DER VERRÜCKTE (eine etwas längere Erzählung mit vielen Dialogen)
(mit Computer am 7.1.1998 nachgeschrieben - zum Großteil auf Gran Canaria -ende 1997 - mit der Hand geschrieben)

Es war kein warmer Spätsommertag, - es waren auch nicht die Straßen von München. Es waren die Straßen von London. (Da mein Buch „Kim 1“ so beginnt: Es war ein warmer Spätsommertag. Ich lenkte meinen Wagen durch die Straßen von München)
Der Nebel senkte sich wie eine Decke über die Häuser. Sanfter Regen rieselte auf das Autodach. Die Scheibenwischer machten rhythmische Geräusche, die beinahe hypnotisierend auf die Fahrerin des Autos wirkten. Sie hatte die Großstadt hinter sich gelassen, - die hektischen Straßen von London, - an diesem naßkalten, nebeligen Spätsommertag, - einem 12. September.
Die Fahrerin dieses Autos, auf dessen Dach der Regen noch immer rieselte, war unruhig. Sie mußte die ganze Zeit daran denken, warum sie hier in London war, - warum sie jetzt eben am Stadtrand von London in eine Seitenstraße einbog, die geradewegs zu einem Sanatorium führte, - einem Sanatorium für geistig kranke Menschen.
Was waren das für Menschen? Was bedeutet es geistig krank zu sein? Es gibt verschiedene Geisteskrankheiten, - Schizophrenie bis zu unzähligen Arten von Psychosen. Sie hatte sich mit diesem Thema noch nie wirklich auseinander gesetzt. Es betraf sie ja nie, zumindest bis vor wenigen Tagen nicht. Vor wenigen Tagen bekam sie einen Brief aus London.
Sie lebte in München und war Besitzerin, Chefin, eines Studios, in dem Musiker ihre Platten und CDs aufnehmen. Sozusagen als Hobby managte sie mitunter einige Bands, wenn diese auf Tournee gingen. Sozusagen war sie nebenbei Tourmanagerin. Das muß erwähnt werden, denn wegen dieses Briefs aus London, - aus dem Sanatorium für geistig kranke Menschen, mußte sie nach einem Ersatz für ihre Lieblingsband suchen, die eben jetzt, als sie zum Sanatorium fuhr, auf Tournee war, - ihre Lieblingsband, die sie als Tourmanagerin begleiten hätten sollen.
Sie hielt vor dem hohen, vergitterten Tor und blieb eine Weile im Wagen sitzen. Sie hatte Angst davor, in dieses Haus zu gehen.
Ihre Eltern starben, als sie mit dem Studium fertig war. Sie hatten einen Autounfall. Es gab dann nur mehr eine Verwandte, ihre Tante Isabella in Cadiz, Spanien, woher ihre Mutter stammte. Ihre Mutter und Tante Isabella waren Zwillingsschwestern. Aber vor wenigen Tagen erfuhr sie, daß es noch einen Verwandten gibt, den man ihr vorenthalten hatte. Nicht einmal Tante Isabella erzählte ihr von ihm. Aber wozu auch? Er war ja ein Verwandter ihres Vaters, eines gebürtigen Münchners, - und dieser Verwandte war bloß ein Onkel ihres Vaters. Es wäre also die Pflicht ihres Vaters gewesen, sie über diesen Verwandten aufzuklären. Und jetzt lag dieser Verwandte im Sterben, - in diesem Sanatorium für geistig kranke Menschen.
Wie mechanisch, in Gedanken noch immer beim Großonkel, faßte sie auf den Rücksitz nach dem Regenschirm. Sie wollte die Begegnung mit ihrem sterbenden Großonkel so weit wie möglich hinaus schieben, aber auf der anderen Seite wäre es ihr am liebsten, sie hätte das alles bereits hinter sich.
Als sie die Autoschlüssel aus dem Zündloch zog, erinnerte sie sich an den Schock, als sie den Brief aus London, aus dem Sanatorium für geistig kranke Menschen, gelesen hatte.
Wie gesagt, vorher hatte sie noch nie über dieses Thema nachgedacht. Natürlich wußte sie einiges, - auch, daß man erblich belastet sein kann. Sie hatte viel von ihrem Vater, - das Organisationstalent, - auch das künstlerische Talent hatte sie von ihm geerbt, denn sie malte und zeichnete genauso gut wie ihr Vater, der neben der Führung des Studios ein Hobbymaler war und sehr oft Ausstellungen machte. Aber ihr Vater war, im Gegensatz zu ihr, ein sehr geselliger Mensch, der viele Freunde hatte und an den Wochenenden gerne Partys in der Villa gab, in der sie zusammen mit ihrer Mutter und einer Haushälterin, am Stadtrand von München, aufgewachsen war. Sie war lieber alleine, - vor allem lieber frei. Klar hatte sie Männerbekanntschaften hinter sich, aber nie etwas ernstes. Anfangs war sie immer von ihren neuen Bekanntschaften begeistert, aber diese Begeisterung ließ immer sehr schnell nach, wenn die Beziehung enger wurde. Man warf ihr oft vor, daß sie zu wählerisch sei. Man sagte ihr auch, sie werde einmal als alte Jungfer enden. Immerhin war sie bereits um die 30.
Langsam stieg sie aus, öffnete den Regenschirm und schritt auf das Tor zu. Sie stellte sich vor die Sprechanlage und betätigte den Klingelknopf. Kurz darauf hörte sie eine Stimme, - eine etwas strenge, weibliche Stimme. Sie stellte sich höflich mit dem Namen Maria Dorner vor und sagte weiters, daß sie einen Brief bekommen habe, in dem man sie ersuchte, vorbei zu kommen, da ihr Großonkel, väterlicherseits, im Sterben liege.
Man gestattete ihr, mit dem Auto in den Hof auf einen der dortigen Parkplätze zu fahren. Durch den Rückspiegel sah sie, wie sich hinter ihr das Tor mechanisch wieder schloß.
Nachdem sie das Auto geparkt hatte, schritt sie, mit dem Regenschirm in der rechten und ihrer Handtasche in der linken Hand, über den Hof, bis zum nächsten Tor, wo bereits ein großer, breitschultriger Mann, mittleren Alters und ganz in Weiß, wie ein Arzt gekleidet, stand und eben das Tor aufsperrte, um sie herein zu lassen. Er gab ihr freundlich lächelnd seine Hand und stellte sich als Doktor soundso vor. Namen konnte sie sich schon immer schlecht merken. Ja, was konnte sie sich eigentlich leicht merken? In diesem Moment fiel ihr auf, daß sie sich meistens Notizen machte, weil sie schon immer sehr vergeßlich war. Von wem hatte sie das geerbt? Aber sie beruhigte sich wieder schnell, denn sie fand, daß es bis jetzt eigentlich nichts Bedeutungsvolles gab, was sie sich unbedingt hätte merken sollen oder müssen. Ihre Interessen waren sehr dürftig, - außer Kunst und Musik und ihre über alles geliebte Einsamkeit gab es nichts, was Bedeutung haben könnte.
Sie wußte aber eines,- diese letzten drei, oder waren es vier? Tage waren wie ein Alptraum für sie. Es war ja immer alles so normal, nur jetzt, wo sie wußte, daß einer ihrer Verwandten geistig krank war, sah sie das nicht mehr so. Jetzt steckte in jeder ihrer Gedanken und kleinsten Regungen etwas Krankhaftes, was sie von diesem Großonkel geerbt haben könnte. Jetzt erinnerte sie sich auch plötzlich daran, daß ihre Eltern stets sagten, daß man sie als Baby im Krankenhaus vertauscht haben muß. Ihre Eltern waren gesellig, - nicht nur ihr Vater, nein, auch ihre spanische Mutter liebte diese Wochenendpartys, mit vielen Leuten, über alles. Beide Elternteile waren redselig, - sie hingegen, die einzige Tochter, das einzige Kind, war immer der Ruhepol der Familie. Von wem hatte sie diese Ruhe, dieses Verlangen nach Einsamkeit? Ja, sie hatte stets das Verlangen nach Einsamkeit. Sie fühlte sie immer wohl, wenn sie sich ganz alleine in ihr Zimmer zurück ziehen konnte, ohne jemals gestört zu werden. Ihre Eltern billigten das und akzeptierten den Wunsch ihrer Tochter, wenn sie sagte, daß sie nicht gestört werden will. Und das sagte sie oft, ja, täglich, wenn sie von der Schule oder der UNI nach Hause kam und sich in ihrem Zimmer, nach dem Essen, sozusagen verbarrikadierte. Es gab nie Schulfreunde, die sie besuchten oder die sie gerne besucht hätte. Sie hatte nun mal kein Interesse an Bekanntschaften. Und niemand sagte etwas dagegen, oder hielt sie an, sich Freunde zu suchen. Es wurde akzeptiert und respektiert, als ob es die normalste Sache der Welt wäre. War es das jetzt auch noch?
Maria Dorner ging mit dem Doktor soundso einem eher dunklen Flur entlang, bis zu einer Tür, auf deren Schild Doktor soundso stand. Der Doktor öffnete die Tür und ließ Maria den Vortritt.
Ihr waren auf dem spärlich beleuchteten Flur einige Bilder aufgefallen. Bilder fielen ihr immer auf, vor allem solche Bilder, auf denen sehr ängstliche, aber auch fragende Gesichter abgebildet waren. Der Hintergrund wirkte durch die Pastellfarben ziemlich verschwommen. Dem Doktor fiel Marias Interesse für die Bilder auf. Er sagte ihr, wie beiläufig, als ob sie es wissen müßte, daß sie - die Ärzte und Pfleger hier im Sanatorium - sehr stolz auf diese Bilder sind, denn sie stammen von ihren Großonkel, der an und für sich ein genialer Künstler war. Er sagte wirklich - an und für sich.
Maria hielt ihr Erstaunen zurück. Sie wußte ja überhaupt nichts von ihrem Großonkel. Vor drei, oder vier Tagen wußte sie nicht einmal, daß ein Großonkel existiert. Er war also ein Künstler, wie sie und ihr Vater.
Mit nachdenklichem Blick nahm sie Platz auf dem Sessel, dem ihr der Doktor soundso anbot. Er setzte sich ihr gegenüber hinter einem großen, breiten Schreibtisch, der mit Aktenordnern und viel Papierkram angehäuft war. Gemütlich lehnte er sich zurück, legte seine Arme auf die Lehnen des Stuhls und blickte Maria prüfend an. Sie war nicht so ruhig und gelöst wie dieser Arzt. Sie wirkte nervös, was normal gar nicht ihre Art war, und saß steif auf dem Sessel. Andauernd spielte sie mit dem Riemen ihrer Handtasche. Auch diese plötzliche Stille war ihr unbehaglich, deshalb räusperte sie sich kurz und fragte den Doktor, ob sie ihren Großonkel nun sehen darf. Er nickte vorerst stumm und blickte sie abermals sehr prüfend an. Dann sagte er etwas, was Maria mehr als peinlich war, daß ihr sogar die Röte ins Gesicht stieg. Er sagte, - besser gesagt: er fragte sie, ob sie vor diesem Brief etwas über ihren Großonkel gewußt habe. Maria senkte ihren unruhigen Blick und verneinte kopfschüttelnd. Sie fühlte sich schuldig, obwohl sie wußte, daß sie gar nichts dafür konnte. Aber ihre Schuldgefühle waren auch ganz anderer Art, - sie kamen aus ihr selbst, aus ihren eigenen Gedanken. Sie schämte sich ihres Großonkels. Sie hatte ja auch gelogen, als man sie im Studio fragte, was sie denn so Dringendes in London zu erledigen hätte. Es ginge um eine Erbschaft, sagte sie, was ja im Grunde genommen gar keine Lüge war. Die eigentliche Lüge war, daß sie ihren Großonkel bereits tot nannte, - und ihn auch gar nicht Großonkel, sondern eine sehr weit entfernte Verwandtschaft nannte, von der sie überhaupt nicht wußte, daß sie existiert. Über das Sanatorium und den Brief, woher er wirklich kam, sagte sie kein Wort. Sie hatte Angst vor den Blicken, - Angst vor den Verdächtigungen, man könnte auch sie für geistig krank halten, wo es doch in ihrer Familie nun einen Geisteskranken gab. Sie wußte genau, wie man sogenannte Außenseiter belächelt. Und dann erst geistig kranke Menschen, die sie Irre, oder Verrückte nennen! Dieses Thema war heikel und wurde immer tot geschwiegen. Natürlich wurde es tot geschwiegen, - sogar von ihren eigenen Eltern, - auch von Tante Isabella, die Maria damals nicht damit belasten wollte, was ihre Eltern auch nie taten. Was hätten sie auch für den Großonkel tun können? Er hätte sie nicht einmal erkannt. Er hätte kein Wort mit ihnen gesprochen. Und im Sanatorium wurde er ohnehin gut versorgt. Maria konnte es kaum glauben, als ihr Tante Isabella am Telefon diese Worte sagte. Ja, sie wußte es schon immer, aber sie schwieg es tot, weil man über diese Dinge besser nicht spricht. Niemand durfte jemals erfahren, daß der große Chef eines Studios einen verrückten Onkel hat. Das hätte womöglich das Geschäft gestört.
Dachte sie genauso darüber? Natürlich, sonst hätte sie ja auch nicht gelogen, oder besser, darüber geschwiegen, es genauso tot geschwiegen, als man sie fragte, was sie so dringend in London erwartet.
In diesem Moment sagte Doktor soundso, daß ihr Großonkel in der Nähe des Sanatoriums ein Haus besitzt, das schon lange leer steht. Und da sie die einzige noch lebende Verwandte ist, würde es ihr zustehen. Ihr Großonkel lebte dort seit seinem 25. Lebensjahr. Also, mit 25 war er nach London gezogen, hat dieses Haus bauen lassen, um dort als freischaffender Künstler zu leben und zu arbeiten. Man sagte von ihm, - erzählte der Doktor weiter, - daß er schon immer ein sehr seltsamer Kauz war, der keine Freunde, nicht einmal Bekannte, gehabt hatte. Hier in London war er anfangs ohnehin unbekannt und konnte sich noch besser absondern. Es schien ihm nichts auszumachen, alleine zu sein, - ja, er schien sich geradezu nach Einsamkeit zu sehnen. Im Grunde genommen führte er ein Eremitendasein, bis auf die gelegentlichen Einkäufe, die ihn nur kurz in die Stadt führten. Bei seinen eigenen Vernissagen ließ er sich nie blicken. Das machten die Galeristen selbst. Also wußten die Menschen gar nicht, wie dieser Künstler, dessen Bilder sie kauften, aussieht und wer er überhaupt ist, denn auch sein Name war ein Pseudonym. Er hätte eine wunderbare Karriere machen können, - erzählte der Doktor weiter, - aber plötzlich, nach ungefähr 10 Jahren wurde es still um den geheimnisvollen Künstler. Darauf aufmerksam wurde ein Verkäufer aus dem Farbengeschäft, zu dem der Künstler regelmäßig kam. Er war es, der dann die Polizei verständigte und sie bat, einmal in seinem Haus nach dem Rechten zu sehen. Sie mußten die Tür aufbrechen und fanden den armen Mann völlig verwahrlost und verwirrt in seinem Atelier, in dem er alles krumm und klein geschlagen hatte. Nun, so wurde er in dieses Sanatorium eingeliefert. Auf Grund seiner Papiere forschte man seine noch lebende Verwandten aus, - einen Neffen, der mit seiner Familie in München lebte. Aber der wollte davon nichts wissen. Er regelte zwar alles, daß der Onkel bis zu seinem Lebensende im Sanatorium gut versorgt ist, wünschte aber weiters keine Beziehung.
Die Krankheit des Künstlers änderte sich nicht, - sie wurde sogar von Jahr zu Jahr schlimmer. Ab seinem 45. Lebensjahr lebte er nur noch in der Geschlossenen, wie man hier den Trakt der sogenannten unheilbaren Patienten nennt. Er litt unter verschiedenen Ängsten, wie Maria der Doktor mitteilte, vor allem aber an Verfolgungswahn. Manchmal malte er noch, - das waren die wenigen Bilder, die Maria im Flur gesehen hat. Nun, und jetzt geht es mit ihm zu Ende, - meinte der Doktor. Man warte jeden Augenblick auf seinen Tod.
Maria fragte, was mit seinen Eltern war, - ob sie sich nicht um ihn gekümmert haben, als er mit 25 Jahren nach London zog. Der Doktor sagte, er wisse kaum etwas darüber. Man fand zwar Briefe in seinem Haus, die von seiner Mutter stammen, - und in diesen Briefen stand, daß er wieder nach Hause kommen und sich mit seinem Vater versöhnen soll. Anscheinend hat es mit seinem Vater Krach gegeben und es kam wohl nie zu einer Versöhnung. Als der Künstler eingeliefert wurde, waren seine Eltern bereits tot. Wie sie gestorben sind, könne er nicht sagen, meinte der Doktor.
In Maria stieg plötzlich Trauer hoch, - Trauer und Mitleid um einen Menschen, der ihr so hartherzig vorenthalten wurde. Sie fühlte sich jetzt mit ihm verbunden, - erkannte wirklich Gemeinsamkeiten, wie etwa die Liebe zur Kunst, die Liebe zur Einsamkeit, zur Zurückgezogenheit. Aber warum wurde er verrückt? Warum drehte er so plötzlich durch? Liebte er die Einsamkeit vielleicht gar nicht? Sehnte er sich nach Gesellschaft, hatte aber nie den Mut, sie zu suchen?
Der Doktor zuckte mit den Achseln, als Maria diese Fragen stellte. Er meinte, man kann nie genau sagen, was einen Menschen dazu bringt, plötzlich durch zu drehen. Es wäre möglich, daß sich durch den Streit mit seinem Vater Schuldgefühle entwickelt haben, mit denen er nicht fertig wurde, - vor allem Schuldgefühle der Mutter gegenüber, die ihn in ihren Briefen ständig um Versöhnung bat. Es könnte aber auch eine Erbanlage sein.
Maria zuckte bei diesen Worten zusammen. Nur stockend und sehr, sehr leise wiederholte sie fragend dieses Wort - Erbanlage.
Die Gehirnforschung, - meinte der Doktor, - ist zwar schon weit entwickelt, daß man durchaus feststellen kann, ob es sich um eine Erbanlage handelt. Vor allem die Genforschung könnte dies noch besser aufklären. Man hört ja von defekten Genen, - aber genaues kann man vorerst noch immer nicht sagen.

Maria lag die Frage auf der Zunge, ob auch sie davon betroffen sein könnte. Immerhin war dieser Doktor ein Seelenklempner, wie man das so nennt. Er sah ihr sicher die Angst und auch die Schuldgefühle an.
Der Doktor stand auf und nickte Maria freundlich lächelnd zu. Jetzt könnte sie, wenn sie wirklich möchte, ihren Großonkel sehen, - meinte er, - aber sie muß es nicht tun, denn er würde ohnehin nichts mitbekommen. Es wäre auch kein schöner Anblick, weil man ihn auf seinem Lager nieder schnallen mußte. Er war nie aggressiv, - zumindest nie zu anderen, - meinte der Arzt, als er die Tür öffnete. Wenn er zu toben anfing, ließ er es meistens an gewissen Gegenständen aus, oder an sich selbst, indem er seine Kleider zerfetzte, oder sich den Kopf an den Wänden blutig schlug. Nun, und in letzter Zeit kam das zu oft vor, deshalb hat man ihn jetzt ständig in seinem Bett nieder geschnallt.
Und nochmals sagte der Doktor, daß er verstehen würde, wenn Maria ihren Großonkel nicht sehen möchte. Immerhin wisse sie erst seit wenigen Tagen, daß es ihn gibt.
Maria war selbst unentschlossen, als der Doktor die Tür abschloß und sie nachher prüfend ansah. Am liebsten wäre sie davon gelaufen, weg von diesem Haus, weg von diesen drei, vier Tagen, die ihr Leben ganz schön auf den Kopf gestellt hatten. Aber das sollte erst der Anfang sein....
Maria atmete tief durch, schloß kurz ihre Augen, dann nickte sie dem Doktor stumm zu. Er verstand und ging voraus, - abermals den Flur entlang, wo er am Ende eine Tür aufsperrte. Es folgte wieder ein Flur, dann eine Treppe nach oben. Maria folgte dem Arzt wie in Trance. Sie nahm die Umgebung kaum mehr wahr. Sie wollte das alles auch nicht wahrnehmen. Manchmal hörte sie seltsame Laute, fast unmenschliche Schreie, unmenschliches Kreischen. Sie sah auch sehr seltsame Menschen im Flur. Sie standen nur da. Manche blickten Maria an, - andere sahen durch sie hindurch, als ob sie gar nicht vorhanden wäre. Aber keiner von ihnen wurde zudringlich. Maria bekam das alles gar nicht richtig mit, wie viele Türen und Gitter der Doktor aufsperrte, sie hinter sich wieder abschloß, - wie viele Treppen sie hochstiegen, bis er endlich sagte, daß sie nun da wären, als sie vor einer hohen Eisentür standen, an der sicher mehr als vier Schlösser angebracht waren, die er nun aufsperrte. Hinter dieser Tür befanden sich also die sogenannten hoffnungslosen Fälle.
Maria bemerkte gar nicht, daß sie diese, ihre, Gedanken laut gesagt hatte.
Das sei nicht ganz richtig, meinte der Doktor, denn manchmal schaffen es einige wenige von ihnen, von hier heraus zu kommen und dann sogar ein halbwegs normales Leben zu führen.
Maria klopfte das Herz, als sie durch die Tür trat und wieder so einen markerschütternden Schrei hörte. Sie fragte, ob es nicht gefährlich wäre, hier zu sein. Der Doktor meinte, es seien genug Wärter und Pfleger hier, - fast auf einen Patienten hier oben kommen mindestens drei Pfleger. Sie könne also unbesorgt sein. Außerdem sind die schwierigsten Fälle in einzelnen Zellen untergebracht.
Der schmale Gang führte in eine Halle, wo Maria in einer Ecke mehrere Menschen, mit dem Rücken zu ihr, zu einer Gruppe versammelt sah. Sie wagte nur einen kurzen Blick zu ihnen und bemerkte auch, daß sie von mehr als zehn Wärter, oder Pfleger umgeben waren. Der Doktor kümmerte sich nicht um diese Menschen. Er ging wenige Schritte weiter und öffnete rechtes von sich eine Tür. Bevor er Maria eintreten ließ, sagte er, daß hier in diesem Zimmer ihr Großonkel liegt. Es sei eines der Zimmern, die wie eine Krankenstation eingerichtet sind. Hier liegen meistens die sterbenden Patienten, für die man in Krankenhäuser nichts mehr tun kann. Auch ein Krankenpfleger sei hier stets anwesend.
Maria sah auch schon den Krankenpfleger, der gleich darauf mit dem Doktor einige Worte wechselte. Dann kam der Doktor, mit ziemlich ernstem Gesicht, auf Maria zu. Er hätte nichts sagen müssen, fand Maria, - sie erkannte alleine an seinem Gesichtsausdruck, daß ihr Großonkel eben gestorben war.
Trotzdem wollte sie ihn sehen und schob sich an dem Doktor und dem Krankenpfleger vorbei. Nein, es war kein schockierender Anblick, - die Riemen an den Händen waren gelöst, - schockierend war nur die Qual, die sie in diesem Moment spürte, daß ein Mensch auf diese Art sterben mußte. Kein vertrauter Mensch hatte seine Hand gehalten, als er in völliger Einsamkeit, in völliger geistiger Vernebelung gestorben ist.
Ganz langsam ging sie näher an das Bett, um sein Gesicht zu sehen. Er wirkte nicht alt, obwohl er es war. Laut der Aussage des Doktors war er beinahe 70 Jahre alt geworden. Er wirkte auf eine Art alterslos, - genauso wie diese Menschen, welche sie auf dem Flur gesehen hat. Es waren irgendwie Kinder, - Kinder, die nie erwachsen werden. Seine Falten im Gesicht übersah sie. Er war ziemlich mager, sein Gesicht war eingefallen und sehr kantig. Vor allem stachen die hohen Backenknochen hervor und die sehr markante Nase, die Maria an eine indianische Adlernase erinnerte. Es war ein sehr interessantes Gesicht, mit buschigen, weißen Brauen und einem weichen, sensibel wirkenden Mund mit rosigen Lippen. Fast sah sie ein Lächeln um diese Lippen und wünschte ihm wirklich Frieden, den er sich wohl schon immer gewünscht hatte.
Über Marias Wangen kullerten Tränen, obwohl ihr gar nicht bewußt war, daß sie weinte. Es war so ein ungezwungenes, befreiendes Weinen, das ihr endlich die Ruhe zurück gab, die sie noch vor drei oder vier Tagen fühlte. Ja, jetzt war sie endlich wieder sie selbst. Sie hatte keine Angst mehr, erblich belastet zu sein. Selbst, wenn sie es wäre, aber dieser friedliche Anblick ihres eben verstorbenen Großonkels entschädigte sie für alles. Auch als sie abermals einen dieser fürchterlichen Schreie hörte, bewahrte sie Ruhe. Sie wischte sich die Tränen ab und wandte sich dem Doktor zu. Maria wollte wissen, ob ihr Großonkel hier unter den Patienten Freunde hatte, - ob er sich mit jemandem unterhalten hat.
Der Doktor sagte, seit man ihn eingeliefert hat, hatte er nie direkt etwas gesagt. Man konnte sich also nicht mit ihm unterhalten, da er eher Selbstgespräche geführt hat, wie das hier unter diesen Patienten meistens der Fall ist. Und Freunde gibt es hier nicht, - eher Machtkämpfe, wobei es aber nur darum geht, wer der Verrückteste von allen ist. Aber da wäre schon jemand gewesen, der die Nähe Marias Großonkels sehr oft suchte. Gespräche fanden aber auch keine statt. Jeder sprach auf gewisse Weise mit sich selbst. Die Gedankengänge dieser Menschen zu verstehen, ist nicht einfach, - und man kann wirklich nicht sagen, ob sie sich untereinander auch verstehen, - ob sie auch zuhören können.
Nun, in letzter Zeit scheint es so, als ob sie wirklich zuhören können, - meinte der Doktor weiter, denn dieser Jemand, der sehr oft die Nähe Marias Großonkels aufsuchte, sei ein genialer Geschichtenerzähler. Man hat ihn auf einer Bahnhofstoilette aufgelesen, - randvoll mit Heroin - und vollkommen verwirrt. Er war erst 17, also fast noch ein Kind. Man weiß von diesen süchtigen Straßenkindern, die ihre Sucht durch Prostitution unterhalten. Und dieser Junge wäre auch so einer gewesen. Er wuchs bei Pflegeeltern auf. Sie haben es ihm anscheinend nicht leicht gemacht, - und er es ihnen wohl auch nicht. Man weiß nichts Genaues über ihn. Man hat Wundmale, - so etwas wie Striemen, die entweder von einem Gürtel, oder gar einer Peitsche stammen, - auf seinem Oberkörper, auf Brust wie auch auf dem Rücken, entdeckt. Sie könnten von seinen Zieheltern, aber auch von Zuhältern oder den Kunden sein. Auf jeden Fall ist es den Zieheltern sehr recht, daß man ihn hier behält. Sie bezahlen alles für ihn, - das ist aber schon alles. Besuchen kommt ihn niemand.
Maria fragte, ob man nichts über seine wirklichen Eltern wisse.
Er wurde in einer Reisetasche vor die Tür seiner Pflegeeltern gefunden. Es war nur ein kleiner Zettel dabei, wo sein Geburtsdatum und der Geburtsort stand. Er wurde übrigens in Rumänien geboren, wenn es stimmt, was auf dem Zettel stand. Vielleicht ist er ein Zigeuner, - sprach der Doktor weiter, - seiner Haut- und Haarfarbe nach könnte er einer sein, aber dazu wäre seine Augenfarbe zu hell, die geradezu eine sehr seltsame Farbe ist, - fast leuchtend, - grell türkis.
Als dieser Junge damals eingeliefert wurde, sprach er kein einziges Wort, - fast zwei Jahre lang sprach er nichts. Er war völlig apathisch, - regungslos. Wohin man ihn setzte oder legte, dort blieb er, bis man ihn woanders hin setzte, oder hinlegte. Er reagierte auf nichts, - nicht einmal auf Schläge.
Maria wiederholte dieses Wort - Schläge - fast entsetzt.
Man mußte alles versuchen, - meinte der Doktor entschuldigend, aber wie gesagt, es half nichts, bis der Junge auf Marias Großonkel aufmerksam wurde. Damals malte dieser gerade sein letztes Bild, - es sollte ein Porträt dieses Jungen werden. Es sah ihm wirklich ähnlich und zeigte ihn in seiner üblichen Stellung, - leicht gesenkter Kopf und seine Hände, zu Fäuste geballt, an seinen Mund gedrückt. So hockte er eine Ewigkeit im Türkensitz am Boden, bis ihm jemand aufhalf und an einen anderen Platz brachte.
Der Junge schien sich auf diesem Bild selbst zu erkennen, - sprach der Doktor zu Maria weiter, - er lächelte sogar kurz.
Auch der Krankenpfleger stimmte dem zu, der damals auch dabei war, genauso wie der Doktor.
Sein erstes Wort, das sie von dem Jungen hörten, war - Strahlen, - und dann weiter: Strahlen um meinem Kopf.
Der Künstler schien ihn verstanden zu haben, denn er malte wirklich Strahlen um seinem Kopf.
Der Doktor forderte Maria durch ein Kopfnicken auf, ihm in die Halle zu folgen. Wenige Schritte nach dem Sterbezimmer, auf der rechten Seite, sah Maria das Kunstwerk. Sie war vom ersten Moment an verzaubert. Es ging so viel Gefühl von diesem Bild aus, ja, fast Liebe, was sie noch nie bei einem Bild empfunden hatte.
Warum hat er ausgerechnet diesen Jungen gemalt? Was verband ihn mit ihm? Und warum suchte der Junge seine Nähe?
Ganz genau betrachtete sie den schönen Kopf des Jungen, - sein zartes Profil, - den gesenkten, traurigen, in sich gekehrten Blick, - die zartgliedrigen Hände, zu Fäuste geballt, die er fest gegen seine volle Unterlippe drückt. Man sah nur seinen Kopf, sein seitliches Profil, mit einem Muttermal unter seinem Auge, und die Fäuste, - alles andere lag im orangefarbenen Nebel. Vom Kopf und den Fäusten gingen weißgelbe Strahlen weg, die diesem seltsamen Jungen fast Heiligkeit verliehen.
Der Künstler habe nicht einmal das Muttermal unter dem linken Auge vergessen, - meinte der Krankenpfleger, der sich ebenso wie Maria und der Doktor vor das Porträt gestellt hatte.
Dann erzählte der Doktor weiter, daß der Junge kurz danach zu sprechen begonnen hat. Zuerst sagte er nur wenig, - es waren eher unzusammenhängende Dinge. Er erzählte von einem anderen Jungen, nicht von sich selbst, obwohl er den selben Namen benutzte. Er sprach also immer in der dritten Person, wenn er erzählte. Und er sprach auch nur in der Nähe des Künstlers, als ob er ihm alles erzählen würde und auch möchte. Aber er sprach nie lange.
Maria wollte wissen, worüber er erzählte.
Der Doktor sagte, daß sie anfangs glaubten, er würde seine Lebensgeschichte erzählen, da dieser andere Junge, über den er erzählt, genauso wie er in Rumänien geboren und in London bei Zieheltern aufgewachsen ist. Jetzt aber wissen alle, daß es sich hier um eine Phantasiegeschichte handelt, denn der Junge erzählte weiter, daß dieser andere Junge Sänger einer Rockband wurde. Und er befindet sich auch nicht mehr in London, sondern war bereits in Wien, sogar in Los Angeles, wo seine Karriere als Rocksänger begann, - und jetzt ist er eben in München.
„München?“ wiederholte Maria wie in Trance.
Der Doktor lächelte und zeigte auf die Menschengruppe in der Ecke, der Maria vorher nur einen kurzen Blick geschenkt hatte.
Als Marias Großonkel sein letztes Bild vollendet hatte und seine Aggressionen gegen ihn selbst immer schlimmer wurden, daß er im Bett nieder geschnallt werden mußte, ging der Junge nicht mehr zu ihm, - erzählte der Doktor weiter. Er hockte sich von selbst in diese Ecke und erzählte seine Geschichte einfach weiter. Manchmal erzählte er bis in die Nacht hinein, oft bis zum Morgen, - bis er eben von selbst einschlief. Dann legte man ihn in sein Bett. Aber er schlief nie lange, höchstens zwei bis drei Stunden. Sobald er munter wurde, erzählte er seine Geschichte weiter. Und die meisten auf der Station hier hörten ihm interessiert zu.
„Seine Stimme scheint sehr beruhigend auf die Patienten zu wirken,“ sagte der Doktor. „Seit er erzählt, gibt es hier Ruhe, was in der Geschlossenen früher nur sehr selten war.“
„Wie heißt dieser Junge?“ fragte Maria.
„Kim,“ antwortete der Doktor. „Kim Simon, - nach seinen Zieheltern. Sein Vorname stand auf dem Zettel, den anscheinend seine leibliche Mutter beigelegt hatte.“
„Und er erzählt nicht über sich selbst?“ fragte Maria.
Der Doktor schüttelte seinen Kopf.
„Er erzählt in der dritten Person, - er sagt immer - er, er, Kim, - und damit meint er wohl kaum sich selbst, obwohl auch er in Rumänien geboren und adoptiert wurde. Aber der Junge befindet sich hier in diesem Sanatorium und nicht in München, wo sich sein Kim eben befindet.“
„Erzählt er so, daß man es auch verstehen kann, - daß man ihm folgen kann?“ fragte Maria.
„Durchaus!“ sagte der Doktor. „Seine Erzählung wäre druckreif. Aber seine Geschichte ist sehr traurig, ja, erschütternd, denn als Kind wurde er stets von seinen Zieheltern mißhandelt, sogar vergewaltigt. Nein, nicht er, eben dieser Kim, über dem er erzählt“, sagte der Doktor schnell auf Marias Blick hin.
„Aber die Striemen!“, sagte Maria. „Sie könnten doch wirklich von seinen Zieheltern sein. Lebte er damals nicht mehr bei ihnen, als er süchtig wurde?“
„Er kam nur mehr selten nach Hause“, sagte der Doktor. „Wie mir sein Ziehvater versicherte, - höchstens einmal pro Woche, wenn überhaupt. Nach der Pflichtschule fuhr er täglich mit dem Bus in die Innenstadt, - er wuchs ja etwas außerhalb von London, in einem Londoner Vorort auf, - und dann kam er nachts nicht nach Hause. Oftmals brachte ihn die Polizei nach Hause, weil ihn seine Zieheltern suchen ließen und sich verständlicherweise Sorgen machten. Mit der Zeit gaben sie auf, weil es keinen Sinn hatte und er immer wieder - sozusagen - ausriß. Dann bemerkten sie auch die Einstiche an seinen Armen. Also wußten sie, daß er drogensüchtig war.“
„Sie hätten etwas unternehmen müssen“, sagte Maria. „Sie hätten ihn in ein Krankenhaus zur Entwöhnung bringen müssen.“
Der Doktor zuckte nur stumm und hilflos mit den Achseln.
Maria wandte sich ab und ging langsam zu der Gruppe. Ihr Herz klopfte plötzlich schneller und ihre Knie zitterten leicht, daß sie beinahe gestolpert wäre. Bald hörte sie die leise, sanfte Stimme dieses geheimnisvollen Erzählers. Es war eine angenehme, tiefe und beruhigende Stimme, die ihr Herzklopfen sofort stabilisierte. Aber noch sah sie ihn nicht. Er war von Pflegern und Ärzten umringt, die vor der Gruppe standen und ihm wie gebannt zuhörten, ohne zu bemerken, wie sich Maria näherte. Vorsichtig drängte sie sich zwischen zwei Pfleger, oder Ärzte durch. Sie sahen ja alle gleich aus mit ihrem weißen Kitteln und weißen Hosen und weißen Schuhen. Die Patienten waren alle in grau, in eher dunkelgrauen Hosen und Hemden gekleidet. Es waren fast zwanzig Patienten, die um den jungen Erzähler am Boden hockten.

Und jetzt sah auch sie ihn. Ja, ihr Großonkel hatte ihn gut porträtiert, - wirklich gut, trotzdem wirkte die leibliche Erscheinung dieses jungen Mannes noch bezaubernder. Da hockte ein Engel im Türkensitz in die Ecke gedrängt und erzählte seine traurige Geschichte. Maria sah fast die Strahlen um seinem Kopf, welche auch ihr Großonkel gemalt hatte. Trotz der Aufforderung des Jungen mußte er sie selbst gesehen haben. Aber da waren wirklich Strahlen, - Sonnenstrahlen, die durch das große, vergitterte Fenster der Halle auf den Jungen schienen. Es war, als ob sie es wirklich nur auf ihn abgesehen hätten.
Ja, es hatte zu regnen aufgehört, - selbst vom Nebel war nichts mehr zu sehen.
Maria fühlte sich plötzlich wie in einem Traum, wie sie da zwischen Ärzten und Pflegern stand und aufmerksam der sanften, leisen Stimme dieses jungen Erzählers lauschte. Seine Augen waren geschlossen, - nach innen gekehrt, wo seine eigentliche Wirklichkeit, seine eigene Welt existierte. Aus ihr heraus erkannte er auch seine eigentliche Lebensgeschichte, - dieses qualvolle Leben, diese ewige Sehnsucht nach Liebe und Geborgenheit, - etwas, was er nie hatte. Doch jetzt schien sich sein Leben ein wenig aufzuhellen. Er war endlich dem Erfolg nahe, - endlich in einem Studio, wo er mit seiner Band seine eigenen Songs aufnehmen durfte. Da war auch der Manager, der ihnen sagte, daß er aus ihnen große Stars machen wird. Aber er fühlte noch etwas, als er vor dem Mikrofon stand, - noch immer mit geschlossenen Augen, - und mit inbrünstiger Stimme seine Songs zum besten gab. Jemand hatte den Raum betreten, - jemand, auf den er schon so lange gewartet hatte. Aber - Hände weg! - sie ist die zukünftige Frau des Managers.
Kim blickte auf. Er sah sie wirklich, - so als ob sie wirklich da wäre, - auch in dieser seltsamen Außenwelt, die er nicht mehr begreifen konnte. Er hätte nur aufstehen müssen, wenige Schritte nur, dann hätte er sie berühren können. Ja, sie war es, - ihr dunkles, schulterlanges Haar, ihre fast schwarzen Augen, - der herrliche Körper, - dieser wunderbar weibliche, weiche, wunderschöne Körper, - ganz wie er sie vor wenigen Sekunden, mit geschlossenen Augen, beschrieben hatte. Ja, sie war da.
Maria zuckte merklich zusammen, als der junge Mann seine Augen öffnete. Das grelle Türkis seiner Augen schien wirklich zu leuchten. Es waren seltsame Augen, nicht nur der Farbe wegen, sondern viel mehr wegen der tiefen Traurigkeit, die ein ebenso tiefes Geheimnis zu hüten schien. Dieser plötzliche Blick, der geradewegs auf sie gerichtet war, schien sie um Hilfe zu bitten, - Hilfe, um ihn die wirkliche Welt endlich begreifen zu lassen. Diese wirkliche Welt hatte ihn zwar sehr enttäuscht, aber sein Wille, sogar sein sehnsüchtiger Wunsch, sie endlich begreifen zu können, wohl aber auf seine Art, war noch immer da.
Maria hatte auch seine Worte gehört, wie er von dieser Frau erzählte, die er plötzlich wirklich vor sich sah, - die plötzlich den Studioraum betreten hatte und ihn durch die Glasscheibe beobachtet hatte. Er hatte sie ganz genau beschrieben.
Maria fühlte nun auch, daß nicht nur der junge Erzähler sie anblickte, - auch die Patienten wandten sich zu ihr um und starrten sie mit offenem Mund an. Dann wurden auch die Ärzte und Pfleger aufmerksam und betrachteten Maria, die dadurch wieder nervös wurde und aufgeregt mit ihrer Handtasche in ihren Händen spielte. Sie konnte nicht glauben, daß der junge Mann sie damit gemeint hatte, als er eben noch mit geschlossenen Augen diese genaue Beschreibung abgegeben hatte. Sie wandte sich hilfesuchend nach dem Doktor um, der genau hinter ihr stand und die Worte des Jungen ebenfalls gehört hatte.
„Er kann nicht mich damit meinen“, sagte Maria völlig verwirrt, als sie nach wenigen Minuten mit dem Doktor in dessen Büro saß, - in dem Zimmer, in welches er sie zuerst geführt hatte. „Selbst wenn er eine dunkelhaarige Frau beschrieb, - so gibt es doch viele, - nicht nur mich, auf die diese Beschreibung paßt.“
„Seine Augen waren geschlossen, als er diese Frau beschrieb“, sagte der Doktor. „Und er hat ja nicht nur irgendeine Frau beschrieben. Wenn er erzählt, ist er immer sehr genau bei seinen Erzählungen. Er hat nicht nur ihr Haar, ihre Augen und ihre Figur beschrieben, sondern auch ganz genau ihre Kleidung. Und das mit geschlossenen Augen. Und haben sie bemerkt, wie er erstarrte, als er seine Augen öffnete und sie sah? Er war doch selbst überrascht, sie zu sehen.“
„Was wollen sie damit sagen?“ fragte Maria und faßte sie nervös an die Stirn.
Der Doktor zuckte mit den Achseln. Es war ja auch für ihn sehr verwirrend, was da eben vorgefallen war. Aber er sah und hörte es mit eigenen Augen und Ohren. Man könnte sagen, er sah und hörte so etwas wie ein Wunder.
„Vielleicht hatte er seine Augen gar nicht wirklich geschlossen, - vielleicht sah er mich, als ich in die Halle kam und spielte uns allen eben jetzt einen Streich?“ meinte Maria und blickte den Doktor fragend an.
„Er erzählt immer mit vollkommen geschlossenen Augen. Und er hatte auch jetzt seine Augen vollkommen geschlossen. Glauben sie mir, ich kann mir das auch nicht erklären“, sagte der Doktor mitfühlend.
„Dieses Bild, welches mein Großonkel von ihm gemalt hat, - hat er von anderen Patienten auch Porträts gemacht? Ich frage das deshalb, weil ich im Flur draußen einige Porträts gesehen habe“, fragte Maria mit belegter Stimme.
Sie wollte diesen jungen Mann vergessen, so als ob sie ihn nie gesehen hätte. Aber sie wußte sofort, daß ihr das niemals gelingen wird. Warum, das wußte sie nicht. Es war nicht deshalb, weil sie sich geschmeichelt fühlte, denn das tat sie nicht, - sie fühlte sich eher verarscht. Nein, sie wußte nicht, was dieser junge Mann, dieser Engel im Sonnenlicht, ihr mit seinem Blick wirklich angetan hatte.
„Nein, uns ist nie aufgefallen, daß ihr Großonkel bestimmte Menschen gemalt hat. Er saß immer alleine, hinter verschlossener Tür, wenn er malte. Nur dieses eine Mal, dieses letzte Mal, als er malte, öffnete er die Tür und blickte auf den Jungen, der in der Halle völlig apathisch und regungslos neben der Wand am Boden in der Halle hockte. Dann stellte er seine Staffelei vor den Türeingang, um genaue Aussicht auf den Jungen zu haben und begann ihn zu porträtieren.“
Maria hatte so viele Fragen, von denen sie wußte, daß sie niemals beantwortet werden können. Sie konnte es sich nicht erklären warum, aber sie wußte auch und das mit einem wirklich unerklärlichen Bewußtsein, daß zwischen diesem Jungen und ihren Großonkel etwas ganz Besonderes vorgefallen sein muß und der Großonkel ihr, Maria, mit diesem Porträt einen Wink geben wollte. Aber warum dieser Junge? Und warum wurde ihr Großonkel ausgerechnet auf diesen Jungen aufmerksam? Und was wollte er ihr damit sagen, falls sie ihre seltsamen, unerklärlichen Gefühle nicht täuschen?
Nach diesen verwirrenden Gedanken fragte Maria was nun mit ihrem verstorbenen Großonkel passieren wird,- ob sie etwas für das Begräbnis organisieren soll. Aber es wird alles erledigt, - sie hätte absolut keine Arbeit. Nur eines wäre notwendig, nämlich ein Gespräch mit dem Notar, um die Erbschaft rechtsgültig zu machen.
„Das Haus?“ fragte Maria.
Der Doktor nickte und bot sich sofort an, Maria das Haus zu zeigen. Maria nahm den Regenschirm, den sie vorher im Büro zurück ließ und den sie jetzt eigentlich nicht mehr brauchte, denn es schien ja die Sonne, - stand auf und verließ zusammen mit dem Doktor das Büro.
Sie nahmen seinen Wagen, als sie zum Haus des eben verstorbenen Künstlers führen. Sie Fahrt dauerte ungefähr zehn Minuten. Maria prägte sich den Weg ganz genau ein, um später alleine hin zu finden. Sie wußte wieder nicht, warum sie dieses Gefühl hatte, sich den Weg genau zu merken. Was sollte sie hier auch schon halten? Ihre Arbeit, ihr Studio, befand sich in München. Dort hatte sie auch ein großes, modern eingerichtetes Appartement nicht weit vom Studio entfernt. Und sie fühlte sich wohl in München. Zwar hatte sie nicht viele Bekannte, denn sie war ja lieber alleine, - aber wenn sie mal Gesellschaft wollte, fand sie sie auch. Hier wäre sie genauso einsam wie ihr Großonkel es war.
Warum plötzlich diese Gedanken? Warum schmiedete sie jetzt schon Pläne in dieses Haus zu ziehen, sogar ihren Wohnsitz zu wechseln, - schon bevor sie das Haus überhaupt gesehen hatte?
Der Doktor warnte sie vor dem Zustand des Hauses, - es sei zwar verhältnismäßig gut erhalten, aber die Innenräume dürften inzwischen ziemlich verstaubt und verwahrlost sein. In all diesen Jahren hat sich niemand darum gekümmert.
Maria war überrascht, als sie das Haus an der Landstraße, außerhalb der Großstadt sah. Es war klein, ein schmuckes Einfamilienhaus mit Terrasse, einem kleinen eingezäunten Garten, mit Birken, - auch einen Apfelbaum und einen Zwetschgenbaum konnte sie erkennen. Das Haus war ebenerdig, wie ein Bungalow gebaut, hatte große Fenstern und an der Seite der Terrasse eine riesige Glasfront, wo wohl das Atelier eingerichtet war, in dem ihr Großonkel alles krumm und klein geschlagen hatte.
Der Doktor, der vom Notar den Schlüssel ausgehändigt bekommen hatte, wie er sagte, sperrte die große, schwere Eichentür auf, die anscheinend, nach dem Aufbrechen, wieder repariert wurde. Ein feuchter, modriger Geruch strömte ihnen entgegen, als sie eintraten.
Maria betätigte vergeblich den Lichtschalter. Der Strom wurde natürlich abgedreht, denn das Haus stand ja bereits mehr als 30 Jahre leer. Aber sie benötigten ohnehin kein elektrisches Licht.
Wie Maria vermutet hatte, befand sich an der Terrassenfront das Atelier, wo eigentlich das Wohnzimmer vorgesehen wäre. Der Doktor sagte, man habe alles, bis auf wenige Möbel, für einen guten Zweck, abgeholt. Es gab keinen Schrank in diesem geräumigen Zimmer, dem Atelier, bloß ein schmales Regal, in dem verstaubte Bücher und Ordner standen. Auch eine alte, zertrümmerte Staffelei lag am Boden. Die Farben, Pinsel und andere Malutensilien hatte man wahrscheinlich auch entfernt, denn der Parkettboden war verhältnismäßig sauber, bis auf den Staub.
In der linken Ecke, gegenüber vom Bücherregal, stand eine dunkelblaue Ledercouch. Das war die gesamte Einrichtung in diesem Zimmer,- kein Tisch, keine Sessel waren mehr da.
Sie gingen wieder aus dem Atelier in den Vorraum, wo sich noch vier weitere Türen befanden, die offen standen. Von einer aus, - der letzten, blickte Maria über Stufen hinunter, die in die Kellerräume führten. Von der nächsten Tür aus kam man in die Küche. Auch sie war spärlich eingerichtet. Auf einer Seite stand ein Einbauschrank, mit Kühlschrank und Elektroherd. Und wieder war kein Tisch und keine Sesseln vorhanden. Die dritte Tür führte in das Badezimmer, mit WC.
Als nächstes trat Maria ins Schlafzimmer, welches ebenso geräumig war wie das Atelier. Mitten in diesem Zimmer stand ein großes, französisches Bett, mit beigefarbener Überdecke. Mag sein, daß sie eine andere Farbe hatte, - aber der Staub ließ es beigefarben erscheinen. Rechts hinter der Tür stand ein einfacher Schrank, - mehr Möbel hatte dieses Zimmer nicht zu bieten.
Maria fand, daß das Schlafzimmer viel zu groß war. Es gab zwei große Fenstern hier, daß man durch eine Trennwand zwei Zimmern daraus machen könnte. Vorhänge gab es nirgends, wohl aber Karniesen, die bezeugten, daß es hier einmal Vorhänge gegeben hatte.
Ja, das Haus war ziemlich verstaubt und verwahrlost, aber es ließe sich etwas daraus machen. Maria ertappte sich schon wieder dabei, daß sie bereits Pläne schmiedete. Ganz bewußt wurde ihr das, als der Doktor sagte, daß sich das Haus gut verkaufen ließe, - daß er übrigens schon zwei Käufer hätte, die sofort zugreifen würden - und das zu einem beachtlichen Preis. Er sah Maria wohl nicht an, daß sie bereits daran dachte, sich für immer hier nieder zu lassen....
Maria gab ihm zu verstehen, daß sie sich alles vorerst mal durch den Kopf gehen lassen wird. Vordergründig war ja erst die Sache mit dem Notar.
Maria behielt die Schlüssel vom Haus, als sie zum Sanatorium zurück fuhren.
Sie hatte vor, noch drei Tage zu bleiben, - also, bis das Begräbnis und das mit dem Notar vorbei war. Das sagte sie dem Doktor, als sie beide vor Marias Auto standen.

Nach drei Tagen war alles vorbei und erledigt. Der Großonkel lag unter der Erde, und Maria war Besitzerin eines Häuschens am Stadtrand von London, nicht weit vom Sanatorium entfernt.
Natürlich verabschiedete sie sich vom freundlichen, hilfsbereiten Doktor, - nicht im Sanatorium, - sie trafen sich im Hotelcafé, im Hotel, wo Maria in diesen Tagen übernachtet hatte. Sie sagte, sie werde ihm rechtzeitig Bescheid geben, - wegen des Verkaufs. Jetzt fühlte der Doktor aber schon, daß sich Maria mit den Gedanken abtrug, das Haus für sich selbst zu behalten.

Am nächsten Tag war sie wieder in München, in ihrem Appartement. Sie war wirklich froh, daß sie alles hinter sich hatte. Jetzt gab es keinen Verwandten mehr, der geistig krank ist, - jetzt schien sie endlich wieder frei zu sein, - frei von dem Gedanken, diese Krankheit könnte auch sie betreffen. Selbst wenn sie diesen Hang zur Einsamkeit hat, - was sagt das schon aus? Viele Menschen sind, wie sie, gerne alleine. Viele leben sogar in vollkommener Abgeschiedenheit und werden auch nicht verrückt.
Maria mußte über ihre vergangenen Ängste lachen. Aber so ruhig wie früher war sie nicht mehr. Sie mußte sehr oft an diesen jungen Erzähler denken, der noch nicht einmal 2o war. Und vor allem daran, warum ausgerechnet er von ihrem Großonkel porträtiert wurde. Warum war sein letztes Bild von diesem Jungen? Er wurde ja nicht gleich darauf todkrank, - er hätte ja noch einige Zeit weiter malen können.
Der Doktor sagte, es schien, als ob das das Bild gewesen wäre, nachdem ihr Großonkel sein Leben lang gesucht hätte. Es war sein sogenanntes Meisterwerk. In diesem Jungen hatte er endlich das Motiv gefunden, nach dem er schon immer gesucht hatte. Er war nämlich schon immer auf Porträts spezialisiert gewesen, - nicht auf bekannte Gesichter, - also keine Bekannten oder berühmte Persönlichkeiten, die es wert gewesen wären, von ihm gemalt zu werden. Seine Ausstellungen zeigten stets Gesichter, Porträts, die aus seiner Phantasie entsprungen waren. Das erwähnten übrigens auch die Galeristen, denn sie sagten stets scherzhaft, daß die Ähnlichkeit mit lebenden oder toten Personen rein zufällig wäre. Auch im Sanatorium porträtierte er nie Ärzte oder Patienten. Er malte immer hinter verschlossener Tür, bis auf dieses eine Mal, - das letzte Mal, und genau das schien das Werk gewesen zu sein, nachdem er schon immer gesucht hatte. Genau dieser Junge, - dieses nachdenkliche, traurig blickende Profil. Warum dieser Junge? Was verband ihn mit ihm? Und warum mußte sie immerzu an ihn denken?

Nach drei Wochen faßte Maria den Entschluß, wieder nach London zu fahren. Im Studio gab es zwei vertrauenswürdige Leute, die sie gut vertreten können. Maria besprach alles mit ihnen, gab ihnen freie Hand, bis sie wieder zurück kommen wird. Sie könne aber nicht genau sagen, wann das sein wird.

Wie gesagt, nach etwas mehr als drei Wochen fuhr sie mit ihrem Auto wieder durch die Straßen von London. Es war fast ende Oktober. Das Wetter war etwas trüb, aber es regnete diesmal nicht.
Maria hatte vor, geradewegs zu „ihrem“ Haus zu fahren. Sie wollte es in den nächsten Tagen sauber machen und renovieren lassen. Das mit dem Strom hatte sie bereits von München aus erledigt. Öl für die Ölheizung war auch bestellt, denn es war bereits empfindlich kühl. Maria hatte ja vor, schon im Haus zu schlafen.
Sie wollte den Doktor mit dem Haus überraschen. Er wußte nicht, daß sie wieder in London war. Maria hatte seltsamerweise Vertrauen zu diesem Mann. Er war nicht unbedingt das, was man einen attraktiven Mann nennt, aber er hatte sanfte Augen, was sie an Menschen besonders schätzte. Der Doktor dürfte so ungefähr um die 50 sein.
Nein, Maria dachte sicher nicht an ein intimes Verhältnis mit ihm, - nicht einmal an eine festere Freundschaft, höchstens eine lockere Bekanntschaft. Nein, das war nicht ihre Art, denn sie liebte ihre Freiheit, ihre Einsamkeit, und Freundschaft verlangt immer nach irgendwelchen Pflichten, - Freundschaften muß man pflegen. Und bis jetzt hatte Maria noch keinen einzigen Menschen kennen gelernt, von dem sie sagen könnte, daß sie sich in seiner Nähe besonders wohl fühlt. Bis jetzt war sie immer froh, wenn ihre Beziehungen in die Brüche gingen. Liebeskummer kannte sie nicht, - Liebeskummer hatten immer die Männer, vor denen sie sich nach wenigen Tagen, wenn sie spürte, daß alles zu eng wurde, für immer verabschiedete. Selbst mit den Freundschaften war es das selbe. Ja, Maria war wählerisch. Sie war für entweder oder, - ein Dazwischen gab es nie für sie. Und wie gesagt, bis jetzt gab es keinen Menschen, der sich für eine engere Beziehung oder für Freundschaft geeignet hätte. Und wie ebenfalls gesagt, - auch beim Doktor dachte sie nicht an so etwas wie Beziehung oder Freundschaft. Sie wußte eigentlich gar nicht, warum sie ihn mit dem Haus überraschen will. Er schien für sie eine Verbindung zu sein, - aber eine Verbindung zu was, zu wem? Etwa zu diesem Jungen?
Marias Herz klopfte schneller bei diesen Gedanken, und gleichzeitig wunderte sie sich über diesen Gedanken, von dem sie glaubte, daß er nicht aus ihr entsprungen war, nicht aus diesem Ich, das sie bis jetzt immer gewohnt war. Es schien noch ein Ich in ihr zu geben, - eine Art Bewußtsein, das sie erst von diesem Augenblick an fühlte, als sie den Jungen das erste Mal gesehen hatte. Sie erinnerte sich, daß sie sich wie in einem Traum fühlte, als sie vor dieser Gruppe stand und ihm zuhörte.

Die Überraschung gelang ihr, als sie ins Sanatorium kam und den Doktor in seinem Büro oder Sprechzimmer, wie man das wohl eher nennt, aufsuchte.
Man fragte sie natürlich am Tor, zu wem sie möchte, - aber vergeßlich wie sie war, konnte sie sich den Namen des Doktors nur ungefähr merken.
Aber jetzt war sie in seinem Sprechzimmer und saß ihm gegenüber, vor dem großen Schreibtisch und erzählte ihm stolz, daß das Haus komplett sauber und neu eingerichtet ist und sie einige Zeit hier bleiben wird. Der Doktor schien sich wirklich für sie zu freuen und meinte, daß er den Käufern sozusagen absagen müßte. Aber dann wurde sein Gesicht ernst und er kam auf diesen jungen Geschichtenerzähler zu sprechen. Der Doktor sagte, der Junge wäre völlig ausgeflippt, als sie gegangen ist. Drei Pfleger mußten ihn überwältigen, sonst hätte er sich den Kopf an der Wand blutig geschlagen. Also die selben Aggressionen, die sich bei ihrem Großonkel zeigten. Man mußte ihn nieder schnallen und Beruhigungsmittel geben. Danach war er wieder vollkommen apathisch, so wie anfangs, als er eingeliefert wurde. Fast drei Wochen verhielt er sich so. Erst dann begann er wieder zu erzählen, aber auch nur kurz, bis er dann wieder in diese unerklärliche Apathie zurück fiel. Jetzt, in der letzten Woche hat es sich erst gebessert. Er erzählt wieder fast Tag und Nacht seine Geschichte und schläft kaum mehr als drei Stunden.
Der Doktor fragte Maria, ob sie ihn sehen möchte, aber Maria hatte ihre Zweifel. Was, wenn er dann wieder ausrastet?
Der Doktor meinte, es wäre ein Versuch wert, denn seinem Gefühl nach wäre sie, Maria, die beste Therapie für diesen Jungen. Vielleicht würde sie es schaffen, ihn aus seiner Phantasiewelt in die Wirklichkeit zurück zu bringen. Keiner der Ärzte hätte es bisher geschafft, da er mit niemandem direkt spricht. Er erzählt bloß seine Geschichte, - das ist schon alles.
„Und sie meinen, mit mir würde er sprechen?“ fragte Maria überrascht.
„Er hat sie wahrgenommen. Sie sind bis jetzt die erste Person, die er registriert hat“, sagte der Doktor. „Bis jetzt hat er noch niemanden so angesehen wie sie. Seine Blicke gingen immer durch jeden hindurch, aber sie hat er wirklich angesehen.“
„Wie können sie das wissen?“ fragte Maria.
Der Doktor zuckte mit den Achseln und meinte, es sei bloß ein Gefühl, aber er glaube daran. Außerdem ist das den Ärzten und Pflegern auch aufgefallen. Sie konnten bis heute das Rätsel nicht lösen, wie er Maria so genau mit geschlossenen Augen, also ohne sie wirklich zu sehen, beschrieben hat. Und sie bemerkten auch, wie er förmlich zusammen zuckte, erstarrte, als er seine Augen öffnete und sie sah.

Maria hatte kein gutes Gefühl, als sie dem Doktor über dem Flur, die Treppen, wieder einem Flur und wieder Treppen folgte, bis sie vor der schweren Eisentür standen, aber sie wußte nun, warum sie wirklich hier war. Ja, der Grund für ihre Anwesenheit war nur dieser junge Mann, den sie seit damals, als sie ihn das erste Mal gesehen hatte, nicht mehr vergessen konnte. Die Arbeit und Hektik der letzten Tage ließen zwar einen Schleier über diese Erinnerung fallen, dennoch war ihr Herz stets bei dem Jungen. Das wußte sie nun ganz genau, als der Doktor die Eisentür aufsperrte. Aber eine vernünftige Erklärung gab es nicht dafür. Diese Gedanken an den Jungen, diese seltsame Liebe zu ihm lag ja noch sehr verborgen und tief in Maria. Das war eine Kraft, die ihr auf der einen Seite absolut nicht bewußt war, aber auf der anderen Seite, einer ganz dunklen, undefinierbaren Seite, wußte sie es ganz genau.
Nein, es lag nicht an dem Haus, warum sie sich hier niederlassen wollte. Eigentlich wäre sie voll und ganz fürs Verkaufen gewesen. Aber da war diese Kraft in ihr, die sie sich jetzt noch nicht erklären konnte, der sie aber unweigerlich und ohne Erklärungen nachgeben mußte.
Sie fühlte sich wie ferngesteuert, als sie dem Doktor über dem schmalen Flur in die Halle folgte.
Nein, diese Kraft ging weder von diesem Jungen, noch vom Doktor aus, der ja wirklich alles daran setzen wollte, um den Jungen wieder gesund zu machen. Diese Kraft kam aus Maria selbst, - wie ein sechster Sinn, wie eben etwas Unerklärliches. Man könnte fast sagen, in diesen wenigen Sekunden, als sie dem Doktor bis zu dieser Ecke in der Halle folgte, wo der Junge, mit geschlossenen Augen, im Türkensitz, hockte, um ihn die Patienten, Ärzte und Pfleger, die ihm aufmerksam zuhörten, folgte sie ihrem Herzen, von dem sie bis vor kurzem noch nie etwas gefühlt hatte. Maria war keineswegs hartherzig, - sie war ein guter, gerechter und auch sehr verträglicher Mensch. Das sagten alle im Studio. Sie war beliebt, wirklich beliebt, - vielleicht sogar deswegen, weil sie niemals aufdringlich war und lieber zurückgezogen lebte. Dieses Herz, welches sie nun zum ersten Mal spürte, war etwas andere, - es war annähernd so etwas wie die Seele, wie ein höheres Selbst, - einfach etwas, was sich sehr schwer, wenn überhaupt erklären läßt, - was sich wohl auch niemals beweisen lassen wird.
Und da saß nun dieser Junge, dieses engelhafte, zarte Wesen, - weder Mann, noch Frau, sondern viel mehr Kind, - und erzählte wieder seine Geschichte.
Er war nun berühmt, der berühmteste Rockstar, den die Welt je erlebt und gesehen hatte. Er zog jeden in seinen Bann. Er war der große Superstar. Aber nur nach außen hin, - innen war er einsam, - einsam und traurig. Seine Kindheit, seine Jugend, seine gesamte, schreckliche Vergangenheit, als er immer nur gedemütigt und gequält wurde, ließ ihn nicht los. All der Reichtum, der Erfolg, der Jubel der Fans, - all das bedeutete ihm nichts.
Nur einen Menschen, und ich wäre nie mehr einsam.
Die ganze Welt liebt und verehrt ihn, aber was hat er davon, wenn er einsam in seiner bescheidenen Wohnung sitzt?
Nur einen Menschen, und ich wäre nie mehr einsam.
Er kann diesen Augenblick nicht mehr vergessen, als er sie das erste Mal gesehen hat. Da stand sie aus Fleisch und Blut leibhaftig vor ihm, - sie, die Traumfrau, die er schon so lange in seinem Herzen fühlt und kennt. Jetzt ist sie wieder da, - mit ihm allein in seiner Wohnung. Die zwei Freunde haben sie allein gelassen, - in der Hoffnung, daß sie sich endlich ihre Liebe gestehen.
Komm her zu mir.
Der junge Mann atmete plötzlich heftiger. Seine Worte waren nur mehr schwer zu verstehen. Maria fühlte ihr Herz bis zum Hals klopfen. Auch ihre Knie zitterten, wie damals. Fast biß sie ihre Unterlippe blutig, als sie das sanfte Liebesgeflüster des Jungen hörte.
Komm her zu mir.
Maria hatte noch nie so wundervolle Worte gehört. Sie kamen tief aus dem Herzen des Jungen und waren so gefühlvoll, so sanft und so voller Sehnsucht und wahrer Liebe.
Maria fühlte ein kurzes Frösteln, als der Junge tief durchatmete und wieder ruhig weiter erzählte. Er sprach von den wunderbarsten, schönsten Minuten seines Lebens. Aber plötzlich wurde er wieder unruhig und sein Atem wurde abermals heftiger.
Maria wollte sich eben umdrehen und gehen. Sie konnte diese Seelenqual, diese heiße Sehnsucht des jungen Mannes einfach nicht mehr ertragen. Sie fühlte ja, wie sehr er sich nach Liebe sehnte, - sie fühlte genau das, was auch er fühlte.
Nein, geh nicht!
Maria erstarrte in ihrer Bewegung und blickte auf den Jungen, der sie genauso entsetzt anblickte, wie sie ihn. Sein Körper blieb regungslos, aber sein Blick sprach Bände.
Da war die Außenwelt, - sie in der Außenwelt. Die Außenwelt ist farblos, verschwommen, alles grau in grau unter dichter Nebeldecke, - aber sie, sie ist voller Farben, voll von Licht. Ja, es gab ein Durchkommen, - sie war die Tür zur Außenwelt, die ihn ja doch noch nicht ganz abgeschrieben hatte. Aber was erwartet ihn in dieser Außenwelt? Was, was er nicht schon alles Schreckliche erfahren hatte? Was hatte er in der Außenwelt erfahren? Nein, nicht denken! Schließ die Augen, - sperr die Außenwelt ab.
Der Junge schwieg und schloß seine Augen. Nur ein leichtes Zittern ging durch seinen Körper, - ganz kurz nur, dann saß er da wie eine leblose Statue, - schweigend und wie aus Stein.
Abermals waren alle Blicke auf Maria gerichtet, die nicht wußte, wie sie sich nun verhalten sollte. Aber der Doktor nahm ihren Arm und führte sie zum Flur bis zur vergitterten Tür. In diesem Moment hörten sie einen markerschütternden Schrei. Er war nicht so fürchterlich wie die Schreie, welche sie vom letzten Mal in Erinnerung hatte. Und Maria wußte auch genau, wer ihn ausgestoßen hatte.
Als sie sich umdrehte, stand der junge Erzähler vor ihr. Hinter ihm die Pfleger, die sich eben auf ihn stürzen wollten, aber der Doktor deutete ihnen mit den Händen an, Ruhe zu bewahren und abzuwarten.
Maria war abermals erstaunt über die Erscheinung des Jungen. Er war sehr groß, um mehr als einen Kopf größer als sie, - aber keine Bohnenstange, sondern von athletischer Statur, wie sie an seinem halbnackten Oberkörper erkennen konnte, denn das graue Hemd war bis zum Bauchnabel offen. Sein Blick aus den leuchtend türkisen Augen war ruhig und sanft. Sie mußte keine Angst vor ihm haben, das fühlte sie sofort. Maria lächelte sogar, - und er, zum Erstaunen des Doktors, lächelte zurück.
„Geh nicht“, sagte er mit sanfter, weicher Stimme und lächelte abermals, daß Maria seine schneeweißen, ebenmäßigen Zähne sehen konnte.
Ganz langsam, fast zögernd, streckte er seine rechte Hand nach ihr aus. Maria zögerte auch, aber dann wollte sie doch nach seiner ausgestreckten Hand fassen. Es wären nur mehr wenige Zentimeter gewesen und sie hätte sich berührt. Aber der junge, sehr groß gewachsene Mann zog seine Hand plötzlich wieder zurück. Er versteckte beide Hände hinter seinem Rücken und senkte den Blick. Dann drehte er sich langsam um und ging an den Pflegern vorbei zu „seiner“ Ecke zurück, wo er sich wieder im Türkensitz hinhockte. Er schloß seine Augen und erzählte weiter, als ob nichts geschehen wäre.

Maria mußte dieses Erlebnis erst mal verdauen, als sie beim Doktor in dessen Sprechzimmer saß. Sie hatte das Gefühl, als ob der Junge noch immer vor ihr steht, noch immer seine Hand nach ihr ausstreckt.
„Geh nicht“, hatte er mit sanfter, leiser Stimme gesagt, aber Maria hörte etwas anderes. Sie hörte: „Hilf mir.“ Sie sah in seinen Augen, die genauso sanft, aber auch sehr traurig blickten, wie auch seine Stimme klang.
„Worum geht es in seiner Geschichte?“ fragte sie nach einer Weile und sah dem Doktor tapfer in die Augen.
„Das habe ich ihnen schon gesagt. Er erzählt von einem anderen Kim, der in seiner Kindheit ständig mißhandelt und auch mißbraucht wurde. Es mag eine Parallele zu seinem wirklich Leben vorhanden sein, da auch sein Phantasie - Kim drogensüchtig wurde. Sein Kim hatte einen Freund, der ihm beistand. Er kam nicht in ein Sanatorium, - er verließ mit seinem Freund England und fuhr nach Deutschland, wo der Vater seines Freundes lebt. Dann ging es weiter nach Wien, wo er abermals eine sehr schwere Zeit hatte. Kim erzählt von einem Fluch, - daß ein Fluch auf seinem Phantasie - Kim liegt, - und dieser Fluch bewirkt, daß ihn alle Menschen, die länger in seiner Nähe sind, quälen.
Ich weiß nicht, vielleicht erzählt er ihnen die ganze Geschichte von vorne?“
Maria stockte kurz der Atem nach diesen Worten.
„Er hat sie direkt angesprochen“, sprach der Doktor weiter. „Das war ein Wunder, denn er läßt niemanden an sich heran. Seit ihr Großonkel damals krank war und er das Interesse an ihm verloren hatte, läßt er niemandem an sich heran. Wenn jemand versucht, ihn zu berühren, rastet er vollkommen aus.“
„Er hat seine Hand wieder zurückgezogen“, sagte Maria.
„Aber er hat sie ihnen entgegengestreckt, was er sicher noch nie getan hat. Die Pfleger haben immer einen schweren Kampf, wenn es um die Morgen- und Abendtoilette geht. Die Patienten in der Geschlossenen waschen sich nur selten alleine, - sie müssen also gewaschen oder gebadet werden. Für Kim ist das jedesmal eine furchtbare Tortur, - aber es muß sein.
Als er eingeliefert wurde sah er aus wie ein Wilder, - schulterlanges, strähniges Haar und dreckig von oben bis unten. Damals war es leichter, denn damals war er vollkommen apathisch und bekam nichts mit.

Manchmal wehrte er sich zwar kurz, aber das war kein Problem, denn schon bald verfiel er wieder in diese Apathie zurück.
Es ist auch jedesmal eine Prozedur, wenn man ihm die Haare schneidet. Er muß auf einem Stuhl festgebunden werden, da er sonst nicht still hält. Jede Berührung scheint für ihn mehr als schmerzhaft zu sein. Er brüllt und tobt, als ob es um sein Leben ginge.“
„Was um Himmels Willen ist mit diesem armen Menschen geschehen? Warum hat das niemand genauer nachgeprüft?“ fragte Maria erschüttert.
„Es ließ sich nichts nachprüfen“, sagte der Doktor sichtlich verbittert. „Wir haben alles mögliche in die Wege geleitet. Sein Ziehvater ist Schuldirektor und nebenbei in der Politik tätig. Da gibt es kaum ein Durchkommen. Diese Menschen sind über jeden Verdacht erhaben. Das sei aber nur unter uns gesagt, denn es gibt keine Beweise, daß Kim von seinen Zieheltern wirklich mißhandelt wurde.
Auch die Leute aus dem Vorort, wo diese Familie lebt, wurde verhört. Man konnte nichts aus ihnen heraus bekommen, außer, daß Kim schon immer ein sehr schwieriges und sehr kontaktscheues Kind war.
Kims Zieheltern haben zwei Töchter. Sie sind so etwas, was man Musterkinder nennt. Nichts deutet auf Mißhandlungen hin, - im Gegenteil, die beiden Mädchen scheinen den Himmel auf Erden zu haben.
Aber ich weiß, es muß etwas Furchtbares mit Kim passiert sein. Als er über seine Kindheit, - über die Kindheit seines Phantasie - Kims erzählte, hörten wir wirklich grauenhafte Dinge. Er wurde vom Ziehvater und von der Ziehmutter vergewaltigt und mißhandelt. Und das ist noch nicht alles. Die Lehrer in der Schule vergingen sich an dem Jungen, und Männer aus dem Vorort lockten ihn in ihr Auto, fuhren zum nahen Waldrand und mißbrauchten und mißhandelten ihn schwer.
Seine Erzählungen handeln eigentlich nur von Gewalt und Vergewaltigung. Kim erzählt alles ziemlich genau und sehr direkt, daß man wirklich glauben könnte, er habe das alles am eigenen Leib erfahren.
Aber diese Lebensgeschichte geht anders weiter, denn er verläßt England und wird später der berühmteste Rockstar aller Zeiten. Kim erzählt von einer seltsamen Ausstrahlung, welche sein Kim hat, die jeden Menschen in seinen Bann zieht. Das heißt, ob Mann oder Frau, jeder und jede verliebt sich rettungslos in dieses überirdisch schöne Wesen. Und - wie bereits gesagt - auch von einem Fluch erzählt Kim, der die Menschen dazu bringt, seinen Kim zu quälen.
Das alles klingt so, als ob er eine Entschuldigung für sich und für die Menschen sucht, die ihm weh getan haben.“
„Weh getan?!“ fuhr Maria auf. „Diese Menschen haben ihm sicher nicht nur weh getan, - sie haben ihn verrückt gemacht, ihn so lange gequält, - ja, gefoltert, bis er nicht mehr wußte, wer er ist.“
Maria seufzte, atmete tief durch und stand auf.
„Eigentlich bin ich aus einem ganz anderen Grund gekommen“, sagte sie und versuchte zu lächeln. „Ich möchte mein Haus einweihen. Hätten sie Lust mit ihrer Frau heute Abend zu kommen? Ich werde etwas Feines kochen.“
Noch im selben Moment, bevor sie das letzte Wort ausgesprochen hatte, tat ihr diese Einladung leid. Was war nur in sie gefahren? Das war doch gar nicht ihre Art! Einweihung des neuen Hauses! Was für ein Schwachsinn! Und aus diesem Grund ist sie sicher nicht ins Sanatorium gekommen! Das sagte sie doch nur, um endlich einen Themenwechseln zu erzwingen, weil sie nicht mehr ertragen konnte, was sie da über diesen zarten Engel erfahren mußte, der eigentlich gar nicht so zart ist, und wie sie sich erinnerte, als er vor ihr stand, mehr als um einen Kopf größer, mit breiten Schultern und muskulöser, nackter Brust.
„Verzeihen sie, - ich weiß ja gar nicht, ob sie eine Frau haben....“, begann sie verlegen zu stottern und wäre am liebsten im Erdboden versunken.
Jetzt ärgerte sie sich noch mehr über sich selbst. Zuerst diese schwachsinnige Einladung, die sie ja gar nicht wollte und dann dieses Gestammel.

Aber die Einladung war Maria gelungen, wie auch das Essen, das von Doktor Thompsons Ehefrau, - er hatte doch eine! überschwenglich gelobt wurde. Sie war nicht gerade fettleibig, zeigte aber Ansätze gerne und viel zu essen. Angela Thompson war um die 40 und eine typische Engländerin, wie sie sich Maria immer vorstellte, - blaß, dunkelblond und wasserblaue Augen. Sie aß nicht nur gerne und viel, sie sprach auch gerne und viel. Maria fand sie trotzdem sympathisch, - ebenso wie Doktor Thompson, den sie ab diesem Abend Steven nennen durfte, wie auch seine Frau beim Vornamen - Angela.
Maria hatte das Haus nach Ansicht der Thompsons sehr geschmackvoll und bequem eingerichtet. Sogar der Kamin im Wohnzimmer, vormals kahles Atelier, war an und sorgte für eine gemütliche Atmosphäre.
Kinder hatten die Thompsons keine. Maria wollte nicht nach den Grund fragen, - es war ihr peinlich, daß es von Angela erwähnt wurde. Sie wollte nicht zu viel über dieses Ehepaar erfahren und auch über sich selbst nur wenig preis geben. Wie gesagt, die Einladung tat ihr ja noch immer leid, und sie wußte, daß dies nur eine einmalige Sache war.
Maria erfuhr, daß auch Angela eine Seelenklempnerin war, daß sie in London eine Praxis für Privatpatienten hat. Angela erzählte ihr, daß Steven ihr immer alles über seine Patienten erzählt und sie mitunter auch um Rat bittet. Dann kam natürlich das Gespräch auf Kim, auf diesen seltsamen und sehr armen Geschichtenerzähler, wie Angela ihn nannte. Angela ließ sich nicht bremsen und gab Maria sofort den Rat, sich mit diesem Jungen zu befassen, der sicher zu ihr Vertrauen hat, sonst hätte er ihr wohl kaum seine Hand entgegengestreckt. Angela bot sich auch sofort an, Maria ins Sanatorium zu begleiten, - ja, sie würde sogar mit ihr Nachforschungen betreiben. Vielleicht würden sie beide heraus finden, was diesen armen Jungen in den Wahnsinn getrieben hat.
Maria sprach nicht viel an diesem Abend. Sie nickte nur stets, - und für jedes Nicken hätte sie sich am liebsten den Kopf abgeschlagen....

Am nächsten Morgen, als Maria aufstand und das Frühstück machte, fühlte sie sich wie zweigeteilt. Es war, als ob eine Hälfte ihres Selbst eine vollkommen andere Wirklichkeit erlebt als die andere. Die beiden waren sozusagen unabhängig voneinander und dennoch eins. Die eine Hälfte wußte genau, warum sie sich für das Haus entschieden hatte, sich sogar bereits dazu entschieden hatte, die meiste Zeit ihres Lebens nur mehr in diesem Haus, in der Nähe des Sanatoriums zu verbringen. Sie hatte sich ja auch schon dafür eingerichtet, - das riesige Schlafzimmer durch eine Trennwand geteilt, wobei der zweite Teil des Zimmers in ein Büro umfunktioniert wurde, - mit modernem Computer, daß sie jederzeit mit dem Studio in München verbunden war. Diese zweite Hälfte lebte am vergangenen Abend, als die Thompsons bei ihr waren, richtig auf. Sie war Angela dankbar, als sie sich eiferte, diesem armen Jungen zu helfen und sie, Maria, in der ersten Zeit begleiten wird. Immerhin konnte sie ihr psychologisch beistehen. Steven hat ja nicht immer Zeit, da er im Sanatorium mehr Patienten hatte, als nur diesen Jungen. Diese eine Hälfte in Maria wußte also, daß das ihre Berufung, eben der Hauptgrund, wohl der einzige Grund ihres Hierseins war.
Wie aber stand die andere Hälfte dazu? Sie schien von all dem nichts wissen zu wollen. Diese Hälfte war es auch, die Maria dazu drängte, das Sanatorium so schnell wie möglich zu verlassen, - daß ihr die Einladung peinlich und an diesem letzten Abend sogar auf die Nerven ging. Diese Hälfte war es, für die es selbstverständlich war, das Haus so schnell wie möglich zu verkaufen und all das, was in diesen Tagen, seit dem Brief aus London bis zum Begräbnis ihres Großonkels, passierte, hinter sich zu lassen, als ob es nie geschehen wäre. Man könnte sagen, das war Marias „vernünftige“ Hälfte, wobei die andere wohl eher dem Gefühl zugehörte.
Aber diese andere Hälfte war mehr als nur Gefühl, - sie war vielleicht so etwas wie der sechste Sinn. Diese Hälfte streckte dem Jungen die Hand entgegen, - aber plötzlich schaltete sich die andere Hälfte wieder ein, was der Junge wohl fühlte, was ihn auch dazu brachte, seine Hand plötzlich zurück zu ziehen. Die vernünftige Hälfte roch zu sehr nach den üblichen Menschen, die sich kaum gerne mit Dingen abgeben, die sie eigentlich nichts angehen. Diese Menschen fühlen nie, wenn eine Seele um Hilfe fleht.
War es denn wirklich dieser Junge, der hier flehte? Oder war es gar Maria, - war es umgekehrt? Nein, für diesen Gedanken wäre es noch zu früh, - dieser Gedanke ist noch viel zu tief in Marias Herz verankert....
Maria fühlte den plötzlichen Wechsel in ihr selbst, als sie ihre Hand der Hand des Jungen entgegenstreckte, denn im Grunde genommen wollte sie das nicht tun. Deshalb war sie irgendwie erschrocken, - es war, als ob sie sich selbst einen Streich spielte, - als ob sie sich selbst überlistet hätte. Und natürlich hatte sie auch Angst vor diesem Verrückten, als er plötzlich vor ihr stand. Aber dieser Verrückte fühlte beide Hälften in Maria, - vor allem die „vernünftige“ Hälfte, die noch immer überwog. Trotzdem waren da beide Hälften im Spiel. Maria fühlte ja auch, daß sie keine Angst vor dem Jungen haben muß, - aber plötzlich, mit dem nächsten Herzschlag setzte sich die vernünftige Hälfte durch, und der Junge zog seine Hand zurück und versteckte sie hinter seinem Rücken.
All dies wurde ihr an diesem Morgen erschreckend bewußt. Sie fühlte diese beiden Hälften in ihrer Seele und sie wußte, daß sie sich für eine Seite entscheiden mußte.
Sie war überstürzt nach London gefahren, drängte darauf, daß das Haus so schnell wie möglich renoviert wurde. All das forderte sie in so großer Eile, ohne sich dessen wirklich bewußt zu sein. Maria wußte jetzt auch, daß in diesem Augenblick dieser Überlegungen ihrer „Vernunfthälfte“ regierte, denn nur durch sie konnte sie logische Schlüsse ziehen und wurde sich ihren letzten „unvernünftigen“ Handlungen bewußt.
Käufer für das Haus würden sich noch immer finden lassen, und es müßte auch möglich sein, das Leben wieder so wie früher aufzunehmen, bevor sie diesen Brief bekam. Aber nun, mit dieser Vernunfthälfte im Vordergrund, spürte sie auch diese andere rätselhafte Hälfte, die sie vollkommen grundlos immerzu an diesen Jungen denken ließ.
Nein, Maria konnte sich auf keinen Fall in ihn verliebt haben, - dazu war er ihr außerdem viel zu jung. Sie hatte sich ja auch nicht in Steven verliebt, - der wäre ihr zu alt und außerdem verheiratet. Mit verheirateten Männern würde sie niemals eine Beziehung eingehen. Ja, sie mochte diesen freundlichen, hilfsbereiten Doktor, aber das war wirklich schon alles. Nein, daran verschwendete sie keinen müden Gedanken. Wohl aber daran, was ihr denn dieser junge Geschichtenerzähler bedeutet. Hier wurde sie nachdenklich. Vor allem konnte sie keinen seiner Blicke vergessen. Eben diese Blicke aus den leuchtend türkisen Augen brachten sie dazu, immerzu an ihn zu denken, - diese Blicke waren es wohl auch, die sie von heute auf morgen abermals nach London fahren ließen.
Maria dachte mit Schrecken daran, als sie nun am Küchentisch saß und in ihrem Kaffee rührte. Sie wollte diese Gedanken verdrängen, jetzt genauso wie damals. Ja, jetzt, wo ihr alles bewußt geworden war, um so mehr. Und wie hatte sie eben, vor nicht weniger als einer Minute gedacht? Nein, sie konnte sich auf keinen Fall in diesen Jungen verliebt haben. Aber was jetzt, wo sie abermals seinen Blicken ausgesetzt worden war? Sie konnte sogar in seinen Blicken Worte lesen, Worte wie: Hilf mir! Seine Lippen sagten etwas anderes, aber nur scheinbar. Er hatte nur vergessen zu sagen, warum sie nicht gehen soll, eben darum, weil er ihre Hilfe und nur ihre Hilfe braucht. Sie hätte ihn berühren dürfen, - sie - diese rätselhafte andere Hälfte.
Und jetzt, wo sie eben die Kaffeetasse an ihre Lippen führte, faßte sie den alles entscheidenden Entschluß, den sie ja schon damals gefaßt hatte, als sie zum ersten Mal seinen Blick gesehen hatte. Die rätselhafte Hälfte hatte gesiegt, aber der endgültige Kampf und das wußte sie genau, war noch lange nicht ausgetragen. Maria war sich jetzt zwar ihrer „unvernünftigen“ Handlungen voll bewußt. Wer ist schon imstande, einem vollkommen Unbekannten, noch dazu einem Verrückten, seine Zeit zu opfern? Ja, auch das kam noch hinzu, denn Maria wußte, daß sie sich von ihm absolut nichts erwarten konnte. Sie hoffte gar nicht darauf, daß er jemals gesund entlassen werden könnte. Nein, sie hoffte auf absolut nichts, nur darauf, so oft wie möglich in seiner Nähe sein zu können und so oft wie möglich seinen Blick aufzunehmen. Alles andere wäre nur ein naiver Traum oder Phantasie.
Maria erschrak abermals bei diesen Gedanken. War sie ihm schon gleich? War es nicht auch sein Traum, seine Phantasie, daß sie ein Paar sind? Er hatte ja seine Traumfrau beschrieben, - und nach dieser Beschreibung war sie das. Und worüber erzählte er, als sie das zweite Mal seinen Worten lauschte? Er sagte, zum ersten Mal in seinem Leben habe er wahre Liebe und Lust empfunden. Und wieder beschrieb er genau ihr Aussehen, ihren Körper, - sogar das Muttermal knapp über ihrem Schamhaaransatz ließ er nicht aus. Wie konnte er das wissen?!
Diese ganze Geschichte war für Maria nicht nur erschreckend, sondern viel mehr rätselhaft und schier unglaublich, - einfach nicht für diese Welt, diese Wirklichkeit bestimmt. In dieser Welt gab es solche Wunder nicht, höchstens in phantastischen Romanen.
Maria räumte ihre Kaffeetasse in den Geschirrspüler. Nach Essen war ihr nicht, - dazu war sie viel zu aufgeregt. Was, wenn er ihr die Geschichte nicht von Anfang an erzählt? Was, wenn er sie überhaupt nicht registriert? Er sprach doch nur, wenn ihm gerade danach war, und dann erzählte er eben seine Geschichte und nichts anderes. Es war, als ob er die Außenwelt überhaupt nicht wahrnehmen würde, - als ob sie für ihn überhaupt nicht vorhanden wäre. Erst durch sie wurde er wieder auf sie aufmerksam. Zumindest sagte das Steven.
Aber Maria mußte es darauf ankommen lassen.
Bevor sie das Haus verließ, warf sie noch einen Blick in den Spiegel und zog ihre Lippen mit einem knallroten Stift nach. Sie wollte sich hübsch machen, - heute ganz besonders, selbst wenn es ihm gar nicht auffallen wird.
Als sie im Auto saß, überlegte sie abermals, was sie tun würde, falls der Junge nicht auf sie reagieren wird. Es wieder und immer wieder versuchen? So lange, bis er sie bemerkt? War sie wirklich so stark?
Maria wußte, daß sie alles daran setzen wird und startete entschlossen den Wagen. Obwohl die andere Hälfte sozusagen gesiegt hatte, spielte sich in Marias Innerem noch immer ein harter Kampf ab. Es war so etwas wie ein Kampf Vernunft gegen Gefühl, - oder besser: Erklärung gegen Unerklärlichkeit.
Ich weiß genau, was in Maria vorging, bloß ist es so schwer mit Worten zu erklären. Man versucht alles auszusprechen, aber das Wesentliche bleibt im Inneren zurück, weil das Wesentliche nicht ausgesprochen werden kann. Dostojewski schrieb schon folgendes in seinem Roman „Der Jüngling“: Vielleicht war es falsch von mir, daß ich überhaupt angefangen habe, dies alles niederzuschreiben: es bleibt doch so unendlich viel mehr in einem zurück, als was man in Worten auszudrücken vermag. Jeder Gedanke, selbst der unbedeutendste, ist, solange er in uns bleibt, immer tiefer als in Worten ausgedrückt: ausgesprochen erscheint er auch uns selbst lächerlich und gleichsam - ehrloser.
Auch für mich kommen diese Worte in Frage.
Aber ich kann alles in Maria fühlen, auch in all diesen Menschen, in deren Nähe sie sich aufhielt und aufhält, - vor allem in der Nähe des jungen Geschichtenerzählers. Obwohl er seine Geschichte mit schönen, vor allem sehr gewählten Worten ziemlich genau, manchmal wohl zu genau, erzählte, blieb auch in ihm das Wesentliche zurück.
Nein, ich bin kein unsichtbarer Beobachter, - auch nicht direkt der Autor (Autorin) dieser etwas längeren Erzählung, obwohl man mich so nennen könnte, denn wer sonst hätte sie geschrieben? Eigentlich bin ich ein Teil Marias, ebenso ein Teil des jungen Geschichtenerzählers. Ich bin das Ungeborene, das Nichtgezeugte, wenn man so will. Auf jeden Fall trifft das in dieser Wirklichkeit am ehesten zu. Ungeborene oder Nichtgezeugte sind die besten Beobachter. Sie fühlen vor allem diese andere rätselhafte Hälfte ganz besonders tief. Geborene, vor allem bereits erwachsene Geborene haben dafür jeglichen Sinn verloren, - zumindest die meisten von ihnen.
Vielleicht hätte ich mich von Anfang dieser Geschichte an zu erkennen geben sollen, aber ich finde, jetzt ist wohl der bessere Augenblick, weil sich Maria erst jetzt zu dieser anderen Hälfte bekannte. Sie war sich jetzt, trotz allen Zweifels an ihrem Verstand, so sicher, daß sie niemals aufgeben wird, - daß sie um diesen Jungen kämpfen wird wie eine Löwin um ihr Junges. Was er ihr wirklich bedeutete, das war ihr klar, aber sie verdrängte es, weil sie bis zu diesem jetzigen Zeitpunkt ein derartig tiefes Gefühl noch nie empfunden hatte. Es ging ganz alleine von ihr selbst aus, kam aus dem innersten Winkel ihres Selbst und konnte sich wohl kaum Liebe nennen, - nicht diese Liebe, wie sie Menschen kennen. Ja, es war Liebe, weil es kaum ein anderes Wort für das tiefste und höchste Gefühl der Menschen gibt, - aber diese Liebe, welche Maria nun empfand, stellte keine Bedingungen und erwartete nichts. Maria hätte auch nicht sagen können, daß sie diese Liebe nur für diesen Jungen empfand, - das wäre nicht richtig gewesen, - das wäre der Liebe der Menschen zu ähnlich gewesen. Maria war ganz einfach von diesem Gefühl erfüllt, total erfüllt, als ob nichts anderes mehr in ihr Platz gehabt hätte, - und das unabhängig von diesem Jungen, obwohl man sagen könnte, daß er der Auslöser dieses Gefühls war. Was ich damit eigentlich sagen will, ist, daß das alles nicht bewußt, nicht mit Absicht, geschah, weder von dem Jungen, noch von Maria oder anderen Personen. Es geschah einfach, weil es geschehen mußte. Ich weiß, das ist keine zufriedenstellende Erklärung, - und genau hier muß ich erwähnen, daß Erklärungen in dieser Erzählung ohnehin fehl am Platz sind. Es ist nun mal so, daß nur sehr wenige Menschen dieses tiefe Gefühl in sich entdecken, welches sie vom Augenblick der Entdeckung nie wieder losläßt. Damit will ich sagen, daß jeder Mensch, - vielleicht und wahrscheinlich sogar jedes Lebewesen, - dieses Gefühl, welches eine Welt, sogar ein Universum für sich ist, in sich hat. Es gehört einfach zum Leben, - zu den Lebewesen, nur leider ist es sehr tief in uns allen verborgen, weil es von Tag zu Tag, seit der Geburt, immer mehr verdrängt wird. Vor allem der Mensch befaßt sich mit wichtigeren Dingen, wie er meint, denn er will ja ein gewisses Ansehen erreichen. Er will sich stets beweisen, - ob vor anderen oder sich selbst, ist egal. Auf jeden Fall will er etwas werden, etwas sein. Was er wirklich darunter versteht, mag wohl eine andere Wirklichkeit sein, die ich lieber Illusion nennen möchte, denn der Mensch ist ja schon etwas, sogar schon lange vor seiner Geburt, lange vor seiner Zeugung. Es kann nichts vergehen, auch nichts entstehen, denn alles ist immer da. Aber durch diese „wichtigeren“ Dinge erkennt der Mensch das Wesentliche nicht mehr, eben nicht mehr dieses Sein, in dem er schon immer existierte, existiert und existieren wird. Das Äußere gehört für ihn auch zu den wichtigeren Dingen. Ihm schenkt der Mensch seine gesamte Aufmerksamkeit, - durch das Äußere erkennt sich der Mensch und nennt sich Krönung der Schöpfung, ohne zu wissen, daß er nur ein Teil von allem ist, - ein Teil des Ganzen. Er spielt von diesem Moment an, wo er sich mit den „wichtigeren“ Dingen beschäftigt, eine Art Schubladenspiel, welches ihn für das Wesentliche, für das tiefste Gefühl in ihm, für die eigentliche Welt, das eigentliche Universum, noch mehr blind und taub macht.
Maria hatte sich mit diesen „wichtigeren“ Dingen eigentlich nie beschäftigt. Ihr waren sie sozusagen in den Schoß gefallen, ohne etwas dafür tun zu müssen. Sie hätte auch darauf verzichten können. Schule, Abitur und Studium gingen an ihr vorbei. Dank ihrer Intelligenz lernte sie leicht und schnell, fast unbewußt. Das alles nahm sie nie wichtig und dachte auch nie über die Richtigkeit des Gelernten nach. Es bedeutete ihr nichts. Man könnte fast sagen, es langweilte sie. Nun, ich habe anfangs gesagt, Maria sei sehr vergeßlich. Das ist auch richtig, - aber auch vergeßliche Menschen können leicht und schnell lernen, bloß haben sie nur ein Kurzzeitgedächtnis. Wenn sich Maria bewußt war, daß sie etwas im Gedächtnis behalten muß, schaffte sie das auch. Nur, was hätte es nach dem Studium geben sollen, was sie bewußt in ihrem Gedächtnis behalten hätte müssen? Wichtig war ihr, sich auszudrücken, vor allem ihr selbst gegenüber. Sie wollte ehrlich zu sich selbst sein, denn was die anderen denken, da wußte sie schon immer, daß sie nicht allen recht machen kann. Aus diesem Grund suchte sie auch immer die Einsamkeit, denn in der Einsamkeit war sie sich selbst am nächsten und konnte sich am besten fühlen.
Im Alter von 8 Jahren begann sie nicht nur zu zeichnen und malen, sondern auch zu schreiben. Es waren kurze Gedichte, die sich zwar nicht immer reimten, aber ihre Gefühle sehr gut ausdrückten, so gut es eben mit Worten möglich war. Sie hob diese Schriften aber nie auf, sondern vernichtete sie, nachdem sie sie einmal gelesen hatte. Es genügte, selbst zu wissen, welche Schätze sich in ihr selbst befanden. Sie mußten nicht außen hin zu sehen, zu lesen, sein. Auch ihre ersten Bilder vernichtete sie stets.
Einmal wurde sie von ihrem Vater beim Malen überrascht, als er sich leise in ihr Zimmer schlich, obwohl sie vorher darum bat, nicht gestört zu werden. Er blickte über ihre Schulter auf die Staffelei und sah ihr einige wenige Minuten dabei zu, wie sie eben ein Bild fertig stellte. Er war beeindruckt, fast verblüfft von dieser Ausdrucksstärke. Immerhin war Maria damals erst 10 Jahre alt. Maria malte gerne mit dunklen Farben und deutete die Formen nur vage an, aber man konnte sogar mit wenig Phantasie erkennen, was sie mit ihren Bildern beabsichtigte. Schon damals schaffte sie es, das Wesentliche, ja fast das Ewige in ihren Bildern festzuhalten. Und obwohl ihr Vater sie dann lobte und ihr eine große Karriere als Künstlerin voraussagte, wurde sie wütend und zerriß das Werk vor seinen Augen.
Was ich eben vorhin schrieb, war nicht ganz richtig, - daß man mit wenig Phantasie erkennen konnte, was Maria mit ihren Bildern beabsichtigte. Ich ging da wohl zu sehr von meiner Warte aus und vergaß dabei das Schubladenspiel der meisten Menschen.
Einmal malte Maria einen Engel, - Menschen nennen Menschen mit Flügeln am Rücken nun mal Engel, - aber für Maria war es kein Engel. Sie konnte sich selbst nicht erklären, was sie damit ausdrücken wollte. Der „Engel“ war ganz klar zu erkennen, - war von schöner, gelb leuchtender Gestalt, mit ebenso gelb leuchtenden, riesigen Flügeln, wobei die Flügeln um einiges größer waren, als die gesamte Gestalt, die Maria eher zart und schmächtig gemalt hatte. Der Engel war geschlechtslos, - hatte weder Brüste, noch Brustwarten, weder weibliche, noch männliche erkennbare Geschlechtszeichen. Als ihr das damals bewußt wurde, kamen ihr seltsame Gedanken in den Sinn. Herzen sind geschlechtslos....
Maria konnte sich diese Gedanken nicht erklären, aber so nannte sie damals dieses Bild mit dem Engel, welches das erste war, als sie sich für eine Ausstellung entschied. Und hier glaube ich kaum, daß viele Menschen erkannt haben, was Maria wirklich damit ausdrücken wollte, - denn sie wußte es ja selbst kaum. Ja, sie fühlte es, - aber diese Gefühle in Worte auszudrücken, war unmöglich.

Und als sie nun mit ihrem Wagen zum Sanatorium fuhr und ihren Wagen im Innenhof parkte, kam ihr dieses Bild wieder in den Sinn. Herzen sind geschlechtslos....
Langsam ging sie dem Flur entlang, geradewegs ins Büro zu Steven. Man hatte sie erwartet, deshalb wurde sie so einfach, ohne Begleitung, herein gelassen.
Ja, warum wurde ihr all das erst heute bewußt? Ganz einfach, weil sie sich heute für diese andere Seite entschieden hatte, - und ihr erst heute diese andere Hälfte Klarheit verschaffen konnte. Nur handelte es sich hier nicht um eine Klarheit, die erklärt werden kann, sondern um eine Klarheit des Gefühls, - vielleicht sogar um die Vernunft des Herzens, die mit der eigentlichen Vernunft, wie Menschen sie kennen, rein gar nichts zu tun hat.
Angela war in Stevens Büro. Sie saß auf dem Sessel, wo Maria immer saß, wenn sie hier war. Aber sie erhob sich schnell, als Maria herein kam und begrüßte sie überschwenglich, - für Marias Begriffe fast aufdringlich, so als ob sie beide von klein auf die besten Freundinnen wären. Maria ängstigte so eine Zudringlichkeit immer. So etwas machte sie stets vorsichtig, selbst wenn sie wußte, daß gewisse Menschen nun mal so sind und sich gar nichts dabei denken.
Auch Steven stand auf und kam hinter seinem Schreibtisch vor, um Maria zur Begrüßung seine Hand zu reichen. Das war ihr schon sympathischer. Stevens Händedruck war fest, genauso wie sein Blick. Als er Maria sagte, daß sich der Geschichtenerzähler noch in seinem Zimmer aufhält und zur Zeit apathisch auf der Bettkante sitzt, bekam sie Herzklopfen. Noch nervöser wurde sie, als Angela meinte, daß dies der beste Zeitpunkt wäre, mit ihm ein Gespräch zu beginnen, denn wenn er in „seiner“ Ecke hockte und erzählte, wäre er ohnehin völlig weggetreten.
Maria äußerte Bedenken, daß er durch Angelas Anwesenheit vielleicht verunsichert wird und es womöglich besser wäre, wenn sie, Maria, alleine in sein Zimmer geht, während Angela hinter der offenen Tür bleibt, wo er sie nicht sehen kann. Genau das wollte ihr Angela auch vorschlagen, meinte Steven lächelnd, nur hätten sie beide befürchtet, daß Maria vielleicht Angst hat, sich alleine dem Jungen zu nähern.

Und so brachte Steven die beiden Frauen zur geschlossenen Station, wo ohnehin genug Ärzte und vor allem Pfleger für einen Ernstfall bereit standen.
Auf dem Weg dorthin erzählte Angela, daß sie in diesem Sanatorium drei Jahre lang gearbeitet habe, bevor sie in London ihre Praxis eröffnet hatte. Sie sagte auch, daß sie in der Geschlossenen die meisten Ärzte und Pfleger noch kennt und Maria keine Angst vor den Patienten haben müsse.
Ich möchte nicht zuviel über Angela, auch nicht über Steven reden, - das alles ist hinfällig, denn die beiden kommen in dieser Erzählung kaum mehr vor. Maria und der junge Geschichtenerzähler brauchen sie nicht. Jetzt greife ich wohl zu weit vor....
Nun, Maria machte Angelas Gerede noch mehr nervös. Sie würde in diesem Moment sogar wütend, weil man diese armen Menschen dadurch noch mehr verdammt, indem man sagt, man müsse keine Angst vor ihnen haben. Es sind doch keine Monster, keine wilden Tiere!
Steven ließ die beiden durch die Eisentür und sperrte hinter ihnen wieder ab. Er kam nicht mit.
Marias Herz schien zu zerspringen, als sie sich dem Zimmer näherten, wo die Tür weit offen stand.
Aber Angela führte sie an dieser offenen Tür vorbei.
„Sein Zimmer liegt ganz hinten, - am Ende der Halle“, sagte sie und bemerkte Marias Zittern, als sie ihren Arm nahm.
„Du mußt wirklich keine Angst haben, Maria“, sagte Angela. „Der junge Mann ist vollkommen harmlos. Die einzige Gefahr, welche besteht“, bemerkte sie mit einem kurzen Auflachen, das höchst gekünstelt wirkte, „...ist, daß er dich überhaupt nicht bemerkt. Wenn er in dieser apathischen Stimmung ist, nimmt er absolut nichts wahr. Eine Bombe könnte neben ihm einschlagen, - er würde nicht einmal mit der Wimper zucken.“
Maria blieb stehen. Sie war plötzlich wieder die Ruhe selbst und sah Angela prüfend und sehr ernst an.
„Weißt du das alles von Steven, oder warst du selbst schon bei dem Jungen?“ fragte sie leise, fast flüsternd.
Angela senkte kurz ihren Blick und schien nach den richtigen Worten zu suchen.
Es ist nie einfach, so etwas hinzunehmen, als sei es die normalste Sache der Welt, wenn ein Mensch irre wird, - noch dazu ein 17jähriger, also fast noch ein Kind - und im Irrenhaus landet. Wenn mit Kinder, oder Jugendlichen so etwas passiert, ist jeder aufgewühlt, ja fast selbst depressiv. Vor allem bei diesem Jungen war es ein Rätsel, da man von seinen Zieheltern wußte, daß er nie Anzeichen einer geistigen Krankheit hatte. Er besuchte die Grundschule und beendete sie mit Auszeichnung. Nun, er hatte keine Freunde, die ihn besuchten oder mit denen er sich traf, - aber das war noch lange kein Grund, an einem Kind Anzeichen einer geistigen Krankheit festzustellen. Einzelgänger wird es immer geben.
Sein Ziehvater verhalf ihm dann zu einer Lehrstelle, - er sollte Tischler werden. Das käme ihr aber doch seltsam vor, meinte Angela, denn wenn er so gut gelernt hat, hätte man ihm doch auch zu einer Ausbildung an einer höheren Schule verhelfen können. Nun, in dem Vorort gab es eine sehr gut gehende Tischlerei. Dort sagte man von dem Jungen, daß er sehr oft zu spät zur Arbeit kam, - manchmal sogar einige Stunden zu spät. Er habe auch immer sehr müde gewirkt, fast kränklich. Und wenn man ihn nach seinem Befinden fragte, sagte er stets, es sei alles okay. Nach ungefähr drei Monaten wurde er aber gekündigt. Angela sagte, das alles hätte man der nachforschenden Polizei gesagt. Der Ziehvater wußte nichts vom Zuspätkommen des Jungen. Er wußte sogar lange nicht, daß er bereits gekündigt wurde. Zu dieser Zeit fuhr der Junge mit dem Bus nämlich schon nach London und mußte dort in schlechte Kreise gelangt sein. Man sprach von Drogendealern und Drogenabhängigen, - von Prostituierten, dem sogenannten Kinderstrich, wo sich der Junge ebenfalls aufhielt. Nun, der Ziehvater gab dann auch zu, er habe die Einstiche an beiden Armen seines Ziehsohnes gesehen. Drogensüchtige sind ja nicht direkt Irre, hätte er damals zu den Beamten gesagt. Er konnte sich das apathische Verhalten des Jungen auch nicht erklären, da er am vorletzten Tag, bevor man ihn auf der Bahnhofstoilette gefunden hatte und ins Sanatorium gebracht hatte, noch ganz normal mit ihm sprach, und der Junge ihm versprochen hatte, noch vor Mitternacht zu Hause zu sein. Man stellte auch bei den Drogensüchtigen Nachforschungen an und fragte mit einem Foto des Jungen nach ihm, welches man im Sanatorium von ihm machte, da seine Zieheltern kein einziges von ihm hatten, was ja sehr verdächtig war und Lieblosigkeit zeigte. Natürlich bekam man von den Drogensüchtigen keine brauchbaren Auskünfte. Zwei sagten zwar aus, daß sie den Jungen mehrmals am Strich gesehen haben, - aber von Wahnsinn hätten sie nichts bemerkt. Der eine sagte, er habe sich zweimal mit ihm unterhalten und da sei er sehr humorvoll gewesen, im Gegensatz zu den anderen Typen, die das Leben überhaupt nicht lieben. Der eine sagte auch, ihm sei sein ansteckendes Lachen aufgefallen und seine schönen, weißen Zähne, was bei Drogensüchtigen sehr selten ist.

Nun, und wenn man von so einem Schicksal erfährt, noch dazu von so einem furchtbaren, welches einen Jugendlichen betrifft, wo man sich nicht erklären kann, warum es so weit mit ihm gekommen ist, muß man doch versuchen zu helfen. Angela meinte, es sei nicht aus Neugierde gewesen, weil sie damals selbst ins Sanatorium gekommen war, sondern einzig und alleine, um ihm zu helfen, - und vor allem aus Mitleid. Sie versuchte mit ihm zu sprechen, aber er zeigte nie eine Reaktion. Die einzige Reaktion zeigte er, wenn sich ihm ihre Hand näherte. Dann sprang er auf, flüchtete in eine Ecke am Boden und schrie aus Leibeskräften. Davor warnte sie Maria abschließend.
„Wage es nicht, ihm nahe zu kommen. Strecke niemals deine Hand nach ihm aus, bevor er es nicht selbst tut“, sagte sie beschwörend. „Und selbst dann sei vorsichtig. Warte lieber, bis er dich berührt.“
Maria dachte an Stevens Worte, als er gesagt hatte, man habe mit Schläge versucht, die Apartheid des Jungen zu brechen.
Auf Marias Frage hin, erzählte Angela, daß ein Arzt, als er dem Jungen Medikamente geben wollte, plötzlich auf ihn einschlug, - ihm eine deftige Ohrfeige gab, nachdem er sich schreiend am Boden kniend in eine Ecke geflüchtet hatte. In diesem Moment sei der Junge wieder ruhig gewesen und der Arzt konnte ihm die Medikamente in den Mund stecken. Man versuchte ihn durch dieses Mittel, - durch eine Ohrfeige, aus seiner Apartheid zu retten, - aber vergebens. Er hörte zwar zu schreien auf, - aber geredet hat er nichts. Bis heute nicht, - bis zu diesem Moment nicht, als er Maria sah.
Maria hatte vollkommen ruhig zugehört. Nun senkte sie ihren Blick und sagte leise, fast wie zu sich selbst:
„Ich werde ihn niemals berühren.“
Dann gingen beide Frauen weiter bis zur letzten Tür der Halle, auf der rechten Seite. Maria sah, daß auch hier die Tür offen stand.
Ein Pfleger kam eben aus dem Zimmer und begrüßte Angela freundlich mit einem Händeschütteln. Angela stellte ihm Maria vor.
„Glauben sie wirklich, bei dem da durch zu kommen?“ fragte er, nachdem er auch Maria die Hand geschüttelt hatte. Und ohne eine Antwort abzuwarten, sagte er kopfschüttelnd: „Das ist doch ein hoffnungsloser Fall, - ein absolut hoffnungsloser Fall.“ Dann ging er weiter.
Bevor Maria eintrat, warf sie Angela einen undefinierbaren Blick zu, die links hinter dem offenem Türflügel stehen blieb und Maria mit aufgerichtetem Daumen Glück wünschte.

Als erstes sah Maria das vergitterte Fenster des Zimmers. Links befand sich ein kleiner Schrank, wohin ihr nächster Blick fiel. Maria befand sich in einer seltsamen Stimmung, die sie sich selbst nicht erklären konnte. Sie war nicht mehr aufgeregt und nervös. Eine angenehme Ruhe machte sich in ihr breit.
Links, direkt neben dem Fenster, vor dem Schrank, stand ein Sessel in der Ecke. Sie ging mit sicheren, langsamen Schritten darauf zu und setzte sich. Sorgfältig strich sie ihren knielangen, engen Rock gleich, hielt die Beine eng zusammen und die Füße, welche in hochhackigen Halbschuhen steckten, gerade am Boden. Ihr Blick war noch gesenkt. Sie wagte es vorerst nicht, auf das Bett, ihr schräg gegenüber, zu blicken, wo der junge Mann saß.
Auch sein Blick war gesenkt, fast hatte er die Augen geschlossen. Außerdem blickte er nicht in Marias Richtung, sondern eher zur Eingangstür.
Ganz langsam hob Maria ihre Augen und sah den Jungen an. Er saß, wie sie, mit geschlossenen Beinen an der Bettkante. Seine Füße waren nackt. Diesmal hatte er sein Hemd, das er über der Hose trug, bis zum Hals geschlossen.
„Ich habe auf dich gewartet“, sagte er plötzlich, ohne seine Blickrichtung zu ändern. Für Maria schienen seine Augen jetzt geschlossen zu sein.
„Warum auf mich?“ fragte sie vollkommen ruhig, mit leiser Stimme.
„Du weißt es“, sagte der junge Mann ebenso leise.
„Woher soll ich das wissen. Ich kenne dich überhaupt nicht. Du hingegen scheinst meine intimsten Körperstellen zu kennen, wie ich letztens hörte, als du diese Geschichte erzählt hast.“
Der Junge lachte auf und hob seine Beine hoch, um sie zum Türkensitz zu kreuzen.
„Du kennst mich besser, als du glaubst“, sagte er und lachte abermals auf.
„Warum sprichst du nicht mit den anderen?“ wagte Maria zu fragen, hatte aber dennoch Angst, den Jungen damit zu verwirren.
„Da ist niemand, mit dem ich sprechen könnte.“
„Hast du kein Vertrauen zu den Ärzten und Pflegern hier?“ fragte Maria.
„Laß diesen Unsinn!“ sagte der Junge barsch. „Du kennst doch die Geschichte von Kim, der so seltsam aussah, - so seltsam schön. Du weißt schon, - der mit der seltsamen Ausstrahlung.“
„Nein, ich kenne sie nicht. Ich weiß nur, daß du diese Geschichte erzählst und ich wollte dich bitte, sie mir von Anfang an zu erzählen.“
Der Junge lachte wieder auf.
„Aus diesem Grund habe ich ja auf dich gewartet. Maria will diese Geschichte auch hören. Sie wartet schon lange darauf, daß Kim ihr seine Lebensgeschichte von Anfang an erzählt.“
„Mein Name ist auch Maria“, sagte Maria etwas verunsichert.
Der Junge blickte sie noch immer nicht an.
„Namen haben keine Bedeutung“, sagte er leise.
„Warum siehst du mich nicht an, wenn du mit mir sprichst?“ fragte Maria.
„Ich sehe dich an. Ich habe dich immer angesehen, wenn ich dir meine Geschichte erzählt habe.“
„Aber ich bin hier, - und du blickst immerzu zur Tür, - also in die entgegengesetzte Richtung.“
Der Junge lächelte scheu. Maria gefiel dieses zögernde, sanfte Lächeln. Es wärmte sie.
„Wenn du da bist, füllst du den ganzen Raum aus. Weißt du das nicht? Und deshalb ist es vollkommen egal, wohin ich in diesem Raum blicke.“
„Wann erzählst du mir deine Lebensgeschichte?“ fragte Maria.
„Es ist schon Zeit, - es ist fast schon zu spät. Maria und Kim sitzen bereits vor dem Bungalow auf Fuerteventura. Maria hat ein Tonbandgerät laufen, um Kims Worte aufzunehmen. Sie möchte alles ganz genau wissen, - wie er aufgewachsen ist, was er fühlte - und vor allem, auf welch seltsame Weise er sprechen gelernt hat. Er lernte sich die Sprache selbst. Er sah Bilder um den Köpfen der Menschen.“
Der Junge erzählte lange. Maria spürte gar nicht, wie die Stunden vergingen. Sie unterbrach ihn nie, obwohl sie es manchmal gerne getan hätte, denn die Geschichte war mehr als schrecklich. Oftmals war sie versucht aufzustehen und den Jungen in ihre Arme zu nehmen, - vor allem dann, wenn ihm während des Erzählens Tränen über die Wangen liefen. Maria bemerkte auch nicht den Auflauf vor der Tür, wie alle staunten, daß es ihr wirklich gelungen ist, den Jungen zum Sprechen zu bringen.
Aber langsam verspürte sie Hunger, und die Konzentration ließ auch etwas nach. Zuhören war nicht so einfach.
Plötzlich verstummte der Junge und hob seinen Kopf. Jetzt waren seine Augen wirklich geschlossen. Nach wenigen Sekunden lächelte er.
„Es ist genug für heute“, sagte er leise. „Komm morgen wieder, dann werde ich dir die Geschichte weiter erzählen.“
Erst jetzt fielen Maria die vielen Leute vor der Tür auf. Es waren hauptsächlich Ärzte und Pfleger, auch einige von den anderen Stationen, denen das Schicksal dieses Jungen ebenso nahe ging. Ganz vorne, fast schon im Zimmer, standen Steven und Angela.
„Soll ich die Menschen an der Tür wegschicken?“ fragte Maria, weil sie der Ansicht war, daß er seine Geschichte ihretwegen beendet hatte.
„Welche Menschen? Wo siehst du Menschen? Ich sehe nur dich“, sagte der Junge und lächelte bezaubernd.
„Nun, - dann bis morgen!“ sagte Maria, stand auf und war schon auf dem Weg zur Tür.
Als sie in der Höhe des Jungen war, sah sie, daß er seine rechte Hand nach ihr ausstreckte. Sie blieb stehen und sah ihn an. Ganz langsam öffnete er seine Augen und lächelte wieder. Seine Hand war ihr noch immer entgegengestreckt. Maria zögerte kurz, aber dann faßte sie zu. Der Junge zuckte nicht zurück. Ganz im Gegenteil, - sein Händedruck war fest.
„Okay, bis morgen!“ sagte er und blickte Maria offen und klar in die Augen.
Fast gleichzeitig ließen sie ihre Hände aus. Maria atmete tief durch und ging zur Tür, wo sie die Ärzte und Pfleger schulterklopfend und lobend empfingen.

Maria war jetzt nicht nach Reden zumute. Sie wollte so schnell wie möglich nach Hause, schnellstens alleine sein, um all das, was der Junge erzählt hatte, zu verdauen. Aber das war nicht so einfach, denn schon wurde sie von Angela und Steven flankiert, die sie offensichtlich ins Sprechzimmer führen wollten. Und natürlich bombardierte sie Angela sofort, noch auf dem Weg, mit Fragen.
„Was hast du nur gemacht, daß er so offen mit dir gesprochen hat, - daß er dir sogar die Hand gegeben hat? Ich habe kaum ein Wort verstanden, weil ihr beide so leise geredet habt, - vor allem anfangs. Was er dann erzählte, war schon verständlicher. Aber anfangs, - sagte er nicht so etwas wie, er habe auf dich gewartet?“
Maria schwieg.
„Nun sag es schon! Was hast du gemacht?“ drängte Angela, als sie über die Treppen nach unten gingen.
Maria blieb stehen und hob ihre Hände abwehrend hoch.
„Seid mir, bitte, nicht böse“, sagte sie dann, noch immer mit erhobenen Händen. „Aber ich kann jetzt nichts sagen. Ich weiß nur, daß ich absolut nichts gemacht habe. Als ich ins Zimmer ging und mich auf den Sessel im Eck neben dem Fenster gesetzt habe, sagte er, daß er auf mich gewartet hat.
Aber das sagt nichts, - das sagt absolut nichts. Er sieht nur mich, und er spricht auch nur mit mir. Es scheint so, als habe er schon immer nur zu mir gesprochen, obwohl ich noch nie hier war.
Ich weiß, das hört sich verrückt an, - aber eine andere Erklärung habe ich nicht. Er sieht euch nicht. Ihr seid für ihn nicht vorhanden.
Und jetzt, bitte, laßt mich nach Hause fahren. Ich habe ihm gesagt, daß ich morgen wieder komme, - aber ich weiß nicht, ob ich das schaffe.“
Dann eilte Maria über die Treppen hinunter, über den Flur und ließ sich von einem Wärter hinaus begleiten.

Maria schaffte es. Sie war am nächsten Morgen sogar noch früher ins Sanatorium gekommen. Steven brachte sie zum Zimmer des jungen Mannes. Angela war diesmal nicht da, - sie wird auch nie wieder da sein. Maria kümmerte das nicht, - es war ihr sogar lieber so.
Sie machte es genauso wie gestern. Entschlossen ging sie auf den Sessel zu, der noch immer im Eck neben dem Fenster stand und setzte sich. Auch der Junge saß auf dem Bett, im Türkensitz, aber heute blickte ihn Maria sofort an und begrüßte ihn lächelnd.
Ich weiß nicht, warum ich ihn bis jetzt immer nur den „Jungen“, den „jungen Mann“ oder den „Geschichtenerzähler“ nannte. „Junge“ ist ja beinahe schon überholt, da er schon fast 20 ist. Ihn aber so direkt beim Namen zu nennen, wagte ich bisher nicht, - Maria auch nicht. Sie benannte ihn noch nicht und zögerte, seinen Namen ihm gegenüber auszusprechen. Auch als sie ihn an diesem Morgen begrüßte, nannte sie seinen Namen nicht.
Er erwiderte ihren Gruß nicht, aber er blickte ihr, ebenso wie sie, geradewegs in die Augen und lächelte. Erst dann begann er zu sprechen.
„Ich weiß, was gestern in dir vorgegangen ist, als du nach Hause gefahren bist, - als du zu Hause warst, in diesem Haus, in dem der große Künstler gelebt hat.
Du hast schon immer an allem gezweifelt, aber ich kann dir sagen, diesmal hast du keinen Grund zu zweifeln. Du darfst dich nicht mehr fragen, was nun wirklich ist und was nicht. Alles ist wirklich in diesem unergründlichen Universum.
Wenn du meinst, daß meine Worte von gestern, - daß diese Erzählung, mein eigenes Leben betreffen, dann glaube es. Trotzdem wird es nichts an der Tatsache ändern, egal, was du glaubst, egal, was man dir sagt, oder nicht sagt. Ja, ich weiß, du hast darüber nachgedacht, ob es nicht besser wäre, mit meinen Zieheltern darüber zu reden. Aber du wirst nichts erfahren, - und das weißt du auch.“
Maria war verblüfft über seine Worte, daß sie im ersten Moment gar nicht wußte, was sie darauf sagen soll. All das kam ihr nicht mehr real vor, sondern eher wie ein Traum, aber wiederum wie ein sehr realistischer Traum.
Woher konnte er das alles wissen? Woher wußte er von dem Haus, woher das, was ihr gestern wirklich durch den Kopf gegangen ist. Konnte er denn Gedanken lesen? Es schien wirklich so zu sein, denn Maria mußte ihre Fragen gar nicht stellen.
„Ich weiß das alles ganz einfach“, sagte er mit sanfter, leiser Stimme und lächelte kurz. „Erklärungen gibt es aber nicht dafür.“
„Hat mein Großonkel mit dir gesprochen?“ brach es plötzlich aus Maria heraus, ohne daß sie diese Frage wirklich stellen wollte, ohne sie vorher überlegt zu haben.
„Natürlich hat er mit mir gesprochen, - und ich mit ihm. Wir haben uns ständig unterhalten. Er hat mir sehr viel über dich erzählt. Er sagte mir, daß es dich wirklich gibt.“
„Er sagte - was?!“ stieß Maria ungläubig hervor.
„Daß es dich wirklich gibt“, wiederholte der junge Mann seelenruhig und lächelte wieder. „Er sah und fühlte dich in meinem Herzen, - und er sagte, daß es dich wirklich gibt.“
„Stell dir vor, ich wußte nicht einmal, daß es ihn gibt, - daß ich einen Großonkel habe“, sagte Maria und lächelte jetzt auch vollkommen ungezwungen. Sie fühlte sich wohl, - so wohl wie noch nie in ihrem Leben.
„Das ist klar, denn du hast ja erst jetzt die andere Seite in dir erkannt.“
Maria war abermals verblüfft. Sie wußte genau, was er meinte, denn sie erinnerte sich an das Gefühl an diesem Morgen, als sie damals frühstückte und diesen inneren Kampf in sich fühlte. Maria wußte, daß er verstand, - daß nur dieser Junge ihre Gefühle wirklich verstehen konnte, ohne sie ihm irgendwie erklären zu müssen, wie das bei den anderen Menschen immer der Fall war. Wenn früher jemand zu ihr sagte, daß er versteht, wußte sie ganz genau, daß er absolut nichts versteht. Aber zwischen diesem Jungen und ihr war absolut keine Erklärung nötig, - das fühlte sie ganz genau. Da gab es keine Mißverständnisse.
„Was bedeutet diese andere Seite?“ fragte Maria, als ob es die normalste Sache der Welt wäre.
„Stell nicht immer Fragen, die du dir nur selbst beantworten kannst“, sagte der Junge etwas lauter. Maria sah in seinem Blick auch etwas Ärger.
„Ich habe keine Ahnung wovon du sprichst“, sagte Maria nun auch etwas ärgerlich und legte ihre Beine übereinander. „Was soll das alles? Mir scheint, du bist überhaupt nicht verrückt und stellst dich bloß so, um dir hier ein angenehmes Leben zu machen.“
„Hier?“ fragte der junge Mann und sah Maria überrascht mit großen Augen an.
Maria war der plötzliche Stimmungswechsel noch nicht bewußt. Noch vor wenigen Sekunden war sie sich so sicher, daß sie hier zum ersten Mal in ihrem Leben einen Menschen gefunden hatte, der sie wirklich verstehen konnte, - und jetzt, - jetzt war das alles vergessen, als ob es diese Empfindung nie gegeben hätte.
„Sag etwa, du weißt nicht, wo du dich befindest?“
Er lachte laut auf und schlug sich zweimal kurz hintereinander auf den linken Schenkel.
„Ich weiß sehr wohl wo ich mich befinde. Und mir scheint, ich bin der einzige, der weiß, wo er sich befindet. Übrigens, dein Großonkel, der große Künstler, weiß es auch.“
„Jetzt nicht mehr. Er ist nämlich tot“, sagte Maria hart.
Sie wurde jetzt wirklich ärgerlich und überlegte, ob sie nicht sofort aufstehen und für immer gehen sollte. Irgend etwas in ihr bäumte sich auf. Und dieses Gespräch jetzt fand sie so absurd, ja beinahe dumm und kindisch, daß sie nicht mehr gewillt war, sich mit diesem jungen Mann zu unterhalten. Und je mehr sich dieses Etwas in ihr aufbäumte und sie ihren schon sehr wütenden Blick auf ihn ruhen ließ, um so mehr fühlte sie, daß er es war, der sie so wütend machte.
„Das ist dein Ego, - dein Ich. Du meinst, du bist etwas Besonderes, - du hättest alle Rechte, - aber das hast du nicht. Du bist nicht besser als all die anderen, denn im Grunde genommen bist du nichts. Dein Ego hat sich aufgebläht und spiegelt dir nur vor, etwas Großes zu sein.
Übrigens, dein Großonkel ist nicht tot. Es gibt keinen Tod, - zumindest nicht so einen Tod, wie ihr ihn euch vorstellt.
Du hast ihn gesehen“, sprach Kim unbeirrt weiter. „Und er hat dich gesehen. Er hat gefühlt, wie du ihn angesehen hast, als er in seinem Bett lag, - wie du ihm genau ins Gesicht gesehen hast und dabei gedacht hast, daß er für sein Alter noch sehr jung aussieht. Du hast ihn mit einem Kind verglichen, - mit einem Kind, das nie erwachsen wird. Seine Nase hast du eine indianische Adlernase genannt.“
Marias Wut wandelte sich in ersichtlichen Schrecken um. Das alles konnte nicht mit rechten Dingen zugehen. Wie konnte dieser ausgefuchste Kerl nur wissen, - ja, Maria nannte ihn in Gedanken wirklich so, - wie konnte er nur wissen, was sie dachte, was sie denkt? Damals, als sie zu ihrem Großonkel ins Zimmer ging, saß er doch im hintersten Eck der Halle und konnte sie gar nicht sehen, da er von vielen Menschen umringt war.
„Ich habe dich auch nicht gesehen, - nicht wirklich, - das heißt, ich fühlte dich, weil du immer den Raum ausfüllst, in dem du dich befindest. Gesehen hat dich dein Großonkel, denn zu ihm bist du gekommen. Zu ihm, - verstehst du? Nicht zu mir. Wärst du zu mir gekommen, - bewußt zu mir gekommen, hätte ich dich gesehen.“
„Wie machst du das?“ fragte Maria atemlos.
Kim lachte hell auf.
„Du meinst, wieso ich das alles weiß? Oh, darüber kann ich nichts sagen. Ich weiß nämlich nicht, wie ich das mache. Ich weiß nur, daß ich es mache.“
„Konnte das mein Großonkel auch?“
„Sicher! Wie hätten wir uns sonst unterhalten können?“
„Aber zu mir sprichst du“, sagte Maria wieder mit gedämpfter Stimme.
Der junge Mann wiegte seinen Kopf hin und her.
„Klar tu ich das, aber viel mehr unterhalte ich mich mit dir genauso wie ich es mit deinem Großonkel getan habe. Dir ist das aber nicht bewußt, - noch nicht.“
„Und was soll das heißen? Etwa, daß ich genauso verrückt werde wie ihr beide?“ stieß Maria hervor.
„Was nennst du verrückt?“ fragte Kim und blickte Maria mit stechenden Augen an.
Ihr war plötzlich, als ob er in ihr Innerstes blicken würde und dabei alles erkannte, wovon sie selbst gar nicht wußte, daß es in ihr war.
Er forderte sie durch ein kurzes Kopfnicken zur Antwort auf.
„Es ist verrückt, wenn man einfach nur da sitzt und alle Menschen ignoriert. Du erzählst Geschichten, - erzählst über einen anderen Kim, - und das völlig ohne Interesse, ob dir überhaupt jemand zuhört. Doktor Thompson erzählte mir, daß du plötzlich aus deinem Zimmer gegangen bist, dich in eine Ecke in der Halle gesetzt hast und plötzlich mit dieser Geschichte begonnen hast. Zuerst hörte dir niemand zu, aber das brachte dich nicht davon ab, weiter zu erzählen. Du hast Tag und Nacht erzählt, wobei du höchstens drei Stunden geschlafen hast. Und als dir Menschen zuhörten, hast du das wahrscheinlich gar nicht registriert. Du hast mit niemandem gesprochen, bloß deine Geschichte erzählt, - und das nenne ich nun mal verrückt.“

Maria atmete tief durch und sprach dann weiter.
„Wenn dich jemand berührt, schreist und tobst du. Aber sie müssen dich berühren, weil sich jeder Mensch waschen muß. Verstehst du? Man muß dich waschen wie ein kleines Kind, - man muß dein Haar schneiden, dich rasieren und - und - und. Du aber tobst jedesmal. Warum wäscht du dich nicht selbst?“
Maria sah ihn erwartungsvoll an.
„Ich - ich weiß nicht - ich weiß nicht, wovon du sprichst“, sagte Kim leise und stotternd.
„Und du weißt wohl auch nicht, wo du dich wirklich befindest?“ sagte Maria wieder sehr hart. „Du bist im Irrenhaus, mein Junge, - in einer Anstalt für geistig kranke Menschen. Weißt du, was das bedeutet? Das bedeutet, daß du verrückt bist, daß du anders bist als alle anderen, die man zur Gesellschaft zählt. Du würdest da draußen....“, Maria deutete zum Fenster „...sterben, weil du dich nicht zurecht finden würdest und jedesmal einen Anfall bekommen würdest, wenn dir jemand zu nahe kommt.“
Kim hatte ihr aufmerksam zugehört, aber sein Blick war fragend, fast verzweifelt. Als Maria aufhörte zu reden, legte er beide Hände an seine Ohren und begann mit seinem Oberkörper rhythmisch zu schaukeln. Dabei summte er, zuerst ganz leise, dann immer lauter, bis er am Ende einen lauten, durchdringenden Schrei ausstieß.
Und schon stürmten zwei Pfleger herein, packten ihn und drückten ihn in das Bett zurück. Kim schrie weiter und wehrte sich nach Leibeskräften. Aber er hatte keine Chance. Die Riemen schlangen sich bereits um seine Hand- und Fußgelenke und die Nadel der Beruhigungsspritze steckte in seiner Armbeuge. In der nächsten Minute war er ruhig und lag mit geschlossenen Augen da wie ein Toter.
Maria stand mit gesenktem Kopf auf. Sie wollte nicht, daß die beiden Pfleger ihre Tränen sehen.
„Was ist passiert?“ fragte sie der eine.
Maria zuckte mit den Achseln und verließ das Zimmer.

Am liebsten hätte sie sich die Zunge abgebissen. Sie wußte nicht, was in sie gefahren war, - warum sie den jungen Mann so mit Worten gequält hatte. Sie wollte es doch nicht, - sie wollte Geduld haben und warten, bis er selbst so weit ist, um Gespräche dieser Art führen zu können. Sie wollte... Ja, was wollte sie denn wirklich? Wollte sie denn dieses Haus? Wollte sie hier bleiben? Und warum wollte sie hier bleiben? Nein, sie wußte im Moment nicht, was sie wirklich wollte, wozu sie hier war. Es gab doch wirklich keinen Grund.
Was geschah nur mit ihr? War das schon wieder ein innerer Kampf? Konnten sich die beiden Seiten nicht entscheiden, welche nun die Oberhand hat? Und was konnte sie zu diesem Kampf beitragen? Hatte sie sich nicht schon längst, ohne sich dessen wirklich bewußt zu sein, für eine Seite entschieden? Warum also kommt dann immer wieder die andere Seite zum Vorschein?
Schon alleine diese Gedanken kamen ihr verrückt vor. War sie bereits verrückt?
Aber all das, was der Junge ihr gesagt hatte, - was er alles über sie und ihren Großonkel wußte, - das alles war unerklärlich und unheimlich. Schon alleine die erste Begegnung mit diesem Jungen war unheimlich, als er sie genau beschrieb. Er beschrieb sogar ihre Kleidung, und sie wußte, ja, sie war sich selbst absolut sicher, daß seine Augen ganz fest geschlossen waren, was ja auch Steven bezeugte. Er beschrieb sogar das Muster, ihres weit schwingendes Rockes, den sie damals anhatte. Und jetzt erzählte er ihr von ihren eigenen Gedanken, die sie hatte, als sie ihren toten Großonkel sah.

Ein Wärter ließ sie aus der Station. Langsam ging sie den Weg zu Stevens Sprechzimmer und klopfte an seine Tür. Erschöpft ließ sie sich auf den Sessel fallen. Steven sagte kein Wort. Und dann erzählte sie alles, wobei wieder Tränen über ihre Wangen liefen.
„Verdammt! Ich hätte ihm nicht sagen dürfen, daß er verrückt ist“, beendete sie ihre lange Erzählung.
Steven war beeindruckt von dem Jungen, so sehr, daß er vorerst gar nicht sprechen konnte. Aber dann beruhigte er Maria.
„Es ist noch nicht alles verloren. Du wirst ja sehen, wie er morgen reagiert. Wenn er wieder mit dir spricht, ist alles wieder in Ordnung.“
Steven stand nach diesen Worten auf und drehte sich zum Fenster.
„Mach dir aber nicht zu viel Hoffnung, Maria“, sagte er leise. „Die besten Ärzte haben sich um Kim bemüht. Voriges Jahr kam sogar ein Kollege aus den Staaten und blieb fast drei Monate hier, um Kim zu therapieren. Aber der Junge reagierte auf nichts. Und gerade deshalb ist es für uns alle ein Wunder, daß er dich bemerkt hat und jetzt sogar mit dir spricht.
Und jetzt, nach all dem, was du mir erzählst hast, - ja, Maria, - ich weiß nicht, was ich darauf sagen soll.“
„Steven, ich weiß es noch weniger. Ich habe so etwas noch nie erlebt. Ja, ich habe schon einiges über Telepathie gehört, - aber so etwas selbst erleben, noch dazu auf diese Art, - Steven, das ist unheimlich. Du hättest sehen müssen, wie er mich angesehen hat! Er blickte in meine Seele, - anders kann ich es nicht ausdrücken.“
Es herrschte einige Augenblicke Stille, die Steven dann brach.
„Maria, warum bist du wirklich hier? Besser gesagt: was bedeutet dir Kim?“
Mit dieser Frage hatte sie nicht gerechnet. Aber diese Frage stellte sie sich schon lange, viel zu lange. Sie zuckte mit den Achseln und senkte ihren Blick.
„Wenn ich das nur wüßte“, sagte sie leise, fast wie zu sich selbst. Dann erhob sie sich und ging zur Tür. Sie warf Steven noch einen kurzen Blick zu, sagte: „Bis morgen“, dann ging sie.
Steven machte sich nun mehr Sorgen um Maria, als um Kim. Er fühlte, daß sie verwirrt war und nicht wußte, was hier wirklich geschah. Er selbst wußte es ja auch nicht. Dieser Junge verwirrte sie wohl alle, - schon damals, als er eingeliefert wurde. Es war nicht deshalb, weil er ein ausgesprochen hübscher Junge war, - es war viel mehr seine Ausstrahlung, - nein, nicht diese, die der Kim seiner Erzählung hat, - seine Ausstrahlung war von ganz anderer Art, aber ebenso unerklärlich. Man verfiel diesem Jungen nicht, daß man vom ersten Augenblick an in ihm verliebt wäre. Aber man verfiel ihm trotzdem, indem man immerzu an ihn denken mußte und sich wünschte, daß er gesund wird. Sein Schicksal interessierte das gesamte Sanatorium, und es gehörte beinahe schon zum täglichen Gruß, indem jeder fragte, wie es Kim heute geht, ob er schon mit jemandem gesprochen hat, ob er schon auf die Außenwelt reagiert hat. Dieses Interesse aber war von anderer Art, als dieses, welches Steven bei Maria bemerkte. Er fühlte, daß da mehr Gefühle im Spiel waren, und er fühlte, daß das Ganze langsam gefährlich wurde und für Maria ganz schlecht ausgehen könnte. Das beste, so dachte Steven, wäre, wenn man das Ganze abbrechen und Maria nicht mehr zu Kim lassen würde.

Am nächsten Morgen war Maria wie gerädert. Sie hatte zwar tief und fest geschlafen, aber das war kein normaler Schlaf. Sie konnte sich an den Traum erinnern, der ihrer Meinung nach die ganze Nacht gedauert hat.
In diesem Traum befand sie sich mit Kim in einer Dünenlandschaft. Sie wußte noch genau, daß sie sich immer fragte, ob das wohl der Kim aus dem Sanatorium ist, denn dieser Kim hatte langes Haar, welches ihm fast bis zu den Hüften reichte. Sie wanderten beide durch die Dünen, - beide waren nackt, aber Maria störte das nicht, - es fiel ihr eigentlich gar nicht auf. Nur jetzt, am Morgen, erinnerte sie sich daran, daß es ihr egal war. Seltsam war auch, daß sie großes Vertrauen zu Kim hatte. Es war, als ob sie sich schon ewig kennen würden. Auch als er sich umdrehte, ihr seine Hand entgegen streckte, faßte sie unbekümmert zu, ja sogar lachend und lief mit ihm den Dünenberg hoch. Oben ließ er ihre Hand aus und schien plötzlich zu erstarren. Maria hockte sich in den Sand und blickte zu ihm hoch, wie er da breitbeinig vor ihr stand und in Richtung Meer zum Horizont blickte. Dann ging alles blitzschnell. Kim begann plötzlich zu leuchten wie ein Stern, - sein gesamter Körper bestand nur mehr aus Licht, - aus grellem, weißgelben Licht, daß sich Maria mit beiden Händen die Augen zuhalten mußte. Nach wenigen Minuten war alles vorbei. Völlig verwirrt kroch sie auf allen Vieren zu Kim, der mit gespreizten Beinen im Sand kniete. Er nahm sie sofort in seine Arme und drückte sie fest an sich. Maria wußte noch, daß sie fragte, was eben passierte, und daß er darauf geantwortet hat, daß sie doch wissen muß, daß er ein Leuchtendes Wesen ist, daß sein Vater ebenfalls ein Leuchtendes Wesen ist, das auf die Erde kam und mit einer Erdenfrau, einer Rumänin, ein Kind, ihn, zeugte.
„Und jetzt, - jetzt müssen wir das Böse überwinden“, sprach Kim weiter. „Denn es gibt nichts Gutes, nichts Böses.“
Und Maria wußte auch noch, daß ihr alles auf einmal klar war, - daß sie alles wußte, denn sie nickte Kim in diesem Traum zu und sagte: „Ja, der Kampf beginnt.“

Auf der Fahrt zum Sanatorium hatte sie noch immer Herzklopfen. Aber als sie in Kims Zimmer ging, war sie vollkommen ruhig. Aber es war nicht nur die Ruhe, die sie in sich fühlte. Sie kam sich nicht mehr so vor wie sie selbst, - vor allem nicht mehr ganz so wie früher. Maria fühlte zwar, daß sie nicht mehr sie selbst war, aber paradoxerweise wußte sie, daß sie jetzt viel mehr sie selbst war als je zuvor.
Mit festen Schritten ging sie zum Sessel und setzte sich. Kim hockte im Türkensitz auf dem Bett.
„Du hast das Leuchtende Wesen gesehen“, sagte er leise, ohne Begrüßung.
Maria war nicht mehr überrascht. Sie wäre sogar enttäuscht gewesen, wenn er das nicht gewußt hätte. Ihre Angst, daß er nicht mehr mit ihr sprechen würde, war vollkommen weg, - ja, sie hatte nicht einmal Bedenken gehabt, als sie durch die offene Tür zu ihm ins Zimmer trat. Sie wußte nun auch, daß alle ihre Selbstvorwürfe absolut unbegründet waren, denn diese Selbstvorwürfe kamen nur von ihrer „vernünftigen“ Hälfte. Er sprach ja nur zu ihrer anderen, ihr noch immer etwas rätselhaften Hälfte, die vorhin, als sie das Zimmer betrat, die Führung sofort übernommen hatte.
„Weißt du, eigentlich mag ich es nicht, daß du in meinen Gedanken herum stöberst“, sagte sie leise.
„Dann denke nicht.“
„Das ist unmöglich“, sagte Maria schnell.
„Unmöglich? Klar, es scheint dir unmöglich zu sein, so lange du es nicht versuchst. Nichtversuchtes ist immer unmöglich.“
„Und wie soll das funktionieren?“ fragte Maria.
„Das weiß ich nicht. Ich bin nicht du. Das mußt du selbst heraus finden. Ich weiß nur, daß du die Kraft dazu hast. Gestern abend ist dein Ego etwas geschrumpft, um der Kraft Platz zu machen. Nur, wie du diese Kraft benutzt, das ist deine Sache.“
„Was bedeutet der Kampf, Kim?“ fragte Maria und nannte ihn zum ersten Mal beim Namen.
„Er hat bereits begonnen, Maria.“
„Ich glaube, das fühle ich schon länger. Ist es richtig, was ich fühle? Ich meine, ist das alles?“
„Alles? Es gibt nicht viele Menschen, die sich auf diesen Kampf einlassen, Maria. Man kann sie in dieser Wirklichkeit zählen.“
„In dieser Wirklichkeit?“
„Oh! Natürlich gibt es viele Wirklichkeiten. Es gibt aber auch Wirklichkeiten, die man nur durch diesen Kampf erkennen und erreichen kann.“
„Und was sind diese anderen Wirklichkeiten?“ fragte Maria.
„Dazu ist es noch etwas zu früh für dich. Ich muß dir zuerst die ganze Geschichte bis zum Endkampf erzählen, - und vielleicht auch darüber hinaus. Vielleicht kannst du es dann verstehen“, sagte Kim lächelnd.
„Warst du das heute Nacht in meinem Traum?“
„Ja und nein“, sagte Kim und lächelte wieder. „Aber auch das wirst du erst dann verstehen, wenn ich weiter erzähle. Nenne es nicht Traum, obwohl Namen keine Bedeutung haben, - nenne es eine andere Wirklichkeit, denn das, was du Traum nennst, war ein Geschenk der Kraft.“
„Übrigens, - es tut mir leid, was gestern passiert ist“, sagte Maria leise. „Ich wollte dich nicht verletzen.“
„Du hast mich nicht verletzt. Das war ein Dämon“, sagte Kim und machte ein finsteres Gesicht, indem er seine Brauen tief herunter zog, daß sie in der Mitte beinahe zusammen stießen.
„Meinst du, daß diese Wirklichkeit ein Dämon ist?“ fragte Maria.
„Nein, das meine ich nicht. Ich meine viel mehr, daß ein Dämon, sogar mehrere Dämonen, uns diese Wirklichkeit verschleiert, - uns nur einen Teil zeigt, - und selbst dieser winzige Teil läßt er uns verfälscht erkennen. Wir müssen diese Dämonen in uns vernichten, Maria, - sie sind genauso gefährlich wie das aufgebauschte Ich.
Aber nun laß mich weiter erzählen.“
Maria hörte konzentriert zu, wie Kim ihr diese grausame Lebensgeschichte weiter erzählte. Er erzählte ihr auch dieses Erlebnis in den Dünen, als der „andere“ Kim plötzlich zu leuchten begann, - auch von der seltsamen Erscheinung, als er anfangs dachte, sie sei sein Vater.
Die Geschichte wurde immer phantastischer, - vor allem als Kim und Maria Kims leibliche Mutter nach München holten und sie ihnen von dem Dämon „Ake“ erzählte, der Schuld daran hatte, daß Kim stets gequält und gedemütigt wurde.

Ich will hier nicht die gesamte Geschichte, die ganzen Bücher, noch mal erzählen, denn wer sich wirklich dafür interessiert, kennt ja schon die Bücher „Kim 1. Buch bis Kim 12. Buch“ und natürlich auch die anderen Bücher, wie „Die Rebellen“, „Kim“, - welches er auf der Leuchtenden Welt selbst geschrieben hat und aus dem zu lesen ist, daß er und seine Armee den Endkampf gewonnen haben, - außerdem noch die Bücher „Melanie“ und „Universen“. Aber das ist noch nicht alles, denn es folgen noch die Bücher „Tibor“ und „Lamia“ und dann die wohl wichtigsten, aus denen alles klarer wird, nämlich die Gespräche mit Manolas Tagebuch, eigentlich meinem Tagebuch, das Tagebuch des Ungeborenen.
Was die Gespräche betrifft, die zwischen Kim und der „Autorin“ stattfinden, - auch sie sind meine Gespräche, - die Gespräche des Ungeborenen.

Natürlich erzählte Kim das alles nicht an einem Tag, denn er erzählte ja ziemlich genau und vielleicht auch noch ausführlicher. Es dauerte mehr als zwei Monate, wo Maria täglich, schon früh am Morgen bis spät in die Nacht, oft bis nach Mitternacht, zu ihm kam. Sie aßen auch zusammen im Zimmer. Kim vertraute ihr sein Lieblingsessen - Spaghetti - an, was sie ja auch aus den Erzählungen wußte.
Irgendwann, Mitte des ersten Monats, forderte Kim Maria auf, sich zu ihm auf das Bett zu setzen, weil es bequemer sei, als auf dem harten Sessel. Und er nahm ihre Hand, ließ seine in ihrer ruhen und gestattete ihr ohne Widerwille, sie zu streicheln. Etwas später wagte es Maria auch, ihm über die glatt rasierten Wangen, oder über sein Haar zu streicheln. Kim war immer ruhig und rastete nie aus, wenn sie in seiner Nähe war. Maria sprach zu dieser Zeit auch nicht von dieser Wirklichkeit, die laut Kim durch einen Dämon sehr verfälscht zu erkennen ist.

Einmal, als sie im zweiten Monat eines Morgens ins Sanatorium kam, gab es einen Zwischenfall, den ich eigentlich nicht gerne erwähne. Warum ich es trotzdem mache, ist wohl ein Zeichen dafür, daß Kim ja doch zu einem gewissen Teil noch immer in dieser Wirklichkeit war, - zumindest war es sein Körper zu einem gewissen Teil. Maria hörte damals seine lauten, verängstigten Schreie schon, als man sie durch die Eisentür in die Geschlossene ließ. Im Laufschritt eilte sie zu seiner Zimmertür, aus der eben drei Pfleger und eine Frau, in ziemlich spärlicher und aufreizender Kleidung, heraus kamen. Maria fragte einen der Pfleger sofort, was hier los ist und wer diese Frau ist, die eben aus dem Trakt gelassen wird.
„Das war eine Prostituierte“, sagte der Pfleger kurz angebunden und ließ Maria stehen.
Dann kam Steven aus Kims Zimmer. Sein Kopf war hochrot. Er schien sehr ärgerlich zu sein. Auch als er Maria sah, veränderte sich seine Miene nicht.
„Diese Idioten!“ schimpfte er aufgeregt. „So etwas kann man doch in der Geschlossenen nicht machen!“
„Was ist passiert? Haben sie Kim etwas angetan?“ fragte Maria, die nun auch sehr aufgeregt war, - vor allem sehr besorgt um Kim.
„Du hast doch diese Nutte gesehen, - oder nicht? Und was meinst du, was sie hier hätte tun sollen?“ stieß Steven noch immer sehr gereizt hervor.
„Bei Kim?“ fragte Maria mit gebrochener Stimme.
„Es ist sein Zimmer. Und sie war ja eben in seinem Zimmer.“
„Wer ist dafür verantwortlich?“ fragte Maria.
„Ein neuer Arzt. Du kennst ihn noch nicht. Er ist erst zwei Wochen hier, aber er glaubt, sich über alle hinweg setzen zu können. Ich werde sofort dafür sorgen, daß er fristlos entlassen wird.“
„Ist es üblich, daß man hier Prostituierte herein läßt?“
„Absolut nicht! Es ist nicht einmal üblich, daß in der Geschlossenen Besuche erlaubt sind“, sagte Steven und sah Maria etwas unsicher an.
„Warum brachte man sie zu Kim?“
„Weil er in den letzten Nächten, während er schlief, sehr unruhig war. Wenn er aufwachte, - wenn sie ihn zum Waschen brachten, war er, - nun, - du weißt schon, was ich meine, - er war naß.“
„Das ist doch normal. Heraus schwitzen kann das kein Mann, - und Kim ist trotz allem ein Mann“, sagte Maria, ohne sich wirklich ihrer Worte bewußt zu sein.
„Geh zu ihm“, sagte Steven schon etwas ruhiger. „Versuch, ob du ihn wieder beruhigen kannst. Ich konnte gerade noch verhindern, daß man ihn nieder spritzte. Das macht ihn ja noch apathischer.“
„Er ist nicht apathisch, Steven“, sagte Maria.
„Nicht neben dir“, sagte Steven seufzend. „Aber du mußt selbst zugeben, daß das keine Lösung ist, - daß das kaum zu seiner Heilung beiträgt.“
Steven wirkte plötzlich verlegen. Er wagte es kaum, Maria in die Augen zu sehen. Immer wieder senkte er seinen Blick, während er sich sehr oft nervös durchs Haar strich.
„Ich wollte schon lange mit dir darüber reden, Maria“, begann er leise und manchmal sogar stotternd. „Es hat keinen Sinn, wenn du deine Zeit noch länger opferst. Ich habe vor, einen Antrag zu stellen, daß deine Besuche bei Kim eingestellt werden.“
„Das kannst du nicht machen, Steven. Bitte, Steven....“
„Laß mich ausreden, Maria, - bitte. Bei Kim ändert sich nichts, - und das weißt du selbst. Er ist anderen gegenüber noch immer genauso apathisch wie damals, als er eingeliefert wurde. Er wehrt sich noch immer wie ein Wilder, wenn man ihn ins Badezimmer bringt. Nur - was mir auffällt, ist, daß du dich verändert hast. Ich mache mir Sorgen um dich, Maria. Du verbringst die ganze Zeit bei Kim. Du unterhältst dich nur mehr mit ihm und hast zu anderen Menschen überhaupt keinen Kontakt mehr. Angela hat dich mehrmals angerufen, aber du hast ihr immer abgesagt, wenn sie dich treffen wollte. Das ist nicht gut, Maria. Ich glaube, du ziehst von Kim an. Es ist nicht so, wie wir anfangs dachten, - daß du Einfluß auf ihn haben könntest, denn jetzt ist es so, daß er auf dich Einfluß hat.“
„Warum läßt du das nicht meine Sorge sein, Steven?“ fragte Maria vollkommen ruhig.
„Weil ich das nicht kann. Es liegt in meiner Verantwortung. Wenn ich sehe, daß bei meinen Patienten eine bestimmte Therapie nichts hilft, wird sie abgebrochen. Versteh das doch, Maria.“
„Hab Geduld mit Kim, Steven.“
„Geduld? Wie lange noch?“ fragte er seufzend und strich sich wieder durchs Haar. „Ich glaube, der Fall liegt hier etwas anders, Maria. Ich glaube es nicht nur, - ich bin sogar überzeugt davon, daß du dich in diesen jungen Mann verliebt hast. Das ist es, was mir die größte Sorge bereitet. Du kannst dir davon nichts erwarten, Maria. Kim wird nie entlassen werden können. Er wird nie ein normales Leben führen können.“
„Das weiß ich, Steven. Aber ich weiß auch, daß er glücklich ist, wenn ich bei ihm bin. Und deshalb bitte ich dich, Steven, - laß ihm dieses Glück, denn es ist das einzige, was er in seinem Leben hat. Denke an die Menschlichkeit, nicht an die Paragraphen. Bitte, Steven.“
Steven seufzte tief. Er war ja ganz Marias Meinung, - er war wirklich eine Ausnahme in diesem Sanatorium.
„Und du meinst, du bist stark genug?“ fragte er leise.
„Liebe ist stark, Steven“, sagte Maria lächelnd und wurde etwas rot.
„Ich hoffe nur, daß ich das Richtige tue“, meinte Steven und verließ die Station.
Damit war alles bereinigt und Maria mußte keine Angst mehr haben, daß sie Kim nie wieder sehen darf.

Maria betrat das Zimmer. Dort, wo immer der Sessel stand, der jetzt etwas nach rechts geschoben war, hockte Kim in die Ecke gedrückt.
„Steh auf und setz dich aufs Bett“, sagte Maria, als ob nichts geschehen wäre. „Es ist alles wieder okay. Ich weiß ja, daß du nur aus Kopf und Händen bestehst.“
Kim stand wirklich auf und sah Maria überrascht an.
„Was sagst du da?“ fragte er und blieb direkt vor ihr stehen.
„Du bestehst nur aus Kopf und Händen, - genauso wie dich mein Großonkel gemalt hat. Hast du das Bild draußen in der Halle nicht gesehen?“
Kim faßte lächelnd Marias beide Hände.
„Zeig es mir. Seine Bilder kann ich sehen“, bat er sie mit sanfter Stimme.
Maria ließ eine Hand los, an der rechten führte sie ihn nach draußen in die Halle und blieb vor dem Bild stehen. Kim ging ganz nah an das Bild heran. Langsam hob er seine linke Hand und berührte es. Mit dem Zeigefinger zeichnete er die Konturen des Profils nach und lächelte.
„Ja, ich bestehe nur aus Kopf und Händen“, sagte er dann und blickte Maria ernst in die Augen.
„Das hätten sie nicht tun dürfen, nicht wahr?“ fragte Maria.
„Was haben sie getan?“ fragte Kim.
„Warum hast du geschrien und bist in die Ecke geflüchtet?“
„Ein Dämon war in meinem Zimmer. Er wollte mich zu seinesgleichen machen. Er wollte mir einen Körper geben, - mich einen Körper fühlen lassen. Aber weißt du, - Herzen haben keine....“
„....Geschlechtsteile“, vollendete Maria Kims Satz.
Er lächelte, hob Marias Hand, die er noch immer festhielt, führte sie an seine Lippen und küßte sie.
Dann gingen beide langsam wieder ins Zimmer zurück und setzten sich aufs Bett.
„Hat dir der Dämon sehr weh getan?“ fragte Maria.
„Nein, ich konnte ihn rechtzeitig abwehren.“
„Haben dir schon viele Dämonen weh getan?“
Kim senkte seinen Kopf und schwieg. Aber Maria glaubte, ein leichtes Nicken erkannt zu haben.
„Möchtest du darüber sprechen?“ fragte sie deshalb.
Kim neigte sein Gesicht, noch immer mit gesenktem Blick, zu ihr. In seinen Augen schwammen Tränen.
„Ich habe dir schon über Kims Kämpfe im Reich des Bösen erzählt. Du erinnerst dich?“
Maria nickte stumm.
„Dann weißt du auch, wie schwer verletzt er war. Weißt du, wenn dich ein Dämon berührt, - wenn er dich nur ganz leicht berührt, reißt er dir das Fleisch von den Knochen. Niemand kann sich diese Schmerzen vorstellen.“
Kim schwieg einen Moment. Maria nützte diese Pause.
„Es waren also Dämonen, die dich berührten, als du ein Kind warst?“ fragte sie leise.
„Ich weiß es nicht. Ich habe sie nie gesehen, immer nur gefühlt“, sagte Kim und Tränen liefen über seine Wangen.
„Kannst du dich noch an etwas erinnern, als du ein Kind warst?“
„Einsamkeit - Schmerzen - Dunkelheit. Ich sah einen Engel fallen, - eine hell leuchtende Gestalt, die plötzlich schwarz wurde, als sie fiel. Der schwarze Engel hatte Dornen an den Flügeln, - Dornen, die sich ins Fleisch bohrten. Der schwarze Engel quälte sich selbst. Er hat es zugelassen, - er hat zugelassen, daß er so wurde wie sie.“
„Aber jetzt bist du nicht mehr wie sie“, sagte Maria und streichelte ihm übers Haar.
Er neigte sich zu ihr und sah sie mit großen, weit aufgerissenen Augen an.
„Aber man muß immer aufpassen. Sie lauern überall und warten nur darauf, daß sie dich wieder berühren können. Und schon passiert es, - schon bist du wieder wie sie“, sagte er mit heiserer Stimme.
„Warum darf ich dich berühren?“ fragte Maria und nahm seine Hand, die er ihr bereitwillig ließ.
„Du weißt es noch nicht, aber du berührst mein Herz, - du berührst es ständig. Es ist in dir - und deines ist in mir. Fühlst du nicht, wie ich dich ständig berühre? Ich kann auch sagen, unsere beide Herzen sind in dir, genauso wie in mir. Sie sind überall, Maria, - sie kennen weder Zeit noch Raum.“
„Sind sie Eins, wie Kims und Marias Herzen ein und das selbe sind?“
Kim nickte stumm und lächelte.
„Wo ist Manola?“ fragte Maria und fühlte ihr Herz für einen Moment schneller schlagen.
„Fühlst du sie nicht? Weißt du nicht, daß sie aus uns beiden spricht?“
Maria faßte an ihren Bauch und schüttelte ihren Kopf.
Kim lachte kurz laut auf.
„Du machst es dir zu einfach, Maria“, sagte er dann und entzog ihr seine Hand. „Vergiß Zeit und Raum. Vergiß alles, - alles, was du bis jetzt erfahren hast, - nur das nicht, was du durch mich erfahren hast, - zumindest noch nicht. Erst dann kannst du das Wahre fühlen.“
„Wir beide, Kim, - wir beide werden nie ein Kind haben, wie Kim und Maria“, sagte Maria plötzlich und senkte traurig ihren Kopf.
Sie wußte nicht, warum sie das plötzlich sagte und warum sie deswegen traurig war, - aber sie wußte nun ganz sicher, daß sie diesen jungen Mann ihr Leben lang nie in Stich lassen wird. Er war der erste Mensch, in dessen Nähe sie sich wirklich wohl fühlte, wo sie sich niemals nach Einsamkeit sehnte, wie früher. Sie war sogar traurig, wenn sie ihn jedesmal so um Mitternacht verlassen mußte. Und wenn sie dann zu Hause ins Bett ging, wünschte sie sich bereits den Morgen herbei, um schnell wieder bei ihm zu sein. Sie war froh, daß man ihr das gestattete, denn so lange Besuchszeiten waren nicht einmal in den anderen Stationen üblich, und in der Geschlossenen waren Besuchszeiten überhaupt verboten. Maria wußte, daß sie das Steven und nur wenigen Leuten im Sanatorium zu verdanken hatte. Und sie wußte nun auch, warum sie Steven nicht widersprochen hatte, als dieser sagte, sie hätte sich in Kim verliebt.
Kim erwiderte nichts. Er neigte sich nur noch etwas weiter zu ihr und blickte ihr von unten herauf ins Gesicht. Maria fand das komisch, und ihre Traurigkeit war sofort verflogen, daß sie lachen mußte.
„Es ist gut, wenn du lachst“, sagte Kim leise. „Viel besser, als wenn du grundlos traurig bist.“
Dann erzählte er wieder seine Geschichte weiter.

Nach diesen zwei Monaten hatte Maria vor, kurz nach München zu fahren. Sie mußte es tun, um einige Tourneen für die Wintersaison zusammen zu stellen. Weihnachten über Silvester wurden viele Bands bestellt, - und wahrscheinlich müßte sie auch als Tourmanagerin mit.
Es fiel ihr sehr schwer, von Kim Abschied zu nehmen, und sie war sich nicht sicher, ob er sie auch verstand. Er sagte zwar, daß er weiß, daß sie wieder kommen wird und daß er ihr Wiederkommen fühlen wird - und Maria hoffte, daß es auch so ist.

Es war gut, daß Maria eine Band begleitete. In irgend einem Hotel in Norddeutschland lernte sie einen englischen Verleger kennen, dem sie von Kim und seiner Geschichte erzählte. Sie wußte eigentlich nicht, wie sie so plötzlich auf diese Idee kam, aber als er ihr sagte, er leite einen Verlag, der Fantasy- und Science-fiction -romane heraus bringt, fand sie, daß auch Kims Geschichte gut zu diesem Genre passen würde. In wenigen Stichworten klärte sie Gordon Black, so hieß der Verleger, auf, und der war begeistert.
Mitte Jänner war Maria wieder in London. Bevor sie sich mit dem Verleger traf und alles fix aushandelte, wollte sie natürlich Kim Bescheid sagen. Und sie hoffte, daß er das auch versteht.

Ihr war etwas bange, als sie ins Sanatorium kam. Sie wußte ja nicht, wie Kim in der Zwischenzeit reagiert hatte, während sie weg war.
Zuerst ging sie in Stevens Büro, um sich zu erkundigen.
„Es hat sich nichts verändert. Seit du weg bist, sitzt er tagein tagaus stumm und apathisch auf seinem Bett. Er hat nicht einmal seine Geschichte weiter erzählt“, sagte Steven. „Es ist hoffnungslos. Du vergeudest nur deine kostbare Zeit, wie ich ja schon mal sagte. Aber keine Sorge, Maria, - es wurde alles in die Wege geleitet, daß du Kim, wann du willst, sehen kannst. Du hast sozusagen alle Rechte.
Und nun geh und hauche unserer Statue wieder Leben ein.“
Steven lächelte und führte Maria aus dem Büro.
„Ich glaube, Kim wird mit noch einem Menschen sprechen“, sagte sie auf dem Weg zur Geschlossenen und erzählte Steven von dem Verleger.
„Das wäre eine ganz gute Sache, - vor allem, weil es Geld bringt“, sagte Steven begeistert. „Als du weg warst, war Kims Ziehvater hier und deutete an, er wolle die Adoption rückgängig machen, denn dann wäre er nicht mehr verpflichtet für Kim zu zahlen. Wenn er das durchzieht, muß Kim in ein anderes Sanatorium verlegt werden und dann kann ich dir nicht mehr garantieren, daß du ihn sehen kannst, wann immer du willst.“
„Dieses Schwein!“ schimpfte Maria. „Zuerst vergreift er sich an dem Jungen, bis dieser verrückt wird, und dann läßt er ihn fallen.“
„Maria, wir haben keine Beweise, daß er sich an Kim vergriffen hat.“
„Ach nein? Und woher hatte er dann diese Striemen, als man ihn auf der Bahnhofstoilette fand?“
Steven seufzte.
„Sie könnten genauso gut von Zuhältern oder Kunden stammen, was wir ja schon gesagt haben. In diesem Metier gibt es genug Kranke, die so etwas brauchen. Und wir wissen, daß Drogensüchtige alles über sich ergehen lassen, um nur zu Geld zu kommen, - um sich die Drogen leisten zu können. Und Kim war ein Drogensüchtiger, - sogar hochgradig heroinsüchtig.“
Sie waren beim Eisentor angelangt. Steven sperrte auf. Maria bedankte sich bei ihm und ging auf die Station.

Als sie in Kims Zimmer kam, saß er wie gewohnt auf dem Bett. Er sah sie an und lächelte.
„Ich wußte, daß du heute kommst“, sagte er und streckte ihr beide Hände entgegen.
Maria faßte zu und setzte sich zu ihm.
„Weißt du auch, was ich mit dir vor habe?“ fragte sie leise.
„Ja, ich muß die ganze Geschichte von vorne erzählen“, sagte Kim noch immer lächelnd.
„Du kannst wirklich Gedanken lesen, nicht wahr? Warum gehst du damit nicht hinaus in die Welt? Du könntest berühmt werden. Telepathen werden immer gesucht.“
„Vergiß das mit der Telepathie, - das ist nicht echt. Da sperren sie zwei Menschen, die sich außerdem gut kennen, in zwei verschiedene Räume und die machen so seltsame Spiele mit Karten oder geometrischen Figuren. Bei diesen Sitzungen haben sie aber nicht immer Erfolg, weil es meistens Zufall ist. Und haben sie Erfolg, dann kennen sich die beiden zu gut. Ich betreibe keine Telepathie, Maria.“
„Siehst du Bilder um den Köpfen der Menschen wie Kim?“
„Nein, auch keine Bilder. Ich sagte schon, - ich weiß nicht wie es funktioniert. Ich wußte übrigens schon gestern, daß du heute kommen wirst. Nein, - eigentlich wußte ich schon, als du gegangen bist, wann du wieder kommst. Aber du hast mich nicht danach gefragt.“
„Ich werde dich das nächste Mal, wenn ich wieder weg muß, fragen.“
Kim lachte auf.
„Du treibst wohl Scherze mit mir? Klar, das nächste Mal sage ich dir das genaue Datum, und nur, um mich zu ärgern, wirst du entweder einen Tag früher oder später wieder kommen.“
„Das werde ich nicht tun, Kim. Ich werde das nächste Mal selbst genau wissen, wann ich wieder komme und dich danach fragen.“
„Du willst mich wohl prüfen?“ unterbrach Kim.
„Nein, das will ich nicht. Du hast recht, das wäre ein blödes Spiel. Es genügt ja schon, was du mir bisher alles bewiesen hast, und daß du auch weißt, daß du deine Geschichte noch mal erzählen sollst.
Weißt du auch wozu?“
Kim nickte stumm.
„Wozu?“ fragte Maria.
„Das ist nicht wichtig. Das hat für mich keine Bedeutung. Ich werde sie wieder erzählen. Genügt das nicht?“
„Du mußt nicht, wenn du nicht willst, Kim“, sagte Maria schnell.
„Es scheint wichtig für dich zu sein - und was für dich wichtig ist, ist auch für mich wichtig. Also hat es ja doch eine Bedeutung für mich“, sagte Kim lächelnd, aber dann wurde er ernst und fügte leise, fast flüsternd noch einen Satz hinzu.
„Wir beide wollen uns nie wieder verlieren.“
„Was hat das damit zu tun?“ fragte Maria.
„Was meinst du?“
„Du sagtest, was für mich wichtig ist, ist auch für dich wichtig, - und dann hast du hinzugefügt, daß wir uns beide nie wieder verlieren wollen. Das meine ich! Was hat dieses Hinzugefügte mit dem, was für uns beide wichtig ist, zu tun?“
Kim zuckte mit den Achseln.
„Ich weiß es nicht, - es war nur so ein Gefühl.“
„Was für ein Gefühl, Kim? Erkläre es genauer“, drängte Maria und dachte dabei an Stevens Worte, daß Kims Ziehvater im Sanatorium war und sich weigern wird, weiter für seinen Ziehsohn zu zahlen. Und wenn Kim wirklich in eine andere Anstalt muß, würden sie sich vielleicht wirklich verlieren. Falls Kims Geschichte zum Erfolg wird und genug Geld einbringt, was ja nun wirklich ihr Wunsch war und demnach auch wichtig, könnte er hier bleiben und sie würden sich nie wieder verlieren.
„Gefühle lassen sich so schwer erklären“, sagte Kim langsam und stockend. „Ich weiß einfach nur, daß es für dich wichtig ist, daß ich meine Geschichte noch mal erzähle. Und ich weiß ebenso, was für dich wichtig ist, ist auch für mich wichtig, also muß ich meine Geschichte noch mal erzählen. Wenn ich es nicht mache, so fühle ich, könnte es sein, daß wir uns verlieren. Besser kann ich es nicht erklären.“
„Du hast es hervorragend erklärt, Kim. Du hast es besser erklärt, als jeder andere.“
Kim sah sie kurz fragend an, dann senkte er seinen Kopf.
Maria konnte in diesem Moment seinen Wahnsinn nicht verstehen. Er kam ihr schon lange nicht mehr verrückt vor. Er sprach ja auch vollkommen normal mit ihr, ging auf alles ein und antwortete auch auf alles. Klar, manche Antworten klangen schon etwas verrückt, aber das mit der Wirklichkeit, daß wir Menschen sie sehr verfälscht erkennen, ist ja nichts Neues. Die östlichen Religionen reden auch über Illusion. Der einzige Unterschied war der, daß sich die östlichen Menschen untereinander auch als Menschen erkennen und nicht als Dämonen. Maria lag eine Frage auf der Zunge, aber sie wagte nicht, sie zu stellen. Sie befürchtete, Kim könnte so wie das letzte Mal, als sie in dieser Art mit ihm sprach, durchdrehen. Und plötzlich, genau nach diesen Gedanken, sagte Kim:
„Stelle deine Frage. Ich habe keine Angst mehr vor den Dämonen, wenn du bei mir bist.“
„Es ist nicht nur eine Frage, Kim. Ich möchte mit dir einen Test machen.“
„Nur zu, Maria“, sagte Kim und sah sie aufrichtig mit klarem Blick an.
Maria stand auf und ging zur Tür. Dort winkte sie einem Pfleger zu, der sofort zu ihr kam. Sie flüsterte ihm etwas ins Ohr. Dann nahm sie ihn an der Hand und führte ihn ins Zimmer. Direkt vor Kim blieb sie mit ihm stehen.
„Schau her, Kim“, sagte Maria, da er seinen Kopf gesenkt hatte. „Schau her und sag mir, wer neben mir steht.“
Kim hob seinen Kopf und blickte auf Maria. Dann lächelte er sanft, aber er schwieg.
„Sag es mir, Kim, bitte. Auch das ist sehr wichtig für uns beide“, flehte Maria mit etwas weinerlicher Stimme.
„Das geflügelte Wesen hat nichts mit uns zu schaffen, - noch nicht“, sagte Kim und senkte seinen Kopf.
Maria seufzte und nickte dem Pfleger zu, der das Zimmer wieder verließ.
„Kim, darf ich dir etwas sagen, ohne daß du böse wirst?“ fragte sie leise.
„Ich habe es dir bereits versprochen. Ja, du kannst mich alles fragen und ich werde dir alles, wenn es in meiner Macht steht, beantworten.“
„Gut!“ sagte Maria und setzte sich wieder zu ihm auf das Bett.
„Was hast du damit gemeint, als du - geflügeltes Wesen - gesagt hast?“
Kim lachte kurz auf.
„Ja, ich weiß, - es war nicht ganz richtig, denn es ist noch kein geflügeltes Wesen.“
„Was dann? War es ein Dämon, den ich zu dir ins Zimmer geführt habe?“
„Es ist zu viel“, sagte Kim und seufzte erschöpft. „Ich kann das alles noch nicht erkennen, deshalb ängstigt es mich auch. Ja, manchmal ist es auch ein Dämon. Selbst du bist manchmal ein Dämon, - aber dann wende ich mich von dir ab und dann weißt du, daß ich Angst vor dir habe. Deshalb bist du auch nie lange ein Dämon. Du kämpfst dagegen an, ein Dämon zu sein. Du weißt doch, die wenigsten Menschen kämpfen diesen Kampf. Die wenigsten wissen, daß es diesen Kampf gibt.“
„Kim, wie siehst du andere Menschen? Wie würdest du mich beschreiben? Wie siehst du mich?“
Kim lachte wieder auf.
„Du warst damals hier, als ich dich beschrieben habe. Oder hast du das vergessen, wie du gerätselt hast, ob meine Augen wirklich geschlossen waren? Du hast dich damals gewundert, weil ich sogar dein Muttermal beschrieben habe.“
Maria schüttelte ihren Kopf. Langsam stieg Verzweiflung in ihr hoch.
„Ich verstehe das nicht, Kim. Mich siehst du als Mensch. Du sprichst auch völlig normal mit mir. Aber was ist mit den anderen Menschen? Warum kannst du sie nicht so sehen, wie sie sind?“
Kim lachte abermals auf. Es war kein irres Lachen, - ganz im Gegenteil, es klang sehr klug und überlegen, fast so, als wolle er Maria auslachen, weil sie hier die Verrückte war, weil sie diejenige war, welche die Wirklichkeit nicht erkennen konnte.
„Weißt du“, begann er lächelnd. „Ich verstehe da auch einiges nicht an dir. Wenn ich nicht wüßte, wer du wirklich bist und wie du wirklich bist, - nun, ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll, - auf jeden Fall redest du jetzt so, als ob du nichts verstehen würdest. Aber ich weiß, daß du verstehst. Ich weiß auch, daß du schon lange angefangen hast zu verstehen. Trotzdem ist dir vieles noch nicht bewußt. Du verdrängst noch immer zuviel, - vor allem verdrängst du deine wahren Gefühle. Aber darum geht es jetzt nicht.
Maria, du bist ein Mensch, - eben deshalb sehe ich dich als Mensch und rede auch so mit dir. Das, was für dich jetzt noch Menschen sind, das sind noch lange keine Menschen. Glaube mir das, ich weiß es. Und gerade deshalb sehe ich sie als Ganzes, - deshalb nannte ich ihn ein geflügeltes Wesen, eben weil er als Ganzes ein solches ist. Es ist schon viel, daß ich in ihm das erkennen kann, - denn bei den meisten läßt sich wirklich nur ein Dämon erkennen. Trotzdem hat es das geflügelte Wesen noch lange nicht bis zum Menschen geschafft, - er hat davon höchstens 3% geschafft, und das ist zuwenig, um wirklich Mensch zu sein. Er hat keinen Platz für die Kraft. Um wirklich Mensch zu sein, braucht er Platz für die Kraft, die ihn das Menschsein erkennen läßt.“
Maria hörte verblüfft zu. Als Kim eine Pause machte, fragte sie:
„Woher weißt du, daß ich es geschafft habe? Ich zumindest fühle mich nicht besser oder klüger als die anderen.“
„Es geht nicht darum wie du dich fühlst. Eigentlich geht es um nichts. Selbst wenn ich jetzt sage, daß sich kein Mensch für mich interessiert hätte, du aber schon, hätte das keine Bedeutung. Es geht nicht darum, ob du Mitleid mit sogenannten Ausgeschlossenen hast. Es geht nicht darum, daß du anfangs mit mir Mitleid hattest. Ich mag kein Mitleid, - Mitleid ist nichts anderes als Verachtung.“
„Wie kommst du darauf, daß Mitleid Verachtung ist? Ich habe dich nie verachtet, Kim. Mitleid ist etwas sehr wertvolles. Es zeigt, daß wir noch immer Mitgefühl mit anderen Menschen haben.“
„Mitgefühl gibt es nicht, - kann es gar nicht geben, denn du wirst niemals wissen können, was ein anderer wirklich fühlt, - du kannst es nur annehmen und von dir ausgehen, wie du dich in dieser Situation fühlen würdest. Und auch da wirst du nie etwas Konkretes behaupten können, solange du dich nicht wirklich selbst in dieser Situation befindest.
Und was das Mitleid betrifft, - hättest du damals ich sein wollen?“ fragte Kim und sah ihr dabei sehr tief in die Augen. „Oder anders gefragt: würdest du gerne mit dem Bettler tauschen, dem du aus Mitleid Almosen gegeben hast?“
„Eher nicht“, sagte Maria verblüfft.
„Und warum nicht? Weil du meinst, dir geht es besser als ihm?“
„Es geht mir besser. Keine Frage!“
„Davon bin ich zwar nicht überzeugt, aber das wäre wieder ein anderes Thema.
Also, warum möchtest du nicht dieser Bettler sein? Du weißt schon, wen ich meine. Als du weg warst, in irgend einer größeren Stadt, - da bist du aus dem Bus gestiegen, und an der Station war ein ziemlich alt und verwahrlost aussehender Mann am Boden, auf einer Matte. Er hatte keine Beine, nur kurze Stümpfe. Seine Worte waren auch sehr schwer zu verstehen. Er hatte wohl auch keine Zunge. Vielleicht war es Krebs, - wer weiß? Und als du ihn gesehen hast, überkam dich großes Mitleid, sogar so großes, daß du ihm einen ziemlich großen Schein in seinen Bettelhut gelegt hast.
Klar, du würdest sicher nicht mit so einem Menschen tauschen wollen. Aber überlege einmal warum nicht. Du würdest dann alles an dir verabscheuen, sozusagen verachten. Du würdest sogar lieber in den Tod gehen, als als Krüppel weiter zu vegetieren. Und eben das, wo du meinst, es sei Mitleid, ist nichts als Verachtung, die du empfinden würdest, wenn du er wärst. Dir wäre, wenn du ehrlich bist, lieber gewesen, du hättest ihn nicht gesehen, denn du hast ziemlich lange gebraucht, um dieses Erlebnis zu verdauen. Es gab für dich keine andere Möglichkeit, als es zu verdrängen, denn überwinden konntest du es nicht, weil du das Wesentliche nicht erkannt hast. Und das Wesentliche war nicht Mitleid, denn Mitleid gibt es genauso wenig wie Mitgefühl, - sondern Verachtung.“
„Ich wage nicht zu fragen, woher du das weißt“, stieß Maria noch immer verblüfft hervor. „Aber woher willst du wissen, daß dieser Mann für sich selbst Verachtung empfindet?“
„Ich sprach eben nicht von seinen Gefühlen, sondern von deinen, Maria. Er hat mit niemandem Mitleid, denn er akzeptiert jedes Schicksal, - auch seines. Er möchte mit niemandem tauschen. Du wahrscheinlich würdest in seiner Situation mit jedem tauschen wollen.“
Maria sah Kim bewundernd an.
„Ich glaube, du bist der einzig wirkliche Mensch auf dieser Welt“, sagte sie leise und streichelte sanft über seine Wange.
„Einer der wenigen“, sagte Kim, nahm ihre Hand und küßte sie kurz. „Aber darauf bin ich nicht stolz. Es ist auch nichts besonderes, weil ja jeder da durch muß.“
„Und was ist mit jenen, die sterben? Es gibt viele Menschen, die deiner Meinung nach noch lange keine sind, die sterben.“
„Sie sterben nicht wirklich, Maria. Ich sagte schon einmal, der Tod ist nicht das, was ihr euch darunter vorstellt.“
„Werden wir immer wieder geboren, bis wir endlich begreifen?“ fragte Maria.
„Vergiß diesen Scheiß über Wiedergeburt, - über alle Religionen. Die Wirklichkeit geht weit über alle Vorstellungen hinaus. Es gibt keine Erklärungen dafür. Ich kann dir nur sagen, daß alles schon immer war, alles immer ist und alles immer sein wird. Es ist die Gleichzeitigkeit, die all das beinhaltet, - wobei auch dieses Wort nicht ganz zutreffend ist.“
„Woher weißt du das alles? Und - woher weißt du, daß das stimmt?“
„Es ist die Kraft, die mich das wissen läßt“, sagte Kim lächelnd.
Maria hob abwehrend ihre Hände und lachte etwas hysterisch auf.
„Warte! Warte! Das ist mir zuviel auf einmal“, sagte sie dann erschöpft. „Du sagtest, es hat keine Bedeutung, daß ich mich für dich interessiere. Wo ist dann die Bedeutung? Ich sagte ja schon, daß ich mich nicht besser fühle als die anderen. Ich kann keinen Unterschied zwischen ihnen und mir feststellen, - das will ich eigentlich sagen. Ich sehe die Menschen wie sie sind, - du aber siehst Dämonen oder geflügelte Wesen. Warum kann ich keine Dämonen sehen, obwohl du behauptest, ich wäre wie du.“
„Ich habe nie gesagt, daß du wie ich wärst“, sagte Kim vollkommen ernst. „Ich sagte, du stehst am Anfang, obwohl es keinen Anfang gibt. Du hättest zwar genug Kraft in dir, um diese Wirklichkeit, die ich erkenne, zu erkennen, aber anscheinend reicht die Kraft für dich nicht aus. Du müßtest dich noch mehr leeren, vielleicht könntest du dann alles besser verstehen. Das heißt aber nicht, daß du dann so bist wie ich, - das wirst du niemals sein, obwohl wir beide Eins sind. Wir ergänzen uns vollkommen, - das ist alles, - und das hat uns anscheinend auch zusammen geführt.“
Maria atmete tief durch, bevor sie sprach.
„Nun gut! Du sagtest, mein Großonkel war ein wahrer Mensch, deshalb konntest du mit ihm auf diese seltsame Art kommunizieren. Du kannst auch mit mir kommunizieren, - und zwar wie es Menschen normal tun. Warum kannst du mit den anderen nicht reden? Ist es deshalb, weil du sie nicht als Menschen erkennst?“
„Sie sind keine Menschen, Maria.“
„Verdammt! Ich sehe Menschen!“ fuhr Maria genervt auf.
Kim erschreckte das keineswegs, obwohl Maria das befürchtet hatte, denn sie legte sich schnell eine Hand über ihre Lippen. Kim lächelte sogar sanft.
„Sei deswegen nicht verzagt, Maria“, tröstete er sie, noch immer lächelnd. „Das ist vollkommen logisch. All diese Menschen, die du als Menschen siehst, müssen sich selbst auch als Menschen sehen. Das ist ja das Schwierige an diesen Kampf. Wenn alles für alle offensichtlich wäre, - nun, dann wäre das Universum nicht das, was es ist. Stagnation gibt es nicht, - nicht einmal in der Gleichzeitigkeit. Ja, was sage ich denn da? - Gerade in der Gleichzeitig kann es keine Stagnation geben. Aber ich sehe, ich greife schon wieder zu weit vor.
Der Grund, warum du noch immer Menschen siehst, warum sich die meisten Menschen selbst als Menschen sehen, ist ein Trick der Dämonen. Man könnte sagen, die Dämonen haben die Gehirne der Menschen in ihren Händen und manipulieren sie. Das Schlimme an allem ist, - die Menschen haben sich diese Dämonen selbst geschaffen, und jetzt stellt sich das Geschaffene über sie. Um das zu begreifen, um das wirklich zu erkennen, braucht es einen langen, schweren Kampf.
Wenn du dich aber von allem löst, was du weißt, was man dir bis jetzt gesagt und erklärt hat, wirst du das Wesentliche erkennen können.“
„Was meinst du damit, - was man mir bis jetzt gesagt und erklärt hat?“ fragte Maria höchst interessiert.

Sie wunderte sich nicht einmal, warum sie sich so ernsthaft auf dieses Gespräch einließ, was sie vor wenigen Monaten sicher nicht getan hätte. Damals erschien ihr das alles so klar und gegeben, daß sie nicht den geringsten Zweifel an der Welt hatte, obwohl sie sich schon damals von allem abgrenzte und kaum Interesse an ihrer Umwelt zeigte. Aber jetzt glaubte sie diesem „Verrückten“, der für sie gar nicht mehr so verrückt war, sondern eher, wie sie ja selbst vorhin sagte, der einzig wahre Mensch auf der Welt war.
„Du weißt selbst ganz genau, was ich damit meine“, sagte Kim und warf ihr einen kurzen, aber sehr intensiven Blick zu.
„Ja, ich glaube, was du meinst. Deshalb sagtest du auch, ich soll zu denken aufhören, - vor allem mit diesen üblichen Gedanken, die uns ja nur eingetrichtert wurden.“
„So ist es“, sagte Kim und atmete tief durch.

Maria und Kim hatten beschlossen mit dem Weitererzählen der Geschichte zu warten, bis der Verleger kommt, um nicht zu viel wiederholen zu müssen.
Maria war neugierig, wie Kim auf Gordon reagieren wird. Sie hatte keine Angst, daß er durchdrehen würde, denn er war ja einverstanden und schien zu wissen, warum er von vorne erzählen muß.
Maria mußte Gordon nicht mehr viel über Kims Berührungsängste sagen, - das hatte sie schon damals getan, als sie ihm in wenigen Stichworten den Teil der Geschichte erzählt hatte, den sie bis jetzt kannte.

Gordon war angenehm überrascht, als er Kim sah, wie der im Türkensitz auf dem Bett saß und seinem Besuch freundlich entgegen lächelte.
Gordon hatte ein Tonbandgerät dabei, um Kims Erzählung wortgetreu verwenden zu können. Er wollte Kim ja als Autor angeben.
Der Verleger setzte sich auf den Stuhl in der Ecke neben dem Fenster und Maria, mit dem Tonbandgerät, zu Kim aufs Bett.
Ohne Umschweife und ohne Begrüßungsworte begann Kim sofort mit seiner Erzählung, als Maria ebenfalls wortlos das Tonbandgerät eingeschaltet hatte.
Das erste Band war nach drei Stunden voll. Kim wartete mit seiner Weitererzählung, bis Maria ein neues Band eingelegt hatte, als ob er wüßte, worum es geht. Maria mußte ihn also nicht unterbrechen, denn Kim hörte schon wenige Sekunden vorher auf, bevor das Band stoppte. Sie sah ihn nur überrascht an, aber sie und auch Gordon schwiegen.
Am ersten Tag wurden drei Bänder voll. Gordon hatte also schon genug Material. Er überließ Maria das Tonbandgerät und mindestens zehn Bänder und bat sie, sobald wieder drei voll sind, sie ihm in den Verlag zu bringen. Er hatte vor, die Bücher, - es sollten mehrere Teile werden, so schnell wie möglich, heraus zu bringen. Natürlich hatte Gordon und der Verlag das nicht nötig, aber Maria erzählte ihm, daß Kim vielleicht wegen seines Ziehvaters in eine andere Anstalt verlegt werden muß. Gordon war sogar so großzügig und gab Kim einen Vorschuß, daß zumindest zwei Monate in diesem Sanatorium gesichert waren.
Es kam eigentlich nie zur Sprache, wie Kim Gordon damals aufgenommen hatte. Immerhin kam Gordon nur einmal ins Sanatorium. Maria wollte in dieser Beziehung auch nicht weiter in Kim dringen, denn sie befürchtete eine ähnliche Antwort wie damals zu bekommen, als sie einen Pfleger in sein Zimmer führte. Und Gordon selbst hatte das Gefühl, als ob er von Kim gar nicht wahrgenommen wurde.
Nun, ich könnte jetzt für Kim sprechen, aber das möchte ich lieber sein lassen. Außerdem würden mir dazu einige Worte fehlen. Ich könnte bloß sagen, Kim hat damals ein dämonenhaftes Wesen in seinem Zimmer erkannt, das ganz allmählich den Weg zu seinem Herzen finden wird.

Nach einem Jahr waren drei Bände fertig. Im ersten gab es fünf Teile (Kim 1.Buch - 5.Buch), im zweiten sechs Teile (Kim 6.Buch - 11.Buch) und der dritte Band bestand aus Kim 12.Buch.
Es wurde kein großes Aufsehen daraus gemacht. Der Verlag hatte ja seine speziellen Buchläden, wo man diese Trilogie gerne annahm.
Kim machte in der Zwischenzeit mit seinen Erzählungen weiter, die natürlich wieder mit Tonband aufgenommen wurden. Und so entstand ein weiterer Band, mit den Büchern „Die Rebellen“, „Kim“, „Melanie“ und „Universen“.
Nach einem zweiten Jahr waren alle vier Bände vergriffen.
Kim schien diese Frohbotschaft nicht im geringsten zu interessieren. Und „seltsamerweise“ löste sein Ziehvater die Adoption nicht, - ganz im Gegenteil, - er schien sich jetzt für seinen Ziehsohn mehr denn je zu kümmern. Immerhin war er nun Vormund eines berühmtes Autors, dessen Bücher bereits in mehreren Sprachen heraus gegeben wurden. Und da Kim entmündigt war, standen den Zieheltern die Tantiemen zu, die sie natürlich stolz und gerne entgegen nahmen.
Maria war deswegen nicht wenig verärgert, aber sie konnte nichts dagegen tun. Wenigstens durfte Kim in diesem Privatsanatorium bleiben.
In diesen zwei Jahren änderte sich auch einiges bei Maria. Zuerst ging sie noch drei mal mit einer Band auf Tournee, aber dann entschloß sie sich, das Studio an ein anderes, größeres Studio zu verkaufen, aber unter der Bedingung, daß ihre Mitarbeiter ihren Job behalten dürfen. Maria war nun das Studio und alle Arbeit los und Besitzerin von sehr viel Geld, welches sie gut anlegte. Jetzt hatte sie endlich Ruhe und vor allem sehr viel Zeit für Kim.

Marias Ärger über Kims Zieheltern verrauchte schnell, denn sie beschäftigte bald etwas anderes. Sie hatte in den letzten Nächten oft seltsame Träume, in denen sie einige Menschen, von denen Kim erzählt hatte, wieder erkannte. Auf diese Träume, besonders auf einen, den sie anfangs wiederholt träumte, konnte sie sich keinen Reim machen.
Marias Träume hörten nicht auf. Jede Nacht verfolgten sie Menschen aus Kims Erzählung. Vor allem dieser Traum, der sich so oft wiederholte, ängstigte sie beinahe.
Sie lag am Boden eines höchst seltsamen Ortes. Es war nicht die Leuchtende Welt, - es war eine Landschaft, wie es auch welche auf dieser Erde gab. Maria verglich diese Landschaft mit den grünen, weiten Ebenen und Bergplateaus Schottlands. Es war das Grün, das sie daran erinnerte. Trotzdem wußte Maria, daß es sich hier um eine andere Welt, - vielleicht auch um einen anderen Planeten, handelte. Der Himmel war azurblau, und am weiten Horizont stand ein herrlich breiter Regenbogen. Maria konnte von einem Ende bis zum anderen des Regenbogens zwei Städte erkennen. Zuerst sah sie diese Städte, welche der Regenbogen zu verbinden schien, nur verschwommen. Aber je mehr sie ihren Blick über die rechte Schulter fixierte, denn sie lag ja ausgestreckt am Boden, - um so klarer und näher erschienen ihr die beiden Städte, in denen sie keine üblichen Häuser, sondern Kuppeln erkennen konnte. Manchmal war ihr, daß sie auch die menschenähnlichen Wesen, mit langem, weißen Haar, erkennen würde.
Maria liebte diesen Traum, vor allem den Blick zu diesen beiden Städten und zum Regenbogen. Nach dieser, für sie scheinbar langen Betrachtung, fühlte sie plötzlich, wie ihr Körper weich wurde. Ihr war immer zum Lachen zumute, weil sie sich mit einem Teig verglich, der aber seine Form nicht verlor. Sie blickte an ihrem schlanken Bauch hinunter, zu ihrem Bauchnabel, der sich dehnte und zu einer größeren Öffnung wurde. Diese Öffnung war nur ganz kurz da, aber bevor sie sich schloß, fühlte Maria, daß irgend etwas durch dieses Loch ihren Körper verlassen hatte. Es war wie eine Geburt.
Maria drehte ihren Kopf wieder nach links. Da war keine Stadt mehr, kein Regenbogen. Sie blickte geradewegs in ein Zimmer, ein nicht gerade kleines, aber auch nicht großes Zimmer. Es war ein Wohnzimmer, - ein durchschnittlich eingerichtetes Wohnzimmer. Maria hielt sich nie mit der Einrichtung auf, denn ihr Blick, vom Fenster und der Balkontür des Zimmers aus, fiel sofort auf den Rücken eines Menschen, der in der rechten Ecke des Wohnzimmers an einem Computer saß und schrieb.
Das Ungeborene - schoß es Maria durch den Kopf. Aber sie konnte sich nicht erklären, warum sie das wußte. Sie wollte sich bemerkbar machen, wollte mit diesem Menschen sprechen, wie sie es aus anderen Träumen mit den Menschen aus Kims Erzählung gewohnt war. Aber dieser Mensch reagierte nicht, - auch nicht, als sie ganz nah zu ihm trat, ihn sogar am Kopf berührte. Maria schrie auch laut Manolas Namen. Sie wußte, das war ihre und Kims Tochter, denn sie kannte sie aus den anderen Träumen, in denen sie voll und ganz als Maria akzeptiert wurde, wobei sie sich ihr Wissen in diesen anderen Träumen kaum erklären konnte. Da wirkte sie wie ferngesteuert und sagte alles, was Kim ihr erzählt hatte, - manchmal sogar noch viel mehr. In den anderen Träumen fühlte sie, daß sie dort hin gehört, - daß sie ein Teil dieser Wirklichkeit ist, - aber hier, - hier fühlte sie sich irgendwie fehl am Platz, noch dazu, wo sie überhaupt nicht registriert wurde.
Nachdem sich Maria damit abgefunden hatte, daß sie für diese Manola nicht sichtbar ist, wagte sie einen Blick auf den Monitor. Sie erschrak jedesmal, als sie las, daß sich diese Manola über dem Computer mit Kim unterhielt. Es war lustig, diese Gespräche zu lesen, - und vor allem lustig, die Reaktion dieser Manola zu beobachten. Beinahe war Maria, als ob sie das selbe fühlen würde, wie diese Frau vor dem Computer. Und es war ihr auch vollkommen klar warum das so war, denn diese Frau war das Ungeborene, das, was so oft aus ihr sprach und was sie früher, bevor sie Kim kannte, nie gefühlt hatte. Diese Frau wäre eigentlich ihre und Kims Tochter, - eben das Ungeborene, das nie Gezeugte.
Maria fühlte Traurigkeit von dieser Manola ausgehen und blickte in diesem Moment auf den Bildschirm. Manola gab Kim zu verstehen, daß er gar nicht wirklich existiert, - daß er nur in ihrem Kopf existiert.
Maria bemühte sich abermals um Kontakt. Sie hämmerte mit den Fäusten auf die Tastatur, durch Manolas Finger hindurch, und dann auch durch die Tastatur. Zu gerne hätte sie ihr gesagt, daß Kim wirklich existiert, daß er wirklich zu ihr spricht, nämlich genau das, was sie in seinem Namen eintippt.
Aber dann wurde sie verunsichert, denn sie blickte auf die Ordner, welche auf dem Couchtisch lagen. Da lag einer, auf dem seitlich „Kim 12.Buch“, „Die Rebellen“ usw. stand. Maria konnte durch den Ordner die beschriebenen Seiten sehen und erkannte die selbe Geschichte, die Kim ihr erzählt hatte. Jetzt wurde ihr klar, mit welchem Kim sich diese Manola unterhielt. Aber seltsam, er hatte den selben Humor, sogar die selbe Ausdrucksweise, wie „ihr“ Kim, vor der sie anfangs ebenso schockiert war, wie diese Manola, sich aber schon lange daran gewöhnt hatte.
In diesem Moment des Traums überkam Maria ein kurzer Zweifel. Den „anderen“ Kim kannte sie ja nur aus ihren Träumen, - aber sie war sich gar nicht mehr so sicher, ob das wirklich ein anderer Kim war, denn sie war ja auch Maria, immer die selbe Maria, obwohl sie sich plötzlich in einem anderen Leben befand, das ihr aber ebenso klar erschien wie das, was sie ihrer Meinung nach wirklich lebte. In ihren Träumen, ihrem anderen Leben, konnte sie Kim so nahe sein, wie sie sich das eigentlich auch in ihrem wirklichen Leben wünschte. Sie liebten sich genauso leidenschaftlich, wie Kim ihr darüber erzählt hatte. Und erst jetzt konnte sie diese einmalige Liebe wirklich verstehen. Nur eines konnte sie noch immer nicht verstehen, - was all diese Träume zu bedeuten haben?
Und genau in diesem Moment hörte ihr Traum jedesmal auf. Diesmal hatte sie ihn zum sechsten Mal geträumt. Schon das erste Mal wollte sie Kim danach fragen, aber er wehrte immer ab und vertröstete sie auf später. Das selbe tat er bei den anderen Träumen, wo sie ein anderes Leben lebte durfte, - ein Leben, nach dem sie sich eigentlich sehnte.
In manchen Träumen war sie nur Beobachterin, - und nun, erst jetzt wurde ihr bewußt, daß die Landschaft in einem Traum, wo sie nur Beobachterin war, die selbe war, als die in ihrem immer wiederkehrenden Traum. Sie hatte Kim damals zwar wieder erkannt, aber dadurch, daß er stets mit „seltsames Wesen“ angesprochen wurde, war sie etwas verunsichert.
Diesmal war Kim bereit zu reden.
„Du möchtest wohl wissen, was deine Träume bedeuten?“ fragte er mit listigem Blick, als sich Maria zu ihm aufs Bett setzte.
„Das möchte ich schon lange, wie du sicher auch weißt. Vor allem möchte ich wissen, was dieser Traum, den ich jetzt schon zum sechsten mal geträumt habe, bedeutet. Es ist wirklich immer wieder der selbe Traum. Warum bin ich zuerst in dieser Landschaft und dann plötzlich in einem Zimmer, in dem eine Frau, die wie Manola aussieht, vor dem Computer sitzt und die haargenau die selbe Geschichte schreibt, die du mir erzählt hast? Und warum unterhält sie sich mit dem anderen Kim via Computer? Und - ist das überhaupt ein anderer Kim? Bist das vielleicht du?“
Kim wiegte seinen Kopf nachdenklich hin und her.
„Das ist eine sehr knifflige Frage. Die Frage meine ich, ob es überhaupt einen anderen Kim gibt“, sagte er sehr langsam und betonte dabei jedes Wort ganz genau.
„Diese Frau schrieb, daß Kim nicht wirklich existiert, - daß er nur in ihrem Kopf existiert, - daß sie ihn gewissermaßen erfunden hat“, sagte Maria.
„Oh!“ rief Kim erstaunt aus, aber Maria spürte sofort, daß sein Erstaunen nur gespielt war, denn er setzte auch wieder diesen listigen Blick auf. „Und du meinst, wenn etwas nur im Kopf existiert, ist es nicht wirklich existent?“
„Davon bin ich sogar überzeugt. Das, was im Kopf existiert, sind Gedanken oder Phantasien. Erst wenn man diese Gedanken in Realität umsetzen kann, ist es Wirklichkeit. Ich meine das so“, sagte Maria wichtigtuerisch und blickte Kim an, ob er ihr wohl aufmerksam zuhört. „Früher haben die Menschen den Gedanken gehabt, daß sie einmal fliegen können, und heute ist dieser Gedanken schon lange Wirklichkeit. Der Himmel ist beinahe genauso verkehrsreich geworden wie unsere Straßen.“
„Das leuchtet mir ein“, sagte Kim und tat dabei sehr interessiert, als ob er sich von Maria belehren ließ.
„Und was ist mit der Phantasie?“ fragte er nach einem kurzen Seufzer.
„Nun, Märchen oder Phantasiegeschichten wie Gordon sie heraus bringt, haben mit der Wirklichkeit nichts zu tun, sonst würde es ja nicht Phantasie heißen.
Übrigens, wo ich eben Gordon erwähnte, - er fragte mich gestern, ob deine Geschichte noch weiter geht. Deine Fans dürsten nach mehr, Kim.“
„Bringe morgen das Tonbandgerät mit“, sagte Kim kurz angebunden.
„Gibt es wieder etwas Neues?“ fragte Maria.
„Einige kürzere Geschichten, - dann kommen die Gespräche.“
Bei Maria funkte es sofort.
„Meinst du damit die Gespräche zwischen Kim und dieser Frau, die wie Manola aussieht?“
Kim nickte stumm.
„Warum habe ich diese Träume, Kim?“ fragte Maria leise.
„Weil du für die linke Bewußtseinsseite bereit bist.“
„Für was?!“ fuhr Maria auf.
„Es sind die restlichen 97% des menschlichen Bewußtseins. Das nenne ich die linke Bewußtseinsseite. Aber ich glaube, das wirst du erst verstehen, wenn ich genug über die Gespräche gesagt habe.
Sag mir jetzt, ob du glaubst, daß Märchen und Phantasiegeschichten nicht Wirklichkeit sind.“
„Natürlich sind sie keine Wirklichkeit“, sagte Maria schnell.
„Dann glaubst du also auch, daß Kim ebenso nur Märchen und Phantasie ist?“
„Was sonst? Du bist der einzige wirkliche Kim, aber der andere, der Retter des Universums, ist ein Produkt deiner Phantasie. Er ist eine Romanfigur, sonst nichts.“
Kim seufzte, schüttelte seinen Kopf und sah Maria dann ziemlich abschätzend an.
„Nach all dem, was du bis jetzt erlebt hast, kannst du wirklich so etwas sagen? Nein, ich fasse es nicht, Maria“, sagte er in einem sehr ärgerlichen Ton.
„Was habe ich denn erlebt?“ fragte Maria leicht eingeschüchtert.
„Das fragst du mich? Wer war denn erstaunt, als ich dich mit geschlossenen Augen beschrieben habe, - dabei etwas, wie dein Muttermal, genau beschrieben habe, obwohl ich es nicht wirklich sehen konnte?“
„Das könnte Zufall sein, Kim“, sagte Maria schnell.
„Okay, - aber was war, als ich dich fragte, ob du das Leuchtende Wesen gesehen hast, als du von ihm geträumt hast? Was war mit dem Bettler? Oder hast du das alles als vollkommene Tatsachen aufgenommen? Und wie erklärst du dir, daß ich von deinem ersten Bild weiß, welches du als erstes für deine erste Ausstellung ausgesucht hast? Du erinnerst dich doch, oder nicht? Herzen haben keine Geschlechtsteile. Wir beide standen draußen in der Halle vor dem Bild deines Großonkels.“
Maria war zu verwirrt, um nachdenken zu können.
„Hast du mit diesen Träumen etwas zu tun? Ich meine, hast du sie mir geschenkt, so wie in deiner Geschichte Kim Maggie, der Haushälterin, einen Traum geschenkt hat?“
Kim lachte laut auf.
„Gut, daß es diese Gespräche gibt“, sagte er dann leise.
„Welche Gespräche?“ fragte Maria noch immer total verwirrt.
Nein, eigentlich war sie gar nicht verwirrt, - sondern eher vollkommen nüchtern, - so nüchtern wie es ein Mensch nur sein kann. Nur nüchterne Menschen denken nicht nach, - zumindest nicht auf die übliche Art der Menschen. Ich will nicht sagen, es wäre besser, alles einfach und ohne nachzudenken hinzunehmen, - aber ich spreche hier ja nicht über die übliche Wirklichkeit, sondern über andere Wirklichkeiten, und eben diese andere Wirklichkeiten kann man nur ohne nachzudenken hinnehmen, denn sie sind absolute Tatsachen, die sich einfach nicht erklären lassen, nicht mit Worten, nicht mit unseren Sprachen. Sie liegen jenseits der Sprache, jenseits aller Worte.
„Die Gespräche zwischen Kim und der, - wie du sie nennst, - Frau vor dem Computer.“
„Und warum ist es gut, daß es sie gibt?“
„Weil alles klarer wird. Nun, vielleicht wird es für die meisten Menschen noch komplizierter, - aber für uns beide, so fühle ich zumindest, wird dadurch vieles aufgeklärt.
Diese Bücher, auf die ich deiner Meinung nach stolz sein müßte, sind nur ein Abklatsch, - sie sind nur ein winziger Teil von dem, was wirklich passiert ist. Oder meinst du, Kim kämpfte wirklich mit Luzifer persönlich?“
„Du bist so sprunghaft, Kim. Du erklärst nichts fertig. Du gehst zu schnell von einem Thema zum anderen und läßt dabei alles offen. Was ist mit meinen Träumen? Sie sind nun von dir, oder nicht?“
„Sie sind genauso wenig von mir, wie auch Maggies Traum nicht von Kim war. Das sind Kraftgeschenke, Maria. Kein Mensch kann einem anderen wirklich etwas schenken, denn kein Mensch besitzt etwas, was er verschenken könnte.“
„Moment!“ fuhr Maria auf. „Ich habe dir letzte Weihnachten ein Goldkettchen geschenkt. Was das etwa nichts?“
Kim lachte abermals auf, und Maria war leicht gekränkt. Kim bemerkte das natürlich sofort und legte ihr tröstend seinen Arm um die Schultern.
„Du nimmst dich noch immer viel zu wichtig“, sagte er sanft. „Ich will dich nicht kränken. Ich weiß, daß ich das auch nicht getan habe, - und das solltest du ebenso wissen. Was dich kränkte, waren deine selbstgefälligen Gedanken.
Glaube mir, Maria, kein Mensch besitzt etwas. Und wenn er meint, daß er sehr wohl etwas sein Eigentum nennen kann, dann ist er ein Narr, denn das ist nichts anderes als Illusion. Das könntest du Märchen oder Phantasie nennen.“
„Ich habe dieses Goldkettchen gekauft, - und in dem Moment, als ich es bezahlt habe, war es mein Eigentum. Was, bitte, soll hier Illusion sein?“
„Ach, - diese Tausch- und Kaufgeschäfte sind eine uralte Sache. Das alles geht genauso schnell vorüber wie ein Gedanke, der sich ja auch ständig ändert.
Du mußt das Ganze sehen, Maria, - vor allem das Wesentliche.
Aber okay, bleiben wir vorerst in realistischen Gebilden, wie du das nennen würdest. Ein Beispiel: Du meinst jetzt, dieses Goldkettchen ist mein Eigentum, weil du es mir geschenkt hast. Ja?“
Maria nickte stumm.
„Wird es immer mein Eigentum bleiben?“ fragte Kim.
„Natürlich!“ sagte Maria schnell. „Was ich einmal geschenkt habe, das bleibt auch geschenkt. Außerdem verschenke ich sicher nicht sehr oft etwas, - und wenn, dann tu ich es vollkommen überlegt. Du weißt, ich schenke nur Menschen etwas, die ich sehr gerne habe. Du warst übrigens der einzige, dem ich letzte Weihnachten etwas geschenkt habe.“
Kim grinste etwas frech.
„Darum geht es nicht, Maria. Denke daran, was mit dem Goldkettchen passiert, wenn ich sterbe.“
„Ich würde dafür sorgen, daß du es mit ins Grab bekommst. So würde es dir für die Ewigkeit gehören.“
Kim lachte wieder auf.
„Das dachten die Ägypter damals auch, - und sieh dir mal die Grabschänder an, was sie mit all den Schätzen getan haben. Aber auch darum geht es nicht, Maria. Meinst du vielleicht, mein Körper, der begraben wird, ist alles von mir? Meinst du, mein Körper ist mein gesamtes Selbst?
Maria, ich habe keinen Körper, - ich bestehe aus Kopf und Händen, - und bald wird auch das nicht mehr vorhanden sein.“
Maria schüttelte lachend ihren Kopf.
„Das ist doch Schwachsinn“, rief sie noch immer lachend aus. „Es weiß doch jeder, daß man Reichtum nicht wirklich mit in den Tod nehmen kann. Genauso nackt wie man geboren wird, muß man die Erde wieder verlassen. Aber jetzt, Kim, - jetzt bin ich Eigentümerin eines Hauses, von sehr viel Geld und wertvollen Wertpapieren. Gesetzmäßig steht mir das alles zu, - und das ist nun mal Realität.“
„Ich wußte, daß du das sagst“, meinte Kim und lächelte kurz sein sanftestes Lächeln. „Deshalb sagte ich doch, daß es besser ist, wenn wir uns anfangs in realistischen Gebilden aufhalten.“
„Was war daran falsch? Was war falsch an dem, was ich eben sagte?“ fragte Maria kampflustig.
„Nichts, absolut nichts für einen Menschen, der sich bloß in diesen 3% des menschlichen Bewußtseins aufhält. Für dich aber, von der ich weiß, daß sie bereits weit darüber hinaus ist, war es ein kläglicher Tiefschlag.“
Maria sah Kim verständnislos an.
„Ich sagte schon mehrmals, daß ich zwischen den anderen Menschen draußen und mir keinen Unterschied feststellen kann“, begann sie entnervt. „Ich verhalte mich genauso wie sie, was man von dir nicht behaupten kann. Du läßt dich noch immer nicht von anderen berühren. Jedesmal wenn sie dich waschen, machst du ein Affentheater, dabei wollen sie dir gar nichts antun, - ganz im Gegenteil, sie meinen es nur gut mit dir. Und was ist mit Essen? Manchmal ißt du drei Tage lang absolut nichts, - und wenn sie dich füttern wollen, machst du wieder ein Drama daraus. Sie tun dir nicht weh, aber wenn du tobst und herum schreist, ist es ganz klar, daß sie dich etwas fester anpacken müssen. Aber das müssen sie, solange du nicht vernünftig wirst.
Ich bin nicht wie du, Kim. Ich lebe nicht hier, wie du und wie mein Großonkel es getan hat. Ich kann mich auf den Straßen frei bewegen, - du aber nicht. Und der Großteil der Menschen kann sich auf den Straßen frei bewegen. Ich gehöre zu diesen Menschen, Kim. Ich bin nicht wie du. Verstehst du? Und ich werde auch niemals so sein wie du, selbst wenn ich jede Nacht diese verrückten Träume habe.
Du lebst in einer Traumwelt, - in einer Welt, die es nicht wirklich gibt. Du siehst Dämonen und geflügelte Wesen. Wer sieht so etwas schon? Die da draußen sicher nicht, - und ich auch nicht. Demnach befinde ich mich genauso in diesen 3%, wie du das nennst. Und glaube mir, das genügt mir vollkommen. Ich will nicht mehr, - ich will keine Dämonen und keine geflügelten Wesen sehen. Und - verdammt noch mal, - ich will diese Träume nicht mehr!“
Maria war ganz außer sich. Den letzten Satz schrie sie sogar wütend heraus, daß sogleich zwei Pfleger zur Tür herein schauten.
„Es ist alles okay“, sagte sie erschöpft, und die Pfleger gingen wieder.

Maria atmete tief durch und wischte sich mit beiden Händen übers Gesicht.
„Es tut mir leid“, sagte sie leise, - doch ganz hatte sie sich noch nicht beruhigt. „Verdammt, ich weiß nicht, warum du es ausgerechnet auf mich abgesehen hast“, sprach sie weiter, aber diesmal etwas mehr unter Kontrolle. „Aber eines sage ich dir, - ich laß mich von dir nicht verrückt machen. Du verwechselst da nämlich etwas, Kim. Ich bin es hier, die sagt, was Sache ist, - nicht du. Bei mir stimmt alles, - nur bei dir sind einige Schrauben locker. Und damit du es weißt, - ich wollte dir wirklich helfen aus diesem verdammten Irrenhaus heraus zu kommen, - aber es scheint hoffnungslos zu sein.“
Abermals fuhr sie sich mit beiden Händen übers Gesicht.
„Aber wozu sage ich das überhaupt? Verdammt, warum vergeude ich meine Zeit mit dir?“
Erst jetzt wagte sie einen Blick zu Kim, der ihr völlig ruhig und auch aufmerksam zugehört hatte.
„Verstehst du das auch, was ich eben gesagt habe, - oder drehst du bald durch, wie du es schon mal gemacht hast, als ich dir etwas ähnliches gesagt habe?“
Kim schwieg einen Moment. Er schien zu überlegen, aber er blickte Maria offen und klar in die Augen.
„Klar verstehe ich, was du sagst“, sagte er dann sanft und leise. „Du fragst dich hier, wer von uns beiden wirklich verrückt ist. Und ich fühle, daß du die Antwort nicht wirklich kennst, weil es dafür keine wirkliche Antwort gibt. Du bist es, die nicht versteht. Du verstehst nicht einmal deine eigenen Worte.
Ja, wenn du dich nach dem sozialen Verhalten und den sozialen Gesetzen der Allgemeinheit hältst, liegt die Antwort klar und deutlich vor dir. Aber auch hier kann ich fühlen, daß du bereits an allem Sozialen und vor allem an dieser konstruierten Gesellschaft da draußen zweifelst. Warum sonst würdest du dich so aufregen. Zweifel regen immer auf. Ist es nicht so? Fast scheint es mir, daß du jetzt eben zwischen zwei Stühlen hängst, wie man so schön sagt. Du weißt noch nicht, wo du wirklich stehst. Ich hingegen habe den Vorteil, daß ich es weiß. Egal, nenne mich einen Verrückten, - aber ich stehe dazu. Du hingegen weißt noch immer nicht, wo dein Platz wirklich ist.“
Maria mußte dreimal hintereinander tief durchatmen, sonst wäre sie aus der Haut gefahren. Und dann besann sie sich. Sie erinnerte sich daran, daß sie Kim schon einmal als den einzig wahren Menschen bezeichnet hatte. Auf einmal war sie hin und her gerissen, - ja, sie fühlte sich wirklich, wie in der Mitte auseinander gerissen, wie zwischen zwei Stühlen hängend, wie Kim das genannt hatte. Es war beinahe wie damals, als sie zum ersten Mal diesen Kampf in sich fühlte. Nur diesmal war es noch ärger, - so arg, daß sie sogar Angst verspürte und sich fragte, ob sie nicht wirklich langsam verrückt wird.
„Glaube mir, niemand ist wirklich verrückt“, sprach Kim ruhig und klar weiter. „Ich will auch nicht sagen, daß die Gesellschaft Schuld an allem hat, - daß aus ihr all diese Verrückten entstehen. Aber ich kann sagen, daß sie Verrückte schafft, indem sie über Menschen urteilt und sie in verschiedene Schubladen steckt. Ich denke, in der ersten Schublade stecken die Regenten. Aber wer schafft die Regenten, wenn nicht das Volk, indem es sie akzeptiert? Wie, das ist egal, - auch ein Widerwille kann den Anschein des Akzeptieren ausdrücken. In der zweiten Schublade stecken die Hüter der Gesellschaft. Darunter verstehe ich diese Menschen, welche für Gesetz, für Wirtschaft, für Medizin, für Schulwesen und Ausbildung und all dem Zeug verantwortlich sind. Auch das wird abermals akzeptiert und einfach hingenommen, weil man anscheinend keine Alternative kennt, - oder zumindest nicht den Mut zu einer Alternative hat. Es ist die Bequemlichkeit, die Gewohnheit, die das verhindert. Die nächste Schublade beinhaltet eine etwas niederere Klasse, - man nennt sie Beamte, - die sogenannten Schriftführer, Angestellten und Sekretäre. Sie halten alles fest, - die Geburtenkontrolle, die Familien, alle Statistiken, wie auch den Tod, - einfach alles, weil alles niedergeschrieben und kontrolliert wird.
Dann kommen die ewig Fleißigen, die sogenannten Arbeiter, die wohl die schwerste Arbeit für die Gesellschaft verrichten und dabei sehr schlecht und von oben herab behandelt werden. Wahrscheinlich sehen sie sich gar nicht als Teil der Gesellschaft, weil sie ja nur für die Gesellschaft arbeiten und kaum einen Nutzen daraus ziehen können. Aber wer sieht sich schon als Teil der Gesellschaft? Die nächste Schublade wohl am wenigsten, denn sie werden die Asozialen genannt, - sie sind der Abschaum, die Bettler, die Alkohol- und Drogensüchtigen, die Kranken, darunter auch die geistig Kranken. Sie alle können nichts für die Gesellschaft tun. Am besten wäre es in diesem Fall, wenn man diese Schublade ein für alle mal ausradieren würde.
Und jetzt sag mir, wer das alles wirklich bestimmt? Kannst du hier der Gesellschaft die Schuld geben? Oder ist es einfach nur die Art, wie über Menschen bestimmt und geurteilt wird? Aber wer bestimmt? Wer steckt sie in die verschiedenen Schubladen? Jeder sagt: wir nicht! Und jeder sagt: wir sind nicht die Gesellschaft, das sind die anderen. Aber welche anderen? Wer sind die anderen?
Weißt du, daß ich keine Antwort darauf habe? Wenn sie auch sagen, daß wir hier die Verrückten sind, so kann ich von meiner Warte aus das selbe über sie sagen. Aber das tu ich nicht, Maria, denn ich zweifle nicht mehr, schon lange nicht mehr. Ein berühmter Philosoph sagte einmal: Bei gleicher Umgebung lebt doch jeder in einer anderen Welt. Und wer kann hier schon sagen, welcher von diesen Jeden verrückt ist?“
Maria wußte nicht, was sie darauf sagen sollte. Auf keinen Fall wollte sie Kim recht geben, denn so war es schon lange nicht mehr. Heute könnte es jeder Mensch zu etwas bringen, wenn er nur will, - zumindest in ihrer Zivilisation. Und Direktoren unterhalten sich genauso mit Arbeiter wie mit ihresgleichen. Klar, es gibt überall Hochnäsige, aber heutzutage ist es nicht mehr so kraß wie zu früheren Zeiten, als Arm und Reich sich aus dem Weg gingen und sogar streng getrennte Gebiete bewohnten.
All diese Gedanken gingen Maria durch den Kopf, aber sie konnte und wollte sie nicht aussprechen.
„Das ist auch gut so“, sagte Kim plötzlich, aber Maria war keineswegs überrascht.
„Ich weiß, dir geht es gar nicht darum, ob sich ein höher gestellter Mensch mit einem Arbeiter unterhält oder nicht, - oder ob sich der eine oder der andere ein besseres Leben macht. Das alles ist für dich bedeutungslos, weil das alles mit dem eigentlichen Leben nichts zu tun hat. Habe ich recht?“ sagte sie leise und etwas erschöpft.
Kim nickte nur stumm.

Am nächsten Tag hatte Maria das Tonbandgerät wieder mit. Die Geschichte über Tibor war schnell erzählt, und Maria verstand ein bißchen, was Kim unter einer wahren Gesellschaft verstand, wo es kaum noch diese Schubladenspiele gab. Sie wurde auch hellhörig, als sie von Tibors Träume hörte und fand eine Parallele zu ihrem Leben heraus. Auch er lebte seine wahre Liebe nur in seinen Träumen aus, genauso wie sie. Nur in ihren Träumen, wenn sie die andere Maria sein durfte, war sie Kim nahe, nur hier durfte sie seinen Körper an ihrem spüren, durfte sie seine außergewöhnliche Liebe erfahren.
Gordon war glücklich über die nächsten Geschichten, welche Maria in den nächsten drei Monaten zu ihm in den Verlag brachte.
Maria horchte auch auf, als Kim über das „seltsame Wesen“ und all die anderen Geschichten erzählte, die sie ja von ihren Träumen bereits kannte. Aber sie war nicht mehr überrascht, - sie hatte sogar gewußt, daß Kim diese Geschichten erzählen wird. Nur konnte sie sich dieses Wissen nicht erklären.
Selbst die Gespräche kannte sie schon zum Teil aus ihren Träumen, - auch wußte sie, wer diese Frau vor dem Computer ist, - aber daß sie auch „Manolas Tagebuch“ schrieb, war doch eine Überraschung für sie.

„Wie beide sind doch Kim und Maria“, sagte sie, als sie an diesem Tag (es war bereits kurz vor Mitternacht) das Tonbandgerät eben ausgeschaltet hatte. „Wir beide sehen auch so aus wie Kim und Maria, bloß leben wir ein anderes Leben. Irgendwie komme ich nicht ganz klar damit, Kim. Ich verstehe das mit den Dimensionen, - das mit den sechs Dimensionen der Erde, aber ich verstehe hier unsere Rolle nicht. Kim gibt es nur einmal, nur in einer, nämlich der sechsten Dimension der Erde, - genauso Maria, die in einer Dimension sterben mußte, um mit Kim auf die Leuchtende Welt gehen zu können. Ich verstehe auch, daß Manola, ihre Tochter, mehrmals in den Dimensionen existiert, da sie ein Mensch ist wie alle anderen. Aber auch hier verstehe ich nicht, warum Manola bei uns nicht anzutreffen ist. In welcher Dimension existieren wir, Kim? Und wo ist Manola?“
„Manola ist das Ungeborene, das Nichtgezeugte. Sie kann nicht hier sein“, sagte Kim und blickte Maria tief in die Augen. „Aber sie ist trotzdem in dir, genauso wie sie in mir ist, bloß ist sie nie gezeugt und nie geboren. Denke an die Frau aus deinen Träumen. Fühlst du nichts?“
Maria überlegte kurz, dann sagte sie:
„Jedesmal wenn ich im Traum bei ihr bin, scheint mir, daß ich das selbe fühle wie sie. Ich weiß auch schon vorher, was sie schreiben wird, - bevor sie die Worte eintippt. Übrigens ist es nicht mehr der selbe Traum, wenn ich von ihr träume. Ich bin jetzt sofort bei ihr und sehe ihr beim Schreiben zu. Ich weiß auch immer, was Kim antworten wird. Aber ich kann nicht sagen, warum und woher ich das weiß.
Ist sie wirklich Manola? Und warum träumte ich vorher immer von dieser seltsamen Landschaft, von diesem Regenbogen, diesen beiden Städten, diesen Kuppeln und diesen menschenähnlichen Wesen, mit weißem, langen Haar und von zarter, aber hoher Gestalt?“
„Sie ist Manola, - aber in einer anderen Dimension, in der wo Kim und Maria nicht existieren, denn Kim und Maria existieren nur in der sechsten Dimension. Aber diese Manola, wie auch die Manola in der sechsten Dimension, was ja ein und dieselbe Person ist, ist nur ein kleiner Teil der Ganzheit ihres Selbst. Die Ganzheit ihres Selbst existiert in einer dieser beiden Städte, in einer dieser Kuppeln. Deshalb hat dein Traum damals immer hier begonnen.“
„Ist Manola nicht auch hier unsere Tochter?“ fragte Maria scheu.
„Wie könnte sie das?“ sagte Kim bezaubernd lächelnd. „Man könnte fast sagen, daß es sich hier umgekehrt verhält. Wir sind ihre Kinder.“
Maria starrte Kim mit großen Augen an.
„Ihre Kinder?“ fragte sie verblüfft nach.
„Ich sagte, man könnte es so nennen, obwohl das natürlich nicht der Wahrheit entspricht.
Was meinst du? Sitzt diese Manola jetzt auch vor dem Computer, - oder macht sie etwas anderes?“
„Sie ist doch nur ein Traum“, sagte Maria leise, fast wie zu sich selbst.
„Und du meinst, wenn du aufwachst, wenn dein Traum endet, existiert er nicht mehr? Du meinst, diese Landschaft, diese Manola vor dem Computer, existiert nur in deinen Träumen und sonst nirgendwo? Und du meinst, wenn du aufwachst, gibt es all das nicht mehr?“
Maria sah Kim noch immer verblüfft an.
„Nun, Maria? Was meinst du?“ fragte Kim etwas ungeduldig. „Glaubst du nicht, daß du bloß ein sogenannter Besucher dieser anderen Wirklichkeiten bist? Und daß diese anderen Wirklichkeiten auch dann noch existieren, wenn du aufgewacht bist? Daß dieses Leben in den anderen Wirklichkeiten auch ohne dein Beobachten weiter geht?“
„Dafür kann niemand Beweise haben“, sagte Maria mit belegter Stimme.
„Ist es für dich nicht Beweis genug, wenn du davon träumst und ich dir deine Träume erzähle, ohne daß du mir vorher etwas darüber erzählt hast?“
„Du kannst Gedanken lesen, das ist es. Und das ist noch lange kein Beweis.“
„Ich kann nicht Gedanken lesen“, unterbrach Kim scharf. „Niemand kann Gedanken lesen. Hier geht es einzig und allein um Kraft, - darum, was dich die Kraft erkennen läßt.“
„Kim konnte auch Gedanken lesen“, sagte Maria.
„Nein, - auch das war nur die Kraft, die ihm alles erkennen ließ. Kim erkannte das gesamte menschliche Bewußtsein und in ihm auch alle Gedanken, alle Träume, alle Phantasien. Das war es, Maria. Und alle verbindet das menschliche Bewußtsein, egal wie viel wir davon erkennen.“
„Und du meinst, wenn wir einen Großteil vom menschlichen Bewußtsein erkennen, können wir Gedanken lesen?“ fragte Maria.
Kim wiegte seinen Kopf zuerst hin und her, aber dann nickte er stumm. Er wußte, daß er es nicht mehr besser erklären konnte.
„Warum sagte Kim dann, daß er Gedanken, die nicht gelesen werden wollen, nicht lesen kann?“ fragte Maria.
„Weil sein Herz nun mal so beschaffen war und ist. Kim ist tolerant, - sein Herz besteht aus Liebe. Aber das heißt nicht, daß ein anderer daraus Geschäfte macht. Die Kraft flieht vor Eigennutz, - sie hat keinen Platz, wenn sich das Ich aufbauscht. Also kannst du getröstet sein, - kein Mensch, dem die Kraft zugetan ist, wird deine Gedanken durch den Schmutz ziehen, oder einen Nutzen daraus ziehen.“
„Nun gut, dann ist es eben die Kraft. Aber was willst du mir mit all dem sagen, daß alles, was und wovon ich träume, auch dann noch existiert, wenn ich schon lange erwacht bin?“ fragte Maria.
„Daß es umgekehrt genauso ist“, sagte Kim lächelnd. „Diese Frau vor dem Computer, diese Manola, ist unsere Autorin. Sie schreibt über uns, genauso wie sie die Bücher, deren Geschichte ich erzählte, geschrieben hat, - wie sie über die Gespräche geschrieben hat und wahrscheinlich noch schreiben wird, wenn ich nicht mehr bin und sie demnach auch nicht mehr weiter erzählen kann.
Aber warte, bis ich dir über die nächste Buchbeschreibung der beiden erzählt habe. Vielleicht verstehst du es dann besser. Übrigens, ich weiß, daß es dieses Buch auch in unserer Wirklichkeit gibt.“
„Welches Buch?“ fragte Maria.
„Es heißt - Sofies Welt - und handelt eigentlich über Philosophie.“
„Seltsam“, sinnierte Maria. „Die anderen Bücher, worüber diese Manola und Kim sich unterhalten haben, gibt es bei uns nicht. Das selbe betrifft die Musik. Kims Musik gibt es bei uns nicht, obwohl auch in unserer Wirklichkeit viel Musik gemacht wird. Warum ist das so? Leben wir in einer vollkommen anderen Dimension, die mit den sechs Erddimensionen nichts zu tun hat?“
„Dimensionen, wie unsere hier, gibt es unzählige. Und doch sind sie genauso real, wie die sechs Erddimensionen, - wie alle anderen Dimensionen, Welten, Universen und Wirklichkeiten. Oder fühlst du dich nicht als vollständiger, lebender, real existierender Mensch?“
„Das tu ich! Das tu ich in der Tat! Ich bin! Ich existiere!“ rief Maria spaßhalber triumphierend aus.
„Unsere Autorin ist sich dessen aber nicht ganz sicher“, sagte Kim grinsend. „Sie glaubt, wenn sie zu schreiben aufhört, hören auch wir und unsere Umwelt zu existieren auf. Sie glaubt, mit uns passiert nur das, worüber sie schreibt. Sie scheint nicht zu wissen, daß wir eigentlich viel mehr erleben. Selbst mit Kim geht es ihr genauso, obwohl sie ihm die Multidimensionalität sozusagen gegeben hat, wo sie selbst nicht mehr weiß, wo er sich nun wirklich aufhält und welcher Teil wirklich mit ihr kommuniziert.“
„Und was hat das alles mit dem Buch - Sofies Welt - zu tun?“
„Lies es, dann werde ich weiter erzählen“, sagte Kim und lächelte ihr aufmunternd zu.

Schon am nächsten Tag fuhr Maria in die Stadt zum nächsten Buchladen. Aber dort sagte man ihr, daß man von diesem Buch noch nichts gehört hat. Die Verkäuferin schaute auch in der Liste der Neuerscheinungen nach, - ebenfalls nichts.
Maria suchte mindestens zehn Buchläden auf, aber in keinem hatte man je von diesem Buch etwas gehört.
Hatte Kim ihr etwa einen Streich gespielt? Ziemlich verärgert fuhr sie, nach drei Stunden, aus der Großstadt heraus, um geradewegs zum Sanatorium zu fahren. Sie war jetzt so richtig in der Stimmung, um Kim gehörig ihre Meinung zu sagen. Ja, sie war diesmal wütender als je zuvor. Jetzt fühlte sie sich sogar in der Lage, ihm zu sagen, daß sie nie wieder zu ihm kommen wird, - daß ihr seine Welt und all die anderen Wirklichkeiten wirklich zum Halse heraus hängen und sie nichts mehr über sie wissen will.
Kurz bevor sie in die Straße zum Sanatorium einbog, fiel ihr am Wegrand ein kleines Häuschen auf, - und das zum ersten Mal, obwohl sie diese bereits in- und auswendig kannte. Sie parkte ihren Wagen am Straßenrand und ging ein paar Schritte zurück zu diesem Häuschen, das ganz aus Holz gebaut war, - eine Art Blockhaus, wie sie es in dieser Gegend noch nie gesehen hatte. Es paßte einfach nicht hier her, fand Maria. Es war ein ziemlich kleines Häuschen, - vielleicht wie ein Gartenhäuschen oder ein Geräteschuppen, welches nur aus einem einzigen Raum bestand.
Maria stand nun direkt vor der Tür. Ja, es war ein winziges Häuschen, - höchstens zwei Meter hoch, mit einem flachen Holzdach, - und die Fläche dürfte wohl kaum mehr als sechs Quadratmeter messen. Es hatte auch keine Fenstern, - das stellte Maria fest, als sie um das Häuschen herum ging und wieder vor der geschlossenen Tür stand. Klopfen hätte keinen Sinn gehabt, denn die Holztür war genauso massiv wie die Wände. Man würde das Klopfen innen nicht hören. Außerdem schien es leer zu stehen, denn wer würde sich um diese Zeit schon in einem Holzhäuschen aufhalten?
Aber plötzlich öffnete sich die Tür und ein alter Mann, mit langem, weißen Haar blickte freundlich lächelnd heraus und winkte Maria stumm herein. Der Anblick dieses Mannes versetzte Maria in eine seltsame Stimmung. Sie fühlte sich nicht direkt so, als ob sie träumen würde, aber es war diesem Zustand sehr ähnlich, bis auf die Tatsache, daß sie wußte, daß sie wach war und eben noch mit ihrem Wagen diese Straße entlang gefahren war. Sie wußte auch, daß sie eben noch in der Stadt war und von Buchladen zu Buchladen gelaufen war. Sie nahm auch das hier vollkommen bewußt wahr, ohne darüber nachdenken zu müssen.
Dieser alte Mann, mit seinem unheimlich dichten, schneeweißen Haar, welches ihm weit über die schmächtigen Schultern reichte, sein trotz des Alters schönes Gesicht, mit unverkennbar indianischen Zügen, seine seltsame Kleidung, - ein orangefarbenes Leinenhemd, bis zu den Knien lang, mit gestickten Borten an den Seiten, die wohl auch indianisch gemustert waren, - knöchellange, weiße Leinenhosen und an den Füßen Mokassins, - dann der Raum, der durch unzählige Kerzen am Boden, auf den Regalen an den Wänden und auf dem Tisch, der mitten in diesem Raum stand, hell erleuchtet war, - das alles nahm Maria mit einem einzigen, kurzen Blick wahr, der wohl kürzer war als eine Sekunde. Sie sah auch ein Buch mitten auf dem Tisch liegen. Instinktiv ging sie zum Tisch, nahm das Buch vorsichtig, um sich nicht an den Flammen der vielen Kerzen zu brennen und las den Titel: Sofies Welt. Auch das passierte so klar und vollkommen bewußt und nüchtern, ohne, wie gewohnt, denken zu müssen.
Zwei Sessel standen um den Tisch. Auf einem setzte sich Maria, auf den anderen der alte Mann, der Maria noch immer freundlich und stumm zulächelte.
Maria schlug das Buch auf, das ziemlich dick war, und begann zu lesen. Sie wußte nicht warum, trotzdem schien es ihr klar zu sein, daß sie nur hier an diesem Ort lesen konnte, - daß es dieses Buch wirklich nur an diesem Ort gab und sie es kaum mitnehmen oder kaufen konnte. Ihr war auch bewußt, als sie zu lesen begann, daß es unheimlich schnell ging. In wenigen Minuten hatte sie bereits mehr als hundert Seiten gelesen und dabei das Gelesene klarer denn je aufnehmen konnte. Auch war dieses Lesen etwas ganz anderes, als was sie bisher gewohnt war. Maria fühlte sich fast in diese Welt, in Sofies Welt, hinein versetzt. Sie befand sich nicht mehr in dieser kleinen Blockhütte, neben dem alten Mann, sondern wirklich direkt in Sofies Welt. Es war als ob sie in einem Film mitspielen würde, der realer war als die ihr bekannte Wirklichkeit.
Nachdem sie das Buch innerhalb kürzester Zeit gelesen hatte, legte sie es wieder auf den Tisch zurück, - genau auf den Platz, wo es gelegen hatte. Der alte Mann erhob sich beinahe gleichzeitig mit Maria vom Sessel und ging zur Tür, um sie für sie zu öffnen. Maria lächelte ihm schweigend zu und verließ das Haus.
Je näher sie zum Auto kam, um so mehr ließ ihr gesteigertes Bewußtsein, das sie vor kurzem noch empfunden hatte, nach. Als sie in den Rückspiegel blickte, war das Häuschen nicht mehr da. Maria drehte sich entsetzt auf ihrem Sitz um und starrte auf den leeren Platz, wo das Blockhäuschen gestanden hatte. Aber das Entsetzen dauerte nicht lange. Sie mußte plötzlich lachen und fühlte sich dabei sehr wohl. Sie dachte dabei an Kims Geschichte, als er ihr über Louanne und die Pelzmütze erzählt hatte, die sie einem Mann aus der Zukunft abgekauft hatte. Auch dieser Laden verschwand so plötzlich, wie er gekommen war. Maria dachte auch an das Gespräch zwischen Kim und Louanne, als keine Zeit vergangen war. Kim hatte dieses Erlebnis in dem Buch „KIM 2“ erzählt. Sie blickte auf ihre Armbanduhr. Etwa um 8 Uhr war sie in die Stadt gefahren, - dort brauchte sie etwa drei Stunden, also mußte es zwischen 11 und 12 Uhr gewesen sein, als sie auf dieser Straße stehen geblieben und in das Blockhäuschen gegangen war. Dort, ihrem Zeitgefühl nach, mußten abermals gute drei Stunden vergangen sein. Nein, das ist unmöglich, - dachte Maria, - in drei Stunden konnte sie niemals ein so dickes Buch ausgelesen haben. Aber wozu überlegte sie eigentlich? Ihre Armbanduhr machte ihr ohnehin einen Strich durch diese Rechnung. Sie zeigte nämlich genau 8 Uhr, - zeigte genau den Zeitpunkt an, als sie am Morgen ihr Haus verlassen hatte. Trotz allem blieb sie ruhig. Ihre Uhr kann ja auch kaputt gegangen sein. Deshalb blickte sie auf die Autouhr an der Armatur. 8 Uhr!
Maria stieß ein kurzes, hysterisches Lachen aus und faßte sich an die Stirn. Jetzt konnte nur mehr einer helfen, und das war Kim, - dachte sie und wurde bei diesem Gedanken nur noch mehr verunsichert. Ausgerechnet ein Verrückter sollte ihr das alles erklären können? Aber wer sonst? Das alles hier war ja auch mehr als verrückt, - also kann nur ein Verrückter etwas Verrücktes erklären. Würde sie Steven ihr Erlebnis anvertrauen, würde man sie wohl sofort in die Geschlossene bringen, - und Steven würde recht haben, indem er sich um Maria Sorgen machte.

Als Maria im Sanatorium eingelassen wurde, fiel ihr Blick sofort auf die Uhr an der Wand. Auch sie zeigte an, daß es nur wenige Minuten nach 8 war. Sie konnte es kaum erwarten, endlich bei Kim zu sein. Der Pfleger, der sie auf die Geschlossene brachte, spürte ihre Unruhe, aber er schwieg.

Kim schien sie bereits zu erwarten. Er hockte lächelnd, im Türkensitz, auf dem Bett. Noch bevor sich Maria zu ihm setzte, begann er zu sprechen.
„Ich weiß, du hast viele Fragen, Maria, - aber sie können nicht beantwortet werden. Es gibt keine Erklärungen dafür. Du hast eine andere Wirklichkeit erkannt, - das ist alles.“
„Du manipulierst mich, - du manipulierst mein Gehirn“, stieß Maria völlig fertig hervor.
„Und du weißt, daß das nicht wahr ist, Maria. Geh in dich und fühle, - und dann sag mir, daß du das selbst nicht glaubst.“
„Ich weiß nicht mehr, was ich glauben soll und was nicht, Kim. Ist das Blockhäuschen jetzt weg, oder ist es immer noch dort? Und kann ich es jetzt nicht mehr sehen?“
„Alles ist immer da, Maria, - alles was war, alles was ist, und alles was sein wird“, sagte Kim lächelnd.
„Warum ist es so plötzlich verschwunden? Warum konnte ich es nicht mehr sehen?“ fragte Maria wie gehetzt.
„Es ist nicht wirklich verschwunden. Anscheinend war es nicht mehr notwendig, daß du es siehst. Die Kraft hat es dir im rechten Moment gezeigt, als es eben notwendig war. Übrigens, wie gefiel dir das Buch?“
Maria schüttelte verwirrt ihren Kopf.
„Ich bin noch nicht klar im Kopf, Kim. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Das Buch, - ja, - es hat mich sehr fasziniert. Ich habe noch nie in meinem Leben so schnell ein Buch ausgelesen. Stell dir vor, - die Zeit ging rückwärts. Ich wurde wahrscheinlich, als ich las, gute sechs Stunden jünger“, sagte Maria und lachte kurz verzweifelt auf.
„Ja, das mit der Zeit ist wirklich ein Problem für die Menschen“, sagte Kim und seufzte.
„Sag mal, ist dir der alte Mann nicht bekannt vorgekommen?“ fragte er dann.
„Ich weiß es nicht. War er vielleicht mein Großonkel?“ fragte Maria, ohne zu wissen, was sie da wirklich gesagt hatte. Das heißt, im Grunde genommen wußte sie sehr gut, was sie da eben halb als Frage, halb als Feststellung, gesagt hatte, aber es geschah nun mal nicht mit ihrer gewohnten Wahrnehmung.
Kim sagte nichts, - er sah sie nur prüfend an.
„Ja, der alte Mann war mein Großonkel, - obwohl mein Großonkel nie so langes Haar hatte“, sagte sie und lachte dann über ihre, wie ihr plötzlich schien, banale und bedeutungslose Feststellung. Kim hatte in ihren Träumen ja auch langes Haar, - zumindest meistens.
„Er hat aber kein Wort mit mir gesprochen“, sagte sie und blickte Kim erwartungsvoll an.
„Oh! Ihr beide habt euch sogar köstlich amüsiert und unterhalten. Ihr habt beide sehr viel gelacht“, sagte Kim, - und genau das hatte Maria erwartet, trotzdem verneinte sie es kopfschüttelnd.
„Doch! Ihr habt euch unterhalten, - nur hast du es nicht bewußt wahrgenommen, weil du zu sehr mit dem Buch beschäftigt warst“, sagte Kim wie selbstverständlich.
„Du meinst, wir tun mehrere Dinge gleichzeitig, ohne uns dessen bewußt zu sein?“ fragte Maria und war sich nicht ganz sicher, ob sie diese Frage auch ernst meinte.
„Genau das will ich damit sagen“, stellte Kim lächelnd fest. „Alles geschieht gleichzeitig, - alles was scheinbar war, ist und sein wird. Und bis uns dies bewußt wird, - bis wir dies bewußt wahrnehmen können, was aber nur Schritt für Schritt geschieht, - so lange existieren wir scheinbar in Zeit und Raum. Das heißt, erst wenn uns bewußt wird, daß wir zwei Dinge gleichzeitig tun können, - daß wir uns ebenso gleichzeitig auf zwei verschiedenen Orten aufhalten, beginnen wir langsam die Illusion von Zeit und Raum zu überwinden.
Ich glaube, das war die beste Erklärung für die Gleichzeitigkeit.“
„Obwohl das Wort - Gleichzeitigkeit - verfälscht ist?“ fragte Maria.
„Wie willst du es sonst nennen? Was könnte Unendlichkeit und Endlichkeit sonst überwinden?“
Maria zuckte mit den Achseln.
„Ich weiß es nicht. Es ist so schrecklich unvorstellbar für mich, daß ich jetzt nicht nur bei dir hier auf dem Bett sitze, sondern viel mehr tue, was mir aber nicht bewußt ist.“
„Dir war auch nicht bewußt, daß du an diesem Morgen sofort zu mir gekommen bist, - daß du dich mit mir unterhältst, wobei du gleichzeitig in London bist und von Bücherladen zu Bücherladen irrst und später am Straßenrand vor einer Blockhütte hältst, mit deinem Großonkel kommunizierst und ein Buch ausliest. Vergiß dabei, in welcher Zeitform ich spreche, denn alles passiert ständig und immer wieder, - alles was scheinbar war, ist und sein wird.“
Maria sah Kim fast entsetzt an.
„Du meinst, jetzt eben sitze ich nicht nur neben dir, sondern bin gleichzeitig in London in verschiedenen Buchläden und ebenso im Blockhäuschen bei meinem Großonkel?“
„Wie willst du dir sonst erklären, daß es noch immer kurz nach 8 Uhr ist, wie du vor kurzem entsetzt festgestellt hast? Ich habe es in deinen Augen gesehen, als du zur Tür herein gekommen bist. Du aber erkennst das alles noch immer nicht bewußt.“
„Verdammt noch mal! Warum bist du hier?“ fragte Maria verzweifelt. „Warum ist ein Mensch wie du in so einem Haus?“
„Ich bin nicht nur in diesem Haus, Maria“, sagte Kim sanft und leise. „Wir alle müssen verschiedene Schicksale erleiden und ebenso viele Lebensstadien durchleben. Was uns davon bewußt ist, das ist vollkommen bedeutungslos, solange wir uns nicht makellos verhalten und alles als Tatsachen akzeptieren, ohne zu klagen.“
Maria lachte kurz auf.
„Du bist mit deinem Themenwechsel immer viel zu schnell“, sagte sie etwas lauter. „Ich habe noch nicht einmal das erste halbwegs begriffen, schon kommst du mit dem nächsten. Du scheinst wirklich zu viel um die Ohren zu haben.
Sag mir zuerst dieses: warum erlebe ich diese Erlebnisse eines nach dem anderem, obwohl es gleichzeitig passiert? Immerhin müßte mir jetzt bewußt sein, daß ich jetzt bei dir, in London und bei meinem Großonkel im Blockhäuschen bin? Warum erkenne ich diese Gleichzeitigkeit nicht bewußt? Meinem Gefühl nach bin ich jetzt nur bei dir.“
„Der einzige Grund, den ich dir dafür nennen kann, ist, daß du zuwenig Kraft in dir hast. Du zögerst und zweifelst noch immer viel zu viel. Du nimmst dich zu wichtig. Laß dich fallen, und vor allem, laß alles fallen, woran du bis jetzt festgehalten und geglaubt hast. Das Wahre wirst du ohnehin nie verlieren können, - egal, was du tust.“
„Und was ist das Wahre?“ fragte Maria seufzend.
„Das einzige, was wir wirklich besitzen können“, sagte Kim.
„Meinst du das Herz, - die Ganzheit unseres Selbst, von dem wir bloß ein kleiner Teil sind?“
Kim nickte stumm.
„Aber dann ist es doch egal, ob wir uns fallen lassen, oder nicht, weil wir ja doch immer ans Ziel kommen.“
„Es gibt kein Ziel“, sagte Kim.
„Klar, - der Weg ist das Ziel“, sagte Maria resigniert, aber sie sprach sogleich etwas munterer weiter. „Wenn wir also die Fähigkeit haben, uns bewußt zu sein, daß wir uns an verschiedenen Orten und in verschiedenen Zeiten gleichzeitig aufhalten, kommen wir unseren Herzen näher. Und wenn wir dann wirklich alles bewußt wahrnehmen und erkennen, löst sich logischer weise unser falsches Zeit- und Raumgefühl auf, weil es in Wirklichkeit nur die sogenannte Gleichzeitigkeit gibt.
Das würde bedeuten, daß ich wahrnehmen könnte, daß es weder Anfang noch Ende gibt, - daß ich schon immer existiert habe und auch immer existieren werde. Ich würde alles sein, - alles in der Quelle der Kraft. Ich würde die Glückseligkeit selbst sein und darüber hinaus die Ewigkeit aller Universen fühlen, sie selbst sein, - denn ich bin Eins mit der Quelle der Kraft.
Ich erinnere mich jetzt an meinen letzten Traum, als ich bei der Frau vor dem Computer war. Sie tippte ein wunderschönes Gedicht ein, - nein, es war eigentlich kein Gedicht, - es waren philosophische, eigentlich metaphysische Gedanken.“
„Ich weiß“, unterbrach Kim mit sanfter, weicher Stimme. „Einsam sich selbst überlassen steht er in der weiten Welt, er hat kein eigenes Zeitalter, an das er anknüpfen kann, denn seine Vorzeit ist noch nicht gekommen, keine Nachzeit, auf die er.....“
Maria lauschte gebannt diesen Worten. Sie erinnerte sich auch an den Namen dieses Philosophen, dessen Namen Kim nach seiner Rezitation aussprach. Er wurde auch in dem Buch „Sofies Welt“ erwähnt.
Plötzlich, ohne ein Wort mit Kim darüber gewechselt zu haben, packte sie das Tonbandgerät aus ihrer Tasche, das sie immer mit sich trug, und schaltete es ein. Sie hatte gefühlt, daß Kim nun mit seiner Erzählung über die Gespräche weiter machen wird. Und dann erkannte sie auch den Sinn, warum sie dieses Buch lesen mußte.

Maria konnte sich den Erfolg Kims Bücher nicht erklären, - auf jeden Fall schlug eines nach dem anderen ein, daß sie sofort vergriffen waren. Nur Kim war dieser Erfolg noch immer einerlei.

„Weißt du nun, warum ich sagte, daß man sagen kann, daß wir gewissermaßen die Kinder dieser Autorin sind, - die Kinder der Frau vor dem Computer, die ja eigentlich Manola ist?“ fragte er eines Tages.
„Ja, jetzt weiß ich es. Aber sie schreibt nicht über alles, was wir tun. Oder doch?“ fragte Maria.
„Nein, das tut sie nicht. Und genauso verhält es sich, wenn du träumst. Dein sogenannter Traum geht weiter, obwohl du schon lange erwacht bist.
Weißt du, selbst wenn diese Manola nicht über uns schreiben würde, würden wir existieren.“
„Natürlich würden wir das! Was für eine Frage!“ sagte Maria schnell.
„Warum bist du dir dessen so sicher?“ fragte Kim mit listigem Blick. „Glaubst du denn auch, daß Märchenfiguren wirklich existieren?“
„Normalerweise müßte ich jetzt mit - nein - antworten“, sagte Maria lächelnd. „Aber durch die Gespräche habe ich bis jetzt mitbekommen, daß nichts erfunden werden kann, sondern nur entdeckt. Und das Entdecken findet nun mal auf verschiedenen Bewußtseinsebenen statt. Was Märchen und Phantasie betrifft, so strömen uns durch die Kraft diese Wirklichkeiten zu, die wir fälschlicherweise Märchen und Phantasie nennen, weil wir keine Beweise für ihre Wirklichkeit haben. Für uns findet das alles bloß in unseren Köpfen statt. Diese Wahrnehmung ist wohl auch der Grund für diese Worte wie etwa Märchen und Phantasie. Nun, und dann rühmen wir uns, ebenfalls fälschlicherweise, obwohl wir alleine, ohne Kraft, zu nichts fähig sind, daß wir eine Supergeschichte erfunden haben. Nein, der Mensch alleine ist wirklich nichts, - erst durch die Verbindung mit allem erblüht er mitten im Leben und erkennt das Ganze. Man müßte das ja schon an der Nahrungsaufnahme erkennen.
Ja, alles ist real, - es gibt keine Unterschiede mehr, - alles ist wie es ist, - alles ist Eins.“
„Gut!“ lobte Kim lächelnd. „Jetzt hast du die Theorie erkannt. Aber jetzt kommt das Schwierigste, nämlich die Praxis.“
„Die Praxis?“
„Natürlich! Reden kann jeder, - aber leben, sozusagen danach handeln, - das schafft nicht jeder. Du mußt diese Theorie jetzt in die Praxis umsetzen. Und wie gesagt, - ich weiß, daß du die Kraft dazu hast. Damals warst du dieser Aufgabe schon sehr nahe, als du die Blockhütte deines Großonkels erkannt hast. Aber dann bist du wieder in deinen alten, jämmerlichen Bewußtseinszustand zurück gefallen und hast dich gehen lassen.“
„Du meinst, ich könnte das Blockhäuschen wieder finden? Etwa an der selben Stelle?“
„Zeit und Raum sind bedeutungslos, Maria. Es gibt keinen Ort, den du wieder finden könntest, - denn dieser Ort ist überall. Ebenso gibt es keine Zeit, die du wieder finden könntest. Es gibt keine wirklichen Zeitreisen, denn auch die Zeit ist überall, - sie ist die Gleichzeitigkeit.
Die Blockhütte deines Großonkels ist überall, Maria.
Erinnere dich, mit welchem Gefühl du es gefunden hast, - aber schenke diesem Gefühl nicht die ganze Bedeutung. Du weißt ja nun durch die Gespräche, was Gefühle wirklich bedeuten.“
Maria dachte nach. Ja, sie erinnerte sich, daß sie damals ziemlich wütend war, weil sie glaubte, Kim würde sie zum Narren halten.
„Es geht nicht um deine Wut, Maria, - denn es ist nicht einfach, ohne Grund wirklich wütend zu werden, - das ist sogar schier unmöglich, obwohl es nichts Unmögliches gibt. Dein Gefühl muß wahr sein, - du mußt es richtig anlocken können und es bewußt ausleben. Das ist keine einfache Sache.“
Maria nickte. Sie verstand, was Kim meinte, - und das war wirklich nicht einfach. Irgendwie mußte sie die Kraft anlocken, - aber wie?
„Ich könnte dir dabei helfen, - aber ich weiß, daß du auf den selben Trick nicht mehr herein fallen wirst. Also müßte ich mir etwas besseres ausdenken.“
„Welchen Trick hast du denn damals angewendet, um mich wütend zu machen?“ fragte Maria etwas lauernd.
„Das weißt du doch!“ sagte Kim forsch. „Du warst in mehreren Buchläden, weil ich sagte, daß es dieses Buch gibt. Aber ich wußte, daß es dieses Buch nicht wirklich hier gibt. Du verstehst, was ich mit - nicht wirklich - meine. Nun, und ich wußte auch, daß du dich deswegen ziemlich ärgern wirst und dich dieser Ärger dem linken Bewußtsein näher bringen wird.“
„Dann hast du mich ja doch manipuliert!“ sagte Maria wütend.
„Das habe ich sicher nicht, - ich habe dir nur geholfen. Glaube mir, dieser Trick würde bei den meisten Menschen fehl schlagen, weil sie zuwenig Kraft haben. Du hattest genug Kraft, - trotzdem reichte diese Kraft noch nicht aus, um das zu erkennen, was du erkennen solltest. Also versuchte ich es mit deiner Wut, - und das hat ja auch funktioniert. Die Kraft war dir abermals zugetan. Du hast gefühlt, wie sie in dich strömte, - deshalb, und nur deshalb wurdest du wirklich wütend. Deine Wut auf mich alleine wäre unbegründet gewesen, - und das weißt du ebenso. Du hast dich nun mal darauf eingelassen, in die Stadt zu fahren, um dieses Buch zu kaufen. Du hast mir geglaubt. Du warst es, welche gehandelt hat, nicht ich, - also trägst du die gesamte Verantwortung und hättest demnach nicht auf mich, sondern auf dich selbst wütend werden müssen. Aber darum geht es ja nicht, - es geht rein um die Kraft, die dir abermals zugetan war.“
Maria sah Kim erstaunt an.
„Dann war ich also wirklich in London, - in all diesen Buchläden?“ fragte sie etwas lauter.
„Natürlich warst du das! Du kannst jetzt noch nach London fahren und all diese Verkäufer fragen. Sie werden sich an dich erinnern. Dann hast du auch den Beweis, daß ich dich nicht belüge.
Und genauso wirklich warst du in der Blockhütte bei deinem Großonkel und hast dich mit ihm unterhalten, während du ein dickes Buch ausgelesen hast.
Was soll diese Frage? Du müßtest doch selbst wissen, was du erlebt hast und was nicht. Oder wirst du langsam verrückt, - mein Mädchen?“
Nach all diesen Jahren sagte er das erste Mal - mein Mädchen. Marias Herz klopfte wild nach diesen zwei Worten, daß sie alles andere vergaß. Ihr war, als ob in ihr selbst alles überlief, als ob ihr Körper zu eng wurde, weil ihr Innerstes plötzlich überwog. Das Äußere war nicht mehr wichtig, - nichts war mehr wichtig, - nur diese beiden Worte, die nur er, er ganz alleine, so wunderbar zärtlich aussprechen konnte. Das bedeutete ihr mehr als die Liebesakte in ihren Träumen, als die zärtlichen Liebeserklärungen des „anderen“ Kims, der ja im Grunde genommen der selbe war. Maria verging in diesen beiden Worten,- sie löste sich in ihnen auf.
Aber das war nicht alles, was Maria empfand. Sie erinnerte sich plötzlich an dieses glasklare Gefühl von damals, als sie zum Blockhäuschen ging, wo ihr alles viel bewußter erschien. Jetzt schien dieses Gefühl noch stärker zu sein, denn ihr war alles viel bewußter, viel klarer.
Selbst Marias Augen schienen mehr wahrzunehmen als damals, als sie mit einem extrem kurzen Blick die gesamte Umgebung aufnehmen konnte. Ja, alle ihre Sinneswahrnehmungen waren mehr gesteigert als damals in der Blockhütte.
Und obendrein wußte sie ganz genau, woran das lag. Kim hatte einen neuen Trick angewendet, der in ihr ein so heftiges Gefühl auslöste, mit dem es ihr möglich war, ganz tief ins linke Bewußtsein vorzudringen. Sie war aber nicht gekränkt, daß es nur ein Trick war, denn das war es ja nicht, - auch das wußte sie. Bedeutungslose, gespielte Tricks waren immer wirkungslos, das wußten beide, Kim und Maria. Also bedeuteten diese beide Worte - mein Mädchen - viel mehr als alles andere, als jeder noch so innige, menschliche Liebesakt. Sie waren nicht nur wahr, nicht nur eine sehr, sehr tiefe Liebeserklärung dieses Verrückten, - sie überstiegen jede Bedeutung, die in der Vorstellungskraft jedes Menschen liegen. Es waren wohl auch keine Worte mehr, - es war etwas Unerklärliches, - etwas zu Tiefes, um erklärt werden zu können.
Maria schloß kurz ihre Augen vor Glückseligkeit und atmete tief durch. Als sie ihre Augen wieder öffnete, war sie keineswegs überrascht, daß ihr gegenüber der alte Mann, mit dem weißen, langen Haar stand. Sie erkannte auch den Raum des Blockhäuschens wieder, - aber gleichzeitig nahm sie wahr, daß sie genauso in Kims Zimmer, im Sanatorium, auf dem Bett neben Kim, saß und er sie glücklich anlächelte.
Was dann geschah, konnte sie sich kaum erklären. Sie wollte es auch nicht erklärt haben, weil sie wußte, daß es dafür keine Erklärung gab. Sie konnte sich plötzlich gleichzeitig mit Kim und ihrem Großonkel unterhalten, wobei sie für beide ihre Worte genau formulierte. Aber es war nicht die gewohnte Sprache, - es war viel mehr ein Gefühl des Sprechens, selbst als sie die Erwiderung der beiden wahrnahm, hörte sie nicht wie gewohnt die Worte und die Stimmen. Alles drang viel tiefer in ihr ein, viel bewußter. Lügen hätten in diesem Bewußtseinszustand keinen Sinn, denn jetzt würde sie alle und alles durchschauen, denn jetzt drang sie zum Wahren durch, mit dem sie förmlich eins wurde.
Jetzt verstand sie, warum Kim ohne körperliche Liebe leben konnte, warum er sich nicht nach dieser Art von Zärtlichkeit sehnte, denn diese Art von Gefühlsaustausch drang tiefer als alles andere.
Maria konnte sich keine höhere Glückseligkeit vorstellen. Selbst bei ihrem Großonkel, diesem wunderschönen, alten Menschen, der gerade durch sein Alter, durch sein übermächtiges Wissen diese Schönheit in sich trug, fühlte sie ebenso diese totale Einheit, als er und Kim miteinander kommunizierten. Es war eine Kommunikation, die keine Zeit und keinen Raum mehr zuließ.
Maria empfand keine Eifersucht, denn hier gab es keinen Dritten, - hier war alles Eins. Sie war gleichzeitig an zwei verschiedenen Orten, unterhielt sich gleichzeitig über unzählig viele Themen, und nebenbei las Maria viele Bücher aus, die ihr der Großonkel gab, und die sie brennend interessierten, da sie zu Kims Geschichte gehörten.
Maria wußte, daß sie das alles nur scheinbar so empfand, - das mit den verschiedenen Orten und unzähligen Themen und ebenso das Bücherlesen. Sie wußte, daß sie von der Ganzheit ihres Selbst noch weit entfernt war, denn noch immer befand sie sich in Zeit und Raum. Wie sonst hätte sie feststellen können, daß es verschiedene Orte und Themen sind? Es gibt ja keine Unterschiede, keine Zeit, keinen Raum. Aber es war schon ein großer Erfolg für sie, gleichzeitig zwei verschiedene Erlebnisse auf einmal wahrzunehmen. Sie wußte, daß der erste Schritt der Praxis getan war, - obwohl, und auch das wußte sie tief in ihrem Inneren, es keinen ersten und ebenso keinen letzten Schritt gibt. Alles ist Eins, alles ist in ihr, obwohl es auch kein Außen und kein Innen gibt, denn es gibt ja keinen Raum.
Ganz langsam ließ dieser Bewußtseinszustand nach. Maria wäre gerne noch länger geblieben, - noch gerne länger so vollkommen eins mit Kim gewesen, obwohl sie auch eins mit ihrem Großonkel war. Aber das fühlte sie nicht so, denn gleichzeitig fühlte sie ja auch, daß sie mit allem und jedem eins ist, jedoch ihr Herz schenkte die größte Bedeutung dem Einssein mit Kim.
Nicht nur Maria fühlte diese bedingungslose Liebe, - auch Kim wurde sie gewahr, der sie ja schon viel länger in seinem Herzen trug, aber diesmal durfte er sie zusammen mit Maria fühlen.
Maria war nun nicht mehr die selbe, - nichts war mehr so wie es einmal war. Nein, eigentlich hatte sich nichts verändert, denn die Welt, wie Kim immer sagte, sei vollkommen okay. Nein, sie hatte nur erkannt.
Am nächsten Tag, als Maria ins Sanatorium kam, staunte sie nicht schlecht. Seit langem sah sie Kim in der Halle, in „seiner“ Ecke am Boden hocken. Er war umgeben von Besuchern, die Maria hier noch nie gesehen hatte. Und noch mehr staunte sie, als sie hörte, wie sich Kim mit diesen Besuchern unterhielt. Auch die Ärzte und Pfleger, welche wie sie abseits standen, wunderten sich über Kims plötzliche Veränderung.
„Wenn man ihn so sieht, könnte man meinen, er würde in wenigen Tagen entlassen werden“, sagte Perry, Marias liebster Pfleger, mit dem sie sich gerne unterhielt und der meistens Nachtdienst hatte, - der sie nach Mitternacht immer aus dem Sanatorium ließ, wobei sie dann am Tor oft länger als eine halbe Stunde plauderten.
Von Perry könnte man meinen, er wäre selbst ein Patient. Es war nicht nur sein Aussehen, obwohl seine Augen wie irre blickten. Sie waren ziemlich groß, beinahe kugelrund, - und rund um die Iris konnte man immer das Weiße sehen, als ob Perry ständig starren würde. Maria brauchte ziemlich lange, bis sie Perry in die Augen sehen konnte, ohne das Lachen verhalten zu müssen. Jetzt liebte sie diesen irren, starren Blick fast und auch seine plötzlichen, fahrigen Bewegungen, die sie anfangs immer erschreckt hatten. Perrys Hände waren meistens in Bewegung, - mal kratzte er sich mitten am Kopf, dann wieder am Ohr, mal auf der Nase, - und all das passierte unheimlich plötzlich, mit einer sehr schnellen Bewegung zum jeweiligen Ziel. Auch seine Gangart war ziemlich außergewöhnlich, - vor allem sehr steif und ruckartig. Maria sagte einmal zu Kim, Perry wirke auf sie wie ein Roboter. Für Kim war Perry das „geflügelte Wesen“, das dem Menschsein schon etwas näher war, als all die anderen. Kim hatte keine Angst vor Perry, selbst wenn er sich Kim ganz näherte, wurde er nicht nervös. Perry berührte ihn auch nie, denn er akzeptierte Kims Berührungsängste, - und er litt sehr mit Kim, wenn er zusah, wie man ihn wusch, rasierte und sein Haar schnitt.
„Vielleicht wird Kim gesund“, sagte Maria nach Perrys Feststellung.
„Ich habe heute von einem Arzt gehört, daß sie Kim nach unten verlegen wollen“, sagte Perry. „Das soll übrigens schon heute passieren, - wegen der Besucher. Die Bücher haben für viel Aufwind gesorgt.
Das hier sind Studenten. Sie wollen sich mit Kim über Philosophie unterhalten. Sie finden seine Theorie sehr interessant.“
„Heißt das, es kommen noch mehr Besucher zu Kim?“ fragte Maria etwas besorgt.
Perry nickte ruckartig, und gleich darauf schnellte seine linke Hand zum linken Ohr, wo er sich kurz und schnell kratzte. Genauso schnell senkte er seine Hand wieder und steckte sie in seine Kitteltasche.
„Meinst du, daß das gut geht?“ fragte Maria.
„Wir werden sehen. Doktor Thompson, - ach, hier kommt er ja, - wollte warten, bis du da bist. Er möchte, daß du Kim darauf vorbereitest. Kim hätte es ja auch besser in der unteren Station, weil er jederzeit hinaus in den Park gehen könnte. Jetzt wo es bald Sommer wird, ist es herrlich draußen.“
Maria war sich nicht so sicher, - warum, das konnte sie sich nicht erklären. Sie hatte auch keine Zeit mehr dazu, Perry zu antworten, denn Steven war bereits bei ihr.
„Ich weiß, was du vor hast, Steven“, sagte sie, bevor er sie einweihen konnte. „Aber ich weiß nicht, ob das für Kim so gut ist.“
Steven lächelte überrascht.
„Kannst du jetzt auch schon Gedanken lesen wie Kim?“
„Nein“, sagte Maria und lachte kurz auf. „Perry hat es mir eben gesagt. Aber gut, - ich werde mein Möglichstes tun. Aber was, wenn Kim nicht will? Wird er dann dazu gezwungen?“
„So streng darfst du das nicht ausdrücken. Wir müssen es einfach einmal versuchen“, sagte Steven und blickte auf Kim und seine Besucher, mit denen er sich wirklich gut und auch klar unterhielt. „Schau doch! Warum kann er mit ihnen reden? Warum nicht auch mit uns?“
„Vielleicht geht ihr es verkehrt an?“ sagte Maria und wandte sich ab, um in Kims Zimmer zu gehen.
Steven fühlte ja schon länger, daß mit Maria etwas nicht stimmte. Er und Angela hatten irgendwie gehofft, in Maria eine neue Freundin zu finden, was anfangs auch gut ausgesehen hatte. Aber Maria sonderte sich mehr und mehr ab und war nur mehr für Kim zu sprechen - und höchstens noch für Perry, was Steven wirklich seltsam fand. Früher, wenn sie ins Sanatorium kam, meldete sie sich zuerst immer in seinem Sprechzimmer an, aber im letzten Jahr machte sie ihre täglichen Besuche stets mit Perry aus.
Nachdenklich blickte Steven ihr nach und überlegte, ob er nicht doch einmal etwas falsches zu ihr gesagt hatte. Er erinnerte sich, als er sie vor Kim gewarnt hatte, als er ihr sagte, daß sie von ihm anzieht und nicht er von ihr, um eine Heilung herbei zu führen.
Steven und Angela hatten Maria vom ersten Moment in ihr Herz geschlossen. Sie sahen in ihr nicht direkt eine Tochter, die sie nie gehabt haben, denn ihre Ehe war ja kinderlos, - aber doch fühlten sie sich für Maria irgendwie verantwortlich, denn sie waren es ja, die Maria dazu drängten, Kim zu helfen. Und jetzt, so schien es zumindest Steven und auch Angela, war diese Frau in etwas hinein geschlittert, aus dem sie ohne fachliche Hilfe nicht mehr heraus kam.

Maria setzte sich auf Kims Bett und wartete, bis er nach etwa einer Stunde lächelnd zu ihr kam.
„Was sollte diese Vorstellung eben?“, fragte sie aufgebracht, als er sich zu ihr setzte. „Kannst du nun plötzlich mit anderen Menschen reden?“
„Warum sollte ich nicht mit anderen Menschen reden können?“ sagte Kim arglos und lächelte noch immer.
„Weil du keine Menschen siehst. Was waren das eben für Wesen? Etwa geflügelte Wesen, - wie Perry?“ fragte Maria zynisch.
„Darum geht es nicht, Maria“, sagte Kim jetzt ernst und nahm zärtlich ihre Hand. „Wenn ich mich wirklich öffnen kann vor jemanden, - wenn mich jemand wirklich aufnehmen will, - dann bin ich bereit zu reden. Und das waren eben Wesen, die mich wirklich ernsthaft aufgenommen haben. Ihre Herzen sind ihnen schon sehr nahe. Sie sehen und fühlen Dinge, von denen wohl die meisten Menschen nicht einmal wissen, daß sie existieren.“
„So ist das also!“ fuhr Maria wütend auf. „Du verarscht also die ganze Welt. Du könntest, wenn du wolltest, mit jeden reden, aber du bist nicht gewillt, dich auf eine lockere Konversation einzulassen. Du willst sozusagen nur über dich reden, über deine Gedanken sprechen, - alles andere ist bedeutungslos für dich, - alles andere betrifft ja dich nicht. Weißt du was? Du bist ein verdammter Egoist!“
„Es ändert nichts daran, - egal, wie du mich nennst, Maria. Und worüber sollte ich sonst sprechen? Mir liegt nichts daran, wie das Wetter draußen ist, was der letzte modische Schrei ist und wie verrückt sich die Politiker aufführen, - oder was im Sport los ist usw. All das hat keine Bedeutung. Darüber zu reden ist nichts anderes als Energieverschwendung und ebenso Zeitvergeudung. Und glaube mir, ich kann auch gar nicht mehr darüber reden. Meine Welt ist viel zu groß. Sie ist total ausgefüllt und hat keinen Platz für lockere oder seichte Konversation.
Wir haben keine Zeit mehr dafür, Maria. Selbst wenn wir beide die Gleichzeitigkeit kennen, haben wir für solche Spielchen keine Zeit. Der Tod sitzt auf unseren Schultern und wartet schon auf den letzten großen Kampf. Wir müssen handeln, - makellos handeln, um das menschliche Bewußtsein zu durchbrechen.
Schau dich um! Alle Menschen tun so, als ob sie unsterblich wären, als ob sie Unmengen von Zeit hätten. Und was tun sie? Sie reden über das Wetter, regen sich über die Nachbarn auf, weil die den größeren Fernseher haben, - sie schimpfen auf die Politiker und - und - und. Aber was tun sie wirklich? Sag es mir! Vom reden läßt sich nichts verändern, - und man kann auch niemand und nichts verändern, man kann nur bei sich selbst anfangen. Aber tun sie das?
Diese paar Menschen, die eben bei mir waren, haben verstanden. Sie haben ihre Herzen zum Teil erkannt. Und wenn du dabei gewesen wärst, hättest du verstanden, warum ich mit ihnen Gespräche führe. Sie wissen, daß eine Veränderung nur dann stattfinden kann, wenn sie sich selbst erkennen, - wenn sie erkennen, daß es eigentlich kein Innen und kein Außen gibt.
„Du sollst verlegt werden“, sagte Maria plötzlich. „Nach unten, - in die erste Station, weil du dich sehr vorbildlich verhältst.“
Kim blickte Maria schweigend an.
„Nun? Was sagst du dazu? Wirst du dich unten alleine waschen?“
Kim sagte noch immer nichts.
„Nun, - mir soll es recht sein“, meinte Maria trocken. „Ausgerichtet habe ich es dir. Mehr liegt nicht in meiner Macht, wenn du nichts dazu sagst.“
Sie blickte Kim noch einmal fragend an, - dann stand sie auf und ging.

Steven erwartete sie draußen vor dem Tor, wo sie diesmal ihren Wagen geparkt hatte.
„Frag mich nicht“, sagte sie kurz angebunden, während sie in ihr Auto stieg. „Ihr werdet ja selbst sehen, wie er sich in der ersten Station verhält.“
Dann startete sie den Wagen und fuhr weg, ohne eine Antwort von Steven abzuwarten.

Es war nicht einmal Mittag, als sie an diesem Tag nach Hause fuhr. Sie war nicht auf Kim wütend, auch nicht auf die Menschen im Sanatorium, die sich noch immer Hoffnung auf Kims Genesung machten, - sie war viel mehr auf sich selbst wütend. Aber sie wußte auch, daß sie nicht anders reagieren hätte können, - nicht solange sie sich in dieser Welt befindet. Es mußte sich endlich etwas ändern, - SIE mußte sich ändern, denn sie wollte diese Scheißwelt endlich mit anderen Augen sehen. Sie wollte endlich das Wahre, das Wesentliche erkennen.
Ja, Kim hatte vollkommen recht. Sie war ja auch schon immer so, daß sie nie gerne über belanglose Themen sprach, - lieber hatte sie geschwiegen oder sich zurück gezogen. Kim war ja wirklich der erste Mensch, in dessen Gegenwart sie sich lebendig fühlte, in dessen Nähe sie endlich aus sich heraus gehen konnte, sage konnte, was sie fühlte, was sie dachte, ohne Angst haben zu müssen ausgelacht zu werden. Hier konnte sie endlich ehrlich sein, sie selbst sein. Und sie wußte auch, daß Kim es genauso hielt. Auch er war ehrlich und zeigte ihr sein eigentliches Herz.
Aber was unterschied sie noch immer so sehr von Kim, daß sie heute eine unüberwindbare Mauer zwischen ihm und ihr gefühlt hatte? Irgendwie wußte sie es ganz genau. Sie war noch nicht so konsequent wie er, - sie stand noch immer nicht so zu sich selbst wie er. Noch immer verleugnete sie sich selbst, wenn sie mit anderen Menschen sprach, - selbst wenn es nur kurze Gespräche waren, wie eben mit Steven, oder mit Perry, obwohl sie sich in Perrys Nähe gar nicht so unwohl fühlte.
Maria fühlte ja bereits, daß das keine wirklichen Menschen, sondern Dämonen waren, welche sie mit ihren Erklärungen in ihrer Welt gefangen halten wollen. Und wehe, sie würde ihnen ihre wahre Seite zeigen, - wehe sie drehte sich vor ihnen in diese andere Richtung, - nein, hier ist eine Einbahn, hier wird die Gesellschaft gebildet, und bist du nicht wie wir, dann hast du auch nichts mit uns zu schaffen. Dann wenden sie sich geziert ab und tun so, als ob sie dich nie gekannt hätten, - als ob es ihnen plötzlich peinlich wäre, mit so einer Person überhaupt gesprochen zu haben. Dann gibt es nur eines, nämlich eine Art Gehirnwäsche, - eine Art Therapie, um wieder für die Gesellschaft umfunktioniert zu werden.
Vielleicht waren diese, Marias, Gedanken übertrieben, vielleicht genauso übertrieben wie Kims Erklärung über die Schubladenspiele, - aber Maria fühlte trotzdem, daß hier ein großer Kern Wahrheit dahinter steckte.

In dieser Nacht schlief sie nicht besonders gut. Sie wußte auch warum. Sie hatte sich ja den ganzen Nachmittag nicht sehr wohl gefühlt. Sie fühlte Kims Herz, wie es neben ihrem schrie. Nein, er wollte ihre Hilfe nicht, er brauchte sie auch nicht, - es war nun mal seine Art, um die für ihn schlechten Kraftplätze abzuwehren. Und dieser Ort, wohin man ihn tagsüber brachte, war ein sehr schlechter Kraftplatz.

Steven erwartete Maria am nächsten Morgen schon vor dem Tor, als ob er seit gestern Mittag hier auf sie gewartet hätte. Er blickte ihr kopfschüttelnd entgegen.
„Es war eine Katastrophe! Es ist einfach unglaublich“, begrüßte er sie und ließ sie herein.
„Ist er wieder in der Geschlossenen?“ fragte Maria, während sie den üblichen Weg weiter gingen.
„Was sonst? Es hätte ja niemand auf der ersten Station schlafen können, - und die in der Geschlossenen bekommen ohnehin nichts mit, wenn einmal einer die ganze Nacht durchbrüllt.“
„Hat er das?“
„Ja, das hat er. Erst vor einer Stunde ist er ruhig geworden. Und jetzt sitzt er wieder in seiner Ecke und unterhält sich vollkommen normal, als ob nichts gewesen wäre, mit den Philosophiestudenten. Nur einer von denen mußte gehen, - laut Kim ist er ein Dämon.“
Maria lachte laut auf.
„Hat er das gesagt?“ fragte sie dann.
„Ja, - er winkte einen der Studenten zu sich herab und flüsterte ihm ins Ohr, daß er so lange nicht mit ihnen sprechen wird, solange dieser Dämon neben ihnen steht. Der Student blickte zu seinem Freund, der links von ihm stand, - zeigte mit dem Finger auf ihn und sah Kim fragend an. Kim nickte. Nun, ich mußte diesen jungen Mann hinaus lassen, erst dann sprach Kim mit den restlichen fünf Studenten.“
Maria lachte abermals und bedankte sich dann bei Steven, als er sie durch die Eisentür auf die Geschlossene ließ.

Maria hielt sich ein bißchen abseits von den Studenten und Kim, aber gerade noch so nah, um verstehen zu können, worüber sie sich unterhielten. Maria kam aus dem Staunen nicht mehr heraus, so gewählt drückte sich Kim aus. Es ging nicht nur um Philosophie und Metaphysik, sondern auch um verschiedene wissenschaftliche Theorien, die Kim genial widerlegte und auch sofort ebenso geniale, neue Theorien entwarf, was auch die Studenten verblüffte.
Maria könnte hier kaum etwas wiedergeben, was gesprochen wurde, - und ich muß zugeben, auch ich nicht, wobei es sich keineswegs um Dinge handelte, die keiner Erklärung bedurften. Man könnte diese Gespräche zwischen Kim und den Studenten, wo sich dann später auch zwei Professoren dazu gesellten, sehr gut erklären, aber wie gesagt, - wie Maria so fehlt auch mir das nötige Wissen.
Maria wartete dann immer in Kims Zimmer, bis die fünf Studenten und die zwei Professoren gegangen waren.

„Woher weißt du das alles? Wie kommt es, daß ein vollkommen ungebildeter Mann, der bloß ein Grundschulwissen hat, über solche Themen diskutieren kann, - und nebenbei, wie ich mitbekommen habe, neue, geniale Theorien aufstellen kann?“ fragte Maria einmal nach diesen Tagen.
„Das selbe hat mich einer der beiden Professoren auch gefragt“, sagte Kim lächelnd, aber ganz ohne Stolz.
„Und? Was hast du darauf geantwortet?“
„Daß ich keine neuen Theorien aufstelle, sondern aus der Erkenntnis heraus dieses Wissen schöpfe, - was mir dank der Kraft gelingt. All das, worüber ich spreche, erlebe, sehe und fühle ich. Es ist da, - es ist in meiner unmittelbaren Nähe. Wenn man die Kraft nur eindringen läßt, offenbart sich alles, was ein Mensch wissen kann.“
„Du meinst, das alles waren keine Theorien, sondern Wirklichkeit? Du willst also damit sagen, daß alles, was du uns erklärst, auch die Bücher, - die Wirklichkeit ist?“ fragte Maria etwas erschrocken.
„Du weißt selbst, daß es so ist“, sagte Kim. „Nur vergiß nicht, daß meine Wirklichkeit nicht deine ist, - aber trotzdem könnte man sagen, läuft alles auf das selbe hinaus.
Ich habe dir einmal einen Spruch eines Philosophen gesagt, nämlich daß bei gleicher Umgebung jeder in einer anderen Welt lebt. Ich will nicht behaupten, daß es sich im linken Bewußtsein noch krasser verhält, - es ist einfach eine andere Wahrnehmung, weil nun mal jedes Herz grundverschieden ist.
Schon Kim sagte, daß erst diese Tatsache das Universum so bunt macht. Würde jedes Herz gleich sein, - jedes Herz ein und das selbe, wäre das Universum keine Vielfalt, sondern ein Herz, - eben ein Herz wie alle anderen.
Hier scheint ein Widerspruch vorzuliegen, - da es auch heißt, daß es keinen Unterschied gibt. Aber man muß erst mal erkennen, was damit wirklich gemeint ist, - nämlich, daß das Universum so unvorstellbar bunt und vielfältig ist, weil jedes Individuum, wie der Name schon sagt, verschieden ist, weil sich in jedem Herzen eine andere Wirklichkeit erkennen läßt. Und eben dadurch hebt sich jeder Unterschied auf. Alles ist nichts - nichts ist alles.
Ich weiß, das klingt paradox, - aber wenn man von all diesen unzähligen, vielfältigen Wirklichkeiten weiß, kann man nichts mehr unterscheiden, weil alles nun mal so ist wie es ist.
Nur ein simples Beispiel: Wozu willst du einen Baum vom anderen unterscheiden? Der eine Baum ist eine Welt für sich, - und der andere ebenso. Hier läßt sich nichts unterscheiden, weil alles nun mal so ist wie es ist, egal wie du es benennst, egal, mit wem oder mit was du es vergleichst, unterscheidest. Der Unterschied ist niemals das Wesentliche, - denn das Wesentliche ist die Welt für sich. Und eben deshalb gibt es keine Unterschiede.
Übrigens, du hast mich nie gefragt, warum es mir in der ersten Station nicht gefallen hat“, sagte Kim plötzlich.
Maria war deswegen nicht überrascht.
„Ich habe gefühlt, daß dort unten kein guter Kraftplatz für dich ist“, sagte sie lächelnd. „Ich fühlte das, als ich damals ziemlich überstürzt nach Hause fuhr. Ja, ich fühlte deinen schweren Kampf, um dort unten deine Kraft nicht zu verlieren.“
„Wir waren eins in diesem Moment“, sagte Kim leise. „Du hast aber auch eine Mauer zwischen uns gespürt. Ja, es geht um Konsequenz, - aber nicht nur, denn vorwiegend geht es um Kraft.“
Kim machte eine kurze Atempause, ohne seinen Blick von Maria zu wenden.
„Ich möchte immer offen und ehrlich zu sein, Maria“, sprach er dann sanft weiter. „Und wir beide wissen, daß ich das auch bin, obwohl ich zweimal Tricks anwenden mußte, um dein träges Herz etwas zu bewegen. Nur - jetzt geht es nicht mehr mit Tricks, - mein Mädchen.“
Als er - mein Mädchen - sagte, lächelten beide verträumt.
„Jetzt kommt es nur mehr auf dich ganz alleine an“, sprach Kim wieder ernst weiter. „Mir bedeuten diese Studenten und Professoren nichts, obwohl ich nicht leugnen kann, daß die Unterhaltung mit ihnen sehr aufschlußreich war. Sie wären aber eher bereit mir zu folgen als du. Das ist es, was ich sagen will.“
“Wohin soll ich dir folgen, Kim? In den Wahnsinn?“ unterbrach ihn Maria mit gebrochener Stimme.
Sie wurde plötzlich traurig, hatte aber keine Erklärung dafür.
„Nenne es wie du willst, - Namen haben keine Bedeutung. Du kannst mich einen Verrückten nennen, - auch das hat keine Bedeutung, wie ich ja schon mal sagte.
Nun, ich sagte eben, diese Studenten bedeuten mir nichts. Trotzdem werden sie mir folgen, - das heißt, ich werde sie wieder sehen, - ich werde mit ihnen in die Gleichzeitigkeit eingehen. Wir werden das menschliche Bewußtsein durchbrechen und der Ganzheit unseres Selbst sehr nahe sein. Dein Großonkel wartet dort auf uns, - obwohl es kein Warten und auch kein Dort gibt. Manchmal spreche ich jetzt schon mit ihm, - das hast du übrigens auch schon zwei mal getan, wie du dich sicher erinnern kannst.
In der Geschichte, die ich über Kim und Maria erzählt habe, war es einfacher, weil Maria direkt von der Kraft ins Schicksal gestoßen wurde. Bei dir ist es anders, - du mußt dich selbst stoßen, - du mußt dich selbst überwinden, - du mußt loslassen, dich loslösen. Und dabei mußt du konsequenter werden, denn jedes seichte Gespräch mit Menschen, die ich lieber Dämonen nenne, wirft dich wieder zurück, und dann hast du alles vergessen.
Erinnere dich, als Maria in einer anderen Erddimension aus dem Koma erwachte, wie oft sie in Gefahr war, ihren Traum aufzugeben. Ich würde sagen, sie war eigentlich die wahre Maria. So hätte die ganze Geschichte beginnen müssen: Maria erwachte aus dem Koma und hatte in diesem Zustand eine andere Wirklichkeit, eine andere, sehr große Seite, in ihr entdeckt. Dann schreibt sie die Bücher und fühlt die Erinnerung, die keine ist.
Das wäre doch viel besser gewesen, - oder nicht?“
„Du willst mir doch etwas bestimmtes sagen, nicht wahr?“ fragte Maria interessiert.
„Das will ich, - aber denke jetzt nicht an Selbstmord, wie Maria es getan hat, um wieder bei ihrem Kim zu sein. Das hat damit überhaupt nichts zu tun. Hier geht es viel mehr um Glaube, ja eher um Überzeugung. Maria war überzeugt, daß ihr Komatraum absolute Wirklichkeit ist, womit sie auch recht hatte.
Ich will jetzt nicht, daß du diese Wirklichkeit, in der du ja noch immer zu 90% existierst und auch an ihr festhältst, vernachlässigst. Sie ist sogar sehr wichtig, weil sie das eigentliche Sprungbrett zu den anderen Wirklichkeiten ist, die du bis jetzt nur im Traum, oder in der Phantasie wahrnehmen kannst. Und wie gesagt, hast du sie ja auch schon zwei mal sehr real erlebt.
Ich will auch nicht, daß du den Rest deines Lebens so wie ich verbringst, - denn hier ist nicht dein Kraftplatz. Du hast deinen Kraftplatz schon lange gefunden, - es hat dich förmlich zu ihm hingezogen und war dir wichtiger als alles andere, wenn du dich jetzt an deine ersten Tage hier erinnerst.“
„Das Haus meines Großonkels?“ fragte Maria.
„Genau dieser Platz ist für dich bestimmt. Dein Großonkel hat ihn für dich gefunden. Das war es, was er mir gesagt hat, bevor er das Sanatorium verlassen hat.“
„Du meinst, bevor er gestorben ist?“
„Niemand stirbt, wie ihr Menschen das glaubt, - obwohl ich selbst schon vom Sterben gesprochen habe. Auch davon mußt du überzeugt sein, sonst wird die Kraft nicht weiter in dich strömen.
Deinen Großonkel wies die Kraft an diesem Kraftplatz, in dem Haus, ab. Er mußte sich einen anderen Ort suchen, - und er fand ihn auch, - hier auf dieser Station in einem bestimmten Zimmer.“
„Brachte man ihn nicht mit Gewalt hier her?“ fragte Maria.
„Es scheint so, daß man die Menschen immer mit Gewalt irgendwohin bringt.
Was ist die Geburt, die ihr Menschen erkennt? Ist sie nicht der größte Gewaltakt? Und doch ist es Bestimmung oder Schicksal, egal, wie du es nennst. Du bist nun mal hier, - du warst schon immer hier, - und du wirst immer hier sein.
Ich sagte, es scheint so, - und so ist auch die Geburt und alles andere was uns im Leben an Schicksalsschlägen trifft, alles nur scheinbare Gewalt, denn im Grunde genommen, wenn wir ganz tief in uns blicken, auf unser Herz hören, wissen wir, daß wir genau danach gesucht haben, um zu erkennen. Dein Großonkel war einer der wenigen hier, der das wirklich wußte.“
„Du meinst, alles was uns widerfährt, egal, ob wir es gut oder böse nennen, wollen wir, ohne uns dessen bewußt zu sein?“ fragte Maria ungläubig.
„Es ist sehr schwer mit dir darüber zu sprechen, weil du noch immer zeitgebunden bist, Maria. Im Grunde genommen passiert alles ständig und immer wieder, um es für dich naiv auszudrücken. Anders kann ich es nun mal nicht erklären. Aber darum geht es jetzt eigentlich nicht, denn du hast mich ja gefragt, ob du dir alles, was dir widerfährt, auch gewünscht hast, obwohl es dir nicht bewußt ist, daß dies alles dein Wunsch war. Nun, eigentlich geht es gar nicht darum, was du dir wünscht, denn das Wunschdenken eines Durchschnittsmenschen kommt von dem Ich. Es ist nichts als selbstherrlich. Nein, diese Wünsche meine ich nicht, und deswegen sind sie dir auch nicht bewußt. Dieser Wunsch kommt aus deinem wahren Herzen, - es ist der Wunsch endlich zu erkennen, - und erkennen kannst du nur in den Situationen, die für dein Herz bestimmt sind.
Du müßtest ja bereits an der Natur erkennen, wie sorgfältig, wie planmäßig hier alles eingerichtet ist, - und genauso trifft es für euch Menschen zu, da ihr ja auch ein Teil der Natur, ein Teil des Ganzes seid. Bloß sieht es bei euch etwas anders aus, weil ihr den Vorteil der höheren Intelligenz habt. Nun, - ob das wirklich ein Vorteil ist, sei in Frage gestellt. Wenn man aber diese höhere Intelligenz wirklich nutzen kann, ist sie sicher ein Vorteil, - bloß wird sie nur sehr, sehr selten wirklich benutzt.
Also klage niemals über dein Schicksal, sondern versuche daraus zu erkennen. Was dir auch widerfährt, - es ist alles ein Weg des Lernens, des Erkennens. Wende dich niemals ab, sondern gehe direkt darauf zu und überwinde es. Verdränge es nicht, sondern überwinde es.
Das ist doch nichts Neues für dich, - du kennst doch die Gespräche, in denen Kim all das bereits gesagt hat.
Und genauso, wie der Wunsch des Herzens und das Schicksal gleichzeitig aufeinander treffen, - genauso verhält es sich mit den Wirklichkeiten. Sie sind immer da, - sie sind auch immer sozusagen in dir, - denn nur aus dir, aus der sogenannten Phantasie, kannst du sie erkennen. Und wenn du die Überzeugung hast, kannst du auch zu ihnen vordringen und sie wirklich erleben.“
„Du meinst, wenn ich überzeugt davon bin, könnte ich morgen mit Schneewittchen zusammen frühstücken?“ fragte Maria grinsend.
„Ich bin überzeugt davon, daß du das könntest“, sagte Kim vollkommen ernst.
Maria faßte sich an die Stirn und schüttelte ihren Kopf.
„Das ist banal, - das ist Wahnsinn, Kim“, stieß sie dann hervor und blickte Kim sehr seltsam an.
„Glaube mir, selbst wenn das Märchen von Schneewittchen nie geschrieben worden wäre, würde Schneewittchen in einer anderen Wirklichkeit existieren. Dieses Märchen endete nicht damit, daß der Königssohn sie zur Braut nahm, denn das Leben in dieser märchenhaften Wirklichkeit ging weiter und geht noch immer weiter und wird auch immer weiter gehen. Genauso wie deine Träume auch dann noch immer weiter gehen, wenn du schon lange erwacht bist. Du schaffst nichts, Maria, - diese Träume, diese Märchen werden nicht geschaffen, - sie werden nur entdeckt. Es ist alles da, Maria. Wir sind da, - das Universum mit seinen unzähligen Wirklichkeiten ist da. Wo sollte der Unterschied sein? Wir sind ein Teil des Universums, - also erkennen wir als Teil dieses Ganzes auch seine Wirklichkeiten. Wir sind nur da um zu erkennen.
Wie erklärst du dir den Traum von dieser Manola vor dem Computer? Meinst du, sie ist einfach aus dem Nichts entstanden, - einfach plötzlich in deinem Kopf entstanden? Wie sollte so etwas möglich sein? Oder Kim? Wir beide haben doch erkannt, daß er wirklich in einer anderen Wirklichkeit existiert. Und das ist eine Seltenheit, daß wir beide das erkannt haben. Aber das liegt daran, daß wir beide, genauso wie Kim und Maria in einer anderen Wirklichkeit, ein zweischneidiges Schwert sind, was soviel bedeutet wie ein und das selbe Herz.“
„Wer ist der wahre Kim?“ fragte Maria etwas verunsichert.
„Alles ist wahr, Maria. Alles und jeder spiegelt und reflektiert sich selbst in all diesen unzähligen Dimensionen und Wirklichkeiten. Aber wer und wo der Ursprung dieses Spiegelns und Reflektierens ist, hat keine Bedeutung, weil es nur einen einzigen Ursprung gibt, und das ist die Quelle der Kraft. Alles andere sind nur ihre Emanationen.
Ich weiß, das alles ist nicht einfach zu akzeptieren, - selbst für mich nicht, weil ich noch immer im menschlichen Bewußtsein gefangen bin. Man müßte darüber hinaus sein, - man müßte fast die gesamte Ganzheit des Selbst erkannt haben, um das wirklich akzeptieren zu können. Aber wie sollte ich etwas darüber hinaus erklären können, wenn ich noch immer ein Mensch bin? Obwohl ich ein Mensch bin, der die Gleichzeitigkeit bereits ein wenig erkannt hat.
Aber das heißt nicht, daß wir etwas überwinden müssen, ohne vorher etwas erkannt zu haben, denn dieses Leben hier ist sehr wichtig, solange wir uns in Zeit und Raum befinden. Denn nur von hier aus können wir die Gleichzeitigkeit stabilisieren. Wir haben also eine wichtige Aufgabe, denn in der Gleichzeitigkeit gibt es keine Zeit mehr, - dort erfahren wir nur unsere unzähligen Leben gleichzeitig. Dort geht es uns fast so wie in diesen Zeilen eines Philosophen. Du weißt schon: Einsam sich selbst überlassen steht er in der weiten Welt - usw.
Darüber zu sprechen ist aber auch nur vergeudete Zeit. Wichtig ist jetzt nur, daß du immer wachsam bist, - daß du jedes Schicksal makellos akzeptierst und überwindest. Und vor allem, - daß du zur Überzeugung gelangst. Nimm dich nicht wichtig, - so wie sich die meisten Menschen wichtig nehmen. Löse dich von allen und allem und sei konsequent.“
Maria war noch immer sehr verwirrt. Sie fühlte zwar, daß sie jedes von Kims Worten konzentriert aufgenommen hatte, - aber ob sie sie auch verstanden hatte, war etwas anderes.
„Kommunizierst du hier mit noch jemanden auf diese Art, wie du mit meinem Großonkel kommuniziert hast? Ich frage das, weil du vorhin sagtest, er war einer der wenigen. Das hört sich nämlich so an, als ob du noch andere hier kennen würdest“, fragte Maria.
Eigentlich wollte sie das gar nicht wissen, - es war nur, - sie brauchte jetzt dringend einen Themenwechsel....
Kim lächelte, bevor er antwortete. Er erkannte sofort, was sich in Maria abspielte.
„Nein, das tu ich nicht, weil es nicht nötig ist. Aber es stimmt, - auf dieser Station hier gibt es noch zwei Menschen, die mit dem linken Bewußtsein vertraut sind und sich dessen auch voll bewußt sind. Sie sind makellos, - das heißt, sie sitzen nicht zwischen zwei Stühle wie die anderen hier.“
Maria seufzte. Sie fühlte, daß dieser Themenwechsel nichts bringt, - daß sie einfach da durch mußte, - daß sie ihre Angst nicht verdrängen, sondern überwinden mußte.
„Und was soll ich jetzt tun? Was meinst du mit Konsequenz, - und was hat das Haus meines Großonkels mit allem zu tun?“ fragte sie leise.
„Halte dich von den Dämonen und ihren Erklärungen fern. Löse dich von allem los und lerne die Einsamkeit zu nützen.
Diese konstruierte Wirklichkeit der Dämonen läßt dich nur scheinbar fühlen, daß dies hier die einzige Wirklichkeit ist.
Ich weiß, du fühlst dich normaler, ja sogar wacher, wenn du mit ihnen sprichst und lachst, auf sie eingehst und ihre Schubladenspiele mitspielst. Ein Traum ist für dich noch immer düster, irgendwie darunter, als ob sich eine dicke Nebeldecke über dich senken würde, wo du kaum mehr atmen kannst. Genauso verhält es sich mit dem linken Bewußtsein. Es zieht dich anfangs hinab in ein sehr dumpfes, unklares Gefühl. Aber das ist nur scheinbar so, denn in Wirklichkeit ist es umgekehrt. Und das ist nun mal der Trick der Dämonen. Sie haben dir die Welt erklärt, - und so wurde auch ihnen die Welt erklärt. Also verurteile niemanden und dränge auch niemanden deine Welt auf, - es sei denn, man kommt zu dir und du hast das Gefühl, daß du wirklich helfen kannst.“
„Ich kann zu dir, Kim. Hattest du das Gefühl, daß du mir helfen mußt?“
„Natürlich hatte ich das, - aber jetzt habe ich alles getan, was mir möglich war, um dich zu überzeugen. Ich habe von Anfang an alles getan, um dir zu zeigen, daß es noch viel mehr gibt. Ich tat das nicht, um dich zu beeindrucken, um dir Fähigkeiten zu zeigen, mit denen ich prahlen könnte.
Ich weiß, du dachtest am Anfang, daß du mir helfen könntest. Du hast dich über mich gestellt, - du hast mich einen Verrückten genannt. Und jetzt, nach so vielen Jahren, beginnst du endlich zu zweifeln.“
„Nein, Kim!“ unterbrach ihn Maria schnell. „Ich zweifelte schon anfangs.“
„Es geht nicht nur um mich, Maria, - es geht um alle anderen genauso. Du bedauerst die Menschen hier, von denen ich sagte, daß sie zwischen zwei Stühlen sitzen. Aber das ist vergeudete Kraft. Niemand muß bedauert oder bemitleidet werden. Es ist nun mal das Schicksal, das Leben selbst, welches uns alle prüft, - und da hat Mitleid oder Selbstmitleid absolut keinen Platz.
Du meinst noch immer, dir geht es besser als diesen Menschen hier. Aber ich glaube, jetzt beginnst du daran zu zweifeln. Das habe ich gemeint, - das, und nichts anderes.
Ich sagte, ich habe alles getan, um dir zu helfen“, sprach Kim leise weiter. „Aber jetzt mußt du den alles entscheidenden Sprung selbst und alleine wagen. Ich kann nicht für dich springen, - und ich kann dich auch nicht wirklich überzeugen, denn die Überzeugung muß von dir selbst kommen. Ich kann deinen Kampf nicht kämpfen.“
„Nach all dem müßte ich ja wirklich überzeugt sein“, sagte Maria mehr zu sich selbst.
„Dein Kraftplatz wird dir dabei hilfreich sein, - er wird dich ruhig machen, denn er ist nur für dich da, also kann er dich niemals bedrohen, oder wie du befürchtest, dich nicht verrückt machen. Du mußt also keine Angst haben, jemals zwischen zwei Stühlen hängen zu müssen.
Ich habe jetzt noch ein Buch zu beenden, - in dem Kim noch einiges erklärt, - wo er sogar über uns beide spricht, - über uns beide mit der Autorin, die einen Teil unseres Lebens schreibt.
Vielleicht ist auch sie bald davon überzeugt, daß es uns wirklich gibt, daß es auch Kim wirklich gibt, - selbst wenn sie nicht darüber geschrieben hätte.
Also, bringe morgen wieder das Tonbandgerät mit.“
Maria sah Kim prüfend an. Wieder fühlte sie diese seltsame Traurigkeit.
„Es klingt wie ein Abschied. Wirst du nicht mehr mit mir sprechen? Oder - wirst du gar - wirst du - sterben, Kim?“ stieß Maria hervor, wobei sie das Wort - sterben - kaum aussprechen wollte.
„Das Leben, - ob da draußen oder hier herinnen, - ob in einer Einsiedlerhöhle in den Bergen, - egal, wie und wo es sich abspielt, - es ist immer nur ein winziger Gedanke, wenn wir nicht das Wesentliche erkennen. Trotzdem müssen wir diesen winzigen Gedanken hüten wie einen großen Schatz und ihn makellos nützen.
In diesem Sinne, mein Mädchen, halte dich niemals mit Spielereien auf, kämpfe um dein Herz und laß die Dämonen niemals an dich heran. Du hast nicht viel Zeit, - du hast überhaupt keine Zeit, denn es gibt keine Zeit.
Es geht um dich, - nicht um mich. Keine Sorge, was auch geschieht, - wir sind Eins, Maria. Uns kann nichts mehr trennen, auch wenn es so scheint.“

Am nächsten Morgen brachte Maria das Tonbandgerät mit, und Kim erzählte die letzten Gespräche seines Buchs. Die letzten Worte, wie die meisten sicher schon wissen werden, lauteten:
„Wenn wir Sekt hier bekommen würden, könnten wir nun das Ende meiner Geschichte gebührend feiern.“
Selbst wenn es nur eine Erzählung war, eben nur eine Geschichte eines Menschen, die man eher der Phantasie zuschreiben würde, liefen Maria trotzdem kalte Schauer über den Rücken, als sie hörte, wie Kim zu der Autorin sagte, wie seltsam es sei, daß in einer Wirklichkeit über eine andere Wirklichkeit wie von einem Märchen erzählt wird, - und wie es sich umgekehrt genauso verhält.
Aber nach all den Jahren, - und es waren beinahe 13 Jahre, die sie neben Kim verbracht hatte, - was sie da erlebt hatte, glaubte sie nicht nur daran, - sie war nun sogar überzeugt davon, daß dies nicht alles ist, was uns umgibt und uns ausmacht.
Sie fühlte ja schon diese seltsame Kraft, wenn sie vor dem flackernden Kamin auf dem Sofa ihres Wohnzimmers, das frühere Atelier ihres Großonkels, daß. Kim hätte ihr gar nichts darüber sagen müssen, - sie hätte es gewußt, - sie hätte es erkannt.

Natürlich besuchte Maria Kim auch noch nach Beendigung seines letzten Buchs, - aber die Besuche dauerten nicht mehr so lange, denn Maria nutzte die Zeit, um auf „ihren Platz“ genug Kraft zu tanken.
Irgendwie fühlte sie, daß Kim in dieser Form, wie er im Sanatorium lebte, nicht mehr lange bei ihr bleiben wird. Sie war eigentlich nicht traurig deswegen, denn sie war überzeugt davon, daß Kim sie nicht belügt hatte, - sie war überzeugt davon, daß sie nichts, auch nicht der sogenannte Tod, trennen kann.

Kim war nun bereits 35 Jahre alt. Maria fand, daß er sich kaum verändert hatte, - daß er für sein Alter, wie sie lächelnd feststellte, denn was sind schon 35 Jahre für einen Mann? - noch immer sehr jung aussah. Sie stellte Vergleiche mit dem Kim aus seinen Büchern an, der ja auch nie älter wurde und selbst mit 90 noch immer ein Jüngling war.
Aber noch immer brannte eine Frage in ihr, - eine Frage, vor der sie immer Angst gehabt hatte, die sie aber dennoch stellen wollte, bevor sie Kim in dieser Form verließ.
An diesem Tag, es war ein herrlich warmer Spätsommertag, - vielleicht war es sogar ein 12. September, - ein sogenannter Jahrestag, der Tag, an dem sie Kim das erste Mal gesehen hatte, - kam sie ungefähr gegen 11 Uhr ins Sanatorium zu Kim.
Er saß diesmal nicht auf seinem Bett, sondern stand am vergitterten Fenster und blickte hinaus in den weiten Himmel, wo die Sonne ganz oben stand. Als Maria eintrat, winkte er sie zu sich, ohne sich nach ihr umzudrehen.
„Schau dir diese herrliche Sonne an, Maria“, sagte er leise, fast flüsternd und legte seinen Arm um ihre Schultern, als sie neben ihm stand und ebenfalls durch vergitterte Fenster blickte.
„Möchtest du hinaus in den Park?“ fragte Maria.
Kim lächelte.
„Nein, - die Sonne ist direkt neben mir, - also wozu sollte ich draußen nach ihr suchen?“ sagte er, ließ Maria los und ging langsam zum Bett, um sich dort im Türkensitz nieder zu lassen.
Maria folgte ihm. Sie fühlte diese seltsame Stimmung, die nicht nur von ihr, sondern auch von Kim ausging und den gesamten, eher kleinen Raum ausfüllte. Es war eine Stimmung, die ihr bisher fremd war. Es lag Traurigkeit in der Luft, aber sie war nicht erdrückend. Es lag auch ein Abschied in der Luft, - aber ein Abschied, der einen neuen Anfang ankündigte, - der kein wirkliches Ende bedeutete.
„Du möchtest wissen, was mich wirklich hierher geführt hat, - was mich in dieses Sanatorium gebracht hat. Nicht wahr?“ fragte Kim plötzlich und nahm Marias Hand, als sie neben ihm saß.
Maria nickte nur stumm. Sie hätte in diesem Moment kein Wort heraus gebracht. Ihre Kehle, ihre gesamte Mundhöhle war plötzlich ausgetrocknet. Sie rang sogar nach Atem und fühlte ein irrsinniges Zittern am ganzen Körper. Sie fühlte sich wie ein Mensch, der zu Tode verurteilt war und nun seinen letzten Ganz zum elektrischen Stuhl vor sich hat.
„Meine Kindheit war nicht ganz so schlimm wie Kims Kindheit, - obwohl ich nicht sagen kann, daß ich viel Liebe bekommen habe. Ich wurde auch geschlagen. Nun, welches Kind kann schon von sich sagen, daß es nie von ihren Eltern geschlagen oder geschimpft wurde?
Daß ich vergewaltigt wurde, ist richtig, - aber ich wurde nicht von meinen Zieheltern vergewaltigt, sondern von Fremden. Sie warteten vor der Schule auf mich, - ich war ungefähr 12 Jahre alt. Nun, ich stieg unbekümmert in ihr Auto und fuhr mit. Es waren drei Männer, - im Alter von etwa 30 Jahren, - vielleicht auch ein bißchen älter.
Ich muß dir ja nicht die Einzelheiten erzählen, was sie alles mit mir gemacht haben, oder?“
Maria verneinte wieder kopfschüttelnd. Ihr Schüttelfrost wurde immer ärger....
„Ich war damals schwer verletzt, als mich ein Jäger am Waldrand fand und zu einem Arzt brachte. Ich wußte eigentlich nicht, was da wirklich mit mir passiert war. Es war dann meine Schwester, - ich hatte auch zwei Schwester wie Kim, - eine war zwei Jahre jünger, die andere zwei Jahre älter als ich, - nun, es war meine ältere Schwester, die mich dann über alles aufklärte.
Meine Zieheltern waren damals ziemlich betroffen. Sie wandten sich von da an eher von mir ab, als daß sie mir durch ihre Liebe Trost gespendet hätten. Ich weiß nicht, wovor sie Angst hatten.
Nun, ich zog mich dann auch eher zurück und verbrachte die Zeit lieber in meinem Zimmer. Ich hatte übrigens ein Zimmer. Ich mußte nicht auf dem Dachboden, in eisiger Kälte, schlafen.
Ich hatte eigentlich nie Freunde. Das heißt, ich wollte sie auch nicht, - und es bemühte sich auch niemand um mich. Dieses Erlebnis, - daß ich vergewaltigt wurde, schreckte die Menschen in unserem Vorort ziemlich ab. Sie behandelte mich irgendwie wie einen Aussätzigen.
Das habe ich auch bemerkt, als ich in der Tischlerei arbeitete. Ich ging nicht gerne hin. Ich war dann sogar froh, daß man mich gekündigt hat.
Du fragst dich sicher, warum mich meine Zieheltern nicht auf eine höhere Schule geschickt haben, weil ich ziemlich gut gelernt habe? Nun, - ich wollte nicht, - ich hätte es tun können, aber ich sagte, daß ich lieber einen Beruf erlernen möchte.
Glaube mir, eigentlich ging es mir ziemlich gut bei meinen Zieheltern. Ich weiß nicht, wie ich Bekanntschaft mit diesen Drogensüchtigen, wie man sie nannte, machte. Es passierte einfach.
Ich hatte irgendwie Angst, meinen Zieheltern zu sagen, daß ich gekündigt wurde, - und so fuhr ich jeden Morgen nach London und trieb mich dort herum.
Ach ja, - ich kam oft zu spät zur Arbeit. Eigentlich stand ich immer rechtzeitig auf und verließ das Haus genauso rechtzeitig. Es war, - ich wollte nicht mehr in diese Tischlerei gehen, - und so ging ich zuerst irgendwohin, - in die entgegen gesetzte Richtung, bis ich mir bewußt wurde, daß ich da durch muß.
Ja, warum das alles? Ich fühlte mich gekränkt, weil sie mich dort jedesmal ausfragten, wie es ist, wenn dich ein Mann fickt, - was das für ein Gefühl ist, wenn sich ein Schwanz in dein Arschloch bohrt.
Ich konnte das alles nicht mehr hören, denn erst damals kam mir alles zu Bewußtsein, - erst damals wußte ich so richtig, was da mit mir passiert war.
Frag mich nicht, wie ich es nur wenige Wochen später zulassen konnte, daß das selbe noch mal mit mir passiert. Immerhin finanzierte ich meine Drogensucht durch Prostitution.“
Marias Zittern hatte langsam aufgehört. Auch das trockene Gefühl in ihrer Mundhöhle und Kehle hatte sich etwas gelegt.
Jetzt liefen ihr Tränen über die Wangen.
„Was war mit dem Heroin? Verhalf dir das zu einem höheren Bewußtsein?“ fragte sie mit gebrochener, tränenerstickter Stimme.
Kim atmete tief durch, bevor er antwortete.
„Das mit den Drogen ist eine heikle Sache. Du kennst ja die Stelle aus dem Buch - Melanie - ,als Kim, Melanie und Maria auf einem Planeten waren, auf dem sich die Wesen mit den Pflanzen vereinigten. Man muß mit den Drogen vertraut sein, - man darf sie nicht mißbrauchen.
Ich war zu schwach für das Heroin. Für Heroin mußt du irrsinnig stark sein, weil es dich sonst zu sehr blendet. Es hebt dich hoch, - und wenn die Wirkung nachläßt, läßt es dich scheinbar tiefer fallen, als du es warst. Nein, du warst nicht tiefer, du warst immer in der selben Ebene, aber das Heroin läßt dich das nicht mehr erkennen. Wenn du Heroin nimmst, kannst du in jeder Stimmung sein, ob du nun traurig oder fröhlich bist, ist egal, - es hebt dich immer höher - gefährlich höher.
Andere Drogen, wie zum Beispiel Haschisch oder LSD, spiegeln dir nichts vor, - sie zeigen dir die Wirklichkeit, oder auch andere Wirklichkeiten viel klarer. Aber Heroin blendet dich. Diesen Zustand kannst du nur dann aufrecht erhalten, wenn du sehr stark bist.
Verstehst du ungefähr, was ich sagen will?“
Maria nickte stumm.
„Nein, keine Droge hat mir zu dieser Erkenntnis verholfen. Es war der Platz, an dem ich mich damals sehr oft aufhielt. Das war ein Kraftplatz, - aber das war mir nicht bewußt.
Damals suchte ich die Einsamkeit noch viel mehr als früher. Ich kann dir nicht erklären, was ich damals fühlte, als ich so oft an diesem Platz war. Dort hielten sich die Strichjungen immer auf, - aber mit der Zeit sah ich sie nicht mehr. Ich hörte plötzlich Stimmen in mir, - und ich unterhielt mich innerlich mit diesen Stimmen, daß ich oft gar nicht mehr wahrnahm, wenn jemand wirklich zu mir sprach.
Nein, es war nicht das Heroin, wie so viele angenommen haben. Dessen bin ich mir ganz sicher.“
„Dann hast du dich also mit keiner Droge verbunden, - so wie diese Wesen auf diesem Planeten?“ fragte Maria, noch immer mit etwas belegter Stimme. Ihre Tränen waren versiegt.
„Nein, eigentlich nicht, - obwohl ich jetzt weiß, daß wir eins mit allem sind. Nur ist diese Verbindung etwas anderes, - sie ist ewig, - sie ist.... Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll.
Ich möchte kein Moralapostel sein, indem ich sage, daß man die Hände von Drogen besser lassen sollte, denn das wäre nicht richtig. Wir alle sind eigenständige Individuen, und demnach ist es nicht für alle gleich. Das heißt, für einige Menschen wäre eine bestimmte Droge sicher ein Sprungbrett zum linken Bewußtsein, - aber auch nur dann, wenn die Kraft es erlaubt, - wenn die Kraft eindringen kann.
Du siehst, alles hängt immer nur von der Kraft ab, - aber sie könnte genauso gut in einer Droge enthalten sein. Das wollte ich eigentlich sagen.
Die Beziehung zu meinen Zieheltern war zu diesem Zeitpunkt nicht mehr allzu gut. Wir redeten kaum mehr miteinander, - eigentlich nur das wichtigste. Ich bekam immer Essen, - ich durfte immer nach Hause, - und ich wurde zu dieser Zeit sicher nicht geschlagen oder gefoltert wie Kim.
Diese Striemen, die man bei mir feststellte, als ich eingeliefert wurde, stammten von einem Kunden.
Hier würde diese Geschichte passen, als Kim von einem Kunden erzählte, der ihm und seinen Freunden am Strich Angst eingejagt hatte, - und den Kim dann gehörig seine Meinung gesagt hat. Du erinnerst dich doch, als ich erzählte, wie dieser Typ ein Mädchen schwer verletzt aus seinem Wagen warf?“
Maria nickte abermals stumm.
„Nun, - so einen Kunden gab es bei uns auch. Ich weiß nicht, ob er jemals erwischt wurde, - ich weiß nur, daß viele von uns auf ihn hereingefallen sind. Ich auch.
Was soll ich nun noch sagen? Als man mich auf der Bahnhofstoilette, randvoll mit Heroin, fand, wollte ich eigentlich nicht mehr leben. Ich wollte mir damals den Goldenen setzen. Aber die Kraft hatte das verhindert. Sie zeigte mir die wahren Wirklichkeiten, - sie zeigte mir die Dämonen. Und dabei blieb ich, weil ich überzeugt davon war.
Wie diese Geschichte von Kim über mich gekommen ist, weiß ich nicht mehr. Sie war auf einmal da und mußte aus mir heraus. Mir war anfangs, nachdem ich eingeliefert wurde, auch nicht klar, daß ich mich nie bewegte, denn meine eigentliche Welt fand viel mehr in mir selbst statt. Aber es gab kein Außen, kein Innen mehr für mich, denn es war alles da, - ich befand mich mitten drin im wahren Leben.
Und dann hörte ich wieder diese Stimmen, - darunter viel mehr eine bestimmte Stimme, mit der ich mich schon früher unterhalten hatte. Ich wurde aufmerksam auf diese Stimme, die eigentlich keine Stimme war. Es war eine seltsame Art der Kommunikation, die du ja auch kennst. Du hast dich damals mit deinem Großonkel und mir auf diese Art unterhalten. Nun, - und dann sah ich ihn, - deinen Großonkel. Ich fühlte mich wohl in seiner Nähe, - und wir kommunizierten ständig auf diese Art, wodurch meine Überzeugung noch mehr gefestigt wurde. Man könnte sagen, dein Großonkel war ungefähr das selbe für mich wie ich für dich. Er war sozusagen mein Lehrer, - er bereitete mich auf dich vor. Ich hörte damals ja auch deine Stimme, - genauso wie jetzt, wenn du zu mir sprichst. Aber du hast dich damals, als ich noch auf den Strich ging, auch in dieser seltsamen Art mit mir unterhalten.
Du siehst, ich kannte dich lange bevor, - noch bevor du von der Existenz deines Großonkels und meiner etwas gewußt hast.
Nun, meine Lebensgeschichte ist nicht so großartig, wie die über die ich erzählt habe, - über Kim, - aber glaube mir, mein innerer Kampf war genauso schwer und vielleicht auch genauso blutig. In meiner Seele wurde mir sehr oft das Fleisch von den Knochen gerissen.
Aber von diesem Kampf möchte ich dir nichts erzählen, denn diesen Kampf hast du noch vor dir, - mein Mädchen.“
Kim stand langsam auf und ging genauso langsam zum Fenster, um wieder in die Sonne zu blicken. Es war jetzt bald Mittag, - die Sonne stand wirklich fast am höchsten Punkt. Kim fühlte sich, als würde er sich jeden Augenblick mit der Sonne vereinigen.
„Ich könnte jetzt entlassen werden“, hörte Maria ihn leise sagen. „Ich habe mich heute morgen selbst gewaschen. Ich habe auch mit Perry gesprochen, - ihm einen schönen Tag gewünscht. Aber ich weiß, daß das nicht mein Schicksal ist, - mein Schicksal ist nicht da draußen.
Ich glaube, jetzt wo ich nicht nur Kims Lebensgeschichte erzählt habe, sondern auch meine, was ja auch ein gutes Buch wäre, - was eigentlich ein gutes Buch ist, denn du weißt ja, - diese Frau, diese Manola, vor dem Computer, schreibt es, - jetzt wäre es ebenso angebracht, dies zu feiern.“
Kim drehte sich langsam vor dem Fenster zu Maria um und blickte ihr so intensiv wie nie zuvor in die Augen.
„Ja, wenn wir Sekt hier bekommen würden, könnten wir nun das Ende meiner Geschichte gebührend feiern“, sagte er.
Kim lächelte kurz, dann gaben seine Knie nach und er stürzte der Länge nach zu Boden.
Maria wußte nicht warum, - aber sie ging nicht zu ihm, - sie blieb auf dem Bett sitzen und starrte auf diesen Körper, der nur knapp zwei Meter von ihr entfernt, am Bauch am Boden lag. Ihr war dieser Körper nicht mehr so vertraut wie eben noch, als er zu ihr sprach. Sie fühlte, daß da etwas genommen wurde, - nein, nicht nur etwas Geistiges, sondern auch etwas körperliches, - deswegen war dieser Körper ihr jetzt ja so fremd. Sie konnte Kim noch immer in ihrer Nähe fühlen, - aber nicht mehr als diesen Körper, nicht mehr in dieser Form, die da am Boden lag. Das war nur ein Abklatsch dessen, was er wirklich war und ist. Das war so etwas wie eine Illusion, - eine Vorspiegelung der Dämonen.
Maria nahm gar nicht wahr, als Perry und noch ein Pfleger ins Zimmer kamen und sich über diesen fremden Körper beugten. Dann kam auch noch Steven, der sich zuerst um Maria kümmerte, die noch immer regungslos auf dem Bett saß und auf diesen fremden Körper starrte. Er rüttelte sie an den Schultern und rief immer wieder ihren Namen.
Sie hörte, wie Perry sagte, daß Kim tot sei.
„Nein, er ist nicht tot, - er hat nur das Tor zu einer anderen Dimension gefunden“, hörte sie sich selbst sagen, was ihr aber überhaupt nicht bewußt war.
Sie blickte nun auch in Stevens Augen und lächelte ihn an, obwohl wieder Tränen über ihre Wangen liefen.
„Er ist nicht tot, Steven“, sagte sie leise und nahm seine Hände von ihren Schultern.
Dann stand sie auf und verließ das Zimmer, ohne noch einmal den Blick auf den am Boden liegenden Körper zu werfen. Sie nahm Kim mit, - sie fühlte seine Hand in ihrer, - auch als sie die Station, - das Sanatorium verließ.
„Schau nur wie herrlich es hier ist“, sagte sie im Geiste zu Kim, als sie draußen vor dem Tor zum Himmel hoch blickte. „Wir beide wissen, wie herrlich es hier ist.“

Steven und Angela versuchten oft, Maria aus ihrer Einsamkeit zu reißen, - selbst Perry kam mehrmals zum Haus und sprach vor der Tür mit ihr, denn sie ließ niemanden ins Haus. Erst, als Maria ausdrücklich darum bat, daß man sich nicht um sie sorgen muß, daß sie wirklich gerne alleine ist und sich schon von selbst melden wird, wenn sie Gesellschaft möchte, hörten die Besuche auf.

Nach ungefähr zwei Jahren wurde die Tür bei diesem Haus abermals aufgebrochen, - wie damals beim Großonkel. Aber es war kein Verrückter, keine Verrückte darin zu finden, - da lag auf dem Sofa, vor dem Kamin, ein weiblicher Körper, von dem sie sagten, er sei tot. Sie sagten, Maria sei tot.
Sie sahen ein Lächeln auf ihren Lippen, - sie sahen auch, wie sie die rechte Hand hielt, - als ob sich darin noch eine Hand verborgen hätte. War es Kims Hand?

(Kein Ende - kein Anfang)