Flügelschlag am Fenster sagt: nicht öffnen. Es mag einerlei sein, ob innen oder außen. Tiere schlafen nicht wie Menschen. Sie stören das öffentliche Träumen. Irren sei menschlich und erholsamer Schlaf sei nur den Tieren geschenkt. Luzidität – kein Wort, das man oft findet, wenn überhaupt. Ebenso ist es mit seiner Bedeutung. Wenn der Himmel die Farbe des Grases annimmt und das Gras die Farbe des Himmels, scheint sich die Realität ein wenig zu irren und hat von der Menschlichkeit angezogen. Hier sollte man weiter machen. Nicht nur luzid träumen, sondern auch luzid wachen.
Die Taube blickt herein. Vielleicht meint sie hinaus zu blicken – hinaus in eine menschliche Landschaft, in der es Kästen und Stühle, Teppiche und Sofas, Eisschränke und Öfen und vieles mehr was es in Taubenwelten nicht gibt. Die andere Welt ist zu oberflächlich, deshalb haben wir es uns bequem gemacht. Ferdinand lässt das Fenster geschlossen und blickt in die Taubenwelt. Er kann nur Kot sehen – Dächer bedeckt mit Kot. Keine erstrebenswerte Welt. Was weiß er schon? Genauso viel wie Freundin Kunigunde, die im Wald lebt und täglich alle Bäume zählt. Abends ist sie dann so müde, dass sie sofort in das Bett fällt, das mitten in ihrer bescheidenen Hütte steht.
Was sagt uns das alles? Es kann ein Anfang für eine spannende oder weniger spannende Geschichte sein. Es kann auch nur eine einzige kreative Episode sein. Schwachsinn? Das auch! Und wie geht es weiter?
Blicken wir in die andere Richtung. Dort hin, wo der Wind ein wenig heftiger bläst. Pausbacken zieren alle Wolken, deren grimmige Blicke auf alle Welten herab schauen. Aber die Sonne lacht. Sie lacht uns alle aus. Hat es ja leicht mit jeder Menge Zündstoff. Hat sie auch das Wissen ihrer Endlichkeit? Heute Sonne, morgen Stern. Was kann mir schon passieren.
Das war ein wenig zu weit geblickt. Man soll doch nur um die Häuserecke schauen. Dort steht ein Kiosk, in dem eine alte Frau Zeitungen und Zigaretten und anderes Kleinzeugs verkauft. Sie hat einen Hund. Ob das wichtig ist? Vielleicht, wenn man die Taube betrachtet, die noch immer vor dem Fenster gurrt. Sie kann den Hund nicht sehen, da er im Kiosk zu den Füßen der alten Frau liegt. Es ist ein kleiner Hund. Die Rasse? Wer will das wissen und wozu? Es ist ein Hund und er ist klein und das muss genügen. Die Farbe? Wichtiger ist doch das Herz, denn nur mit dem sieht man gut. Wäre es so, wären wir alle endlich blind. Blind sein stärkt das Vorstellungsvermögen und vielleicht 'blicken' wir dann alle über den Tellerrand hinaus und erkennen... Nein, wir würden nicht mal dann erkennen, weil es da nichts zu erkennen gibt. Welten überlagern Welten. Das ist alles. Und das genügt genauso wie das mit dem kleinen Hund. Was es mit ihm auf sich hat? Wir werden sehen. Wir werden alle noch sehen, denn das Herz ist blind. Leider.

Ferdinand verscheucht die Taube vor seinem Fenster. Zu viel Dreck. Zu viel Kot in dieser Welt. Selbst die Müllmänner können nicht so viel bewältigen. Menschen ersticken im Müll, den die Tauben hinterlassen, sagt sich Ferdinand und erkennt nicht seinen tragischen Irrtum.
Die Taube flattert auf das Dach des Kiosks. Der kleine Hund bellt. Endlich ist mal was los in dieser Bude. Fachkräfte von Außerhalb bestätigen dies. Sie applaudieren, weil der Hund die richtige Stimmlage hat. A-Moll. Es könnte auch eine andere sein, aber die Fachkräfte – es sind drei Männer in schwarzen langen Mäntel, schwarzen Hüten und schwarzen Sonnenbrillen – sind sich dessen fast sicher. Men in black. Sie kontrollieren die Stadt. Vor allem kontrollieren sie die Tonlagen bellender Hunde. Auch das plötzliche Gurren der Taube, die in derselben Tonlage einstimmt. Eindeutig a-moll, bestätigt der in mittlerer Größe Man in black. Wie drei Orgelpfeifen stehen sie vor der Bude des Kiosks. Links der kleinste, in der Mitte der mittlere und rechte der größte. Die alte Frau starrt die drei düster an. Wahrscheinlich weil sie düster sind. Wahrnehmung stimmt zwar nicht immer mit dem Wahrgenommenen überein, aber die alte Frau scheint darin eine kleine Meisterin zu sein.
Kontrolle ist nichts Neues. Zuerst diente sie zur Sicherheit. Man wollte sich wieder auf die Straße trauen. Kleinstädte waren und sind leichter zu bändigen. Großstädte lassen sich nicht mehr kontrollieren. Sie haben die Überhand über die Menschen. Sie schlagen auf die Menschen ein und zeigen ihnen, wie wertlos und nutzlos sie sind. Und das lassen die Menschen dann auf Tauben und kleine Hunde aus.
Was gibt es da nicht zu verstehen? Tiere hatten schon immer das Nachsehen. Angeblich und anscheinend. Aber dem ist nicht wirklich so. Eigentlich sind sie es, als Auftraggeber der Städte, die alles kontrollieren. A-moll, - lacht der kleine Hund in der richtigen Tonart der Taube zu, - was wissen die denn! Nichts, - gurrt die Taube, - rein gar nichts! Nur die alte Frau scheint dem tierischen Dialog folgen zu können, auch wenn sie den genauen Wortlaut nicht wirklich versteht. Wir können es ja auch nur erahnen, dass sie sich über die drei Men in black lustig machen. Nachdem sie einen Blick in alle Tageszeitungen geworfen haben, ohne eine zu kaufen, schreiten die drei weiter und sehen dabei sehr geheimnisvoll aus.
Ja, ja, ihr habt schon richtig gehört. Es sind die Städte – diese seltsamen Anhäufungen von Gebäuden und Asphaltschlangen. Sie sind es, die sich die Erde untertan gemacht haben. Gott spricht nicht mehr mit uns. Er spricht zu den Betonbauten, bringt sie manchmal ins Wanken und zum Einsturz, um einige der Schädlinge unter sich zu begraben. Schädlinge? Ja, wie du mir so ich dir. Heute sind Menschen die Schädlinge. Gestern waren es noch kleinere Tiere und Pflanzen.
Ferdinand öffnet das Fenster. Aus dem vierten Stockwerk, in dem er wohnt, kann er zum Wald hinübersehen. Er sieht nur die hohen Wipfel der Bäume, aber in Gedanken sieht er Kunigunde, wie sie von Baum zu Baum geht und einem nach dem anderen eine Zahl aufbrummt.

Gott spricht überhaupt nicht. Es hat ihm die Sprache verschlagen. Oder er spricht in Zahlen wie Kunigunde. Man sucht nach ihr. Man wird sie nicht finden. Noch immer trägt sie ihr Hochzeitskleid, das inzwischen nicht mehr weiß ist. Es ist schmutzig geworden im Wald und beim Bäume zählen. Rissig ist es auch geworden. Die Hochsteckfrisur passt auch nicht mehr. Strähnen hängen herab und ins Gesicht über den Augen, weshalb sich Kunigunde oftmals verzählt.
Nur Ferdinand weiß, wo sie ist. Nur er kennt die kleine Hütte in der Waldschlucht. Es befindet sich nichts in der verfallenen Bretterbude, außer das bereits erwähnte Bett in der Mitte. Es ist kein Bett wie man sich gewöhnlich ein Bett vorstellt. Es ist ein Haufen trockenes Gras, vermischt mit Moos.
Ferdinand weiß aber auch, dass Kunigunde den kommenden Winter nicht überleben wird, wenn sie nicht gefunden wird. Er ist bereits auf den Weg zur Arbeit. Am Kiosk grüßt er die alte Frau und kauft wie immer an den Werktagen eine Tageszeitung, die er meistens in der Mittagspause im Büro liest. Ferdinand arbeitet in einem Büro, in dem es viele, viele Akten gibt.
Ferdl, bring ma schnö den Akt va dem Buam, wos letztn Monat passiert is, - ruft man ihm zu und Ferdl, der lieber Ferdinand genannt wird, weiß sofort in welche Richtung der Regale, welche die Wände seines Büros schmücken, seine Hand fassen muss. Er hat sie alle im Kopf. Die meisten hat er selbst verfasst, wie er es nennt. Schriftsteller für Notare und Rechtsanwälte.
Das mit dem Buam war schon eine aufregende Sache. Der Bua hasste die Stadt. Er wäre auch gerne, wie Kunigunde, in den Wald gegangen und zwar für immer. Stattdessen hat er Scheiben eingeschlagen, Autos demoliert und mit einer Waffe um sich geschossen. Jetzt klagen die Eltern, weil die Polizisten den Buam erschossen haben, als dieser tobend und mitten auf der Straße um sich geschossen hat.
Gott spricht nicht mehr. Wahrscheinlich auch nicht zur Stadt, zu dieser gefräßigen Bestie, die sich selbständig und ihre Bewohner zu ihren Untertanen gemacht hat. Kunigunde spricht auch nicht mehr, seit sie ihren Bräutigam während der Hochzeitsfeier schmusend mit einer anderen im Hinterzimmer des Gasthauses, wo die Feier stattfand, erwischt hat. Kunigunde stand in der Tür, öffnete den Mund, schloss ihn wieder und ging. Sie ging einfach los. Es folgte ihr niemand. Noch nicht. Aber als nach einer Stunde die Braut noch immer nicht auftauchte und sie nach einem alten Brauch auch nicht gestohlen wurde, wurde man unruhig. Kunigunde tauchte auch nach einer weiteren Stunde nicht auf und auch in der nächsten weiteren Stunde nicht. Selbst am nächsten Morgen war sie nicht wieder da. Kunigunde war seit Ende Mai abgängig. Und jetzt war es bereits Oktober.

Niemand weiß, dass Kunigunde und Ferdinand auf der Suche sind, nicht mal sie selbst. Sie suchen Gott. Den Gott, der sich mehr der Stadt zuwendet als den Menschen, welche die Stadt erbaut haben. Nicht wahr – es sind nicht mehr die Menschen, die diese Stadt erbaut haben – es sind ihre Nachfahren. Dennoch! Gott könnte ein wenig Nachsicht haben, auch wenn sie sich erdreistet und Schöpfer gespielt haben.
Es gibt nur einen Schöpfer und das ist Gott. Es sei den Menschen nicht gestattet, etwas zu erschaffen, entwickeln oder zu kopieren. Keine Städte, denn es gibt Höhlen. Keine Straßen, denn es gibt Wege. Und was sie alles erschaffen haben! Das geht auf keine Kuhhaut. Auch so ein blöder Spruch. Am schlimmsten ist die Sprache, die sie erfunden haben. Damit haben sie sich selbst ein Ei gelegt – ein Kuckucksei, mitten im Labyrinth, aus dem sie nicht mehr heraus finden.
Deshalb zählt Kunigunde nur mehr. Einen Baum nach dem anderen. Eins, zwei, drei, - beginnt sie, sobald sie die verfallene Bretterbude verlässt. Baum eins ist nicht immer Baum eins. Manchmal ist er auch Baum zwei oder drei. Es kommt auch vor, dass er vier oder fünf ist. Je nachdem, wohin sich Kunigunde zuerst wendet. Irgendwo bei Baum achtundvierzig oder fünfzig gibt es ein Versteck, an dem Ferdinand Essen für Kunigunde deponiert. Schön verpackt in Folien, die entweder warm oder kühl halten, bringt er ihr täglich um 17h, nach der Arbeit, das Essen für den Abend und den nächsten Morgen. Kunigunde isst nur zweimal am Tag. Am Morgen, was meistens zu Mittag ist und am späten Abend.
Kunigunde liebt es, an der Lichtung zu sitzen, versteckt zwischen Buschwerk und in den Himmel zu den Sternen hoch zu blicken, während sie ihr Abendessen verzehrt. Sie tut das alleine. Ferdinand darf nur das Essen bringen und ein paar Worte mit ihr wechseln, wobei es bei Ferdinand wirklich Worte und bei Kunigunde nur mehr Zahlen sind.
Vielleicht ist das eine genauere Erklärung wert, wie die beiden aufeinander gestoßen sind. Wie bereits erwähnt, war die Hochzeit Ende Mai und Kunigunde führte es geradewegs in den an die Stadt grenzenden Wald. Es ist ein großer Wald und wenn man ihn durchwandern will, muss man gut zu Fuß sein, denn er besteht aus vielen Schluchten, die oft steil bergauf und bergab zu bewältigen sind. Kunigunde spürte ihre Füße nicht mehr, als sie endlich Halt machte und erkannte, wo sie nach zwei Stunden gelandet war: direkt vor der alten, zerfallenen Hütte, deren Türe, falls man das so nennen kann, schief in den Angeln lag. Irgendwie schob sie die Brettertür auf, warf sich auf den Boden und heulte erst mal eine Stunde lang. Kunigunde schlief ein und wachte erst am nächsten Morgen wieder auf. Es waren die Geräusche der Waldtiere, die sie weckten. In den nächsten drei Tagen ernährte sie sich von Beeren, Pilzen und Kräutern. Wasser gab es am nahen Bach, der den Wald teilweise durchzog. Nur wenn es im Sommer zu trocken ist, hat das Bachbett an wenigen Orten Wasser. Kunigunde weiß inzwischen, wo sie es immer finden kann.
Währenddessen sprach man in der Stadt – es ist eher eine Kleinstadt – vom Verschwinden der Braut und dass man überall, auch im Wald, nach ihr sucht. Also machte sich Ferdinand, mit Verpflegung im Rucksack, an seinen nächsten zwei freien Tagen auf in den Wald. Es war nicht das erste Mal, dass sich Ferdinand am Wochenende im Wald aufhält und auch dort übernachtet. Schließlich trafen sich die beiden irgendwo in der Nähe der Lichtung, die Kunigunde schon vom zweiten Tag zu ihrem Lieblingsplatz erkoren hatte und wo in der Nähe der verabredete Ort für das Nahrungspaket wurde. Verrate mich nicht – waren die ersten Worte Kunigundes und Ferdinand schüttelte nur stumm den Kopf. Fast eine halbe Stunde hockten sie zusammen schweigend am Waldboden, bis Kunigunde zu schluchzen begann und ihre Leidensgeschichte erzählte. Nie wieder geh ich zurück – schimpfte sie – ich lebe für immer hier im Wald.
Und damit hatte es sich. Irgendwann hatte sie Ferdinand nichts mehr zu erzählen. Es geschah zu wenig im Wald und wenn, dann war es immer ein und das selbe. Also kein großer Unterschied zum Leben in der Stadt und doch ganz anders. Hier im Wald ist Natur, echtes Leben, während die Stadt reines Menschenwerk und tot ist. Man spürt den Unterschied zwischen dem Göttlichen und dem Menschlichen. Kunigunde wendete sich mehr und mehr dem Göttlichen zu und verstummte mehr und mehr, bis nur mehr Zahlen aus ihrem Mund ertönten. Man könnte sagen Kunigunde wurde merkwürdig, aber sie erschien Ferdinand von Tag zu Tag glücklicher und auch göttlicher.

Schadenersatz für ein Leben. Es gibt auch dafür Gesetze. Menschengesetze, nicht von Gott, sondern vom Menschen gemacht. Und das nicht nur einmal, sondern mehrmals. Göttliche Gesetze, verfälscht bis zum Geht-nicht-mehr. Als ob man den Einen Gott lieben muss und den Tag des Herrn ehren soll. Müssen tut man gar nichts. Und ehren auch nicht. Stattdessen wären vielleicht das die wahren Gebote:
Erstes Gebot: Sei immer für dich selbst und deine Taten verantwortlich.
Zweites Gebot: Sei freundlich zu allen Lebewesen, auch zu denen, die dir als Nahrung dienen, wie Pflanzen und Kleintiere.
Drittes Gebot: Beute die Natur nicht aus und nimm dir nur das, was du hier und jetzt zum Überleben brauchst.
Viertes Gebot: Habe vollstes Verständnis für deine Kinder und nimm ihre kleinsten Sorgen und Probleme ernst und sei für den Rest deines Lebens immer für sie da.
Viertes Gebot: Wer diese Gebote nicht einhalten kann, soll von der Gemeinschaft liebevoll betreut und immer wieder aufgeklärt werden.
So oder so ähnlich sollten sie lauten, die wichtigsten Gebote. Natürlich soll man die Alten ehren, ihnen behilflich sein, wenn sie nicht so können, wie sie wollen. Falsches Zeugnis reden ist Schwachsinn, denn es sollte gar keine Sprache geben. Worte können töten und vor allem verwirren sie.
Was hat es nun auf sich mit dem Schadenersatz für ein Leben? Es geht um den Buam. Um den, den einer der zwei Polizisten erschossen hat. Es war Notwehr und es war zum Schutz aller, die sich damals auf der Straße befunden haben. Der Bua hat zwar keinen Menschen getroffen, also weder getötet noch verletzt, aber er war eine große Gefahr für die Öffentlichkeit. Klar. Oder? Die Polizisten, keiner der beiden, hatten keine Wahl. Aber die Eltern klagen und wollen Schadenersatz für ihren einzigen Sohn, obwohl sie für ihn nie wirklich da waren, wenn er sie brauchte.
Geld ist ihnen wichtiger als das Leben ihres einziges Kindes, - denkt Ferdinand, als er die Akte erledigt in eines der Regale legt. Abgelehnt – steht darauf. Nichts bekommen sie, diese Rabeneltern, von denen eh jeder wusste, dass sie selbst auch Gauner sind. Arbeiten nichts, bekommen Notstand und versaufen das Geld, anstatt dem Buam eine anständige Ausbildung zu bezahlen.
Es ist die Stadt, Ferdinand, - sagte Kunigunde auf der Waldlichtung zu ihm, als sie wieder ein wenig sprach, - es ist die Stadt, die die Menschen verschlingt und sie zu ihren Untertanen macht. Man muss keine Angst vor Robotern oder Maschinen haben, dass sie einmal selbständig agieren könnten. Man muss Angst vor den Städten haben, denn die machen sich selbständig und die Menschen zu Robotern. Die Stadt war es, die das aus den Eltern und dem armen Buam gemacht haben.
Und Ferdinand nickte stumm dazu.

Kunigunde spricht wieder. In Zungen, wie man damals so sagte. Nicht mit gespaltener Zunge, sondern mit fremder Zunge. Eigentlich mit dem Geist. Kunigunde hört die Stimme nicht wirklich in ihrem Kopf oder ihrem Herzen oder anderswo in oder an ihrem Körper. Kunigunde spricht einfach so wie sie immer sprach und doch anders. Ihr fällt sozusagen etwas ein, was ihr selbst niemals eingefallen wäre. Niemals hätte sie gesagt, dass die Stadt die Menschen verschlingt und zu ihren Sklaven macht.
Und Gott war ihr schon immer egal. Die Menschen gehen nur zu bestimmten Anlässen in die Kirche, wie etwa wenn Hochzeit ist oder ein Begräbnis. Man hat auch schon aufgehört, die Kinder zu taufen, weil man ihnen selbst überlassen möchte, welcher Religion oder Sekte sie beitreten möchten, wenn überhaupt. In den Städten gibt es immer mehr so genannte Heiden. Gottlose. Nicht mal die Moslems stehen mehr zu ihrem Allah. Man hatte früher Angst vor ihnen und vor ihrem gestrengen Allah, der befahl, Hände abzuhacken, wenn diese Hände gestohlen haben. Die Hände waren schlecht für den restlichen Körper, also weg damit. Und wenn Gottloses gesprochen wurde, kam eben der Kopf weg. Leider lebt dann der restliche Körper nicht mehr weiter, was wohl als Kollateralschaden abgetan wurde.
Gott kennt die Stadt nicht,- sprach Kunigunde (in Zungen), als sie wieder einmal gesprächig mit Ferdinand an der Lichtung verweilte.
Gott kennt überhaupt keine Stadt. Darin steckt kein Leben, sprach sie weiter und Ferdinand hörte aufmerksam zu.
Das Leben ist hier, sprach Kunigunde, - hier im Wald, in der Erde, in den Bäumen, den Tieren und all dem Lebendigen und Ehrlichen. Menschen sind nicht mehr ehrlich. Sie haben sich verkauft.
An den Teufel? - fragt Ferdinand und Kunigunde lächelt sanft.
Gott ist Kraft, mein Lieber, - spricht sie weiter, - keine Person. Gott ist auch Liebe. Gott ist alles, was gut ist. Die Güte selbst. Freiheit und Frieden. Stille vor allem. Horch hinein in die Stille.
Ferdinand horcht und hört Vögel und das Rauschen der bereits abfallenden Blättern in den Büschen, zwischen denen sie hocken und auf die Lichtung blicken, auf der gerade ein Reh erscheint. Hinter ihm trabt ein zweites Reh herbei und horcht ebenso gespannt wie Ferdinand. Es ist Stille, denn es macht ruhig.
Stadtlärm hingegen macht krank. Ferdinand weiß, was Kunigunde meint. Die Stadt wurde nicht von Gott erschaffen. Der Mensch hat sie erschaffen und alles, was der Mensch erschaffen hat, kam nicht von Gott. Sollte man es wirklich so streng sehen und ins Mittelalter zurück verfallen, wo Hexen und Magier verbrannt wurden, weil sie sich dem so genannten Fortschritt zuwandten?
Gott wartet, - spricht Kunigunde, nachdem die beiden Rehe wieder in Dickicht des Waldes verschwunden sind. Er wartet, bis wir genug haben und erkennen, was wirklich wichtig ist.
Aber wie kann er warten, wenn er keine Person ist? - fragt Ferdinand und Kunigunde lächelt wieder sanft.
Wie kann er etwas erschaffen, wenn er keine Person ist? - stellt sie (oder das, was aus ihr spricht!) die Gegenfrage. Hier musst du über drei Ecken denken, mein Lieber. Bedenke einfach, wo überall Leben ist und dann weißt du, wo auch Gott ist. In diesen Blechhaufen, welche die Asphaltschlangen
bedecken, ist kein Leben. Im Beton ist kein Leben. In der Stadt ist kein Leben. Die Stadt saugt den Menschen das wenige Leben, das noch in ihnen steckt, aus.
Ferdinand versteht, aber er versteht nicht, was man dagegen tun könnte. Es sind bereits zu viele Menschen auf der Welt. Würden sie alle in den Wäldern leben, gäbe es zu wenig Platz. Außerdem macht er sich mehr Sorgen um Kunigunde, als um die Menschen in den Städten. Der Winter kommt bald und das bedeutet Minusgrade.
Hab keine Angst um mich. Es wird gesorgt für mich. Man muss nur Vertrauen haben und einen tiefen Glauben, - spricht Kunigunde und beginnt diesmal vor Ferdinand ihr Nachtmahl zu genießen.

Die drei Men in black sind heute Men in white. Weiße, lange Mäntel, weiße Hüte und weiße Brillen. So stehen sie, der Größe nach von links nach rechts, vor dem Kiosk der alten Frau und stöbern wieder ungefragt und ohne zu bezahlen in allen möglichen Tageszeitungen.
Oben auf dem Blechdach sitzt die Taube und gurrt dem kleinen Hund etwas zu, der als Antwort leise knurrt.
Bunny, ist schon gut, - murmelt die alte Frau, - sie gehen bald wieder.
Aber es sind nicht die Männer, die die Taube und den kleinen Hund stören. Auf eine gewisse Art sind sie es, da es sich bei ihnen um Stadtangestellte, so genannte Gemeindemänner handelt. Es ist die Stadt, welche den beiden Tieren zusetzt.
Die Taube hat es leicht. Mit einigen Flügelschlägen ist sie am Waldrand oder über dem Wald, um Kunigunde zu beobachten. Der kleine Hund ist an die alte Frau gebunden. Leinenpflicht und für große Hunde zusätzlich Beißkorbpflicht.
Im Traum hetzt der kleine Hund über Wiesen, deren Horizont kein Ende nimmt. Das gibt es nicht mehr. Der Spaziergang findet nur in der Stadt statt. Die alte Frau kann auch nicht mehr so. Die Gelenke tun weh und die Injektionen, die sie jedes mal vom Arzt gegen die Schmerzen bekommt, tun den Rest. Die Knie- und Hüftschmerzen sind zwar weg, dafür kommen die Magen und Nierenschmerzen. Aber auch dafür gibt es Medizin und die geht wiederum auf andere Organe, wofür es auch wieder Medizin gibt, bis alles kaputt ist und die Seele den maroden Körper verlassen darf.
Es ist ja nicht gesagt, dass es keinen Fortschritt geben soll, - gurrt die Taube, - aber den sollte es in eine ganz andere Richtung geben.
Sag das Kunigunde, - motzt der kleine Hund und stellt die kleinen spitzen Öhrchen auf.
Hab ich schon, aber was kann sie alleine tun, - gurrt die Taube, - es ist zu spät.
Die andere Richtung. Im Grunde genommen ist es nie zu spät. Man kann sich immer entscheiden. Vor allem die Menschheit, von der schließlich alles abhängt. Es ist schon so, dass sie über die Welt bestimmt, da ihr Bewusstsein sich nun mal so entwickelt. Aber mit diesem Bewusstsein kann so viel mehr getan werden, wenn es in die andere Richtung gehen würde. Menschen sind von Natur aus neugierig. Sie wollen über Alles alles wissen. Sie wollen ergründen, warum am Morgen die Sonne auf- und am Abend untergeht. Sie wollen wissen, wohin sich die Erde dreht und ob sie sich überhaupt dreht. Ist die Erde eine Kugel, eine Scheibe oder gar ein Würfel?
Falsche Fragen. Es waren die ganz falschen Fragen. Sie hätten anders lauten müssen. Aber woher wissen? Der Weg ist eingeschlagen und der Pfeil lässt sich nur mehr schwer in eine andere Richtung biegen. Der Zeitpfeil als Wegweiser. Er lässt sich weisen, wenn man nur will. Hier ist der Wille ausschlaggebend.
Es waren die falschen Fragen,- sinniert Kunigunde, denn der Geist, der die Taube und den kleinen Hund lenkt, lenkt auch sie. Es ist kein zwingender Geist. Er kommt, wenn man ihn kommen lässt. Er kommt, wenn man ihn empfangen will. Er zwingt sich niemandem auf. Und er ist leise. Sehr leise. Aber mit ein bisschen Demut und etwas weniger Eigendünkel kann man ihn hören.

Die Geschichte stockt, weil kaum jemand weiß, welche Fragen man stellen hätte sollen. Es ist einleuchtend, dass die Erfindungen, bzw. Entdeckungen der Menschen nichts Göttliches enthalten, auch wenn sie von göttlichen Geschöpfen (was Menschen ja sind, da sie, wie alles in der Natur, Göttlichkeit enthalten) geschaffen wurden. Gott hat den Menschen alles gegeben, was sie zum Leben brauchen. Es gibt jede Menge Heilpflanzen. Für jedes Wehwehchen ein Kräutlein, wie man so sagt. Man hätte keine chemischen Substanzen mixen müssen. Man hätte bei den Kräutern weiter suchen sollen. Selbst die Erde, der Erdboden, hat heilende Wirkung. Aber wenn alles zubetoniert wird, gibt es auch keinen Erdboden mehr, der Kraft gibt. Der Erdboden braucht seine gesamte Kraft zum atmen, da er unter den unzähligen Betonplatten und Asphaltschlangen erstickt.
Das wäre eventuell eine der Fragen gewesen, welche die Menschen hätten stellen sollen. Wozu ist dieses Kraut gut? Was heilt man mit dieser oder jener Wurzel? Das Wohlbefinden der Menschen liegt Gott sicher sehr am Herzen. Auch wenn 'er' bloß eine unpersönliche Kraft ist, muss doch etwas Persönlichkeit in 'ihm' stecken.
Kunigunde hat einige Kräuter und Wurzeln im Wald entdeckt, die ihr Wohlbefinden schenken. Es gibt eine ganz bestimmte Pflanze gegen Wetterfühligkeit. Es gibt etwas gegen Bauchschmerzen, vor allem für Frauen an bestimmten Tagen, wie Kunigunde ebenso durch ihre Waldkost festgestellt hat.
Man hätte alle Pflanzenarten prüfen müssen,- spricht Kunigunde wieder einmal vor Ferdinand, der sich noch immer Sorgen um sie macht, da es bereits einige Minusgrade hat. Vor allem Nachts ist es bitterkalt, aber Kunigunde zeigt keine Anzeichen von Schnupfen oder Husten.
Übrigens hat man die Suche nach ihr aufgegeben. Man nimmt an, dass Kunigunde bereits außer Landes ist und eine neue Identität angenommen hat. Irgendwie hat sie das, denn der Wald war für sie Neuland. Jetzt ist er ihre Heimat. Und eine neue Identität hat sie auch angenommen. Nein, nicht neu – man kann sagen, sie hat sich selbst gefunden. Sie hat die wahre Kunigunde in sich entdeckt.
Und nun denkt sie über die neuen Fragen nach, weil sie das, was sie sagen sollte, noch nicht auszusprechen getraut. Es ist zu furchtbar und sie weiß, dass nur wenige Menschen zu retten werden sein.

Ferdinand wird eines Abends, als er Kunigunde Verpflegung bringt, von ihr angewiesen, am nächsten Tag die alte Frau, den kleinen Hund, den Straßenfeger vom dritten Stock (er wohnt im selben Mietshaus wie Ferdinand) und seine Katze mit in den Wald zu bringen. Und wenn sie nicht mit gehen? - fragt Ferdinand. Sie werden, - ist sich Kunigunde sicher, - sie werden bestimmt mit gehen.
In der Tat, das taten sie. Ohne zu Fragen, was Ferdinand mehr als wunderte, packten sie einige Habseligkeiten zusammen und kamen einfach mit.
Es gab mehr Kunigundes auf der Welt. Wohl in jeder größerer Stadt und vielleicht auch kleinen Stadt, wie eventuell auch in einem Dorf, gab es Menschen, die die 'Stimme' in sich aufnehmen konnten und andere warnten.
Aber wovor wurden sie gewarnt? Es kündigten sich keine größeren Kriege an, auch wenn in gewissen Ländern, in denen es eh nichts neues ist, immer wieder Kleinkriege ausbrachen. Und Naturkatastrophen wurden auch keine voraus gesagt. Wird etwa einer der großen Präsidenten auf den roten Knopf drücken und eine Atomkatastrophe auslösen.
Nichts davon geschah. Aber niemand wusste, was wirklich geschah, als jene geretteten Menschen im Schutz der Wälder überlebten und sie keine Städte, keine Dörfer, keine Asphaltschlangen mehr sehen konnten. Überall waren Wiesen und Wälder und Seen und Flüsse und eine so reine Luft zum Atmen, dass erst mal alle husten mussten, da sie so eine Luft nicht mehr gewohnt waren. Und es kündigte sich kein Winter an. Es war angenehm warm und die Sonne schien so hell wie noch nie.
Kunigunde dachte kurz an ihre Eltern und ihren Bruder, aber so eng war die Beziehung nicht, dass sie trauerte. Ein wenig waren alle Eltern wie die vom Buam. Nur an sich selbst denken, arbeiten, Geld scheffeln und Geld ausgeben für Dinge, die ohnehin niemand braucht. Bei Ferdinand und dem Straßenfeger, dem jüngsten der kleinen Gruppe, war es ähnlich und die alte Frau war ohnehin alleine mit ihrem kleinen Hund, der sich übrigens prächtig mit der Katze vom Straßenfeger verstand. Auch die Taube war da. Sie war nicht alleine in den Wald geflogen. Ihr Partner war mit gekommen und nun gurrten sie glücklich auf der Spitze einer riesigen Tanne.
Und was nun? Alles wieder von vorne? Und wenn, wird es wohl sehr lange dauern, bis diese Menschen, denen die Natur mehr als alles andere am Herzen liegt, Menschen hervor bringen wird, die sich wieder fragen, wozu man dies und jenes gebrauchen könnte und wie groß wohl das Universum ist und man zum Mond fliegen könne und ob man sich das Leben mit Maschinen bequemer machen könnte oder...

fin...