzt. Ihm war auch klar, dass gewisse Zustände (Gefühlsregungen) nicht für immer anhielten, aber wenn sie da waren, dann waren sie DA. Und genau um dieses DA ging es Thygyrill, denn dieses DA konnte er nicht willentlich steuern.
Was ihn wirklich an diesem Buch über den Mann, dessen Körper transformiert wurde, total beschäftigte, war das Denken. Und er erkannte, obwohl er dieses Denken nicht willentlich abstellen konnte, dass es das Gefängnis des menschlichen Bewusstseins war. Aber er hatte nur eine vage Vorstellung dessen, wie es ohne Denken sein könnte, also war es auch egal, ob das Denken nun das Gefängnis des menschlichen Bewusstseins ist oder nicht. Er befand sich nun mal mitten drin in diesem Bewusstsein, denn er war ein Mensch, ein weiblicher Mensch.
„Was zählt, sind Fakten, Tatsachen!“ hatte ihm das Phantasiewesen damals so oft gesagt, und dennoch hielt es ihn nie vom Träumen oder Denken, was ja ein und das selbe ist, ab. Nein, es unterstützte ihn sogar dabei, indem es ihm über unzählige Leben erzählte, wo sich immer wieder herausstellte, dass es nichts anderes als Phantasieleben waren.
„Alles, was ich beim Lesen meiner Schriften herauslese, sind deine Widersprüche“, schrieb Thygyrill sehr oft, wenn er schriftlich mit dem Phantasiewesen kommunizierte, was er, wenn er ganz ehrlich zu sich selbst war, eher Selbstgespräche nannte. „Wenn du mir sagst, dass Phantasie eine der vielen Wirklichkeiten ist, warum kannst du diese Leben, von denen du mir erzählst, Phantasieleben nennen, - sozusagen Leben, die nicht wirklich passiert sind. Wenn du mir diesen Widerspruch erklären kannst, wäre ich dir sehr dankbar.“ Aber dann kamen immer nur solche Ausflüchte, wie: „Ich bin kein Wesen, welches an Dankbarkeit interessiert ist.“ Oder: „Du willst ja nur Beweise, dass es mich wirklich gibt, - aber die wirst du durch das Klären dieser Widersprüche, die ja in Wirklichkeit keine sind, nicht bekommen.“
Thygyrill gab das Fragen dann immer auf, weil jedes Mal das selbe dabei heraus kam. Das Phantasiewesen nannte ihn dann stets ein eindimensional wahrnehmendes Wesen, welches diese Erklärungen NOCH NICHT verstehen kann. Erst wenn er multidimensional wahrnehmen kann, würden sich diese Widersprüche auflösen. Aber so eine Wahrnehmung hat er noch nie wirklich wahrgenommen, also konnte er auch nicht sagen, dass es sie wirklich gibt. Das waren nur Annahmen, - so wie viele Menschen Annahmen haben und ebenso, wie er, darüber schrieben, - mit dem einzigen Unterschied, diese Menschen verdienten damit Geld, - er nicht, denn er schrieb diesen Quatsch nur für sich selbst, und vielleicht für nähere Freunde, von denen er hoffte, sie würden ein bisschen was davon verstehen. Aber viel mehr war da der Hintergedanke, dass diese näheren Freunde ihn dadurch vielleicht für etwas Besonderes halten, weil er doch über so ganz andere Gedanken schreiben konnte, - unabhängig davon, ob sie nun von ihm selbst oder von dem Phantasiewesen kamen. Aber so ganz anders waren diese Gedanken nicht, - und ganz schlimm war es, so fand Thygyrill, dass er anderen damit etwas beweisen wollte. Und der Traum, dass seine Schriften, wenn er einmal gestorben ist, gefunden werden und man darin ganz besondere Weisheiten entdecken wird, - war noch viel schlimmer. Aber wieso eigentlich? Sollte er sich nicht endlich dazu entschließen, das anzunehmen, was er nun mal IST? Und wer kann schon wirklich darüber urteilen, was schlimm, schlecht, gut, usw. ist? Warum ist es denn schlimm, solche Gedanken zu haben, mit denen man sich wichtig nimmt? Jeder Gedanke dreht sich im Grunde genommen nur um einen selbst und bestärkt die eigene Wichtigkeit. Was ist schlecht an Egoismus, wenn doch in Wirklichkeit er es ist, der die wahre Individualität ausmacht? Wäre es nicht ein Herannahen an die wahre Individualität, wenn dieser Egoismus noch mehr hervor bricht? Es sind doch nur irgendwelche Moralvorstellungen, die besagen, dass Egoismus schlecht ist. Ich denke nicht an andere Menschen, - ich denke immer nur an mich selbst, - sagte sich Thygyrill damals sehr trotzig.
Der unbeschreiblich schöne Mann schien zu schlafen, - oder er war ohnmächtig geworden. Thygyrill konnte das nicht wissen, - und er wollte es auch gar nicht wissen. Er nahm nur wahr, dass sein Atem gleichmäßiger war und das Stöhnen vor Schmerz aufgehört hatte.
Wenn er ihm nun Mund und Nase zuhalten würde, würde er ersticken. Er würde tot sein, - tot und Vergangenheit, die sich immer weiter von ihm entfernen würde, bis sie für immer verschwindet und nicht mehr DA ist. Zumindest in Thygyrills Erinnerung könnte es der Fall sein, dass sie ausgelöscht wird. Kein Phantasiewesen mehr – keine Träume, keine zusätzlichen, unnötigen Gedanken.
Es ist ganz einfach. Lass es sterben – wirklich sterben und schreib in deiner letzten Geschichte vom Tod des Phantasiewesens und dass alles andere nichts anderes als Phantasie war, - WIRKLICHE Phantasie und nicht irgendeine andere Welt oder Wirklichkeit. Mag sein, dass es das Phantasiewesen einmal wirklich gab, - aber es war ein Wesen wie jedes anderes auch, kein Retter des Universums, oder ein vollkommenes Wesen, welches nur mehr auf die totale Vereinigung wartet. Was ist schon vollkommen? Im Grunde genommen alles, wenn wir das nur zulassen und nicht mit unseren Gedanken an jedem und allem herumfeilen. Aber dieses Phantasiewesen war nie vollkommen, - es tat nur so, - es träumte genauso wie Thygyrill damals in diesem eher unbewussten Leben.
Thygyrill schüttelte seinen Kopf, in der Hoffnung, dass durch das Schütteln diese eben gedachten Gedanken von ihm abfallen. Er hockte sich neben dem Bett im Schneidersitz auf den Boden, legte die Handflächen auf die Knie und schloss seine Augen. Wieder zogen Teile dieses so seltsamen Lebens an seinem inneren Augen vorbei. Er hatte es unter vielen anderen seiner Leben damals im Wasserspiegel gesehen, bevor ihn Su rief. Auf eine sehr subtile Art legte es sein Bild über alle anderen Leben, als wäre es eine ganz besondere Wende gewesen, - vielleicht ein erstes Erkennen aller seiner Leben und der Ganzheit seines Selbst, wie es das Phantasiewesen nannte.
Damals las er sehr viele Bücher. In einem davon stand, dass wir alle Phantasiewesen sind, von einer Art Gott erfunden, der uns Rollen zuteilt. Aber auch uns ist es möglich, Phantasiewesen zu erfinden und ihnen Rollen zuzuteilen, so wie Thygyrill es getan hat, indem er über seinen Helden schrieb und sich dann selbst mit ihm schriftlich unterhielt, wobei so viele Wahrheiten herauskamen und auch der Satz: Die absolute Wahrheit und Wirklichkeit besteht aus unzähligen Wahrheiten und Wirklichkeiten. Jedoch für ihn galt, dass es in Wirklichkeit nur eine real erlebbare Wirklichkeit gibt, - alles andere fand in seinem Inneren statt, was allgemein Phantasie oder Vorstellungskraft genannt wurde. Man konnte sich, wenn man sehr konzentriert war, sehr viel vorstellen, dass man am Ende sogar glaubte, diese Vorstellungen seien Zeichen aus anderen Welten oder Leben. Nur – Beweise gab es damals für Thygyrill keine, denn seine anderen Leben, über die er schrieb, waren viel mehr Einzelfälle, über die kein anderer Mensch bescheid wusste, - außer eines, aber das war auch nur, weil ihn damals die alten Pyramiden faszinierten. Er schrieb über Tut-ench-amun (seine Totenmaske gefiel ihm so gut), dem sogenannten Kindkönig, von dem die Wissenschaftler erkannt haben wollen, dass er sehr jung König (Pharao) und angeblich im Alter von 18 Jahren ermordet wurde. In seiner Geschichte tötete sich Tut-ench-amun selbst und lebte in einer ganz anderen Zeit, als es noch keinen Pharao gab, - zumindest keinen, wie ihn Wissenschaftler erkannt haben wollten. In seiner Geschichte gab es das Volk der Pharaonen, in der sein Vater – Philemon – der Letzte seiner Art war. Erst dann kam die Zeit der Pharaonen, über die man in seiner Weltgeschichte bescheid wusste.
Aber er, Thygyrill, hatte das alles wirklich erlebt. Er trug ja auch jetzt noch die Gesichtszüge dieses angeblichen Kindkönigs.
Diesen Gedanken gab es damals, in diesem eher unbewussten Leben, in ihm, dass seine Phantasien, seine Träume, sein sogenanntes inneres Leben einmal Wirklichkeit werden. Wir erschaffen uns unsere Wirklichkeit durch unsere Träume und Vorstellungen, wie auch schon ein berühmter Philosoph gesagt haben soll, der aber statt Träume – Wille sagte. Thygyrill meinte das etwas anders, - also nicht auf die Art, wie man einst vom Fliegen träumte und Jahre später wurde das Flugzeug erschaffen. Seine Träume waren von anderer Art, - sie waren neue Leben, neue Bewusstseine, neue Dimensionen. Sein Phantasiewesen sagte ihm damals auch, dass jeder Mensch Träume dieser Art hat, die sich nach dem Tod erfüllen werden.
„Was, wenn ein Mensch keine Träume hat, sondern an das Aus und Vorbei nach dem Tod glaubt?“ fragte Thygyrill damals sein Phantasiewesen.
„Dann wird er das Aus und Vorbei erleben“, antwortete das Phantasiewesen.
Thygyrill konnte nicht so recht glauben, dass es wirklich von den Menschen selbst anhängt, was sie nach dem Tod erleben. Aber ihm kam auch der Gedanke, dass vielleicht genau das DER Wille ist, der uns möglich ist. Im Leben müssen wir uns fügen und die Tatsachen akzeptieren, denn vom Weinen und Klagen verschwinden sie nicht. Hier gibt es keinen Willen, sondern bloß – wie bereits geschrieben – Entscheidungen, ob ich nun den rechten oder den linken Weg gehe, oder ob ich vom Obstteller eine Banane oder einen Apfel nehme. Ich kann mich im Leben also nur zwischen dem entscheiden, was da ist, - was ich REAL wahrnehme. Wieder erhob sich ein Gedanke in Thygyrill. Was, wenn er auch dieses Leben, bevor er auf der Erde als weiblicher Mensch geboren wurde, phantasiert (erträumt) hat? Dann gibt es doch logischerweise keinen Willen, sondern nur genau das Leben, welches er früher fixiert hatte. Genauso erging es ihm im Leben als Tut-ench-amun. Er wollte damals so vieles nicht, - dennoch musste er sich dem Schicksal fügen. Es änderte nichts daran, auch wenn er sich gehen ließ, nichts mehr aß, kaum mehr schlief, bis zu dem Moment, als er den Dolch in seine Hände nahm und dem Leben ein Ende machte. All das war vorherbestimmt, - und zwar von ihm selbst!
„Willst du schon wieder alles fixieren?“ fragte ihn das Phantasiewesen sehr oft, wenn er wieder einmal über ein bestimmtes Leben schreiben wollte.
Jetzt wusste er, dass dies eine Warnung war, die er damals, wie so vieles, was ihm das Phantasiewesen sagen wollte, nicht verstand.
„Aber wenn ich nun nicht über meine vielen Leben schreibe, - die vielleicht nach meinem Tod geschehen, - was passiert dann nach meinem Tod?“ fragte Thygyrill damals sein Phantasiewesen.
„Glaube an nichts, erwarte dir nichts, aber sei auf alles – wirklich auf ALLES – gefasst“, sagte das Phantasiewesen.
Das waren aber auch nur Gedanken, für die es keine Beweise gab. Das war eben auch nur etwas, das ihn oder die Welt, die er wahrnahm, keineswegs veränderte, und die Worte des Mannes, der transformiert wurde, nur noch mehr untermauerte. „Es gibt nichts, was man tun kann, um die Erleuchtung zu erlangen, denn es gibt keine Erleuchtung“, so ähnlich waren seine Worte und sie trafen genau den Punkt, den auch Thygyrill damals erkannt hatte. Was immer er dachte, was immer er sich auch für Phantasien oder Vorstellungen ausmalte – es veränderte absolut nichts an ihm selbst oder der Welt, wie er sie wahrnahm. Was brachte es ihm schon, wenn er sich in seiner Phantasie als Tut-ench-amun, als Arkun, ja selbst als Thygyrill sah? Nichts, - absolut nichts!
„Im linken Bewusstsein gibt es niemanden, der dir sagt, was Sache ist. Dort gibt es nur eines: Es bleibt dir nichts anderes übrig, als dich nur auf deine eigene Wahrnehmung zu verlassen“, sagte das Phantasiewesen, wenn er mal zu sehr zweifelte.
Aber er fühlte sich nie wie im linken Bewusstsein. Er, wie auch die Welt, wie er sie wahrnahm, blieben immer ein und das selbe. Die einzige Veränderung, die er wahrnehmen konnte, waren die Zeichen der Zeit, die sie hinterließ. Es war das Älterwerden und einige wenige, kaum nennenswerte Veränderungen, obwohl sie sein reales Leben schon sehr betrafen.
Thygyrill erinnerte sich, als er in diesem eher unbewussten Leben im Alter von etwa 10 Jahren (es könnte aber auch sein, dass er bereits etwas älter war...) über sein Leben schrieb, - aus der Sicht der Zukunft. Damals lebte er, da er ja noch Kind war, bei seinen Eltern. Sie hatten einen Hund. Und er schrieb, dass er sich an diesen Hund erinnerte, der nun schon lange tot war. Er erinnerte sich auch an den Tod seiner Eltern, - an so viele Veränderungen. Aber das waren die Dinge, die jeden einmal treffen. Es waren keine Prophezeiungen, über die man staunen müsste. Und doch fühlte Thygyrill damals etwas ganz Besonderes – er fühlte sich irgendwie zeitlos, - wie über der Zeit stehend, weil er wusste, was ihm einmal bevorstand und er diese Tatsachen nicht von sich weisen konnte. Kein Tier, kein Mensch lebt ewig. Alles ist vergänglich. Das sind die einzigen Veränderungen, die im Grunde genommen keine schwerwiegenden sind. Sie sind NORMAL.
Was wäre denn schwerwiegend? Wenn die Welt auf den Kopf gestellt wird und sich alles ins Gegenteil kehrt? Die Vorstellungen der Menschen sind doch immer nur irgendeine Seite einer Medaille. Es gibt nichts Neues, außer vielleicht eine Technik, die das Leben erleichtert, wobei es gar nicht so sicher ist, ob es wirklich eine Erleichterung ist, - oder eine Waffe, die in Sekundenschnelle die ganze Erde vernichtet. DAS wäre allerdings eine schwerwiegende Veränderung. Oder doch nicht? Es wäre eine allgemeine Vergänglichkeit und demnach auch nichts Schwerwiegendes. Unter „Schwerwiegend“ stellte sich Thygyrill damals viel mehr etwas vor, was WIRKLICH noch nie DA gewesen ist, - etwas UNVORSTELLBARES. Die Frage war dann, wenn es etwas Unvorstellbares ist, KANN ich es dann überhaupt wahrnehmen?
Thygyrill glaubte damals durchaus an eine gewisse Grenze, über die die Wahrnehmung der Menschen einfach nicht hinaus kann, was ja auch schon wissenschaftlich erwiesen war, denn es gab Tiere, die in fast vollkommener Dunkelheit sahen, oder eine Art Radar besaßen, mit dem sie in meilenweiter Entfernung Lebewesen wahrnehmen konnten. Menschen brauchten dazu die Technik, - und es war nicht einmal sicher, ob es sich dann auch um die selbe Wahrnehmung handelte. Aber auch das war noch immer im Bereich des Vorstellbaren, denn es wurde ja erkannt und technisch entwickelt.
Bemerkenswert war ja auch die Paradoxie des Denkens. Worte wie „unvorstellbar“ oder „unerkennbar“. Sobald ich das Unerkennbare erkenne, ist es ja nicht mehr unerkennbar. Es ist eben nur etwas, das ich nirgendwo einreihen kann. In der Welt der Menschen lässt sich alles irgendwo einreihen. Das ist nun mal die sogenannte Ordnung der Menschen, die ihnen zur Erkenntnis verhilft. Ohne einreihen oder vergleichen lässt sich nichts erkennen. Es ist eine Paradoxie zu sagen, dass man nichts vergleichen soll, da alles unvergleichlich, sozusagen individuell ist. Keine Blume gleicht einer anderen, selbst wenn sie von der selben Rasse, wie etwa der Rose ist. Das stimmt durchaus, aber diese Unterschiede sind für Menschen zu winzig, - zu unbestimmt. Er müsste jede dieser Rosen genau betrachten, - ihre Blätter abmessen, - und schon wäre er schon wieder dabei, alles in eine Schublade zu befördern.
Und genau in diesem Moment fiel Thygyrill wieder dieser Mann ein, dessen Körper transformiert wurde, dass dieser sagte, der Mensch müsse sich von seiner Vergangenheit befreien, - nicht nur von seiner eigenen Vergangenheit, sondern von der gesamten Vergangenheit der Menschheit. Er sagte auch, dass der Mensch eine Bank nicht erleben kann. Er erlebt nur das Wissen, das er über eine Bank hat. Thygyrill verstand damals durchaus, dass es sich hier nicht um Individualität handeln kann, wenn er das Wissen, welches Menschen vor ihm aufgestellt haben, erlebt. Er ist somit nichts anderes als eine ständige Wiederholung irgendwelcher Menschen, die irgendetwas zuerst gesagt haben. Eine Bank, oder eben irgendetwas anderes, individuell zu erleben, wäre vielleicht das innere Gefühl, das nicht unbedingt Worte braucht, - eben ein Gefühl annähernder Wärme, Wohlbefinden, oder das Gegenteil, - Kälte, Unwohlsein. Und schon wieder waren es nur Worte, die bereits unzählige Menschen vor ihm gesagt hatten.
Nicht denken. Was würde passieren, wenn er nicht denken würde? In einem Buch hatte er gelesen, dass sich dann die Welt um ihn, wie sie ihm erklärt würde, auflöst und er sie so wahrnehmen würde, wie sie WIRKLICH IST. Aber für wen wäre sie dann so, wie sie wirklich ist?

Würde das auf alle Menschen zutreffen? Und – wo bleibt dann die Individualität, von der er so viel hielt und die auch sein Phantasiewesen ständig pries?
An irgendeinem Tag in diesem eher unbewussten Leben fand Thygyrill heraus, dass er absolut behaupten konnte, absolut nichts zu wissen. Sicher, auch diese Worte wurden schon lange vor ihm einmal gesagt, - von einem Philosophen aus dem alten Griechenland. Nur – sagen kann man bald was, - danach leben ist etwas ganz anderes. Vielleicht ist genau das der Schlüssel zur Veränderung?
Aber genau dieses Nichtwissen traf für ihn zu. Er konnte von nichts und niemandem wirklich etwas behaupten, - nicht einmal von sich selbst. Er erkannte diese Grenzen, die kein WIRKLICHES Wissen zulassen. Es waren alles nur Vermutungen, WIE es vielleicht sein KÖNNTE, aber niemals, wie es WIRKLICH IST. Und das betraf viel mehr den Bereich, den er das REALE LEBEN nannte. Gut, es war seine Wahrnehmung, dass die Wiese vor seinem Küchenbalkon in dem Moment, wo er sie betrachtete, grün war. Aber war es auch die WIRKLICHKEIT? Selbst, wenn ihm alle Menschen beipflichten würden, dass diese Wiese grün ist, konnte er nicht WIRKLICH WISSEN, ob sie das auch WIRKLICH ist. Manche Tiere, so stellten zumindest Wissenschaftler fest, können keine Farben wahrnehmen. Sie sehen nur schwarz-weiß. Demnach war die Wiese für sie entweder schwarz oder weiß, - eventuell auch in den Nuancen der Farbe Grau. So gesehen war alles relativ, oder wie schon mal geschrieben, war Wissen nichts anderes als die Bestätigung ständiger Wiederholungen.
Er hatte ja für nichts WIRKLICHE Beweise, nicht mal dafür, dass er jetzt wirklich lebt oder nicht doch irgendeine Phantasiefigur eines Wesens ist, so wie er damals irgendwelche Phantasiewesen erfunden hatte, über sie schrieb und sich sagte, dass sie einige seiner Leben sind, die er einst lebte oder zukünftig leben wird. Auch die Möglichkeit bestand, wie ja auch schon geschrieben, dass er selbst alle seine Leben phantasiert hatte, bevor er diese Leben WIRKLICH lebte. Das wäre eine Erklärung für das, was so viele Menschen Karma nennen, - natürlich auch wieder aus einer anderen Sichtweise – aus der Sichtweise Thygyrills.
Thygyrill erhob sich und blickte wieder auf das Phantasiewesen, welches noch immer im Bett lag und mit den Handgelenken an die Gitterstäbe gefesselt war. Und noch immer war es mit breiten, blutigen Striemen am ganzen Körper übersät. Seine Augen waren wieder offen. Es blickte Thygyrill leidend an.
„Geh zurück in deine Stadt“, sagte es leise, fast flüsternd und unterdrückte ein Stöhnen vor Schmerz.
„Die Stadt ist zerstört. Es gibt sie nicht mehr“, sagte Thygyrill und blickte dem Phantasiewesen fest in die wunderschönen, leuchtenden, türkisfarbenen Augen.
„Niemand, nur du selbst, kann deine Welt zerstören. Und wenn sie zerstört ist, dann war es nicht deine Welt“, sagte das Phantasiewesen wieder sehr leise.
Thygyrill lachte.
„Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie Monster, die wie Tiermenschen aussahen, von allen Seiten in das Dorf kamen und die Bewohner töteten. Ich sah auch, wie sie anfingen, die Häuser zu zerstören, - und ich weiß mit absoluter Sicherheit, dass sie alles, wirklich alles, dem Erdboden gleichgemacht haben.“
„Und wenn schon? Dann geh zurück und baue deine Stadt wieder auf“, flüsterte das Phantasiewesen und zerrte an den Fesseln. „Sie ist das einzige, wofür du wirklich verantwortlich bist.“
Thygyrill setzte sich auf die Bettkante, neigte sich über das Phantasiewesen und versuchte, die Handschellen zu lösen. Mit einem metallischen und sehr lauten Klicken sprangen sie auf. Das Klicken ging durch Thygyrills ganzen Körper. Es schauderte ihn.
Nur langsam hob das Phantasiewesen die Arme nach vorne. Sie schmerzten von der ständig gleichen Haltung, die den Blutfluss gehemmt hatte.
Thygyrill blieb auf der Bettkante sitzen und blickte dem Phantasiewesen noch immer in die Augen.
„Du hast erkannt, dass dich nichts, egal, was du tust oder denkst, wirklich verändert. Also ist es dann nicht egal, was du tust? Und demnach wäre es doch das Beste, etwas zu tun, was dich befriedigt und glücklich macht. Du nanntest deine Stadt deine Zuflucht, dein Heim. Wenn sie das wirklich ist, dann MUSST du sie wieder aufbauen, - genauso, wie du es schon einmal gemacht hast. Es ist auch nicht wichtig, ob du wirklich daran glaubst, oder nicht, oder ob es irgendetwas an dir oder der Wahrnehmung der Welt verändert oder bewirkt. Tu es einfach, - so wie kleine Kinder mit ihren Spielen beschäftigt sind, als hinge ihr Leben davon ab, - doch ohne das Wissen, dass wirklich ihr Leben davon abhängt. Verstehst du, was ich dir damit sagen will?“
Nach diesen Worten richtete sich das Phantasiewesen langsam auf und kreuzte seine Beine zum Schneidersitz. Seine beiden Hände legte es auf seine männlichen Geschlechtsteile. Aber diese Geste, als es mit den Händen sein Geschlecht bedeckte, war keineswegs aus eigenem Schamgefühl, - so erkannte es Thygyrill – es war viel mehr eine ganz normale Haltung, die einfach nur bequem für das Phantasiewesen war. Thygyrill selbst saß ja auch sehr gerne im Schneidersitz und legte seine Hände bequem in den Schoss. Hier war eigentlich nichts, dessen man irgendwelche Bedeutung geben konnte.
„Ich hätte dich töten sollen, als du geschlafen hast oder ohnmächtig warst“, sagte Thygyrill leise und senkte seinen Blick.
„Und warum hast du es nicht getan?“ fragte das Phantasiewesen, legte seinen Zeigefinger unter Thygyrills Kinn und zwang ihn durch das Heben des Kopfes, ihm wieder in die Augen zu blicken.
„Wahrscheinlich, weil ich mich selbst dadurch getötet hätte“, sagte Thygyrill mit fester Stimme. „Ohne dich ist es mir unmöglich, die Stadt wieder aufzubauen. Ohne dich hat es für mich keinen Sinn, die Stadt wieder aufzubauen.“
Als Thygyrill ausgeredet hatte, sah er, wie sich die breiten, blutigen Striemen auf dem Körper des Phantasiewesens langsam auflösten.
„Leide, Phantasiewesen, leide“, flüsterte Thygyrill, aber die Wunden waren verschwunden.
„Habe ich damals geschrieben, dass ich die Stadt wieder aufgebaut habe?“ fragte er – wieder mit lauter, fester Stimme.
„Du hast über deine Heimkehr geschrieben, - das Buch – Die Heimkehr des Thygyrill – genannt“, antwortete das Phantasiewesen.
„Ich kann mich nicht mehr so genau daran erinnern. Wohin bin ich heimgekehrt? Wo ist meine Heimat?“
„Wo würdest du sie suchen?“ stellte das Phantasiewesen die Gegenfrage.
„In mir selbst, - aber gibt es ein Selbst?“ stellte nun Thygyrill eine Gegenfrage.
„Wenn du mit absoluter Gewissheit sagen kannst, dass du nichts weißt, - mit welcher Begründung willst du dann wissen, dass es ein Selbst gibt?“ war die nächste Gegenfrage des Phantasiewesens.
„Du sagtest mir damals, dass mir gesagt wurde, ich sei ein Mensch, aber ich selbst könne nie mit Bestimmtheit sagen, dass ich wirklich ein Mensch bin, selbst wenn ich mich als Mensch wahrnehme. Wenn ich schon das nicht mit Gewissheit sagen kann, kann ich auch nicht sagen, dass es wirklich ein Selbst gibt. Mir wurde nur gesagt, dass es ein Selbst gibt. Wenn es dieses Selbst gibt, und ich mich als dieses wahrnehme, so ist dieses Selbst alles, was ich wahrnehme. Demnach bin ich nur Wahrnehmung. Mein Selbst ist Wahrnehmung“, sagte Thygyrill und betonte dabei jedes Wort sehr langsam und genau.
Er stand auf und verließ den Raum, das Haus. Zielstrebig ging er den Weg zurück, auf dem er sein Dorf verlassen hatte. Während er ging, befand er sich in Gedanken abermals in diesem eher unbewussten Leben, in dem er sich damals sagte: „Selbst wenn all das, worüber ich schreibe, niemals Wirklichkeit werden sollte, also – absolut nichts mit einem Leben nach dem Tode zu tun haben sollte und auch an mir oder an der Welt, wie ich sie wahrnehme, nichts verändert, so gehört es doch zu mir und wird ja jetzt schon von mir selbst erlebt, auch wenn es nur in meinem Kopf und nicht REAL passiert. Sollte es das Aus und Vorbei nach dem Tod geben, - was spielt es für eine Rolle? Ich würde mir dessen nicht bewusst sein, denn ich kann das Aus und Vorbei nicht erleben. Jetzt aber, - eben jetzt bin ich bewusst und werde es einfach tun, so wie kleine Kinder ihre Spiele spielen, als hinge ihr Leben davon ab, aber ohne das Wissen, dass wirklich ihr Leben davon abhängt. Ja, ohne Wissen, denn ich weiß WIRKLICH nichts.“
Bald war er an der Stelle, wo das Dorf einmal war, angelangt. Es war der reinste Trümmerhaufen. Die Angreifer hatten keinen Stein auf dem anderen gelassen, - alles lag in Schutt und Staub. Und mitten in einem dieser Trümmerhaufen saß das Phantasiewesen nackt im Schneidersitz und lächelte Thygyrill sonnig entgegen. Als Thygyrill vor ihm stand, erhob es sich und sagte, noch immer lächelnd: „Du kannst das Dorf ohne mich nicht wieder aufbauen. Das sagtest du doch, oder? Und deshalb bin ich hier!“
Aber Thygyrill war von dieser Idee nicht sehr begeistert. Sie erschien ihm sinnlos, was er mit folgenden Worten äußerte: „Was hat es für einen Sinn, wieder Häuser zu bauen, wenn doch alle Bewohner tot sind? Für wen bauen wir neue Häuser? Für dich und mich? Zwei Lebewesen haben noch kein Dorf ausgemacht.“
Das Phantasiewesen, etwas mehr als einen Kopf größer als Thygyrill, beugte sich hinab und flüsterte ihm ins Ohr: „Erinnere dich, wie du damals das Dorf gebaut hast. Was wusstest du schon über seine möglichen Bewohner? Nun? Was wusstest du über sie?“
„Ich stellte mir ein Dorf vor, - ein sehr individuelles Dorf, wo kein Haus dem anderen gleicht, aber die Häuser ihrer Bewohner ähnlich sind. Jedes Haus ist auf seinen oder seine Bewohner abgestimmt, - umgekehrt natürlich auch. Als ich diese Vorstellung hatte, saß ich am Ufer der ewigen Quelle. Ich war noch nicht so weit, um das Leben auf der Leuchtenden Welt anzunehmen, also stellte ich mir ein Dorf vor, in dem ich leben möchte. Je intensiver ich mich mit dieser Vorstellung befasste, um so mehr fühlte ich mich an einem anderen Ort. Und als ich die Augen aufschlug, saß ich auf einer weißen Bank, vor einem weißes Haus, mit einem weißblühenden Garten. Das Dorf war einfach da, ohne mein Zutun. Ich habe nichts gebaut.“
Das Phantasiewesen lächelte wieder.
„Doch, das hast du, Thygyrill“, sagte es sanft. „Es war deine Vorstellungskraft, die dieses Dorf gebaut hat, - und doch hast du auch damit recht, wenn du sagst, dass es einfach da war. Was nicht ganz richtig ist, - dass es ohne dein Zutun einfach da war.“
Thygyrill blickte das Phantasiewesen ungläubig an.
Wieder lächelte es, als es weitersprach.
„Ohne deine Vorstellungskraft, die in diesem Bewusstsein, in dem du dich jetzt befindest, ihre volle Wirkung offenbart, hättest du das Dorf nicht wahrnehmen können.
Damals, in dem Leben, an das du dich jetzt mehrmals sehr intensiv erinnerst, hatte deine Vorstellungskraft keine Wirkung an dir selbst, - aber doch an dem, was du dir vorgestellt hast. Du erinnerst dich sicher, dass ich damals zu dir sehr oft sagte, dass niemand etwas erfinden kann, denn es ist alles immer da. Damals hast du sehr viel gefunden, aber du konntest es nicht mit dieser Intensität wahrnehmen, wie du das, was du damals Realität nanntest, wahrnehmen konntest. Ich könnte jetzt sagen, dass du damals zu wenig Energie warst, - aber das ist nicht das Zutreffendste, obwohl es natürlich auch zutrifft. Viel mehr war es damals eine Art Sperre, da die volle Vorstellungskraft in diesem Bewusstsein mehr Schaden als sonst was angerichtet hätte. Diese Vorstellungskraft passierte also nur in den Gedanken der Menschen, obwohl sie – wie alles – vollkommen real war.“
„Und warum richtet sie in diesem Bewusstsein, in dem ich mich jetzt befinde, keinen Schaden an?“ wollte Thygyrill wissen.
„Weil in diesem Bewusstsein Zeit und Raum etwas anderes sind als im menschlichen Bewusstsein. Du dürftest mir diese Frage nicht stellen, denn du hast es ja selbst erfahren, als du als die Bewusstheit Arkun in den Wasserspiegel blicktest, die sich sehr schnell in die Bewusstheit Han entwickelte, als der du in dieses Dorf kamst, wo eine weitere sehr augenblickliche Entwicklung mit dir vorging und du die Bewusstheit wurdest, die du jetzt bist.
Hier sind die ständigen Veränderung bewusst wahrnehmbar, was im menschlichen Bewusstsein nicht der Fall war. Nicht, dass hier die Veränderungen etwa schneller passieren, - obwohl es natürlich so scheint, wenn du vom menschlichen Bewusstsein ausgehst, - nein, sie sind nur intensiver und werden auch intensiver wahrgenommen. Dieses Bewusstsein grenzt schon sehr eng an das Bewusstsein der Ganzheit deines Selbst, die alles vom Selbst intensivst wahrnimmt.“
Thygyrill überlegte und setzte sich an die Stelle, wo vorhin das Phantasiewesen im Schneidersitz saß.
„Wenn ich mir das Dorf jetzt intensiv vorstelle, meinst du, dass es dann wieder da ist?“ fragte er und blickte etwas zweifelnd zum Phantasiewesen hoch.
„Auch wenn du zweifelst, - der Zweifel hat in diesem Bewusstsein keinen Platz, - keine Wirkung mehr, um es besser auszudrücken. Der Zweifel war nur im menschlichen Bewusstsein dieser Schutz vor möglichen Schäden, welche die vollkommene Vorstellungskraft angerichtet hätte.
Denke nicht, dass dem Menschen damit etwas vorweggenommen wurde. Jedes Lebewesen ist mit seinem Ort, an dem es geboren wurde symbiotisch verbunden. Verstehe jetzt unter Ort nicht genau den Platz, an dem es geboren wurde. Menschen reisen sehr viel, was keinen Unterschied macht, denn sie befinden sich dennoch immer am selben Ort, nämlich im menschlichen Bewusstsein. Und was diesen Ort schadet, schadet auch dem Bewohner. Nur aus diesem Grund hatte die Vorstellungskraft nicht ihre volle Wirkung und war durch den Zweifel ausgeglichen.“
Thygyrill überlegte wieder. Er dachte an sein Dorf, warum es überhaupt zerstört wurde und von wem das wirklich ausgelöst wurde. War es etwa auch seine Vorstellungskraft?
„Vorstellungskraft gehört zur Wahrnehmung“, sagte das Phantasiewesen.
Es war nicht so, dass es Thygyrills Gedanken lesen konnte, - und es war auch nicht, dass sich die beiden wirklich unterhielten, wie es Menschen tun. Diese Art der Kommunikation war eine andere, die jenseits des menschlichen Bewusstseins liegt und demnach nicht anders wiedergegeben werden kann, als durch Gespräche, um sie im menschlichen Bewusstsein verständlich werden zu lassen.
„Du fühltest dich, seit du die Bewusstheit Thygyrill bist, nicht vollkommen genug“, sprach das Phantasiewesen weiter. „Die Begegnung mit mir hast du ständig hinausgezögert, weil du dich zu minder betrachtet hast. Du hast es vorhin selbst mit den Worten: Ich war noch nicht so weit, um das Leben auf der Leuchtenden Welt anzunehmen – ausgedrückt. Und warum? Weil du dich auf der Leuchtenden Welt nicht wohl fühltest und eine eher menschliche oder menschenähnliche Atmosphäre gesucht hast. Sich auf der Leuchtenden Welt nicht wohl zu fühlen, bedeutet nicht, zu minder oder unvollkommen zu sein.
Und um dich zu beruhigen, sage ich dir jetzt, dass jedes Leuchtende Wesen seine eigene Vorstellung hat. Diese eigene Vorstellung ist auch Ausdruck der Individualität. Leuchtende Wesen sind DIE Individualisten des Universums! Kaum eines nimmt die Umgebung der Leuchtenden Welt so wahr, wie sie wirklich ist. Auch das ist eine Art der Entwicklung. Im menschlichen Bewusstsein wurde die Welt nie, - zumindest sehr, sehr selten, - so wahrgenommen, wie sie wirklich ist, -aber keinem der Bewohner war das wirklich bewusst. Manche haben es nur vermutet, - aber Beweise konnte es keine geben. Hier, in diesem Bewusstsein, erkennst du die wahre Umgebung und akzeptierst sie auch. Aber viel mehr reflektieren Leuchtende Wesen ihr Selbst, ihren Individualismus, - und der verhilft ihnen durch die vollkommene Vorstellungskraft zu ihrer Umgebung, die sie wahrnehmen wollen.
Du befindest dich nicht abseits der Leuchtenden Welt, Thygyrill. Du befindest dich mitten in ihr. Also lass deinem Individualismus wieder freie Hand, sonst zerstörst du dich selbst.“
Wieder brauchte Thygyrill einige Gedenkminuten.
„Das heißt, dass das Dorf gar nicht wirklich zerstört wurde, - dass es noch immer da ist, nur ich kann es nicht wahrnehmen, weil ich mich zu minder fühle“, sagte er leise.
„Es geht nicht um Wirklichkeit, Thygyrill. DIE Wirklichkeit kannst du noch nicht wahrnehmen, denn sie beinhaltet sehr viel mehr, als dein jetziges Bewusstsein ertragen kann. Ich sage dir nur, dass dein Dorf immer existiert, - und genauso sage ich dir, dass dein Dorf immer zerstört ist.
Es sind keine Illusionen, in denen Leuchtende Wesen existieren. All das, was sie mit ihrer vollkommenen Vorstellungskraft wahrnehmen, existiert WIRKLICH. Für das menschliche Bewusstsein mag dies unbegreiflich sein, - aber für dich dürfte es kein Problem sein, da du auch dem Verstand nicht mehr unterliegst, der neben dem Zweifel ebenso eine Sperre und ein Ausgleich für die vollkommene Vorstellungskraft war.
Die Wirklichkeit dieser Vorstellungen kann sogar bewiesen werden. Du kannst, wenn du es zulässt, jedes Leuchtende Wesen in das Dorf führen, - und es wird es genauso wahrnehmen, wie du es wahrnimmst. Ebenso können dich andere Leuchtende Wesen in ihre Welten führen, - und du wirst sie genauso wahrnehmen, wie sie das tun.
Im menschlichen Bewusstsein war das nur ein Traum, sich dem anderen so mitteilen zu können, dass dieser ihn so versteht, wie man sich selbst versteht. Aber auch Träume sind Wirklichkeit, - und dieser eine Traum ist nun mal eine Wirklichkeit der Leuchtenden Welt.“
„Nimmt mir das Gefühl der Minderwertigkeit einen Teil meiner Vorstellungskraft?“ fragte Thygyrill.
„Das würde ich so nicht sagen“, meinte das Phantasiewesen und hob kurz die linke Braue, was eine Eigenart von ihm war, wenn es sich seine Ausdrucksweise überlegte, wie es eine Frage beantworten soll, und ob es die Frage überhaupt wirklich verstanden hat. Das mag wie Unsicherheit erscheinen, was es aber nicht war. Das Phantasiewesen war sich niemals unsicher. Es wusste, was es wusste – und es wusste mit ebensolcher Sicherheit, wenn es etwas nicht wusste. Unsicherheit gab es nie für ihn.
„Das Gefühl der Minderwertigkeit ist ein Ausdruck deiner Unausgeglichenheit. Du bist uneins mit dir selbst und ebenso uneins mit deiner Umgebung. Aber all das ist immer nur Energie, - eine einzige Energie, - eine einzige Verbundenheit, Einheit. Wenn nun diese Einheit durch irgendetwas gestört wird, - wie eben mit deiner Unausgeglichenheit, hat das sehr wohl eine Wirkung, die sich sofort auf deine Wahrnehmung überträgt. Unausgeglichen KANN man sich nirgendwo zu Hause fühlen, - und dieses Dorf war doch dein Zuhause. Und glaub mir, das trifft auf fast jedes Bewusstsein zu. Auch Menschen, die nicht ausgeglichen sind, nehmen die Welt so wahr, wie sie sie gar nicht wahrnehmen WOLLEN. Für sie ist dann alles sehr schrecklich, - und sie würden am liebsten die Welt ändern, was schier unmöglich ist. Ebenso unmöglich ist es, sich als Mensch selbst ändern zu wollen. Es gibt hier nur eines, - sich selbst zu erkennen und zu akzeptieren. So, wie man ist, so spricht man eben auf die jeweiligen Energien an, die einen stets durchdringen. Minderwertigkeitsgefühle oder Überschätzung, was im Grunde ein und das selbe ist, sind es, die zur Unzufriedenheit führen.
Du hattest einen sehr guten Gedanken, als du dich deines Lebens als Mensch erinnertest. Du sagtest dir: Ich denke nicht an andere Menschen, - ich denke immer nur an mich selbst! Gute Menschen, so wird einem im menschlichen Bewusstsein leider zu oft gesagt, sind für andere Menschen da und denken an andere. Aber mit diesem Gedanken bist du dir selbst am nächsten gewesen, - eins mit dir selbst und ebenso mit deiner Umwelt. Man könnte auch sagen, du bist du selbst geblieben und hast dich durch die Sprüche der anderen Menschen nicht erniedrigen lassen.
Steh zu dir selbst, das ist das einzige, was ich dir sagen kann, - mehr kannst du niemals tun.“
Thygyrill schloss seine Augen und versetzte sich in sein Dorf, mit den individuellen Häusern und seinen Bewohnern. Schon bald fand er sich selbst wieder auf seiner weißen Bank sitzend und betrachtete wohlwollend seine Nachbarn und die vorbeigehenden Bewohner. Neben ihm saß das Phantasiewesen, - diesmal bekleidet, in einem langen, schwarzen Umhang, mit Kapuze, die unter seinem langen, in der Sonne blauschwarz glänzendem Haar, auf seinem Rücken lag.
„Ich bin wieder zu Hause“, sagte Thygyrill und drückte dankbar die Hand des Phantasiewesens, die auf dessen Schenkel lag.
„Die Heimkehr des Thygyrill“, sagte das Phantasiewesen und lächelte sonnig.

10.10.2001