„Habe die Ehre! Heinz und Kunz geben ein Konzert im achten Regimentshaus, um ihre Kunst all denen darzubieten, die nichts davon verstehen. Ansonsten wäre das Konzert unerträglich.“
„Die genaue Tageszeit?“
„Was ist Tages-, was ist Nachtzeit? Hier darf nichts und niemand nach irgendwelchen Zeiten fragen. Überraschung! Lasst euch überraschen und seid allzeit bereit, wenn euer König kommt. Einer von denen wird es schon sein. Entweder Heinz oder Kunz. Oder keiner von beiden. Viele Möglichkeiten gibt es da leider nicht.“
„Was spielen die beiden überhaupt? Ich meine, welche Instrumente beherrschen sie?“
„Keines, wenn Sie mich fragen, gnädige Frau.“
„Gnädige Frau? Dass ich nicht lache. So wurde ich schon lange nicht mehr angesprochen. Na ja, so lange bin ich noch nicht hier.“
„Wo ist hier? Was ist hier?“
„Ach, tun Sie doch nicht so, sie Wichtigtuer. So ein besonderer Ort ist dies hier auch wieder nicht, denn ich habe mir das Paradies ganz anders vorgestellt.“
„Und wie, gnädige Frau? Wie hat sich gnädige Frau denn das verdammte Paradies vorgestellt?“
„Oh, gibt es verschiedene Paradiese? Ich frage deshalb, weil sie es das verdammte Paradies genannt haben.“
„Es gibt nur ein verdammtes Paradies.“
„Schon klar, guter Mann, schon klar. Aber gibt es vielleicht auch ein erholsames Paradies, oder ein schönes Paradies?“
„Nichts von dem gibt es. Hier sind Sie schon richtig, gnädige Frau. Also dachten Sie, das hier sei ein schöner Ort, an dem man sich erholen kann. Erholen wofür?“
„Wovon - wäre passender. Ach, ich sag Ihnen, dieses letzte Leben war die reinste Hölle.“
„Klar, sonst wären sie nicht hier.“
„Wieso wäre ich sonst nicht hier?“
„So ist es nun mal. Wenn das eine Leben beschissen ist, wird das nächste nicht beschissen sein und wenn das eine Leben nicht beschissen ist, wird das nächste beschissen sein. Ausreißern geht es eben an den Kragen.“
„Ausreißern? Was meinen Sie damit, guter Mann?“
„Lassen sie dieses – guter Mann. Ich bin kein guter Mann, sondern einer der Erzengel, namens Uriel. Sieht man mir das nicht an?“
„Wo sind die Flügel?“
„Flügel? Meinen Sie, ein Erzengel braucht Flügel, um zu fliegen?“
Enttäuscht wendet sich die Frau ab und blickt die leere Straße entlang. So leer ist die Straße gar nicht, denn sie ist belagert von Müll aller Art. Man müsste es nicht sehen. Man könnte es durchaus riechen. Gehsteige gibt es keine. Die Straße ist breit, gute zehn Meter und links und rechts von grauen, riesigen Betonklötzen gesäumt. Beton und Asphalt, wohin das Auge reicht. Und Müll. Natürlich Müll! Was sonst? Sonst bräuchte es keine Säuberung im Paradies.
„Es stinkt.“
„Ja, das ist der Müll, den die Leute ständig aus den Fenstern werfen.“
„Ich sehe keine Fenster an diesen grauen Blöcken. Nur kleine Luken. Wohnen Leute darin?“
„Natürlich! Sie werden auch hier wohnen. Und als Einstandsgeschenk gibt es ein Konzert von Heinz und Kunz.“
Uriel, der die Arme hinter dem Rücken gehalten hat, streckt sie plötzlich nach vor und hält der Frau seine nach oben offenen Handflächen entgegen, wo auf je einer ein kleines Männchen steht. Auf der linken Handfläche steht eines, gekleidet in einer Lederhose und einem legeren T-Shirt, im Arm eine Ziehharmonika. Auf der rechten Handfläche hockt eines im weißen Bademantel auf einem Schemel vor einem schwarzen Klavier.
„Da sieht man mal wieder den kulturellen Unterschied der Zeit. Aber was ist hier schon Zeit? Bedeutungslos, bedeutungslos.“
„Singen die beiden auch?“
Belustigt beobachtet die Frau die beiden Männchen auf den offenen Handflächen Uriels. Heinz dürfte der mit dem Akkordeon sein und Kunz wahrscheinlich der, der eben kräftig in die Tasten haut.
„Man nennt es manchmal so, obwohl der im Bademantel gar nicht so schlecht ist. Aber der andere! Ich sag's ihnen, gnädige Frau! Es ist nicht zum aushalten. Aber beide können nichts dafür. Es sind die Leute, die sie zu dem machen, was sie sind. Und die Leute werden wiederum zu dem gemacht, was sie mögen.“
„Wie ist das denn zu verstehen?“
„Noch nichts von Manipulation gehört? Gerade im Leben auf dem Planeten Erde ist dies das Zauberwort, von dem die Oberen leben. Und glauben sie nicht, dass die Oberen nur die Politiker und Wirtschaftsleute sind. Oh, nein, oh, nein! Die Oberen arbeiten im Hintergrund und tun das sehr geschickt. Berieselt werden die Leute, ohne es zu bemerken. Schon mal was von Werbung gehört?“
„Ich hasste sie!“
„Kann ich mir gut vorstellen. Besonders mitten im Spielfilm, wo es spannend wird, was? Nervig, so was von nervig. Aber gerade dann tut sie ihre beste Wirkung, weil man da nicht aufpasst, was einem vorgesagt wird. Man blendet es bewusst aus und wartet, bis endlich der Film weitergeht und inzwischen trinkt das Unterbewusstsein und frisst das Unterbewusstsein und der Depp vorm Fernseher bekommt nicht mit, wie ihm sein restliches Leben vorgeschrieben wird.“
„So schlimm kann es doch nicht gewesen sein. Obwohl, ja, obwohl ich mal hörte, dass in einem Kino ein Versuch gemacht wurde, wo während eines Films in ganz, ganz kurze Sequenzen Werbung gebracht wurde, ohne dass die Menschen es bewusst bemerkten. Plötzlich verließen alle den Kinosaal und wollten sich draußen, wo es Erfrischungen und Knabbergebäck gab, alle eine Cola kaufen, weil ihnen genau das in den kurzen Sequenzen suggeriert wurde.“
„Sag ich doch! Manipulation auf höchster Ebene. Und die Deppen merken nichts.“
„Reden Sie nicht so abfällig von den armen Menschen.“
„Arm? Sie tun mir nicht leid. Ihnen etwa, gnädige Frau?“
„Manche tun mir leid, weil sie vollkommen unschuldig zum Handkuss gekommen sind. Übrigens, was meinten sie damit, als sie sagten – Ausreißern geht es an den Kragen, - um meine Frage, die ich ihnen bereits gestellt habe, zu wiederholen?“

„Es ist kompliziert. Außerdem weiß ich es auch nur vom Hörensagen, dass der Alte ein echter Geizkragen ist und seine Angestellten wie Sklaven behandelt. Freien Ausgang oder Süßigkeiten nach den Mahlzeiten gibt es auch nicht. Also, wen wundert's, wenn die Leute reiß aus nehmen?“
„Wer ist der Alte?“
„Der, der hier das Sagen hat. Aber man sieht ihn nie. Irgendwie scheint er im Verborgenen zu leben oder er ist nur ein Mythos. Man weiß es nicht. Und ehrlich gesagt, ich weiß es auch nicht so recht, also nur vom Hörensagen.“
Die Frau geht zaghaft einige Schritte weiter. Uriel folgt ihr, noch immer die Handflächen nach oben, mit den zwei Männchen darauf.
„Ganz ehrlich, ich bin enttäuscht, da ich mir das Paradies echt ganz anders vorgestellt habe. Man sprach auf der Erde vom Garten Eden, aber hier gibt es nicht das kleinste grüne Fleckerl.“
Wieder blickt sie an den grauen Betonklötzen hoch und die lange, gerade Straße entlang, die von Müll jeglicher Art belagert ist.
„Und ich dachte immer, die Erleuchteten oder jene, wie Sie, gnädige Frau, die nah dran an der Erleuchtung ist, legen keinen Wert auf Äußerlichkeiten. Dann hätten sie halt was Böses angestellt.“
„Was wäre dann gewesen?“
„Dann wären sie in die Hölle gekommen, wo ein Grün dem anderen Grün arge Konkurrenz macht. Dort blühen die schönsten Blumen aller Universen und Bäume gibt es dort, - ich sag's Ihnen, gnädige Frau, da würden Sie nur noch staunen. Aber das ist halt nur etwas für Leute, die so was brauchen. Und ach, das muss ich noch erwähnen, weil ich gerade das Wort – brauchen – erwähnt habe: mitten in diesem herrlich grünen Park, mit den buntesten Blumen aller Zeiten und wunderlichsten Bäumen, liegt eine Prachtstraße, die jene auf der Erde alle zusammen in den Schatten stellt. In dieser Prachtstraße gibt es Geschäfte, - ich sag's Ihnen, gnädige Frau, da würden Ihnen die Augen übergehen. Und der Clou an der Geschichte: Das, was es dort alles gibt, kostet nix. Gar nix! Nicht mal den kleinsten Cent!“
Die Frau schüttelt missmutig den Kopf.
„Sie verarschen mich ja nur.“
„Tu ich nicht. Wie gesagt, Erleuchtete brauchen so was doch nicht.“
„Ich habe ein Scheißleben hinter mir und möchte jetzt etwas dafür bekommen. Wenigstens ein kleines Stückchen Grün. In unserer Gegend, wo ich mit meiner Familie lebte, Großeltern, Eltern, Mann und Kinder, blieb kein Stein auf dem anderen. Krieg, immer nur Krieg! Wir mussten fliehen. Besser gesagt, wir konnten fliehen, denn die alten Großeltern mussten wir zurücklassen. Wir wussten all die Jahre nicht, die wir im Asyl, wie eingepferchte Tiere in irgendwelchen Hallen lebten, ob sie noch leben oder nicht...“
„Ich kann ja mal schauen, ob...“
„Danke! Nein! Sonst kommt noch mehr Blödsinn raus. Wenn es sein soll, treffen wir uns schon wieder.“
Plötzlich beginnt das Männchen in Lederhosen auf Uriels linker Handfläche zu singen: „Amoi seg ma uns wieder. Amoi schau i a von obm zua...“
„Ist er denn auch schon tot?“ fragt die Frau mit Blick auf den Harmonikaspielenden und Singenden.
„So gut wie. Nein, nein, war nur Spaß! Er erfreut sich bester Gesundheit und erfreut tausende von Menschen mit seinen außergewöhnlichen Darbietungen. Auch der da am Klavier ist okay, obwohl er, aus irdischer Sicht bereits verstorben ist. Ach, Sie meinen, die beide Figuren da sind echt? Nie im Leben! Das ist Kreativität, reine und wahre Kreativität. Der Alte muss nicht glauben, er sei der einzige, der was erschaffen kann.“
„Erschaffen und Kreativität ist das gleiche?“
„Was denken Sie sonst, gnädige Frau? Oder meinen Sie, das, was ihr da unten auf dem kleinen, winzigen, blauen Planeten fabriziert habt, sei Kreativität? Das war billiger Abklatsch von wahrer Kreativität und sonst nix. Falsche Berühmtheiten rühmten sich ihrer falschen Kunst. Jene, die dem, was wir hier wahre Kreativität nennen, verhungerten bei euch, und jene, die euch verarscht haben mit ihren Punkten und Strichen und Linien... Ach, was soll's. Ist ja nicht böse gemeint und hat im Nachhinein absolut keine Bedeutung.“
„Es stimmt schon“, gibt die Frau zu, als beide langsam weiter gehen, während das Lied des Harmonikaspielenden und Singenden langsam ausklingt. „Manche Kunstwerke habe ich auch nicht verstanden, aber die waren viel, viel Geld wert. Manchmal war so ein kleines Bilchen teurer als ein Haus. Was sage ich! Teurer als manches Schloss!“
Uriel bleibt kurz stehen und pustet auf seine beiden Handflächen. Im nächsten Moment waren die beiden Männchen verschwunden.
„Wie machen Sie das?“
„Wollen sie es lernen? Es funktioniert ganz einfach, wenn man daran glaubt.“
„Ja, ja, Glaube versetzt Berge“, lacht die Frau.
„Kann er in der Tat. Glaube ist die höchste Macht, die es gibt. Ohne Glaube würde es das alles gar nicht geben“, sagt Uriel und weist mit beiden Armen rund um sich.
„Ich könnte auf diese Betonwelt verzichten. Gibt es hier denn wirklich nichts Grünes?“
Uriel bleibt stehen und reißt sich seinen langen schwarzen Mantel auf. Zum Vorschein kommt ein Supermantrikot, der Uriels Figur offen legt. Es mag ja ein wenig peinlich sein, das Bäuchlein und die dürren Beine, aber wie gesagt: Wer legt im Paradies schon Wert auf Äußerlichkeiten?
„Ta, ta!“ macht Uriel, packt die erstaunte Frau und hebt mir ihr in seinen Armen wie eine Rakete vom Boden ab. Von oben sieht der Ort noch trostloser aus. Nichts als Betonklötze aneinander gereiht und zwischendurch gerade Straßen, die sich regelmäßig kreuzen.
„Hier kann man sich ja mächtig verlaufen. Sieht ja alles gleich aus. Und das ist alles bewohnt?“
„Alles bewohnt. Aber es täuscht, denn es sieht nicht alles gleich aus, wenn man wirklich sehen kann. Wie geht der bescheuerte Spruch noch mal: Man sieht nur mit...“
„...dem Herzen gut“, vollendet die Frau den Satz.
„Genau! Als würde das Herz Augen haben. Ha, ha!“
Irgendwo tauchen die beiden hinab und landen wieder auf irgendeiner, mit Müll belegten Straße neben irgendwelchen Betonklötzen.
„Hab nichts Grünen gesehen. Tut mir leid, gnädige Frau.“
„Es ist deprimierend. Wenigstens war der Flug schön. Wusste gar nicht, dass Engel solche Kostüme tragen.“
„Normal tun sie es eh nicht. Eigentlich ist es verboten, sich zu verkleiden.“
„Wer verbietet es denn?“
„Na, der Alte! Wer sonst? Er stellt ständig irgendwelche Gebote, äh, Verbote auf, die dann am Hauptplatz am Pranger hängen.“
„Hauptplatz?“
„Das ist eine andere Sphäre, zu der nur wir Engel Zugang haben. Ist auch nichts Besonderes, eben auch nur Beton, ein Platz aus Beton und rund um nix.“
„Nix?“
„Das ist eigentlich ein ganz besonderer Rohstoff, den es nur auf Betanullzweiorte gibt, aber wir Engel haben auch so was wie einen Slang und da könnte man nix mit nichts übersetzen.“
„Was ist so besonders an diesem Rohstoff?“
„Das würden Sie nix, äh, nicht verstehen, weil es die menschliche Kapazität überschreitet, was heißen soll, es wäre zu paradox, um verstanden werden. Im Grunde genommen ist es ja so was wie ein Nichts, aber ein volles Nichts, während das Nichts, das den Menschen einigermaßen bekannt ist, ein leeres Nichts ist.“
„Wo werde ich nun wohnen?“
„Ist das Ihr Ernst, gnädige Frau? Wollen sie tatsächlich, dass ich sie jetzt schon in Ihre Zelle bringe?“
„Warum nicht? Was wäre so schlimm daran?“
„Schlimm? Nun, eigentlich gar nichts. Es ist nur so, wenn ich sie in Ihre Zelle bringe, müssen Sie für immer da drinnen bleiben. Oder haben Sie sich noch nie, seit Sie hier sind, gefragt, warum die Straßen so leer sind?“

„Ich hätte nicht gedacht, dass es noch schlimmer kommen könnte“, sagt die Frau und scheint plötzlich etwas zu hören.
Es ist ein Zebra, das sich in einer der Zellen den Geist aus der Seele heult. Es könnte auch andersrum sein, nämlich ein Zebra, das sich in einer Zelle die Seele aus dem Geist heult. Auf jeden Fall ist es so, dass Geist und Seele immer eine Einheit bilden und nie und nimmer getrennt werden können. Und nun das! Der Grund, warum es so sehr heult, ist – es gehört gar nicht hier her. Zebras und einige andere Tiere gehören in ein ganz anderes Jenseitsgebiet. Das Paradies ist nämlich nur den Menschen vorbehalten, - eigentlich bestimmten Menschen, nämlich jenen, die an den einen Gott und an das Paradies glauben.
„Genau!“ meint das Zebra und heult wieder erbärmlich auf. Ist ja auch zu verstehen, denn Zebras gehören in eine Savanne oder dort hin, wo wenigstens ein bisschen Gras wächst. Egal, ob sie gut oder böse waren. Außerdem kommt das für Tiere eh nicht in Frage. Tiere sind weder gut noch böse. Sie sind wie sie sind und gehören wirklich nicht hier her.
„Ein Irrtum Luzifers“, meint Uriel achselzuckend. „Er wird es schon wieder in Ordnung bringen, wenn das Tier noch lange genug heult.“
„Luzifer?“ stößt die Frau mit geweiteten Augen krächzend hervor.
„Keine Angst, so schlimm wie sein Ruf ist er nicht. Außerdem, glaubt ihr Menschen wirklich, all unsere Geheimnisse entschlüsselt zu haben? So was wie die Vertreibung aus dem Paradies gab es nie. So fies ist der Alte auch wieder nicht, dass er jemandem von hier raus jagen würde.“
„Ich schätze mal, von hier würde jeder freiwillig gehen.“
Die Frau blickt an den Betonklötzen hoch.
„Wie viele Stockwerke haben sie denn? Tausend, zweitausend? Als wir in die Luft hoch rasten, kam es mir jedenfalls so vor und von hier unten kann ich das Ende der Betonriesen gar nicht sehen.“
„Na ja, sie wachsen ständig, also kann man gar nie so genau sagen, wie viele Stockwerke es sind. Ich schätze so an die dreißigtausend. Ist aber nur grob geschätzt.“
„Unvorstellbar“, staunt die Frau und findet trotzdem keinen Gefallen daran. Vor allem der Geruch ist es, der mehr und mehr Übelkeit aufsteigen lässt.
„Was nun?“ fragt Uriel.
„Wie was nun?“
„Zelle oder ein Spaziergang mit mir?“
„Macht es einen Unterschied?“
„Auf jeden Fall, auch wenn beides gleich eintönig ist. Aber vielleicht treffen wir auf einen anderen Engel. Vielleicht sogar auf Luzifer“, witzelt Uriel und rollt seine großen, blauen, hervorquellenden Augen.
„In welcher Zelle werde ich wohnen?“
„Im achten Regimentshaus! Sagte ich doch, als ich Sie begrüßte und Ihnen sogar ein Konzert ankündigte.“
„Und wo ist das? Hier sieht doch alles gleich aus.“
„Wissen Sie was, gnädige Frau...“
„Eigentlich weiß ich nicht viel. Wir Frauen hatten kaum Gelegenheit, etwas zu lernen. Kaum, dass wir unverschleiert auf die Straße durften.“
„Ich meinte das anders, gnädige Frau. Ich wollte sagen: Wissen Sie was, Gnädige Frau, bevor ich Sie in Ihre Zelle bringe, werden wir ein paar der bemüllten Straßen reinigen. Aber während wir das tun, können Sie mir gerne einiges aus Ihrem beschissenen Leben erzählen“, berichtigt Uriel und holt aus seinem langen, schwarzen Mantel, den er plötzlich wieder über das Supermankostüm an hat, zwei große Müllsäcke und je eine Müllzange.
„Da gibt es nicht viel zu erzählen. Die meiste Aufregung und wohl auch das größte Abenteuer war, als der Krieg ausbrach. Da war endlich was los, auch wenn es total traurig war, wenn Bekannte oder Verwandte umkamen. Aber es war eine willkommene Abwechslung.“
„Da hört man doch ganz andere Sachen, wie etwa, dass die Bevölkerung unter den Kriegen leidet und man die beiden Streithähne doch in einen Boxring stecken soll, wo sie ihre Zwiste selbst austragen könnten.“
„Sicher hatten wir Angst, wenn irgendwo eine Bombe hoch ging, oder in der Nähe geschossen wurde. Aber gegen diese ständige Eintönigkeit war es direkt eine Wohltat.“
„Das kann nicht Ihr Ernst sein, gnädige Frau. Damit verhöhnen sie tausende von Menschen.“
„Ich sag doch nur, wie ich es empfunden habe. Vielleicht haben andere darunter gelitten. Ich für meinen Teil wäre nicht geflohen, aber wenn Chef sagt, wie gehen, dann gehen wir. Da ist es uns erst mies gegangen. Niemand wollte uns haben. Und das haben sie uns spüren lassen. Angst hatten sie vor uns. Dachten, wir würden Terror machen. Dabei hatten wir mehr Angst vor ihnen. Man steckte uns in Hallen oder so genannte Auffanglager, wo es fast so stank wie hier und es gab nur einmal am Tag Essen. Dabei taten sie, als würden sie Gott-weiß-was-für-uns-tun. Nach außen hin hieß es, dass Flüchtlinge besser behandelt werden als Einheimische. Das war sicher nicht der Fall. Fast ein Jahr lang mussten wir in so einem Lager bleiben, bis man uns weiter in den Norden brachte, wo es uns ein wenig besser ging. Noch immer traute man uns nicht. Keine Arbeit, nur Almosen, die man uns – ich spürte das sehr wohl – missmutig gab. Zwei Jahre später schob man uns ab und wir mussten zurück in unser Land, wo kurze Zeit später erneut der Krieg ausbrach. Irgendwo an einer Kreuzung, wo ich eben mit meinem Neugeborenen, übrigens mein viertes Kind, im Arm spazieren ging, ging eine Bombe hoch und zerfetzte uns beide. Im nächsten Moment stand ich hier...“
„...nicht hier, sondern vier Straßen weiter links“, verbessert Uriel.
„...und irgendein komischer Kauz mit schütterem, rötlichen Lockenhaar und Basedowsche Augen macht mich an, indem er von irgendeinem Konzert faselt. Toll, was?“
„Sie könnten es auch anders haben, wenn Sie mehr an sich selbst glauben würden.“
„Kommen Sie mir nicht schon wieder mit so einem Schmarrn, dass Glaube tatsächlich Berge versetzen kann“, schimpft die Frau und steckt gerade ein großes Stück Kot in den Müllsack.

Im nächsten Moment beobachten Uriel und die Frau einen Mann in einem weißen Krankenhausnachthemd. Das sind jene Nachthemden, die vorne zu und hinten zum zusammenbinden sind, wo dann meist das nackte Hinterteil derjenigen Person hervorblitzt, die derartige Nachtgewänder anhaben. Der relativ junge Mann wirkt etwas desorientiert und scheint mit jemandem zu reden.
„Michael ist bei ihm“, klärt Uriel die Frau flüsternd auf.
„Ich seh nur den Kerl mit dem peinlichen Nachthemd.“
„Für eine Frau aus den arabischen Ländern ist Ihre Sprache doch etwas zu direkt. Meinen Sie nicht, gnädige Frau?“ stellt Uriel pikiert fest.
„Ich weiß auch nicht. So habe ich eigentlich nie gesprochen. Ich habe ohnehin sehr wenig gesprochen, weil ich ja auch nichts zu sagen hatte. Frauen sind nichts wert und haben ihren Mund zu halten, wenn Männer reden. Kinder haben mehr Rechte als wir Frauen.
Aber als ich hier her gekommen bin, war mir, als würde mehr Wissen in mich strömen. Immerhin erkannte ich die beiden Männchen auf Ihren Handflächen, die in den arabischen Ländern sicher nicht bekannt sind. Kann sein, dass ich während der Zeit im Asyl etwas von ihnen gehört habe.“
„Die beiden Männchen waren eine Kreation meinerseits und wenn eine gewisse Ähnlichkeit mit lebenden oder gelebten Personen besteht, so ist das rein zufällig.“
„Jetzt zieht er wohl den Schwanz ein, was? Hat Angst, dass die sich beschweren und Sie so was wie Schmerzensgeld zahlen müssen.“
„Gnädige Frau, Ihre Ausdrücke sind wirklich sehr, sehr deftig. Na ja, ein wenig habe ich schon kopiert. Ah, sehen Sie nur! Der Junge geht durch die Häuser!“
Tatsächlich verschwindet der junge Mann wie durch ein Wunder in einer Wand der blockartigen Betonbauten.
„Wie macht er das?“ fragt die Frau.
„Wie macht er was?“ ertönt eine Stimme hinter ihnen.
Als sie sich umdrehen, steht ein Zweimetermann hinter ihnen. Muskelbepackt, Lendenschurz aus Leopardenfell und dazu passenden Stiefel, ebenfalls aus Leopardenfell, mit einem Lederband bis zu den Knien zusammen gebunden. In seiner linken Hand hält er ein flammendes Schwert. Als er bemerkt, wie die Frau zurück schreckt, pustet er die Flammen aus und lächelt dümmlich. Sein Gesichtsausdruck verändert sich übrigens kaum, wenn er lächelt.
„Oh, da ist Michael!“ ruft Uriel und klopft seinem Kumpel, der gut einen Kopf größer ist, fest auf die Schulter.
„Wie macht er, dass er durch die Wand geht?“ fragt die Frau, nachdem sie sich vom ersten Schreck erholt hat.
„Welche Wand?“ stellt Michael die Gegenfrage und ignoriert das verzweifelte Winken und Auf-und-ab-hüpfen Uriels hinter der Frau.
„Ich bin in einem Areal von Irrenhäusern gelandet“, seufzt die Frau und blickt auf Uriel, dessen Winken und Auf-und-ab-hüpfen sich in eine Art Gymnastikübung gewandelt hat.
„Man muss ja fit bleiben.“
„Also? Kann mir mal jemand sagen, was hier los ist? Wieso geht der Mann dort durch Wände und lächelt so verzückt? Jetzt singt er auch noch!“
Und zusätzlich zum Gesang ertönt wie durch Zauberei Musik zum Song „Let the sunshine in“.
„Ist wohl ein Hippie“, sagt die Frau und wundert sich abermals über ihre Feststellung, die so gar nicht zu einer arabischen Frau passt, die ihr Leben lang in Schleier gehen und den Mund halten musste. Und der Mann tanzt tatsächlich in die Wand hinein und wieder hinaus, hinein und wieder hinaus und trällert fröhlich einen weiteren Song aus dem Musical „Hair“.
„Du hättest sie schon aufklären sollen“, schimpft Michael auf Uriel. „Das war so ausgemacht. Wir lassen die Leute nicht mehr im Ungewissen.“
Die Frau stemmt die Hände in die Hüften und sieht die beiden abwechselnd sehr böse an.
„Schon gut, schon gut“ wehrt Uriel ab. „Kümmere du dich um deinen Hippie und ich kläre die Frau jetzt auf.“

Die Frau sieht Michael kopfschüttelnd nach.
„Was?“
„Ich hätte nicht gedacht, dass Engel, vor allem der große Erzengel Michael, so aussehen!“
„Wie sieht er denn aus?“ fragt Uriel interessiert weiter.
„Na ja, wie er eben aussieht. Können Sie ihn etwa nicht sehen?“
„Nicht wirklich. Wir fühlen einander. Und was das Aussehen betrifft, wir können es ändern, wenn wir das wollen.“
„Ach ja? Sie wollen tatsächlich so aussehen, wie Sie aussehen?“
„Ja! Was ist daran auszusetzen?“
Die Frau blickt an Uriel herab. Der lange, schwarze Mantel ist geschlossen und verdeckt das Bäuchlein und die dürren Beine.
„Passt schon. Und nun? Werde ich aufgeklärt?“
„Ich schätze, man hat sich bei Ihnen getäuscht. Sie gehören nicht hier her.“
„Sag ich doch! Wo ich mir das Paradies oder eben das, was nach dem irdischen Leben kommt, ganz anders vorgestellt habe.“
„Wie denn? Grünflächen? Geht es denn wirklich nur um diese verdammten Grünflächen?“
„Ich muss sagen, Ihre Ausdrucksweise, Herr Engel, ziemt sich auch nicht gerade für einen Vertreter Gottes.“
„Es färbt von Ihnen ab.“
Langsam geht die Frau weiter und hebt mit der Müllzange ein Papierstückchen auf. Uriel folgt ihr und säubert den Weg vor ihnen ebenso. Lange Zeit marschieren sie schweigend nebeneinander, die Frau links der Straße entlang und Uriel rechts der Straße entlang. Plötzlich bleibt die Frau stehen.
„Jetzt weiß ich es!“ ruft sie aus.
Uriel, der gerade neben der Häuserwand höchst hartnäckigen Müll von der Straße kratzt, blickt überrascht zu ihr.
„Was denn?“ ruft er ihr fragend zu, denn immerhin ist die Straße fast zehn Meter breit und die Akustik ist auch nicht gerade gut. Deshalb stapft die Frau rüber zu Uriel und sieht ihm fest in die Augen.
„Ich bin nicht mehr die Selbe.“
„Wie meinen gnädige Frau?“
„Jetzt spricht er mich gar in der dritten Person an. Das ist aber schon lange, lange her, dass man mich so angesprochen hat“, sagt sie und klopft sich ein paar mal mit der rechten Hand an die Stirn.
„Das ist es! Genau das ist es! Ich weiß sehr viel mehr. Nein, nicht wissen – es ist Erinnerung. Ich erinnere mich. Ich erinnere mich, dass man mich vor langer, langer Zeit in der dritten Person angesprochen hat. Ebenso erinnere ich mich – und das war sofort, als ich hier ankam, dass man mich ebenso vor etwas längerer Zeit mit – gnädige Frau – angesprochen hat. Aber in meinem letzten Leben hat mich niemals jemand so genannt. Höchstens: Frau, her da! Frau, mach dies, mach das! Man hat mir Befehle zugebellt. Es ist so viel mehr in mir, seit ich hier bin.“
„Sie haben hier und jetzt für eine Zeit lang das Menschsein abgelegt. Na ja, nicht ganz,- sagen wir, Sie haben die Eindimensionalität abgelegt und können nun einige Zeit lang multidimensional wahrnehmen, was bedeutet, dass nun mehrere Ichs in Ihnen herum toben.“
„So was nennt sich Schizophrenie.“
„Ja, so sagen die Ärzte auf der Erde, zumindest gewisse Ärzte. Das ist aber nur dann so, wenn ein Ich dabei ist, das die Oberhand haben will, - sozusagen eine Persönlichkeit, die gemein gefährlich werden kann, wenn die anderen Ichs sie nicht zurück drängen können.“
„Gemeines oder Gefährliches kann ich in mir nicht fühlen.“
„Moment! Gefühle gibt es hier nicht und auch das Bewusstsein ist ein andres, wie Sie ja schon richtig festgestellt haben. Wir sagen auch Gemüt dazu. Also, das Gemüt ist etwas Körperliches, das von den körperlichen Drüsen ausgeht. Durch gewisse Hormone entstehen im Körper Gefühle. Man sieht Gefühle zwar nicht, die entstehen, da sich die Wirkung von Körper zu Körper unterschiedlich zeigt. Deshalb ist es für Zuständige, also für Ärzte, wie man sie allgemein nennt, so schwer, eine Diagnose zu stellen.
Nun, und das andere ist das Bewusstsein, das zwar alle Lebewesen auf eine gewisse Art haben, das auch hier in Kraft tritt, aber doch vollkommen anders als im irdischen, menschlichen Körper, den sie zusammen mit dem Gemüt und eben dem menschlichen Bewusstsein abgelegt haben. Wie ich schon sagte, ist das menschliche Bewusstsein normalerweise eindimensional, da es ja nur ein Gehirn gibt, das nur ein Bewusstsein erzeugen kann. Aber hier ist es anders. Hier lösen sich alle Körperlichkeiten auf und das wahre Selbst, sozusagen das Göttliche, falls vorhanden, tritt mehr und mehr in Kraft.“
„Falls vorhanden?“ fragt die Frau mit zischender Stimme.
„Na ja, ich habe bei Ihnen irgendwie das Gefühl, als wäre die Schlange wieder ins Paradies zurück gekehrt. Nicht, dass das schlecht wäre, denn wir warten alle auf sie. Auf die Schlange, meine ich, nicht auf Sie, falls sich das so angehört hat. Na ja, und wenn doch Sie die Schlange sind, wäre das, als würde eine uralte Prophezeiung wahr werden.“
„Jetzt komm mal runter,Uriel.“
„Oh, duzen wir uns jetzt, gnädige Frau?“
„Ach, das war nur so ein blöder Spruch. Was ich wirklich meinte, ist, dass die Schlange, die es einst im Paradies gegeben haben soll, die wahre Schuldige ist, warum wir Frauen so mies behandelt werden. Sie hat Eva, unsere Urmutter, verführt und diese wiederum hat...“
„Quatsch! So war es nicht! Ich sagte doch, dass es keine Vertreibung aus dem Paradies gab. Das hat irgend so ein Quatschkopf auf der Erde verzapft, als ihm langweilig war. Oder meinen gnädige Frau wirklich, dass Menschen das große Geheimnis Gottes lösen könnten? Nicht mal wir können es. Es gibt keine wahren Geschichten über Gott und sein Reich. Nicht mal wir kennen welche. Diese Geschichten, die wahren Geschichten nämlich, kennt nur er selbst und sonst niemand.“

Die Frau überlegt,während sie weitergeht und die Straße weiterhin säubert. Uriel folgt ihr tatenlos.
„Was ist mit der Schlange? Es gab da so einen Anklang, sie sei nicht göttlich und gehöre demnach gar nicht ins Paradies. Sozusagen gehört sie nicht hier her und doch wartet man, laut einer Prophezeiung, auf sie. Dann hätte ich noch eine Frage: Sehe ich etwa aus wie eine Schlange?“
Sie blickt an ihren noch immer menschlich erscheinenden Körper hinab, sieht sich zwar nur vom Bauch abwärts, samt Beine, die in langen schwarzen Hosen und schwarzen Halbschuhen stecken.
„Es könnte auch rassistisch gemeint sein, denn wir Moslems waren absolut nicht beliebt in der Welt, in der wir um Asyl angesucht haben.“
„War es nicht eher so, dass Euch die Menschen anderer Kulturen und Religionen nicht angenehm waren und Ihr sie durch hinterlistige Anschläge terrorisiert habt?“
Sie bleibt stehen und blickt Uriel, der sich bedrohlich nähert, mit finsterem Blick entgegen.
„So ist das also? Dann ist das hier das Jüngste Gericht. Wusste ich doch, dass dies hier niemals das Paradies sein kann.“
„Moslemische Frauen kommen nicht ins Paradies.“
„Sagt wer?“
„Eure Religion, gnädige Frau.“
„Dann bin ich hier ja richtig. Was hat es also mit der Schlange auf sich, Herr Engel Uriel? Oder weichen Sie mir schon wieder aus?“
Uriel lacht hell auf. Er steht ziemlich nah bei der Frau, dass sich fast ihre Nasenspitzen berühren.
„Es hat nichts mit der Schlange auf sich. Was soll es auch auf sich haben? Hier hat nichts Bedeutung. Hier ist alles bedeutungslos. Nicht mal Hinz und Kunz, die bald gemeinsam ein Konzert geben werden, haben irgendwelche Bedeutung. Ebenso wenig das Zebra, das übrigens nicht mehr heult, weil Luzifer es bereits an die richtige Verwaltungsstelle gebracht hat.“
„Verwaltungsstelle?“ fragt die Frau und geht einen Schritt zurück.
„Das ist eine Art Büro mit zehn Angestellten. Es sieht aus wie auf einer Bank. Keine Bank zum Sitzen, sondern eine Bank, wo man Geldgeschäfte abhandelt. Hier werden natürlich keine Geldgeschäfte abgehandelt, sondern – wie soll ich das erklären? - na ja, hier werden alle Ankömmlinge registriert und eingeteilt. Ab und zu kommt es halt zu falschen Einteilung, wie im Fall des Zebras. Aber es kommt selten vor.“
„Vielleicht auch wie in meinem Fall?“
„Ach, Sie sind schon richtig hier im Paradies, gnädige Frau und Sie sehen keineswegs wie eine Schlange aus. Es geht ja auch nicht ums Aussehen, sondern darum, wer oder was man ist. Und so könnte es durchaus sein, dass es sich bei Ihnen um DIE Schlange handelt.“
„Warum betonen Sie – DIE – so besonders?“
„Weil es sich um DIE Schlange handelt. Auf der Erde und wohl auch auf anderen Planeten mag es jede Menge unterschiedlicher Schlangen geben. Aber in unserem Fall geht es einzig und allein um DIE Schlange.“
„Obwohl nichts Bedeutung hat?“
„Genau! Einzig und allein DIE Schlange hätte dann eine Bedeutung, aber ich zweifle schon sehr daran, dass es sich bei Ihnen um DIE Schlange handelt, obwohl es da einige Anzeichen dafür gibt.“
In diesem Moment taucht der singende Mann aus einer Hausmauer auf und tanzt ganz knapp an der Frau vorbei.
„Das ist ein Irrer! He, du! Keine Augen im Kopf?“ schimpft die Frau ihm nach, aber der tanzende Sänger reagiert nicht, sondern trällert tanzend weiter in die nächste Wand, in der er wieder verschwindet.
„Welche Anzeichen? Übrigens, hat der Irre auch keine Bedeutung?“
„Keine Bedeutung. Er dient nur der Auflockerung, dass es nicht gar so fade hier ist.“
„Welche Anzeichen habe ich, um DIE Schlange zu sein?“ wiederholt die Frau ihre Frage genervt.
Dazu muss erwähnt werden, sie ist eigentlich nicht wirklich genervt, oder wütend oder sonst was. Nicht mal echte Furcht kann sie hier verspüren, da ja die Gefühle oder das Gemüt, wie Uriel es nennt, nicht mehr vorhanden ist. Gemüt und Bewusstsein wurden nebst Körper auf der Erde zurück gelassen, aber Geist und Seele, da sie der Ewigkeit angehören, bleiben. Es ist eher so was wie eine Erinnerung, welche die Frau so gestikulieren lässt oder es einfach nur den Anschein hat, sie wäre genervt, oder wütend oder sonst was.
„Diese seltsame Multidimensionalität. Ja, natürlich verändert sich etwas nach dem Todeszeitpunkt. Man ist sicher nicht mehr der oder dieselbe, weil sich Erinnerungen anderer Leben einschieben. Die Seele, samt Geist ist ja stets ein und dasselbe, egal als was man in die Welt hinaus wandert, weshalb dann schon alte, vielleicht sogar uralte Erinnerungen auftauchen könnten. Aber im Allgemeinen haben sie keine Bedeutung, weshalb bei Ihnen erstaunlich ist, dass Sie ihnen Bedeutung geben.“
„In die Welt hinaus wandert?“
„Ich kann es auch nicht besser erklären. Außerdem ist es schon viel zu lange her, seit ich in der Welt war.“
„Ach! Engel haben mal in der Welt gelebt?“
„Wenn Sie wüssten, gnädige Frau, was alles früher in der Welt gelebt hat, als die Welt noch jung war. Aber zum Trost, - sie wird bald wieder jung.“

Die Frau wendet sich um und blickt die gesäuberte Straße hinunter. Es macht die Betonumgebung auch nicht schöner. Die grauen Blöcke und die graue Straße sind die selben geblieben. Selbst der graue Himmel, oder was auch immer das Obere ist, hat sich nicht verändert.
„Wozu?“ ruft sie fragend und wirft Müllzange und Müllsack von sich. Es ist der Moment, der sie an ihr letztes Leben erinnert. So oft stellte sie sich dieselbe Frage. Wozu? Wozu dieses Leben? Wozu diese Welt?
„Man sollte sich derartige Fragen gar nicht stellen“, meint Uriel. „Oder meinen Sie, gnädige Frau, dass wir hier immer glückselig sind? Es ändert sich nichts. Überhaupt nichts! Das Gefasel, im Paradies wäre es wie im Schlaraffenland und alle wären glücklicher als glücklich, ist nur Quatsch. Es kann sich aber auch um eine sehr gute Werbekampagne handeln.“
„Wie das?“
„Na ja, das ist so: Manchmal geben wir Gedanken in die Welten, wie etwa jene: Wünsche dir nach deinem Tod ins Paradies zu kommen, da es dort so wunderschön ist. Oder: Wünsche dir ewige Glückseligkeit, die es nur im Paradies gibt. Manche Werbesprüche kommen tatsächlich an. Ich weiß ja nicht so genau, wie das in Eurer Religion ist, aber wie du schon sagtest, dürften Moslemfrauen gar nicht ins Paradies kommen.“
„Teilweise dürfen sie und auch Kinder ins Paradies, in den ewigen Garten, in dem jeder in einem eigenem Haus hat und ständig mit allem, was er sich wünscht, von wunderschönen Frauen bedient wird.“
„Aha, deshalb die Vorliebe für grüne Flächen. Na ja, wie gesagt, es handelt sich um Werbesprüche, die euch Menschen ein wenig verarscht haben. Verzeihen sie meinen Ausdruck, gnädige Frau, aber anders kann man es wirklich nicht nennen. Den Christen geht es auch nicht besser, da sie sich den Himmel auch nicht so vorgestellt haben, aber ganz schlimm geht es den Buddhisten, die sich das Nirwana ganz anders vorgestellt haben, als es ist. Euch, gnädige Frau, würde es ja auch nicht gefallen, für ewig und immer in einer dieser winzigen Zellen, in der es nur eine alte, löchrige Matratze auf dem Betonboden und sonst nichts gibt. Licht kommt nur spärlich durch die kleine Luke, also ist es ständig düster und die Türen, durch die man sie in die Zelle führt, löst sich beizeiten auf, da sie für immer und ewig da drinnen bleiben müssen, weil sie nur so vom ewigen Kreislauf ausgeschlossen sind.“
„Muss ja ein Horror sein!“
„Tatsächlich ein Horror. Sie sagen es. Aber mit der Zeit gewöhnen sie sich daran und dösen oder dämmern einfach nur mehr dahin. Sie haben zu ihren Lebzeiten meditiert und werden es weiterhin tun, um die Ewigkeit etwas erträglicher zu machen. Am besten haben es noch die Zenbuddhisten. Die kann nichts mehr aus der Ruhe bringen. Ich meine aber die echten, die wahrhaftigen Zenbuddhisten, die über alles erhaben sind.“
„Was ist mit denen, die an nichts glauben?“
„Sehen Sie, gnädige Frau, solche gibt es nicht. Der Mensch, und wir gehen ja vom Menschen aus, glaubt immer an etwas, genauso wie er immer auf etwas hofft. Es gab da einen klugen Mann, der über das Paradies schrieb und meinte, über dem Tor zum Paradies würde ein Schriftzug prangern mit den Worten: 'Lasst alle Hoffnung fahren!' Moment, oder war das über dem Tor zur Hölle? Na, egal! Auf jeden Fall sollte der Mensch im Moment seines Todes tatsächlich alle Hoffnung, wie auch allen Glauben fahren lassen.“
„Heißt das, dass dies hier wirklich der einzige Ort ist, an den ein Mensch,egal welcher Kultur oder Religion er angehört, nach seinem Tod kommt? Oder sagten Sie nicht, Herr Engel Uriel, dass es in der Hölle wundervolle Gärten und eine Prachtstraße zum kostenlosen Einkaufen gibt?“
„Das war ein Scherz meinerseits. Engel scherzen nun mal gerne. Oder meinen Sie, gnädige Frau, anders könnten wir es hier für immer aushalten? Wir sind ja noch mehr gestraft als ihr Menschen oder eben andere Lebewesen...“
„Welche andere Lebewesen?“
„Tiere, Pflanzen und – nun, halt andere Lebewesen von anderen Planeten. Oder dachten Sie, nur der Planet Erde sei besiedelt? Im Grunde genommen ist das Paradies doch sehr nach den menschlichen Bedürfnissen ausgestattet – alles Beton, alles zubetoniert. Wer braucht schon Grünflächen, wenn es das Grün in allen Supermärkten zu kaufen gibt? Tiere nützen auch nichts mehr, wenn alles vergiftet ist. Man ernährt sich chemisch und betoniert alles keimfrei zu. Nur so kann der Mensch überleben. Natürlich sind unsere Zellen etwas kleiner als die Prachtwohnungen mancher Menschen, aber irgend etwas muss ja anders sein, sonst bemerkt der Mensch gar nicht, dass er tot ist.“
„Bei uns lag alles in Schutt und Asche, als ich starb. Alles wieder einmal zerbombt. Keine Tiere, keine Pflanzen. Verseuchtes Grundwasser, verpestete Luft. Na ja, Planet Erde ist im Arsch. Auch das kann man nicht anders ausdrücken, - deshalb meine Ausdrucksweise.“
„Keine Sorgen, gnädige Frau, das lässt der Alte sicher nicht zu, da es sich ja um seinen Lieblingsplaneten handelt. Er liebt Göttin Gaia über alles. Eigentlich ist sie seine Angetraute, seine einzige große Liebe, mit der er all die anderen Planeten des Universums zeugte. Sie empfängt ständig seinen Samen und gebiert und gebiert. Und das so lange, bis es genug ist. Dann schrumpft alles wieder, aber so, dass niemand was bemerkt. Ja, das ist möglich, auch wenn es unmöglich scheint – und der Grund, dass es möglich ist, liegt am Nix.“

Die Frau fasst nach oben, um ihr Kopftuch neu zu wickeln, das – ihrem Gefühl nach – zu locker geworden ist. Es ist nicht locker geworden, es ist eher ein Akt der Verzweiflung, obwohl die Frau natürlich nicht verzweifelt ist. Man könnte es eher Verlegenheit nennen, obwohl die beiden Begriffe doch weit auseinander liegen. Aber wie auch immer...
„Ich bin keine Schlange. Ich bin noch immer eine Frau. Ich bin Leyla, die Frau von Youseff ben Assali, die ihm vier Kinder gebar und der Familie niemals Schande machte, wie etwa die Nachbarin“, labert sie herunter, während sie gekonnt ihr Kopftuch wickelt, um jedes einzelne ihrer langen, tiefschwarzen Haare zu verbergen, „die ihren Mann mit deren Bruder betrog und dafür zu Tode gesteinigt wurde, obwohl sie gar nicht die Initiative ergriff, sondern, um ehrlich die Wahrheit zu sagen, sie vom Bruder ihres Mannes vergewaltigt wurde. Aber wem wird geglaubt? Der Frau?“ Sie lacht bitter auf. „Niemals! Denn Frauen sind eine Schande der Natur. Frauen sind unrein. Und vor allem lügen sie ständig, also kann es nur der Mann sein, der die Wahrheit sagt. So ist das in unseren Landen. So schreibt es unsere Kultur und Religion vor. Allah ist gütig. Ja, kann sein, aber nur zu den Männern.“
Uriel nähert sich zaghaft und klopft Leyla sanft auf die Schulter.
„Klar, ehrlich die Wahrheit zu sagen, ist immer gut. Aber wer, - und sagen Sie mir das ganz ehrlich, gnädige Frau, wer hört schon gern die Wahrheit? Viel lieber suggerieren sie sich selbst alles Mögliche, nur um der Wahrheit zu entgehen. Und warum? Ganz ehrlich, gnädige Frau? Weil die Wahrheit immer Scheiße ist.“
„Mein Name ist Leyla. Du kannst mich so nennen. Und ich nenne dich Uriel. Und ja, die Wahrheit ist immer Scheiße. Vor allem ist sie so wenig glaubhaft, vor allem der Quatsch, den du mir vorhin erzählt hast. Das ist Scheiße hoch zehn.“
„Aber Madame Leyla! Genau das ist die pure Wahrheit. Ganz klar, dass sie für Menschen mehr als seltsam erscheint, weil sie nichts davon mitbekommen. Wie denn auch? Das Nix verschleiert alles. Das Nix ist der Schleier, der sich über die Wahrheit legt und zugleich ist es aber auch die Wahrheit selbst. Wie gesagt, das Nix lässt sich nicht erklären und wenn es sich auch erklären ließe, Menschen könnten nichts verstehen, weil die...“
„Gehirnkapazität nicht ausreicht. Hast du schon gesagt, Uriel. Aber ich bin kein vollkommener Mensch mehr. Der Mensch blieb auf der Erde. Das hier“, sie weist mit beiden Händen auf ihren Körper, „ist Seele und Geist und gehört im Moment zu keinem Lebewesen der materiellen Welt.“
Uriel lacht auf.
„Da spricht jetzt aber die Esoterikerin aus dir, Madame Leyla. Und Esoteriker glauben immer, die Weisheit mit dem Löffel gefressen zu haben. Manche nennen sie auch Egoteriker, weil es immer nur um sie selbst, um ihr Seelenheil und ihre große Weisheit geht. Seltsam ist nur, dass das Seelenheil und die große, meist auch absolute Weisheit jede Menge Geld kostet. Es wäre besser, Madame Leyla, wenn wir beide unsere Müllsäcke und Müllzangen wieder aufnehmen und weiter arbeiten.“
Uriel hält Leyla ihre beiden Werkzeuge entgegen. Mit bösem Blick greift sie zu.
„So schlimm war das damals auch wieder nicht“, murmelt sie, während sie wieder Müll einsammelt. Uriel trabt neben ihr. Seinen Müllsack und seine Müllzange ist nirgendwo zu sehen.
„Na ja, ich hab die Leute ganz schön verarscht, aber genau das wollten sie doch hören.“
„Sag ich doch! Die Wahrheit will keiner hören.“
„Wahrheit? Was ist schon Wahrheit? Was das betrifft, was die Leute damals von mir hören wollten, - darüber weiß eh kein Mensch Bescheid. Oder gibt es welche, die Gott oder eine ähnliche Wesenheit leibhaftig gesehen oder gar gehört hat?“
„Mich dürfen sie da nicht fragen. Ich höre die Stimme vom Alten ständig. Wir sind so was wie seine Antennen. Was wir sehen, sieht er. Was wir hören, hört er. Was wir riechen, riecht... - nein, da hält er sich raus. Aber umgekehrt? Niemals! Dazu sind wir viel zu klein. Wir sehen nie das, was er sieht und hören auch nie das, was er hört.“
„Warum er? Warum müssen immer nur die Männer das Sagen haben? Dabei heißt es doch, dass die Natur weiblich ist.“
„Ist sie ja auch! Göttin Gaia ist eine weibliche Göttin, wie die meisten Planeten. Sie ist meistens entsetzt, wenn sie einen männlichen Planeten gebiert. Und alles, was auf Gaia wächst und lebt, ist weiblich. Sogar die menschlichen Männer sind im Grunde genommen weiblich.“
Uriel legt eine Hand über seinen Mund und kichert.
„Wenn das jetzt die moslemischen Männer hören würden, wären sie ganz schön am Arsch, oder?“
Auch Leyla kichert und meint: „Und nicht nur die, denn das betrifft sehr viele Männer, die sich immens viel auf ihre Männlichkeit einbilden. Am Arsch wären sie, wenn sie die Wahrheit wüssten. So richtig am Arsch!“
„Was hast du den Menschen damals gesagt, das sie höre wollten?“
„Dass sie göttlich sind. Dass sie geliebt werden. Dass sie etwas besonderes sind. Eigentlich habe ich nichts anderes gemacht, als ein Psychodoktor. Und der darf Geld verdienen? Nur weil er studiert hat? Dabei belügt er seine Patienten genauso wie ich das getan habe. Er hat keine Ahnung von der Psyche jedes einzelnen Menschen und ich hatte keine Ahnung von Höheren Wesen, obwohl ich beteuerte, stets mit ihnen in Verbindung zu sein.“
Uriel wischt mit der Hand durch die Luft. „Hat doch alles keine Bedeutung, Madame Leyla. Ich sagte doch, - die Wahrheit will keiner hören, also ist es nur gut, wenn man sie nicht sagt und statt dessen das sagt, was die Menschen hören wollen.“
„Aber lügen ist eine Sünde.“
Uriel lacht laut auf.
„Quatsch! Ihr habt den Alten aber mächtig verkannt. So was wie Gebote gab es nie und wird es auch nie geben. Es gab vor langer Zeit einen ziemlich durchgeknallten Mann auf der Erde, der ständig von seinem Vater im Himmel faselte. Der war der Wahrheit ziemlich nahe, denn der Alte ist gar nicht so übel. Er liebt seine Schäfchen wirklich, wenn man das so nennen kann und sorgt sich um ihr leibliches Wohl, genauso wie er es für die Vögel der Lüfte und die Lilien auf dem Felde tut.“

„Gab es ihn wirklich? Für uns war er bloß einer der vielen Propheten, aber andere religiöse Menschen nannten ihn den Messias.“
„In leicht abgeänderter Form gab es ihn, aber wie gesagt, er war ziemlich durchgeknallt. Er war genauso durchgeknallt wie so manch andere so genannte Religionsstifter. Oder meist du, liebe Madame Leyla, ein normaler Mann flüchtet aus seinem Palast, lässt seine wunderschöne Frau und seine Kinder zurück, nur weil er festgestellt hat, dass manche Menschen in seinem Reich leiden? Da muss einer schon ziemlich durchgeknallt sein, wenn er wegen wildfremder Menschen, die ihm aber so was am Arsch vorbei gehen müssten, all diesen Prunk und Reichtum aufgibt.“
„Buddha? Na gut, das kann ich nachvollziehen. Aber sag jetzt nichts gegen den großen Propheten Mohammed!“
„Ach, meinst du den Oberesoteriker, der behauptete, Erzengel Gabriel habe zu ihm gesprochen?“
„Ja, genau der!“
„Na ja, im Grunde genommen war es doch derjenige, der euch Frauen an den Herd verbannte und euch alle Menschenrechte aberkannte. Keine Sorge, war nur ein Scherz, denn die Religionsstifter selber können nichts dafür. Es waren die anderen, die so was wie eine Religion aus den paar verrückten Worten machten, die jene Idioten von sich gaben.“
Leyla grunzte und warf den Müllsack und Müllzange erneut von sich, um sich mit Fäusten in den Hüften vor Uriel aufzubauen. Es schien sogar, als würde sie wachsen und ihn um einen Kopf überragen.
„Und jetzt hörst du mal auf über uns Menschen ständig zu lästern. Ja?“
„Ich lästere nicht“, verteidigte sich der Engel und lächelte sogar, „ich sage nur die Wahrheit, die niemand, nicht mal du, hören will.“
„Und weißt du was, ich will sie gar nicht hören. Übrigens, wo ist der singende Verrückte abgeblieben?“
„In irgendeinem Mauerwerk wird er schon stecken.“
„Kann ich das auch? Ich meine, durch die Wand gehen? Es müsste doch möglich sein, da ich ja nicht mehr Körper, Gemüt und Bewusstsein, sondern Seele und Geist bin. Oder?“
„Was fragst du mich? Warum braucht ihr Menschen ständig Bestätigung von außen? Könnt ihr selbst nichts auf die Reihe bringen?“
Leyla lässt sich das nicht zweimal sagen, nimmt Anlauf und rennt gegen die Mauer, die tatsächlich nachgibt, als wäre sie gar nicht vorhanden.
Es ist ein urplötzlicher Szenenwechsel. Keine schnurgeraden Straßen, keine Betonblöcke, sondern eine karge, dunkle Gebirgsschlucht, wo ein schmaler, winkeliger Pfad noch weiter bergab führt. Leyla trägt schwere Bergschuhe an den Füßen und wundert sich wegen der Schwere. Anscheinend sind die Dinge hier aus fester Materie, während sie nur mehr Geist ist. Oder ist es doch umgekehrt, wie ein neuzeitlicher Philosoph einmal verkündete, dass sich Materie jederzeit zerstören, sozusagen umformen, lässt, währen Geist unzerstörbar ist. Und genau deswegen muss Geist fester als Materie sein. Ein Genie, wer die Logik dahinter versteht. Aber wie auch immer, denn Leyla kämpft sich den dunklen, schmalen Pfad hinab in eine Dunkelheit, die immer dunkler wird. Oben scheinen die bizarr geformten Felsen zusammen zu stoßen, sodass kaum Licht durchkommt. Ob da oben überhaupt so etwas wie ein Himmel ist, ist ohnehin fraglich. Trotz des diffusen Scheins in dieser trostlosen Gegend, kann Leyla alles erkennen, auch wenn es nicht viel zu erkennen gibt. Fels, Fels, nichts als Fels, denn auch der Pfad besteht aus Fels und kleinen Steinchen, die den Gang hinab erschweren. Was vorher Beton war, ist nun Fels. Leyla wirkt nicht gerade glücklich ob dieser Abwechslung. Dennoch wandert sie weiter, bis sie an eine breitere Stelle kommt, die wie eine Kreuzung wirkt. Es zweigen tatsächlich zwei weitere Wege ab, aber in der Nähe der rechten Abzweigung erkennt Leyla so etwas wie eine Hütte, direkt an eine schroffe Felswand gebaut, - eine aus Steinen gebaute Hütte mit einer rostigen Eisentür. Links von der Tür befindet sich ein Fenster, dessen Rahmen auch aus Eisen besteht, aus rostigem Eisen. Das Glas ist blind. Man sieht nicht in das Innere der Hütte. Leyla ist mutig und drückt die rostige Eisentür mit aller Kraft auf. Sie hätte auch hindurch gehen können, aber noch ist ihr die altmodische Art lieber.
Natürlich ist es finster in der Hütte und natürlich kann Leyla trotzdem alles schemenhaft erkennen. Gerade in diesem Moment erkennt sie noch etwas, nämlich, dass sie ein ganz anderes Sehen beherrscht als auf der Erde. Es spielt keine Rolle, ob es hell oder dunkel ist. Es kann auch stockfinster sein. Leyla erkennt die Umrisse der Dinge trotzdem, die sich in der kleinen Hütte, in einem einzigen Raum, befinden. An der linken Wand steht ein alter Kasten, an der rechten Wand ein ebenso altes Bett, - ein noch älterer Tisch und daneben genauso alte Stühle befinden sich in der Mitte des etwa vier mal vier kleinen Raums, wo auf dem einen sehr alten Stuhl ein noch viel älterer Mann hockt. Leyla hat in ihrem ganzen Leben, - eigentlich in all ihren Leben, - noch nie einen älteren Mann gesehen, als den, der da auf dem knorrigen Stuhl hockt und seine überaus faltigen Arme am Tisch abstützt.

Seufzend blickt die Frau in Bergschuhen, schwarzen Hosen, dunkelroter, knielanger Jacke und schwarzem, kunstvoll gewickeltem Kopftuch nach oben. Fels, wohin das Auge reicht. Es muss wohl dieses eine Auge sein, mit dem man im Hellen, wie im Dunkeln und sogar in absoluter Finsternis sehen kann. Selbst der Boden ist Fels. Fels, wie der Weg, auf dem sie bis hier her gewandert war, nachdem sie die öde Betonstadt durch eine Betonmauer verlassen hat. Uriel hat sie auch verlassen. Sie hat ihn nicht eingeladen, mit zu kommen und er ließ sie einfach gehen. Irgendwie fehlte Leyla der seltsame rotgelockte, bierbauchige, hühnerbeinige Mann, der ein Erzengel sein soll, was sie kaum glauben kann. Auch als Michael, als Bewacher (?) des singenden und tanzenden Mann, auftauchte, konnte das doch niemals der Erzengel sein, von dem so viel geschrieben steht. Fehlt nur noch, dass Gabriel auftaucht und eine ebenso enttäuschende Figur darstellt.
Im Paradies geht es nicht ums Aussehen. Da hat Uriel irgendwie recht. Das dritte Auge be- und verurteilt nicht. Da geht es um die inneren Werte. Leyla muss plötzlich lächeln, denn sie meint, Uriels Stimme zu hören, wie er die Leberwerte, die Herzfrequenz und andere innere Organwerte aufzählt. Das würde zu ihm passen.
Der uralte Mann am Tisch beginnt zu husten. Es wird zu einem sehr argen Hustenanfall. Leyla klopft ihm besorgt auf den knochigen Rücken. Er hat ein ebensolches Krankenhaushemd an, wie der tanzende Sänger in der Betonstadt. Leyla wendet sich angeekelt ab, als sie nur kurz auf die alte, graue und immens faltige Haut blickt.
„Mann, Sie müssen weit älter als 100 Jahre sein.“
Geräuschvoll spuckt der Alte auf den Boden und Leyla verdrängt das aufsteigende Würgen im Hals.
„Is do wer?“ fragt der Alte heiser und blickt mit glasigen, roten Augen um sich. Er scheint das Klopfen auf seinem Rücken nicht gespürt zu haben, aber schließlich erkennt er einen Schatten neben sich, den er krächzend fragt: „Ham se was gsagt?“
„Ich sagte“, beginnt Leyla und fährt fast schreiend weiter fort. „Sie müssen älter als 100 Jahre sein!“
Der Alte fährt mit zitternden Händen an seine großen Ohren, die von schneeweißem Flaum umgeben sind und schüttelt leicht den Kopf, auf dem auch vereinzelt ein wenig schneeweißer Flaum sprießt.
„Na toll, taube Nuss!“
„Des hab ich g'hört!“
„Klar, was sie nicht hören wollen, hören sie nicht und was sie nicht hören sollen, hören sie. Typisch alter Mensch. Genauso boshaft wie ekelhaft.“
„Des hab ich och g'hört!“
Leyla fragt sich, was sie weiter hier tun soll, bei einem fast tauben, uralten Mann und verlässt kopfschüttelnd die Hütte. Irgendwie ahnt sie, dass es sich dabei um den Alten, von dem Uriel erzählt hat, handeln könnte, welchen manche Menschen „Gott“ nennen. Er hört nichts und wahrscheinlich sieht er auch nichts. Wie sagte Uriel? Die Engel hören und sehen für ihn. Und warum? Nicht, weil er angeblich allwissend, sondern fast taub und fast blind ist.
Der Weg, den sie zur Hütte eingeschlagen hat, führt weiter nach unten. Spielt es denn eine Rolle, welchen Weg sie einschlagen soll? In so einer Gegend wohl kaum. Fels umgibt sie von allen Seiten. Der Blick nach oben macht ein mulmiges Gefühl. Auch dann noch, obwohl sie es in ihrem leblosen Körper zurück gelassen hat. Wo ist sie hier nur gelandet?
„Sicher nicht auf Betanullzweiorte“, dröhnt eine tiefe Stimme von hinten.
Leyla wendet sich um. Es ist nicht Uriel. Es ist nicht Michael. Und der Alte ist es ganz sicher nicht, da die Gestalt ziemlich groß ist und auch sehr aufrecht geht.
„Keine Angst, ich bin nur der Altenpfleger“, sagt er junge Mann, der nun neben Leyla steht und ihr freundlich die Hand zum Gruß reicht. „Man nennt mich Adam.“
Leyla faßt zögernd die überraschend weiche, warme Hand des großgewachsenen, sehr ansehnlichen Mann und nennt ihm stotternd ihren Namen.
„Was sagten Sie? Beta und weiter?“
„Betanullzweiorte! Das ist der Planet, auf dem das Nix haust. Hat Uriel Ihnen nix erzählt?“
Leyla lacht.
„Seid ihr alle zusammen irgendwie vernetzt? Jeder scheint zu wissen, was der eine sagt, sieht und sogar denkt.“
„Kann man so sagen. Auf eine gewisse Art sind wir ein einziges Wesen und doch sind wir einzelne Individuen. Mich darf man aber nicht zu den prachtvollen Engeln zählen, denn ich bin nur der Altenpfleger, auch wenn ich mit vernetzt bin, wie Sie es nannten.“
„Adam?“
„Ja, Leyla?“
„Wo ist Eva?“
„Oh, DIE Schlange? Wir wissen es nicht. Wir warten schon so lange auf sie.“
Leyla wird schwindelig. Sie muss sich auf den steinigen Boden setzen. Keuchend lehnt sie sich an den kalten Fels und blickt zu Adam hoch, der ihr besorgt beide Hände reicht.
„Vielleicht ein Schwächeanfall“, meint sie entschuldigend. „Immerhin dürfte ich schon sehr lange nichts gegessen und nichts getrunken zu haben.“
Adam lächelt.
„Das ist hier nicht nötig. Wir essen und trinken nie etwas“, sagt er mit seiner sehr tiefen Stimme und hilft Leyla wieder auf.
„Was ist nun mit diesem Planeten, auf dem das Nix – wie sagten Sie – haust?“
„Betanullzweiorte?“
Leyla nickt stumm,während beide voreinander stehen und sich an beiden Händen halten.
„Das ist ein großes Mysterium“, flüstert Adam.

Leyla entzieht ihm ihre Hände und blickt betreten zu Boden.
„Uriel erzählte mir einiges vom Nix, dass es ein Rohstoff auf diesem Planeten mit dem komischen Namen ist. Er erzählte auch, dass das Nix nicht erklärt werden kann und es rund um einen Hauptplatz existiert, auf dem der Alte seine Gebote an einen Pranger hängt. Und dann wieder erzählte er, dass es am Nix liegt, dass das Universum zu gewissen Zeiten wieder schrumpft.“
Leyla hebt wieder ihren Blick und sieht Adam mit leicht geröteten Wangen wieder an.
„Uriel erzählte nichts Gutes über die Menschen. Zumindest hatte ich das Gefühl, dass er von den Menschen nicht sonderlich viel hält. Er meint, sie belügen sich selbst ständig, weil sie die Wahrheit nicht hören wollen. Ach ja, manipulieren lassen wir uns auch ständig, also nicht nur von uns selbst, auch von anderen Menschen und vor allem von den Engeln, die uns Dinge in den Kopf setzen, von denen wir glauben, es sei von uns erfunden. Zumindest so ähnlich hat er es erklärt. Enttäuschend ist das alles, richtig enttäuschend.“
Tröstend legt Adam seine Hände auf Leylas Schultern.
„Ja, es ist tatsächlich so, dass Menschen die Wahrheit nicht gerne hören. Aber es ist wirklich so. Nicht nur das mit der Wahrheit, sondern auch das mit dem Menschen. Von selbst, also ganz ohne Zuspruch, bringen sie nichts auf die Reihe.
Tja, und das Nix, da kann ich dir auch nicht wirklich weiter helfen. Wie gesagt, es ist ein großes Mysterium, von dem wahrscheinlich nicht mal der Alte alles weiß.“
Adam und Leyla gehen Hand in Hand den Weg, den sie bereits gegangen sind, wieder zurück bis zur Hütte des Alten. Adam öffnet mit einem Ruck die quietschende Eisentür, betritt den Raum, geht zum Alten, hebt ihn vom Stuhl und trägt ihn in seinen Armen zum Bett, dessen Matratze und Bettdecke nicht gerade sauber aussieht.
„Wechselst du nie die Bettwäsche?“ fragt Leyla, die das Ganze von der offenen Tür aus beobachtet.
„Wozu? Er beschmutzt sie eh bald wieder. Und so lange dauert es auch nicht mehr.“
„Was meinst du damit, dass es auch nicht mehr so lange dauert?“
„Er wird sich bald erneuern. Dann ist es für mich auch wieder einfacher und ich muss ihn nicht mehr vom Tisch zum Bett, vom Bett zum Tisch, usw. tragen.“
„Erneuern?“ fragt Leyla mit schriller Stimme.
„Des hab ich g'hört!“
„Schon gut, Alterchen. Wir haben es nicht böse gemeint“, ruft Adam und spricht mit normaler Stimme weiter: „Er wird wieder jung. Wie das Universum, das sich auch immer wieder erneuert. Manche sagen, es dehnt sich so lange aus, bis es sich nicht mehr dehnen kann, dann schrumpft es wieder, um sich abermals auszudehnen. Andere sagen, es erneuert sich nur, wird urplötzlich, mit einem Schlag, wie der Alte, wieder jung. Wie es wirklich ist, weiß keiner und es ist auch egal, solange es funktioniert.“
„So haben die meisten Menschen gedacht.“
„Wie haben sie gedacht?“ fragt Adam, deckt den Alten zu und kommt langsam auf Leyla zu, die seinen Gang in den engen Jeans ganz besonders sexy findet. Schade, dass er nicht wirklich nur ein Blatt trägt, denkt sie und bekommt wieder rötliche Wangen.
„Es interessiert die wenigsten Menschen, wie etwas funktioniert. Sie waren einfach zufrieden, wenn es funktionierte.“
„Das ist doch gut“, sagt Adam fast flüsternd und streichelt Leyla sanft über die Wange. „Es ist das Beste, was sie tun können. Übrigens, Uriel ist ein netter Engel. Du hattest Glück, ihn als ersten zu treffen. Da gibt es viel schlimmere Spaßvögel, die dich die Hölle durchleben lassen und dabei vom Paradies reden. Und ich denke, Uriel mag die Menschen,- vor allem, wenn sie nicht zu kompliziert sind.“
Leyla wendet sich ab und tritt aus der Hütte, während Adam die quietschende Tür schließt.
„Moment!“ ruft Leyla. „Was sagtest du eben? Sie lassen dich die Hölle durchleben? Lassen? Wie meinst du das denn wieder?“
„Sag mal, bist du ein Mensch oder bist du kein Mensch? Tut mir leid, das war jetzt nicht ganz richtig, denn das menschliche Äußere hast du ja zurück gelassen. Ich sollte besser fragen, ob du eine menschliche Seele bist. Und wenn, dann müsstest du längst Bescheid wissen. Man erkennt an dir, dass du schon sehr viele Menschenleben hinter dir hast.“
„Ach ja? Und weil ich schon sehr viele Menschenleben hinter mir habe, sollte ich worüber Bescheid wissen?“
Leyla macht wieder einmal einen etwas wütenden Eindruck, obwohl sie tatsächlich die Ruhe selbst ist.
„Na ja, ich sagte schon, von selbst bringen sie nichts auf die Reihe. Schau dir mal ein Neugeborenes an. Wenn du ihm keine Nahrung gibst, stirbt es. Bei manchen Tierarten ist es auch so, aber einige andere kommen auch ohne fremde Hilfe durch. Die brauchen nichts, die schaffen es von ganz alleine und gehören demnach auch an die Spitze der Evolution. Leider sah sich der Mensch an dieser Stelle, was total verkehrt war und den Alten auf die Palme brachte. Er war echt wütend und ist es noch immer. Ein Wunder, dass er dich nicht zum Teufel jagte.“
„Warum sollte er mich zum Teufel jagen?“
„Weil du eine Menschenseele bist und Menschenseelen sind zurzeit höchst arrogant, überheblich und vollkommene Arschlöcher. Sie schaffen alleine gar nichts, müssen von ihresgleichen aufgepäppelt und von den Engeln manipuliert werden, um so was wie ein halbwegs menschengerechtes Leben zu haben. So sagte er, der Alte, als er erkannte, wie weit es mit dem Menschengeschlecht gekommen ist. Immerhin ist die Erde seine Geliebte und die Menschen haben seiner Geliebten ganz schön zugesetzt.“
„Das hat mir Uriel schon gesagt. Ich will gar nicht wissen, wie das alles funktioniert.“
„Das ist schon gut so. Du würdest es eh nicht begreifen.“
Leyla stemmt die Fäuste in die Hüften und wirkt empört.
„Jetzt reicht es langsam!“
„Das war nicht beleidigend gemeint. Keiner von uns hier begreift es. Ich am allerwenigstens. Wie könnte ich auch, wenn es nicht mal einer der höchsten Engel begreift?“
„Adam“, sagt Leyla fast flüsternd. „Wer bist du?“
Adam lächelt und geht mit ihr Hand in Hand weiter bis zur Wegkreuzung und nimmt den Weg, der ein wenig nach oben führt.
„Das ist eine lange Geschichte. Und es ist schon sehr, sehr lange her, dass ich mich kaum erinnere. Ich weiß nur, dass ich schon immer beim Alten war und manche mich den Altenpfleger nennen, weil ich halt für ihn da bin. Er braucht mich aber nicht oft. Nur wenn er alt ist und sich kaum mehr bewegen kann, wie jetzt. Aber wie gesagt, das wird nicht mehr lange dauern. Er wird sich bald erneuern und dann auch wieder Gebote schreiben. Das tut er am liebsten. Er ist, kann man sagen, echt ein großartiger Poet.“
Leyla hält es für besser, für eine Weile keine Fragen mehr zu stellen,während sie Hand in Hand schweigend auf den schmalen felsigen Pfad weitergehen, der immer steiler wird.
Es scheint heller zu werden, als ob sich die Felsen lichten würden. Sie stoßen oben nicht mehr zusammen, werden weiter und legen einen blauen Himmel frei, in dem riesige Vögel kreisen. Erst beim zweiten Blick erkennt Leyla, dass es Engel sind, die dort oben ihre Kreise ziehen, - Engel, wie sich Menschen Engel meist vorstellen.

Am höchsten Punkt des Pfades, wo die Felswand nur mehr bis zu den Knien Leylas reicht und sich weiter in ein steiniges Plateau ohne Pflanzenwuchs ausbreitet, stockt ihr der Atem. Nicht etwa wegen des steilen Aufstiegs, es ist viel mehr die phantastische Aussicht, die sich den beiden Händchenhaltenden bietet. Sie blicken hinab in eine Bucht, in die das Meer ganz sanft mit weißen Zungen über fast schwarzen Sand streichelt. Dicht an die Felswand ist ein kleines Dorf gebaut, bestehend aus vielleicht neun oder zehn Steinhäuser, die mehr wie Ruinen von oben wirken, da einige keine Dächer haben. Die noch vollständigen Häuser ähneln Quadern, wie die grauen Blockbauten in der Betonstadt, nur natürlich viel, viel kleiner. Faszinierend ist auch das Licht, als würde ein riesiger Vollmond die Szenerie schaurig beleuchten.
Eben stürzen sich die Engel, die gerade noch mit ihren dunklen Flügeln über ihnen schwebten, hinab in das Dorf.
„Das sind die Gesichtslosen“, sagt Adam leise und beginnt vorsichtig den schmalen Pfad hinab zu steigen, ohne Leylas Hand los zu lassen. Oftmals muss er sie mit seinen starken Armen auffangen, so steil ist es hier, - vor allem zur rechten Seite, zum Meer hin, wo es oben sicher einige hundert Meter steil abwärts geht.
Nach dem anstrengenden Abstieg ist Leyla erleichtert und fast scheint sie müde zu sein. Am liebsten hätte sie ein weiches Bett aufgesucht und sich schlafen gelegt. Es ist nicht nur das Licht, auch das seltsam ruhige Meer, das wie eine dunkle Eisfläche wirkt, ermüdet sie.
Die Stadt, mit den geraden Straßen und den Betonbauten, erschienen ihr noch einigermaßen real. Der Pfad in die Schlucht hinab war schon weniger Wirklichkeit entsprechend, aber diese Szenerie hier und die fünf Engel, die sich auf sie zubewegen, sind wie ein surrealer Traum. Schwarz sind sie, von oben bis unten, irgendwie zerfleddert ihre Form. Man kann nicht sagen, ob sie Kleider oder Hosen tragen. Ihre Körper bewegen sich sogar im Stehen, als würden sie innerlich rotieren. Selbst die riesigen schwarzen Flügeln, die hinter ihnen aufragen, wirken zerfleddert, ausgefranst und scheinen ein Eigenleben zu haben. Alles an ihnen ist schwarz, bis auf das Gesicht, das eine bleiche glatte Maske ist.
„Kein Auge, kein Ohr, keine Nase, keine Zunge, keinen Körper, keinen Geist“, zitiert Adam aus dem Herz Sutra, aus einem alten Text des Buddhismus. Auch Leyla scheint den Text zu kennen und blickt erstaunt auf den großen Mann neben sich.
„Adam ist also Buddhist und kein... ja, was kein? Jude?“
Adam lacht.
„Man gab all dem viel zu viel Bedeutung. Mensch sein alleine hätte vollkommen genügt und hätte alle unnötigen Missverständnisse aus dem Weg geräumt.“
„Ich weiß, schon Uriel sagte, dass nichts Bedeutung hat. Dennoch möchte ich wissen, welche Bedeutung die fünf Vogelscheuchen hier vor uns haben.“
Adam lacht abermals.
„Deine Ausdrucksweise ist sehr seltsam. Aber irgendwie hast du recht. Sie ähneln tatsächlich gewissen Vogelscheuchen, wären da nicht diese riesigen Flügeln. Welche Bedeutung sollten sie denn haben? Keine, die mir bekannt wäre. Sie sind die gesichtslosen Engel. Mehr steckt da nicht dahinter. Es gibt auch andere Engel. Aber die sind nicht hier, nicht hier in der Nähe des Alten.“
Adam wird plötzlich unruhig.
„Apropos – der Alte! Ich muss wieder hoch und ihn an den Tisch setzen. Seine letzte Zeit ist ein wenig aufreibend für mich, aber es muss so sein. Je öfter ich ihn bewege, um so kräftiger erneuert er sich. Das wäre auch gut für das sich ebenso erneuernde Universum und vor allem für Gaia, seine Geliebte, mit der er ja alles andere zeugt. Ja, ich weiß“, meint Adam und fuchtelt mit den Händen herum, „es ist alles ein wenig kompliziert.“
„Dass hier alles ein wenig – ich für meinen Teil würde 'sehr' sagen – kompliziert ist, habe ich inzwischen mitbekommen. Wenn du jetzt da wieder hoch gehst, kommst du dann wieder hier her zurück? Wenn, dann warte ich hier und wenn nicht, möchte ich nicht allzu gerne alleine mit diesen fünf Horrorgestalten bleiben.“
„Natürlich komme ich wieder. Immerhin wohne ich hier. Und die fünf Vogelscheuchen oder Horrorgestalten oder wie immer du sie noch nennen magst, sind meine Freunde, - meine einzigen Freunde, die ich hier habe, da sich keine anderen Engel hier her wagen. Du weißt sicher von Uriel, dass noch kein Engel das Antlitz des Alten gesehen hat.“
„Ja, und das ist sehr seltsam, denn so besonders ist sein Antlitz nicht. Ach ja, hier ist nichts besonders und hat auch nichts Bedeutung. Deine Freundschaft mit diesen Fünf hat wohl auch keine Bedeutung, denn unterhalten wirst du dich ja kaum mit ihnen können.“
„Ach, Leyla, liebe Leyla, wie kannst du nur glauben, dass Kommunikation einzig und alleine über Mund und Ohr funktioniert?“ Sprach es aus und eilt den ziemlich steilen Pfad mit einigen wenigen Sprüngen hoch. Und Leyla staunt.

Das Gefühl, wenn Wellen die nackten Füße umspülen, kennt sie. Es gehört zu den selben Erinnerungen wie das Sehen, Sprechen und auch Riechen, obwohl es nicht wirklich passiert. Alles scheint nur zu passieren. Aber passiert es wirklich? Besteht überhaupt ein Unterschied zwischen Leben und dem Leben nach dem Tod? Was passiert im Leben wirklich? Was passiert hier in dieser Einöde wirklich, in der das Meer nur ein glatter spiegelnder Fels und die weiß schäumenden Wellen nichts als Steine sind?
Leyla meint sich zu erinnern. Sie meint es nur und sinkt mit diesem Gedanken, den sie gar nicht denkt, weil es hier kein Denken geben kann, auf dem fast schwarzen Sand zusammen. Sehnsüchtig blickt sie zum spiegelnden Horizont hinaus und wünscht sich ein Schiff herbei, das sie von hier weg führt. Nein, keine Wünsche. Es gibt sie nicht mehr, da alles da ist, was da sein soll. Wozu wäre auch ein bunt blühender Garten gut? Zum Lustwandeln? Hatten wir doch schon. Nicht wahr? Es dürfte damals irgendwann zur Kaiserzeit gewesen sein. Diese prächtigen langen Kleider und Perücken, deren Haare bis über das Hinterteil reichten! Die Menschen schienen sich noch zu benehmen, waren höflich zu den Frauen. Schimpfworte gab es kaum und wenn, kamen sie vom unteren Volk, das stinkend und schmutzig in Lumpen durch die Gassen schlich. Arm und Reich so nah beieinander und doch so fern, getrennt durch die Schlossmauern. Welch ungerechtes Leben.
Welches war gerechter? Das letzte vielleicht, als ihr Körper und der ihres Babys von einer Bombe in Fetzen gerissen wurde? In diesem Leben gehörte sie zu den Mittellosen und Bedauernswerten. Soll das Gerechtigkeit sein? Zuerst in Saus und Braus und dann in der Gosse oder in einer Familie, in der man weniger wert als Dreck ist? Spielt es überhaupt eine Rolle, welches Leben man lebt, wenn es ohnehin keine eigenen Gedanken gibt? Gedanken werden suggeriert. Von klein auf wird einem die Welt manipulativ eingeredet. Sind wir wirklich nur Marionetten, die von selbst nichts auf die Reihe bringen?
„So schlimm ist es auch wieder nicht. Menschen haben doch die Seele.“
Adam war wieder zurück gekehrt und lässt sich mit diesen Worten neben Leyla nieder.
„Der Fehler, wenn es denn Fehler wirklich gibt, also, der Fehler der Menschen ist, dass sie sich von allem distanzieren. Sie vergessen, dass sie, wie alles, Teile des Gesamten sind und alles voneinander auf eine gewisse Art abhängig ist. Mag sein, dass – abhängig – nicht das ausdrückt, was ich meine. Es ist eher ein Geben und Nehmen. Was der eine nicht hat, gibt der andere und so ist mit der Zeit jeder glücklich. Verstehst du, was ich meine, Leyla?“
„Was hat das damit zu tun, dass wir als Neugeborene verloren sind, dass Engel uns die Gedanken eingeben und wir uns jeglichem Schicksal beugen müssen?“
„Das hat sehr viel damit zu tun. Würdet ihr verantwortungsbewusster leben und die Gemeinschaft des Ganzen erkennen, gäbe es diese Probleme erst gar nicht.“
„Schwachsinn! Du meinst, dann wären Neugeborene sofort lebensfähig? Dann würden uns die Engel nichts eingeben und wir hätten das Schicksal selbst in der Hand?“
„Es ist stets alles Ansichtssache und natürlich geht es auch um den Blickwinkel, aus welcher Perspektive man es betrachtet. Schau, Leyla, ich hab die Wahrheit auch nicht mit dem Löffel gefressen, aber ich existiere schon fast so lange wie die Engel und dieses Universum. In dieser Zeit habe ich alles Mögliche und auch Unmögliche beobachtet und daraus auch einiges gelernt. Und ich weiß auch, dass all das nicht nur ein wenig, sonder immens kompliziert ist und es nicht wirklich Erklärungen oder so genannte Lebensweisheiten gibt. Aber ich weiß, dass es kein Fehler wäre, wenn sich der Mensch ein wenig mehr eingliedern würde. Ich meine, er ist ja eingegliedert und doch wehrt er sich dagegen und wenn sich jemand wehrt, bringt das stets Konsequenzen mit sich. Und eben das sind die Konsequenzen, diese Hilflosigkeit, die euch Menschen immer begleitet.“
Leyla schweigt. Instinktiv spürt sie, nein, weiß (!) sie, dass Adam recht hat. Nur – reden lässt es sich leicht, aber wie ist es mit der Umsetzung?

Die fünf Gesichtslosen schweben rechts an Leyla und Adam vorbei zum steinernen Meer hin und bilden eine seltsame Formation, die mal wie ein Halbkreis und mal wie ein Kreis aussieht. Meist geht alles ins andere über, dass man nicht wirklich sagen kann, welche Formation sie wirklich einnehmen.
„Schau, jetzt tanzen sie auf dem Wasser“, ruft Adam begeistert aus und es sieht aus, als würden sie auf Roll- oder Eislaufschuhen mit einer enormen Geschwindigkeit übers Meer jagen. Manchmal sind sie am Horizont gar nicht zu sehen und im nächsten Bruchteil einer Sekunde tanzen sie schon wieder vor den beiden herum.
„Das Wasser ist aus Stein“, stellt Leyla monoton fest.
„Alles hier ist aus Stein. Stein ist das langlebigste Element, das es gibt. Wenn Pflanzen oder auch Tiere vergehen, werden sie sehr oft zu Stein. Sie erstarren, um den Stein, um sozusagen die Ewigkeit in sich zu behalten. Viele meinen, das Jenseits sei eine Art Paradies, ein Schlaraffenland. Andere wieder meinen, es sei rein geistig, also ohne Substanz. In Wirklichkeit ist es jedoch aus Stein.“
„Stein und Fels lässt mich nicht jubeln oder tanzen“, äußert sich Leyla und denkt dabei an den singenden Tänzer, den die Betonstadt anscheinend verzückt hat, während die fünf Gesichtslosen wie Parallelschwimmer gleichzeitig ein und dieselbe Figur zeigen, indem sie in den Stein wie in Wasser eintauchen und wie Delphine mit dem gesamten Körper (falls es sich tatsächlich um Körper handelt) wieder heraus schnellen. Leyla ist nicht überrascht. Irgendwie hat sie genau das erwartet.
„Warum hast du mich verlassen, Eva?“ fragt Adam plötzlich.
„Weil ich musste. Ja, ich hätte zurück kommen können, aber ich musste den Menschen beistehen. Du hättest nachkommen können. Ich war auch alleine, bis Luzifer nachkam und mich unterstützte. Meine Aufgabe war, das Menschengeschlecht zu gebären, nachdem ich mit deinem Samen beschenkt wurde. Meine Aufgabe alleine war mir aber zu wenig. Die Menschen waren so hilflos. Wilde Tiere griffen sie an, töteten sie und fraßen sie auf. Durch den Genuss von Pflanzen wurden sie vergiftet und starben. Was hätte ich tun sollen? Zusehen, wie sie sich selbst wieder ausrotten?“
„Das tun sie sowieso. Ob früher oder später wäre doch egal gewesen.“
„Das war es eben nicht! Und wenn ich wieder die Wahl hätte, würde ich dasselbe abermals tun.“
Die fünf Gesichtslosen stehen plötzlich vor den beiden und verneigen sich. Ihre schwarzen Flügeln ragen hoch in den mondbeschienenen Himmel. Und Leyla schlägt sich beide Hände vor den Mund.
„Was war das? Was habe ich eben gesagt?“ stammelt sie.
Adam legt sanft seinen Arm um ihre Schultern.
„Du erinnerst dich, wer du wirklich bist. Ja du bist DIE Schlange. Du bist meine Eva, die sich in den Wirren der Menschengeschichte verirrt hat.“
Leyla atmet tief durch, als wäre sie tatsächlich an einem Strand und würde gesunde Meeresluft einatmen.
„Es ist noch so dunkel in mir. Und was ist mit dem Alten? Ich dachte er und Gaia sind diejenigen, die alles erschaffen.“
„Die beiden erschaffen nur das Universum. Es ist so ähnlich wie bei uns. Der Alte beglückt die blaue Göttin und sie macht sich schwanger aus dem Staub, um das Universum zu gebären – einen Planeten nach dem anderen, eine Sonne nach der anderen, usw. Wir beide, Adam und Eva, sind für das Menschengeschlecht zuständig.“
„Das ist ja ein Ding!“ ruft Leyla aus und lehnt ihren Kopf an Adams Schulter. „Und die Tiere und Pflanzen? Wie sind sie entstanden?“
„Manche Pflanzen entstanden aus Gaia selbst, andere wurden zu ihr gebracht. Manche Tiere entstanden aus Pflanzen und die meisten wurden genauso ins Universum gebracht, wie wir die Menschen geschaffen haben. Sieh mal, die Gesichtslosen stehen für all diese Geister, die im Grunde genommen ein einziger Geist sind. Menschen, verschiedene Arten von Tieren, Pflanzen und vieles andere, das es im Universum gibt. Diese fünf Gesichtslosen verkörpern im Grunde genommen das Universum, das bald im Sterben liegt. Verdammt, hätte ich bald vergessen! Der Alte! Ich muss wieder los, denn er liegt auch bald im Sterben und da möchte ich schon bei ihm sein und seine Hand halten“, sprach es und eilte davon, während Leyla nachdenklich im dunklen Sand sitzen blieb und sich die fünf Gesichtslosen an den Händen, oder das, was annähernd wie Hände aussieht, nehmen und zu einem einzigen Gesichtslosen verschmelzen.

Im nächsten Moment flattern wieder fünf Gesichtslose vor Leyla herum und dann wieder nur einer und schließlich wieder fünf, bis es Adams Liebster zu viel wird und sie: „Es reicht! Haut endlich ab! Ich weiß, wer ich bin!“ schreit.
Die Fünf tun so, als würden sie sich gegenseitig ansehen, zucken mit den Schultern und schleichen zurück zu den Häuserruinen an der Felswand.
Leyla versucht nachzudenken, aber es gelingt ihr nicht so recht. Es ist leer in ihr und sie spürt, wie es immer leerer wird. Es scheint zu genügen, dass man weiß, wer man ist, was man ist. Wenn es schließlich so weit ist, sind Gedanken nicht mehr notwendig, dann ist es etwas anders, das einen leitet, etwas, das einst viel zu subtil war, um wahrgenommen zu werden, aber jetzt die Leitung übernimmt. Trotz der Leere in ihr, begreift sie plötzlich die Art von Gemeinschaft, diese Einheit, von der sich die Menschheit abkapselte, von der Adam sprach und was ihr die fünf Gesichtslosen mit ihrem eben vorgeführten Tanz erzählten, denn sie so rüde unterbrochen hat. Es geht nicht um die Gemeinschaft der Menschen, denn hier ist sich immer jeder selbst der Nächste und was zählt, ist die eigene Familie und sonst gar nichts, was ja recht und logisch ist. Es geht um die Gemeinschaft mit allem, vor allem mit der Natur. Der uralte Hut, den sicher viele Menschen erkannt haben und nicht umsetzen konnten, weil zu wenige mitmachten. Was tun, wenn man von allen anderen ausgelacht wird? Was tun, wenn niemand mitmacht und man selbst weiß, dass nur die Einheit mit allen anderen Lebewesen alle retten könnte?
Leyla erhebt sich und folgt den fünf Gesichtslosen, die sich anscheinend in eine der Ruinen zurück gezogen haben. Die Felswand hinter dem kleinen dörflichen Anwesen ist gigantisch hoch. Leyla fühlt Schwindel aufsteigen, als sie nach oben sieht. Irgendwie erinnert sie der breite Fels, der die Bucht umsäumt, wie die Ränge und Logen eines Opernhauses und fast glaubt sie, dass Menschen im Fels hausen und ihr nach dem ersten Akt zujubeln. Sie hat ihre Rolle endlich erkannt und das, wohin sie die Menschheit führen soll, wenn es nun tatsächlich ein neues Universum geben sollte. Einmal probieren wir es noch, aber dann ist Schluss mit diesem Theater.
Leyla lacht hell auf. Als ob die Menschheit das Wichtigste sei! Sie ist nur ein winziges Puzzleteilchen in diesem gigantischen Apparat, der sich Universum nennt und wo wirklich ein Zahnrädchen in das andere übergreift. Eines tanzte mal aus der Reihe, aber das machte nichts aus, weil es zu klein war und jederzeit durch ein anderes winziges Rädchen ersetzt werden konnte. Seid vorsichtig, ihr Menschen, denn es könnte dick für euch kommen. Auch wenn Gaia die über alles Geliebte des Alten ist, heißt das nicht, dass es auch jene Lebewesen sind, die sich einbilden, die Spitze der Evolution zu sein. Sie sind es nicht, denn die Lebewesen auf Gaia sind ihm so was von egal. Also sich nur nicht als zu wichtig fühlen. Nicht einmal als Eva, die nun ihren Adam sehnsüchtig entgegen blickt, wie er den steilen Pfad herab eilt, seine Arme ausbreitet und seine Liebste umarmt, die vor der Wahrheit, die sich ihr eben entgegenstellte, schluchzend erzittert.