Das Publikum auf den Rängen und in den Logen erhebt sich und spendet tosenden Applaus. Leyla und Adam lösen sich voneinander und während sie sich dankbar verneigen, wischt Leyla schnell ihre nicht geweinten Tränen ab.
„Es hat ihnen gefallen“, raunt Adam und beide richten sich nach mehrmaligen Verneigen auf und wenden sich dem steinernen Meer zu. Hinter ihnen erfreuen sich die fünf Gesichtslosen des Beifalls, bis der schwarze Vorhang nach dem ersten Akt fällt.
„Dennoch bin ich mit dem Stück nicht ganz zufrieden“, spricht Adam weiter. „Die Begrüßung Uriels ist etwas zu plump. Ich meine, wer sagt schon 'Habe die Ehre'? Auch habe ich noch nie gehört, dass die Blockbauten der grauen Stadt Namen haben, wie etwa das Regimentshaus. Und dann noch die beiden Wursteln auf seinen Handflächen und die so leicht durchschaubaren Lügen, die er dir über das Paradies und die Hölle auftischte, um dich noch mehr zu verwirren, obwohl er ja das Gegenteil erreichen wollte. Geschafft haben es schließlich meine Freunde mit ihrem Tanz.“
„Witzig fand ich ja Michaels Verkleidung. Schon da hätte mir auffallen sollen, dass es sich nur um ein billiges Theaterstück handelt. Schade eigentlich, dass ich das den Menschen nie wirklich erklären konnte. Anfangs wussten sie noch Bescheid, aber später steigerten sie sich so in ihre Rollen hinein, dass sie diese für Wirklichkeit halten und tatsächlich Ernst daraus machen. Noch später vergessen sie alles und wissen gar nicht mehr, dass es sich bloß um ein Theaterstück oder – wie in der neueren Zeit – um einen Film handelt. Was hätten die Menschen für Potential mit diesen technischen Möglichkeiten. Man stelle sich das nur vor!“
„Sie könnten sich alle möglichen, wie auch unmöglichen Welten erschaffen, in denen sie ihre eigenen Filme drehen, könnten Sieger und Verlierer zugleich sein. Sie könnten alle Rollen spielen, die sich vorstellen können. Und manchmal könnten sie, wenn sie sich auf das Innerste ihrer Seele einlassen, sogar Rollen spielen, die sich vorher gar nicht haben vorstellen können. Welch Welten da geschaffen werden könnten!“
Hand in Hand wandern Leyla und Adam den Strand entlang.
„Wann ist es so weit?“ fragt Leyla, als sie die Bucht verlassen und langsam den steilen Weg nach oben steigen.
„Wir müssen den Menschen eine Verschnaufpause geben, bis sich der Vorhang wieder erhebt, sonst sind sie noch mehr verwirrt.“
„Das meine ich nicht. Ich meine die Erneuerung des Alten und des Universums.“
„Schwer zu sagen. Ich denke, vorher wird es noch den zweiten Akt geben, um die Menschen darauf einzustimmen, was sie auf der neuen Erde erwartet.“
Am höchsten Punkt bleiben beide stehen und verschnaufen, obwohl sie nicht im Geringsten außer Atem sind.
„Weißt du, was ich mich frage, seitdem ich weiß, wer ich bin?“
Adam schüttelt stumm den Kopf.
„Welchem Idiot die Idee kam, ein Universum zu erschaffen. War es wirklich der Alte?“
„Diese Frage habe ich ihm früher fast täglich gestellt. Erinnere dich – habe ich gesagt, bitte, erinnere dich, welcher Idiot auf die Idee kam, ein Universum zu erschaffen, wo wir es eh so gut hier haben und alles tun können, was wir wollen. Er faselte später, als die Demenz begann, irgendwas vom Nix, dass es entdeckt wurde und alles über den Haufen warf. Alles war gut, bevor das Nix entdeckt wurde. Genauso sagte er. Ja, alles war gut, bevor das Nix entdeckt wurde. Durch das Nix änderte sich alles.“
„Und wer hat es entdeckt?“
Adam blickte Leyla mit einem sehr seltsamen Gesichtsausdruck an.
„Ich fürchte, es waren wir beide. Der Alte hatte damals in seinem Garten – ja, wir hatten einen Garten hier – einen Komposthaufen. Als wir einmal davor standen, bemerkten wir eine Veränderung in diesem Haufen. Klar, das, was wir da drauf warfen, wurde natürlich kompostiert und wir hatten Dünger, damit der Garten noch prachtvoller wachsen konnte. Es war kein Dünger. Es war das Nix.“
„Ich dachte, das Nix wurde auf dem Planeten Betanullzweiorte entdeckt und abgebaut und schließlich...“
„Quatsch, alles Quatsch. Das wollen sie uns weismachen, weil sie nicht haben wollen, dass wir Schuldgefühle haben. Es gab doch gar keine Planeten, als alles gut war. Es gab nur das Paradies. Es gab nicht einmal das Paradies, da wir für das hier nicht einmal Namen hatten. Wir hatten nicht einmal Namen für uns selbst. Die gaben wir uns erst, nachdem es die Planeten und Leben auf ihnen gab, damit wir den Lebewesen irgendetwas eingeben konnten, womit sie dann spielen konnten. Aber aus ihren Spielen wurden leider bitterer Ernst. Wir haben Schreckliches getan, Leyla, liebste Eva, - wir haben Marionetten geschaffen, die mit ihren Seelen nichts anfangen können. Irgendetwas haute mit der Verbindung nicht hin.“
„Verbindung?“ fragt Leyla irritiert.
„Na, die Verbindung vom Menschen zu seiner Seele. Vielleicht hätten wir ihm keine Seele geben sollen. Was meinst du?“
„Doch! Gleiches Recht für alle. Außerdem hätten wir, wenn wir ihm keine Seele gegeben hätten, jetzt kein so dankbares Publikum.“

Langsam gehen die beiden weiter zur Hütte des Alten. Leyla wartet heraußen und hört nur, wie Adam mit dem Alten spricht, der, wie immer die letzten Male, fragt, wer denn da sei und was denn gesagt wurde.
Als Adam wieder aus der Hütte tritt, sieht Leyla ihn fragend an.
„Was nun?“
Adam zuckt mit den Achseln, nimmt Leylas Hand und zusammen wandern sie wieder zur Bucht hinab. Diesmal fällt es ihr etwas leichter, die Steilheit des Pfades zu bezwingen und sie fällt nicht mehr so oft in Adams Arme. Doch jedes Mal, wenn ihre Hand den Boden berührt, um sich abzustützen, sammelt Leyla kleinere Steinchen auf und steckt sie in ihre Hosensäcke.
Das Publikum applaudiert, als beide den Platz vor den paar Ruinen, in denen angeblich die fünf Gesichtslosen wohnen, und der immens hohen Felsbalustrade betreten.
„Heute haben sie Ausgang, wie es scheint“, stellt Adam fest und blickt zu den Rängen und Logen hoch, wo Menschen vereinzelt stehen und den beiden zuwinken. „Weißt du, wenn du durch den Fels gehst, landest du wieder in der Betonstadt, mit den Blockbauten, in deren Zellen die Menschen leben. Auch sie gehen durch Wände und landen von ihren Zellen in diesem Fels, wo sie bequem in Logen und Rängen und auch gewöhnlichen Sitzplätzen Theaterstücke oder Konzerte oder Filme, die über eine breite Leinwand ausgestrahlt werden, genießen können.“
„Es sind keine Menschen mehr, Adam. Es sind Seelen, die nach Hause gefunden haben. Und sie können sich wohin bewegen, wohin immer sie das wollen. Diese Freiheit habe ich ihnen wenigstens nach dem Tod gegeben“, klärt Leyla auf, fasst in einem ihrer beiden Hosensäcke, nimmt zwei oder drei Kiesel heraus und wirft sie achtlos hinter sich.
Die Menschenseelen johlen auf den Rängen und Logen, als sie sehen, was vor sich geht. Die kleinen Steinchen beginnen zu wachsen, erheben sich und nehmen die Form von erwachsenen Frauen an. Der Stein wird weicher und weicher, bewegt sich und beginnt zu singen. Es ist kein Gesang, wie Leyla ihn in ihren vielen Leben auf der Erde gehört hat, sondern viel mehr ein monotoner hoher wie gleichzeitig tiefer Klang, den alle drei von sich geben. Die Menschenseelen im Felsen werden ganz still und hören verzückt den seltsamen Choral der drei neu entstandenen Frauen.
„Als ich auf die Erde ging, um Menschen zu gebären, waren es auch nur Frauen. Lange Zeit wandelten Frauenmenschen auf der Erde, bis es in der Natur eine Anomalie gab und der erste Mann geboren wurde. Damals waren die Neugeborenen hilflos. Diesmal werden sie aus Stein geboren und nicht mehr hilflos, sondern reif sein, wenn das Leben in sie strömt.“
Die Menschenseelen jubeln wieder, als Leyla weitere Steinchen aus ihren Hosensäcken nach hinten wirft, wie in der griechischen Mythologie Pyrrha, die mit ihrem Mann Deukalion die Flut, die Zeus über die Menschheit brachte, überlebte. Fragt sich nur, wer hier von wem abgeschrieben hat oder hatten zwei ein- und dieselbe Phantasie?
Als ein Chor von etwa 50 Frauen am Strand Aufstellung genommen hat und singt, hören die Menschenseelen wieder gebannt zu.
„Damals, als es nur Frauen gab, gab es keine Benennungen, keine Namen, keine Unterschiede. Und doch blubberte etwas unter der Erde, ein drohendes Unheil, das Benennung forderte. Es war anders als alles andere. Es unterschied sich von allen anderen. Es war das Nix, das sich auch im Universum breit machte“, sprach Leyla weiter.
„Nix, nix, nix“, echote plötzlich das Publikum.
Adam hob seine linke Hand und die Menschenseelen schwiegen.
„Ohne Nix geht nix – äh, nichts“, meinte Adam und lachte ein wenig zu irre.
„Was wird jetzt aus diesen Seelen?“ fragt er einige Sekunden später und blickt gemeinsam mit Leyla auf die Frauen, die nach ihrem Gesang langsam auf das steinerne Meer zugehen, es betreten und immer weiter zum Horizont hinaus wandern, bis man sie nicht mehr sehen kann.
„Vielleicht schaffen sie sich ein eigenes Universum“, sinniert Adam und der Vorhang fällt, löst sich auf und was bleibt, ist fast schwarzer, zerklüfteter Fels.

Die Menschenseelen neigen sich wieder ihren Zellen in den Betonbauten zu. Sie sind nicht alleine in ihren Zellen. Sie fühlen sich auch nicht einsam. Fühlen, Gefühle – all das haben sie zurück gelassen und sind glücklich darüber. Glücklich? Sie sind zufrieden. Zufrieden? Auch das nicht, da all das zum Gemüt gehört. Sagen wir, es ist ein unvorstellbares Gefühl, etwas, das im menschlichen Gehirn nicht ausgelöst werden kann, weil es sich im Verlauf der Evolution zurück gebildet hat. Vieles im menschlichen Gehirn hat sich zurück gebildet, was einfach nicht mehr gebraucht wird. Und manches, leider meist Unbrauchbares, hat sich weiter entwickelt.
Die Menschenseelen erinnern sich an all das, was sie einst ausmachte. Sie kommunizieren, ohne laut zu sprechen und ohne zu denken. Natürlich auch ohne zu fühlen. Was also ist diese Art von Kommunikation? Eine andere Art eben, wie es sie auf der Erde nicht gab, nicht gibt.
Sie alle zusammen sehen noch immer die Frauen, diese wunderschönen, perfekten, nackten Frauenkörper, wie es sie auf der Erde noch nie gab, über das steinerne Meer schreiten und finden es als den besten Akt, den sie je im Theater an der Bucht gesehen haben. Da sind sie einer Meinung. Das sind sie ohne Zweifel immer. Es gibt keine Diskussion dagegen. Es gibt keine andere Seite der Medaille. Es gibt keine Medaillen. Kein Geld. Man muss hier nichts bezahlen und man muss ebenso für nichts bezahlen. Nichts? Nix?
Da ist es wieder, diese verflixte Nix, dieses unbeschreibliche Ding, von dem alle wissen, dass es da ist, aber niemand hat es je wirklich gesehen. Obwohl Adam und Eva damals im Komposthaufen etwas entdeckt haben und vielleicht sogar der Überzeugung sind, dass es durch ihre Entdeckung oder viel mehr durch ihre Beobachtung erst entstanden ist, ist das noch lange kein Beweis für seine – oder ihre? - Existenz. Man erzählt sich so viele unterschiedliche Dinge über dieses Nix, dass es alles Mögliche und noch eher alles Unmögliche sein kann. Es ist das große und vielleicht sogar unlösbare Rätsel allen Lebens.
Ja, Lebens! Denn wir sind nie tot. Wir sind wandelbar. Der Alte zeigt es uns vor. Was haben wir alles hinter uns! Leben über Leben und zwischendurch waren wir hier, haben aber nie begriffen, worum es wirklich geht.
Worum geht es denn wirklich?
Schweigen.
Die Menschenseelen schweigen meistens. Aber etwas ist ständig da, dieses geheimnisvolle Lächeln, obwohl es gar kein Lächeln ist. Ihre Körper sind nicht mehr so beschaffen, wie auf der Erde. Es gibt einen Hunger, keinen Durst. Es gibt kein Sehen, kein Hörern – das hatten wir schon und es erinnert zu sehr an das Herz-Sutra, was auch schon erwähnt wurde. Aber manches, was Menschen aufgeschrieben haben, klingt schon nach dem Paradies. Außerdem kam ohnehin nichts aus ihnen selbst. Das meiste wurden ihnen von den Engeln eingegeben, - von Engeln und anderen Wesenheiten, die hier so herum schwirren. Keine Angst, es ist nichts Böses. Das einzig Böse ist das Verborgene, das große Rätsel, das niemand lösen kann, das ominöse, zweideutige Nix. Alles andere hier ist klar, denn er (der Alte?) sah immer, dass es gut war. Bis, ja bis...

„Meinst du wirklich, es ist unsere Schuld?“ fragt Leyla, als beide wieder einmal nach oben steigen, zur Hütte des Alten wandern, damit Adam ihn entweder ins Bett legt oder auf den Stuhl an den Tisch setzt. Man weiß es nicht mehr so genau, da es in den letzten Momenten schon so oft geschah. Adam weiß es. Er ist der einzige, der es auf eine ganz bestimmte Art wahrnimmt, da es ja hier kein Sehen auf die menschliche Art mehr gibt. Dennoch schleicht sich der Fehler immer wieder ein, denn man schreibt ja auch, dass Adam oder Eva etwas sagen, sprechen, sinnieren oder was auch immer. Das ist es nicht. Es ist etwas ganz anderes, lässt sich aber nicht anders beschreiben als nur mit diesen Worten. Wir erfinden keine neuen Worte mehr. Nie mehr wieder! Worte können vielmehr töten als Messer, Pistolen, Granaten, Bomben...
„Wahrscheinlich nicht. Die Engel lügen nicht und sie würden uns auch nicht beschwichtigen, wenn wir etwas angestellt hätten, selbst wenn das, was wir angestellt hätten, ohne Absicht war.“
„Was war es dann, was wir damals im Komposthaufen gesehen haben? Und woher kommt all der Müll in der Betonstadt? Alle Straßen sind voll damit. Man wird nicht fertig mit wegräumen. Und wohin mit den vollen Müllsäcken?“
„Leyla, ich weiß es auch nicht. Seit das Nix aufgetaucht ist, oder besser gesagt, seit über das Nix gerätselt wird, ist alles anders. Es geht alles den Bach runter. Und ich denke, es waren nicht der Alte und Gaia alleine, die das Universum geschaffen haben. Es war viel mehr das Nix, das beide dazu verleitet hat. Es agiert genauso wie die Engel mit den Menschen. Es sagt uns ein, was wir tun sollen.“
Es ist tatsächlich so, dass das Innere, die Seele, die Psyche, um einiges verletzbarer ist als das Äußere, der Körper, das Physische. Das Äußere, sozusagen die Materie, verändert sich ständig, aber die Seele bleibt die selbe, auch wenn sie verletzt wird. Da gibt keine Veränderung, wie etwa Heilung. Die Wunden vernarben manchmal, manchmal aber auch nicht. Dann blutet die Seele ständig. Natürlich ist es ein anderes Bluten als das des Körpers. Ausbluten kann nur der Körper. Dann ist er sozusagen tot, aber noch immer da und der Verwesung preis gegeben, obwohl ja auch das nichts als Veränderung ist. Die Seele kann nicht verwesen. Sie kann auch nicht versteinert werden.
Man stelle sich nur vor, was wäre, wenn die Seele das Äußere, das Offensichtliche der Menschheit wäre. Jede Lüge, jede Kränkung, jedes verletzende Wort wäre sichtbar. Würde das die Menschen abschrecken? Würden sie dann sanfter mit sich und ihresgleichen umgehen?
„Wir haben damals etwas Gegenteiliges entdeckt“, sagt Leyla, „Im Komposthaufen“, setzt sie auf Adams fragenden Blick hinzu. „Wir hatten damals diesen prachtvollen Garten und diese seltsamen Haufen. Die Blumen hätten nicht verdorren dürfen. Im Paradies sollte doch Ewigkeit herrschen.“
„Tut sie ja auch“, widerspricht Adam.
„Tut sie nicht! Es ist das Nix, das herrscht.“
„Du missverstehst diesen Vorgang. Die Blumen sind nicht verdorrt. Sie haben sich genauso erneuert wie der Alte. Das war der Fehler. Wir hätten die Blumen niemals pflücken sollen, nachdem ihre Blätter grau geworden sind. Niemals hätten sie das Gras mähen sollen, als es zu hoch wurde. Wenn wir das nicht getan hätten, hätten wir nie einen Komposthaufen gehabt.“

Summend wandert der Chor der 50 Frauen auf dem steinernen Meer der Unendlichkeit zu.
Das ist nicht ganz richtig, da es in Wirklichkeit keine Unendlichkeit gibt. Alles ist rund, kreisrund. Alles fließt. Das sind zwei gültige Wahrheiten, die überall gelten. Sogar im Paradies. Moment! Wenn alles kreisrund ist, gibt es doch in einem Kreis weder Anfang noch Ende. Somit dürfte es sich bei einem Kreis oder etwas Rundem um Unendlichkeit handeln. Man kann unendlich lange im Kreis laufen. Auch das ist eine gültige Wahrheit. Aber meistens wird das mit der Unendlichkeit überbewertet. Das wollte ich damit ausdrücken. Diese unnötige Überbewertung der Unendlichkeit gehört ausgetilgt.
Dasselbe betrifft die Ewigkeit. Wenn alles fließt, kann es nichts Ewiges geben. Nicht einmal im Paradies. Gut, es stirbt nichts und niemand, sondern erneuert sich ständig. Dennoch ist es eine gewisse Art von Sterben, von Veränderung. Ja, Sterben ist Veränderung. Aber ganz sicher kann man sich nie sein. Man weiß erst, was Sterben ist, wenn man es hinter sich hat. Das Aus und Vorbei wäre langweilig, also denkt man sich irgendwelche Geschichten aus und träumt von einem Leben nach dem Tod. Was war vor dem Leben, vor der Geburt? Na? Ist ja auch nicht wichtig. Man sollte die Vergangenheit immer konkret abschließen und hinter sich lassen. Sonst kommt man durcheinander und verpasst die wahre Zukunft. Ja, es gibt die wahre Zukunft. Das ist die, welche einfach kommt, ohne dass sich jemand einmischt. Leider mischen sich immer vergangene Zeiten in die Zukunft und verfälschen alles. Die wahre Zukunft hingegen wäre einfach wundervoll.
Sie wissen nicht, woher sie diese Gedanken haben, die ihnen eben durch den Kopf gingen, - genau gesagt, ein- und dieselben Gedanken, die durch 50 Köpfe gingen. Dennoch wandern sie stur weiter, ohne zu wissen wohin.
Wozu braucht man wissen, wohin man geht? Ist doch nicht wichtig. Irgendwann einmal endet alles. Jeder Moment ist mal zu Ende und darauf folgt ein neuer Moment. Das geht unendlich lange so weiter. Unendlich? Na ja, ihr wisst schon, was damit gemeint ist. Langsam könnt ihr ja anfangen, ein bisschen selbst zu denken. Oder?
Das Summen wird leiser, da sie die Gedanken zu sehr in Anspruch nehmen. Aus den Gedanken folgt immer deutlicher und vor allem bewusster ein Ich. Man fragt sich, wer oder was hier denkt, ohne zu bemerken, dass es von außerhalb kommt, dass da etwas ist, das einem etwas eingibt, einpflanzt, so wie man der Erde Pflanzen einsetzt, die an dieser Stelle gar nicht wachsen sollten. Und dann regen sie sich auf, weil immer wieder neue Viren auf sie zukommen und sie nichts dagegen tun können. Man hätte der Natur ihren Lauf lassen und nicht dazwischen pfuschen sollen.
Die Natur ist klüger und es gibt sie auch schon viel, viel länger. Aber nein, Blumen und andere Pflanzen mussten abgeschnitten werden, bevor sich alles regenerieren konnte und ein Komposthaufen musste gebaut werden. Es regeneriert sich alles von selbst! Ja, ihr Pflaumen! Habt es einfach nicht erwarten können.
Die Schritte werden langsamer. Der Rand der Welt wird sichtbar. Man nennt es nur so. Es ist nicht wirklich der Rand der Welt. So etwas gibt es nicht. Dennoch handelt es sich um einen Rand, der das steinerne Meer umschließt. Es ist eine etwa 50cm hohe steinerne Mauer, nicht gerade hoch, aber noch immer sichtbar, wenn man in über 10000 Meter Höhe darüber fliegt. An manchen Tagen, wenn keine Wolken am Himmel sind, kann man die Mauer sogar aus noch viel, viel höherer Höhe sehen. Sie hat keinen wirklichen Sinn, da dahinter ohnehin nichts hin. Man hätte also keine Mauer gebraucht, aber anscheinend wurde sie trotzdem gebaut.
Von wem? Wahrscheinlich waren es ein paar niedere Engel. Was sind niedere Engel? Es gibt drei Hierarchien, die oberste, die zweite und die dritte. Es gibt Seraphim, Cherubim, Throni, weiters, Herrschaften, Mächte und Gewalten und schließlich die Fürsten, Erzengel und die niederen Engel, die meist als Baumeister fungieren. Viel verstehen sie ja nicht von ihrer Arbeit, sonst hätten sie nicht so eine grauenhafte Betonstadt entstehen lassen. Mit wem spreche ich? Ihr seid kein Ich, sondern mehrere, falls euch das noch nicht aufgefallen ist. Schaut mal um euch. Seht euch gegenseitig an.
Es entsteht bereits ein Dialog. Und die Frauen schauen sich tatsächlich gegenseitig an. Manche von ihnen lächeln sogar. Und plötzlich erkennen sie, dass sie nackt sind und schämen sich.
Quatsch! Das ist doch kein Grund sich zu schämen. So seid ihr nun mal. Sich für sein Sein zu schämen, ist ja das Allerletzte. Also, schaut euch noch mal an und erkennt eure Vollkommenheit. Da gibt es nichts mehr hinzu zu fügen oder hinweg zu nehmen. Ihr seid perfekt. Verstanden?
Die Blicke der 50 Frauen sind noch ein wenig verwirrt, als sie an die Mauer treten und dem Nix ins offene, weite Maul starren.

Leyla bleibt am Eingang der kleinen Steinhütte stehen und sieht zu, wie Adam den Alten vom Stuhl hebt und ihn ins Bett legt.
„Wahnsinn, der Alte ist aber klein geworden. Als ich ihn damals gesehen habe, war er ein ganz normaler alter, zugestanden – sehr, sehr alter Mann, aber jetzt sieht er aus wie ein Baby mit unzähligen Falten“, stößt sie aufgeregt hervor.
„Die Erneuerung wird bald stattfinden. Ich bleibe besser bei ihm“, meint Adam, holt sich den anderen Stuhl ans Bett und setzt sich, während Leyla noch immer im lässig Türrahmen lehnt.
„Ja es ist etwas im Gange. Die 50 Jungfrauen wandern über das steinerne Meer zum Rand der Welt“, stellt sie fest.
„Du erinnerst dich ja wirklich!“ ruft Adam erstaunt auf.
Zur Berichtigung, Adam ist nicht wirklich erstaunt und Leyla ist nicht wirklich aufgeregt. Inzwischen müsste man ja wissen, was es wirklich bedeutet. Natürlich weiß man es nicht, weil das Menschsein ohne Gemüt fast unvorstellbar ist. Dazu sei gesagt, Adam und Leyla sind keine Menschen, sondern haben nur menschliche Gestalt. Sie sind Seelen und Paradiesbewohner, die sich niemals über den Rand der Welt, wie es Leyla getan hat, hinaus wagen sollten.
„Du erinnerst dich“, setzt er leiser hinzu, um den schlafenden Alten nicht zu wecken, was ohnehin nicht möglich gewesen wäre, da er inzwischen stocktaub und stockblind geworden war. „Es war der Ort, an dem wir uns das letzte Mal gesehen habe, bevor du in die Welt gegangen bist.“
„Jetzt sind es die 50 Jungfrauen, die sich bereit machen, um in die neue Welt zu gehen. Diesmal müssen sie es alleine schaffen.“
„Und die Menschenseelen?“ fragt Adam.
„Mal sehen. Wir sollten es ihnen selbst überlassen. Es ist nicht fair, wenn sie von den Engeln ständig aus ihren Zellen und zum Rand der Welt vertrieben werden. Manche glaubten wirklich an ein herrliches Paradies und lebten danach, um es betreten zu dürfen. Sie haben auf so vieles verzichtet und dann das: eine kleine Betonzelle in einer riesigen Betonstadt. Kein Garten, keine Bäume, kein Grün – nur Grau, wohin das menschliche Auge einst blickte. Und nicht mal Glückseligkeit, die ihnen versprochen wurde, weil es im Paradies keine Gefühle, kein Gemüt gibt.“ Was ja schon mehrmals erwähnt wurde...
„Es wäre deine Aufgabe gewesen, hier zu bleiben und darauf zu achten, aber du musstest ja gehen, um deine Brut auf der Erde zu gebären. Hier wäre sie um einiges besser aufgehoben gewesen und die Natur des Universums wäre auch glücklicher gewesen.“
„Adam, meinst du wirklich, das Menschengeschlecht ist eine Anomalität?“
„Wer kann es wissen? Natürlich entstanden ist es nicht.“
„Dann sollte ich die 50 Jungfrauen aufhalten, bevor sie sich in die neue Welt wagen. Sie wären doch auch eine Anomalität. Oder etwa nicht? Genauso wie damals, als plötzlich eine Frau ein männliches Baby zur Welt brachte. Das Baby war eine Mutation und hat alle verunsichert. Man wollte es schon töten, aber die Frau flüchtete mit ihrem Balg und als Wochen später andere Frauen männliche Babys geboren haben, kam sie wieder zurück, da von den anderen keine Gefahr für ihr Baby mehr bestand.“
„Geh zurück in die Betonstand und berate dich mit Uriel. Immerhin ist es schon viel zu lange her, seit sich die Welt das letzte Mal erneuert hat und wir haben sicher vieles vergessen. Uriel ist ein Engel und hat ein besseres Erinnerungsvermögen als wir. Vielleicht kann er dir helfen. Ich kann es nicht, da ich nicht möchte, dass du mich abermals verlässt.“
Leyla stemmt ihre Fäuste in die Hüften und lacht auf.
„Ach, komm! Mach uns doch nicht zur kitschigen Liebesgeschichte im Paradies. Das haben wir nicht nötig. Immerhin sind wir nicht wirklich so was wie ein Paar, auch wenn ich das für einen Moment dachte, als ich dich sah. Und es war auch nicht so, dass mich der Alte aus einer deiner Rippen gemacht hat, wie die Menschen auf Erden das gerne gehabt hätten.“
„Vorsätzlich waren das sicher Männer, die das gerne so gehabt hätten. Frauen sehen es eher umgekehrt, wie du, dass es eigentlich nur Frauen geben soll und der Mann erst später durch eine Laune der Natur entstanden ist, obwohl anscheinend die gesamte Menschheit gar nicht natürlich ist und demnach auch nicht der Natur entspricht. Deshalb ist es den Menschen auch so schwer gefallen, sich ins Ganze einzugliedern. Sie haben das riesige Netz, das alles mit allem verbindet, nie gesehen, weil sie es nicht sehen konnten.“
„Das entschuldigt sie aber keineswegs für den Unsinn, den sie anstellen“, kontert Leyla. „Außerdem ist es tatsächlich so, dass es nur Frauen gab und nicht, weil ich es eher so sehe. Kapiert, du alter Macho?“
„Ja, ja, schon gut“, flüstert Adam, weil sich der Alte gerade ein wenig bewegt und schmerzvoll greint. „Geh trotzdem, denn wenn es so weit ist, ist es besser, einen Engel zur Seite zu haben.“
„Und du?“
„Ich hab eh den Alten, der wieder wie neu sein wird. Mal hoffen, ob es dann besser wird und wir wieder einen Garten haben.“
„Darauf freue ich mich schon“, jubelt Leyla auf, die nur zu gut weiß, dass sie sich nicht wirklich freut, weil es im Paradies keine Freude (und genau deshalb kein Leid!) geben kann. Dann wirft sie Adam einen ziemlich netten Blick zu und wendet sich zum Gehen.
Sie wandert den Weg zurück, den sie einst gegangen war, als sie das erste Mal zur Hütte des Alten kam. Als sie vor einer Felswand steht, berührt sie diese vorsichtig mit ihrer rechten Hand und geht schließlich problemlos hindurch.

Vor Leyla breitet sich ein sehr, sehr großer Platz aus, teils mit Kies, teils mit Sand bedeckt. Ein Ende oder einen Rand kann sie nicht erkennen, dafür aber sieht sie viele, viele Hunde, die auf dem Platz herum tollen. Teure und billigere Rassehunde, kleine und große, dicke und dünne und alle möglichen Promenadenmischungen laufen und springen fröhlich herum, als ob dies hier wahrlich das Paradies wäre. Plötzlich spürt Leyla ein Reiben an ihren Beinen. Ein mittelgroßer Mischling, mit vereinzelt weißen Flecken im halblangen schwarzen Fell, blickt mit großen, dunklen Augen zu ihr hoch.
„Ari!“ ruft Leyla aus, bückt sich und nimmt den Hund überschwänglich in die Arme. „Ari“, spricht sie leise weiter. „Wie hab ich dich vermisst. Es tut mir so leid, dass wir dich damals zurück lassen mussten. Ich hab mir die Seele nach dir aus dem Leib geschrien. Du warst verschwunden und wir mussten in ein anderes Land flüchten.“
„Mach dir keine Gedanken deswegen. Mir ging es damals gar nicht so schlecht. Wir waren mehrere Hunde, die vor dem Krieg flüchteten und schlugen uns irgendwie durch. Den Kriegswirren konnten wir entgehen, aber als es in der Gegend ein Arschloch von Mensch gab, der Giftköder auslegte, um uns Streuner zu erledigen, - na ja, das war's dann, wie du dir denken kannst.“
Leyla kommen fast die Tränen, als ihr bewusst wird, dass sie mit ihrem ehemaligen Hund kommuniziert.
„Ach, Ari, es ist so schön, dich wieder zu sehen. Du hast mir wirklich gefehlt. Eigentlich haben wir dich für die Kinder zu uns genommen. Du warst so süß, als du klein warst. Ein so süßes Wollknäuel warst du. Natürlich warst du später noch immer süß und wurdest ein sehr statthafter Wachhund und Beschützer der Kinder. Aber meistens warst du in meiner Nähe.“
„Weil von dir das Futter kam“, sagt Ari und zwinkert mit einem Auge.
Leyla lacht, hockt sich auf den staubigen Boden neben Ari und streichelt ihm über den Kopf.
„Verfressen warst du wirklich. Man musste aufpassen, dass du nicht zu dick wurdest. Hoffentlich hast du nicht viel gelitten nach dem Giftköder.“
„Angenehm war es nicht.“
„Es ist schrecklich, wozu Menschen fähig sind. Nicht nur zu anderen Lebewesen sind sie grausam, auch zu ihresgleichen. Aber sag mal, hast du dir so das Paradies vorgestellt, Ari?“
„Das was? Oh, ich verstehe! Ihr Menschen habt da so etwas, was ihr Religion nennt, - so eine Art Vorstellung vom Leben nach dem Tod. Na ja, wir Hunde haben uns darüber nie Gedanken gemacht, sondern das Leben so genommen, wie es kam. Man kann sagen, wir haben uns mit dem Leben arrangiert. An den Tod dachte wir nicht, also haben wir uns davon auch keine Vorstellungen gemacht. Verstehst du, was ich meine?“
„Jetzt ja, mein lieber Ari. Ihr wart mit dem Leben und allem anderen im Einklang, was Menschen nie konnten, weil es sie gar nicht geben durfte. Und jetzt lungern Millionen von Menschenseelen in der Betonstadt wie der stinkende Müll herum.“
„Ich weiß. Ich kenne die Geschichte.“
„Was? Oh ja, natürlich! Wir haben euch immer unterschätzt. Dabei habt ihr mehr durchschaut als wir.“
„Wir haben gar nichts durchschaut. Es war uns einerlei, wie alles funktioniert. Wir waren also nie Forscher wie ihr. Und uns das Leben durch irgendwelche Geräte zu erleichtern, dazu waren wir ohnehin nicht geschaffen. Das war auch gut so, denn ihr habt euch dadurch mehr Zeit gestohlen, als gewonnen, wie ihr ja hofftet.“
„Lass uns von besseren Zeiten reden, Ari. Was wird nun aus uns?“
„Wir bereiten uns auf die neue Welt vor. Weißt du das nicht?“
Leyla lacht wieder auf und reibt Aris Kopf.
„Wird es wieder Menschen auf der Erde geben?“ fragt er.
„Wenn ich die 50 Jungfrauen nicht aufhalte, vielleicht nicht. Vielleicht kann sich dann eine Spezies natürlich entwickeln, die auch wirklich dazu passt.“
„Du meist die nackten Weiber am Rand der Welt?“ fragt Ari und Leyla nickt.
„Sie haben eine andere Bedeutung“, erklärt er weiter. „Sie stehen für verschiedene Dimensionen im neuen Universum. Das hat mit Menschen nichts zu tun, auch wenn sie Menschengestalt haben. Aber du musst zugeben, keine Menschenfrau war je so schön, wie diese 50 Jungfrauen.“
„Das gebe ich zu.“
„Also, - die verschiedenen Dimensionen im neuen Universums sind notwendig, weil es durch sie leichter wird, ins – wie nanntest du es? - ja, ins Paradies zu gelangen, ohne sterben zu müssen.“
„Der Fehler wird also behoben“, sinniert Leyla.
„So kann man es auch nennen.“

„Vielleicht war es gar kein Fehler“, raunt Ari, „Sieh es mal so: Ihr habt der Evolution unter die Arme gegriffen. Außerdem gibt es auf anderen Planeten sehr wohl Humanoide, die sich vollkommen normal entwickelt haben. Es war ähnlich wie auf dem Planeten, den ihr Menschen Erde nennt. Es gab den Boden, das Wasser, Luft und tief unter dem Boden verborgen war das Feuer. Aus diesen vier Elementen entwickelten sich zuerst Pflanzen, dann Tiere, die überall, am Boden, im Wasser, in der Luft und sogar im Feuer, wie Vogel Phönix, wohnten und schließlich entwickelten sich aus all dem humanoide Lebewesen.“
„Trotzdem, man greift nicht in die Natur ein“, seufzt Leyla schuldbewusst.
„Vielleicht habt ihr auch das nicht getan, sondern die Natur hat euch um Hilfe gebeten, ohne dass es euch, dir und Adam, bewusst war.“
Leyla denkt kurz nach, während sie Aris Kopf weiter tätschelt, der es sichtlich genießt.
„Das könnte natürlich sein. Weißt du, ob es in der Betonstadt nur Menschenseelen von der Erde gibt? Ich glaube, Adam sagte mir, dass manche zu Stein werden, was ich mir bei Menschenseelen nicht vorstellen kann. Wenn man zu Stein wird...“
„...geht man gewissermaßen in die Ewigkeit ein“, vollendet Ari den Satz. „Es gibt sicher viele Menschenseelen, die zu Stein wurden, um die ewige Ruhe zu erlangen. Einmal habe ich Menschen bei einem Gespräch belauscht, bei dem es um Wiedergeburt ging und der eine sagte, dass er das nicht möchte, weil er jetzt schon zu müde für ein weiteres Leben ist. Mag sein, dass genau diese Menschen einmal zu Stein werden. Menschen haben doch auch Religionen erfunden, in denen es um die ewige Ruhe, sozusagen um den Ausstieg aus dem Kreislauf geht.“
„Werden Wünsche oder wird Glaube erfüllt?“ fragt Leyla und kann sich ein Lächeln nicht verkneifen.
„Du wirst lachen, ja, viele Wünsche und vor allem der Glaube wird erfüllt, wenn er nur tief genug ist, was aber bei den wenigste Menschen zutrifft.“
„Mein Glaube, an einen paradiesischen Garten war wohl zu wenig tief.“
„Das hat damit nichts zu tun, da es viel mehr um innere Zufriedenheit geht und nicht um ein prächtiges Schloss in einem bunt blühenden Park und all dem Unsinn. Außerdem sind viele Pflanzen, Blumen und Bäume einzelne Seelen, die sich nach ihrem Ableben nicht mehr dafür hergeben, Dekor für Menschen zu sein.
Also, den einzigen Fehler, den ich euch zugestehen würde“, sinniert Ari weiter, „wäre das mit dem Komposthaufen. Mag schon sein, dass ihr dadurch die Verbindung zwischen Zentrale und Universum unterbunden und deshalb etwas herauf beschworen habt, was Menschen den Tod nennen.“
Plötzlich gibt es einen mächtigen Rums.
„Was war das denn?“ fragt Leyla. Aber ihre Frage ist viel mehr an sich selbst oder an alle gestellt, als einzig allein an Ari, ihrem ehemaligen Hund, neben dessen Seele sie hockt und seinen Kopf streichelt.
„Das war die Erneuerung des Universums. Und der Alte dürfte auch wieder in seinen besten Jahren sein.“
„Was?!“ scheint Leyla nun wirklich erstaunt zu sein.
„Was dachtest du denn, wie sich das auswirkt? Schwarz vor den Augen, eine Ohnmacht wie Koma und dann das Aufwachen in einem prächtigen Schloss in eine, bunt...“
„Schon gut!“ unterbricht Leyla forsch und nimmt ihre Hand von Aris Kopf.
„Noch mal: Was dachtest du, wie sich das auswirkt? Du hast es doch schon einige Male erlebt. Vergessen? Sind menschliche Wesen wirklich so vergesslich?“
„Es scheint so, liebster Ari.“
„Es hat sich alles erneuert. Das heißt nicht, dass jetzt plötzlich alles anders ist. Ich weiß, manche erhoffen sich das, aber so ist es nicht. Stell dir alles wie eine Schürze einer fleißigen Hausfrau vor, die du ja auch einmal warst. Das war so um die 50iger oder 60iger, als die Jungen mit dieser wilden Negermusik anfingen, wie ihr Eltern das genannt habt. Um dem Ehemann immer zu gefallen, wart ihr Frauen, - aber Moment! - du warst doch der Ehemann zu dieser Zeit und hast deine Ehefrau sehr böse ausgenutzt. Ja, ja, du warst damals ein ganz schlimmer Finger. Hattest eine Geliebte! Was für ein typisches Menschenschema, - der Boss und die Sekretärin, während die brave Hausfrau daheim schuftet, sich stylt, um stets zu gefallen und sich deshalb die Schürze umbinden, um sich keine Flecken auf das hübsche Kleidchen zu machen. Und um diese Schürze geht es jetzt, meine liebe Leyla.“
„Moment! Woher weißt du das alles?“
„Ich war damals auch euer Haushund. So ein dicker kleiner Mops. Du warst damals aber nicht wirklich lieb zu mir. Hast mich eher übersehen. Aber deine Frau war für mich da. Sie war wirklich lieb zu mir.
Also, was diese Schürze betrifft – stell dir alles, das hier und das gesamte Universum, wie eine Schürze vor, die du vielleicht einmal getragen hast und die deine Lieblingsschürze war, die du um keinen Preis wegwerfen willst, wenn sie alt und zerschlissen ist. Nun ist sie das aber. Sie ist alt und zerschlissen. Plötzlich aber ist sie wieder neu, genauso, wie sie war, als du sie gekauft hast. Neu! Verstehst du? Mag sein, dass einige Taschen mehr an ihr sind, aber sonst hat sich nichts an ihr verändert. Sie hat sich erneuert, ist wieder neu, genauso wie sie damals war, als du...“
„Schon gut, ich kapier es ja!“
„Tust du nicht, sonst würdest du anders schauen.“
„Das Neue ist wahrscheinlich das mit den 50 Jungfrauen, die für neue Dimensionen stehen.“
„Wahrscheinlich und wahrscheinlich deckt es auch euren damaligen Fehler zu und vereint wieder die Zentrale mit dem Universum da draußen.“
„Mir fiel schon vor kurzem auf, dass du das hier Zentrale nennst. Warum?“
„Weil es eine Art Zentrale ist. Eine Zentrale ist ja so was, vom dem oder von der alles ausgeht. Die Zentrale ist der Mittelpunkt, das Hauptbüro, wenn du so willst.“
„Weißt du, lieber wäre ich schon eine oder einer der Jungen damals gewesen, als ein biederer Bürohengst, der es mit seiner Sekretärin treibt“, beschwert sich Leyla abrupt und sieht Ari offen in die Augen, während er dasselbe tut und beide im nächsten Moment in schallendes Gelächter ausbrechen.

„Ich werde mal in die Betonstadt schauen, wie es Uriel geht“, sagt Leyla nach diesem herzerfrischenden Lachanfall und erhebt sich.
„Dann komme ich mit“, beschließt Ariel und hebt sein Hinterteil ebenso hoch, um fest auf seinen vier schwarzen Beinen zu stehen, die nur wenige weiße Flecken aufweisen.
„Du darfst in die Betonstadt?“
Verächtlich blickt der Hund zu Leyla hoch.
„Meinst du, nur weil du eine Humanoide bist, kannst du überall hin? Auch Hunde dürfen bisweilen überall hin“, keift er sie an.
Wieder berührt Leyla sanft den Fels und gleitet problemlos hindurch. Als sie neben sich schaut und ihren ehemaligen tierischen Begleiter erwartet, steht neben ihr ein wunderschöner junger Mann. Schon Adam hält sie für eine ganz besondere männliche Schönheit, aber der junge Mann, der nun neben ihr steht, übertrifft alles an Schönheit, was sie bisher zu sehen bekam. Nicht mal die 50 Jungfrauen strahlen eine derartigen Liebreiz aus.
„Mann, bist du schön!“ stößt Leyla aus und muss sich an den Fels, der nun eine Mauer der unzähligen Betonbauten ist, lehnen.
„Beruhige dich wieder. Du kannst mich weiterhin Ari nennen, wenn du willst.“
Diese Stimme! Sie geht einem durch und durch, streichelt den Körper, oder zumindest das, was man für Körper hält, von innen nach außen.
„Wer, wer bist du?“ stammelt Leyla.
„Luzifer! Verdammt noch mal, wo warst du?“ ertönt eine Stimme und schon eilt eine Gestalt mit langen schwarzen Mantel daher.
„Uriel, musst du mich denn immer verraten?“ lächelt Ari und lässt sich etwas widerwillig von Uriel umarmen.
„Immer dieser sinnlosen Knutschereien“, schimpft er und klopft dem Engel dennoch freundlich auf die Schultern.
„Luzifer?“ fragt Leyla, „Luzifer, der gefallene Engel?“
Ari wehrt mit einer Hand ab.
„Vergiss mal all diese dämlichen Menschengeschichten über gefallene Engel und Engel überhaupt“, sagt er und nimmt versöhnlich Leylas Hand, die durch diese Berührung zusammen zuckt. Das, was seine Stimme auslöst, ist gar nichts zu dem Vergleich, was seine Berührung ihr antut. Unwillkürlich stöhnt sie trotz Gefühlslosigkeit auf.
„Das sind Geschichten, die wir den Menschen und vielen anderen ähnlichen Lebewesen unwillentlich eingegeben haben. Weißt du, manchmal wagen wir uns auch ins Universum hinaus und spielen irgendeine Rolle. Und dann kommt es auch vor, dass wir vergessen, wer oder was wir sind und verdrehen einiges. So kommen dann halt irgendwelche Geschichten heraus, welche die Menschen glauben. Irgendwie auf diese Art entstanden Religionen. Der, den sie Jesus nennen oder der, der Buddha genannt wird, oder irgendein anderer, der so glaubwürdig Schwachsinn von sich gab, dürfte auch hier irgendwo herum tanzen und womöglich zusätzlich den Namen irgendeines Engels haben. Oder meinst du, die Menschen kamen von selbst auf eine derartige Idiotie, dass Gott Adam und Eva aus dem Paradies jagte oder er seinen schönsten Engel vertrieb und in so was wie eine Hölle verbannte? Überhaupt die Geschichte mit den Engeln ist ja so was haarsträubend.“
Leyla versinkt in seiner Stimme und muss sehr genau aufpassen, um auch den Sinn der Worte zu verstehen. Selbst Uriel schmachtet ein wenig, indem sich ein wenig Speichel in seinen Mundwinkeln ansammelt.
„Adam erzählte mir etwas über die Hierarchien der Engel“, setzt Leyla entgegen.
Ari lacht hell auf und es klingt wie die allerschönste Musik.
„Adam ist ein Scherzbold. Die Einsamkeit neben dem Alten macht ihn ein wenig seltsam. Nimm nicht alles so ernst, was du hier hörst, liebe Leyla – oder soll ich Eva sagen?“
„Haben Namen hier überhaupt eine Bedeutung?“
„Hier keineswegs. Die Bedeutung wird im Universum, speziell auf der Erde, gemacht.“
Langsam gehen die drei weiter die gerade Straße entlang, die nun ziemlich sauber erscheint. Auf jeden Fall kann Leyla nicht mal den kleinsten Papierschnipsel sehen. Sie bleibt ein wenig zurück und beobachtet Aris Gang. Ihr bleibt kurz die Luft weg, wie er seine Hüften auf eine ganz besondere Art einsetzt und dies durch die engen schwarzen Hosen enorm zur Geltung kommt. Über seinem nicht zu muskulösen und doch perfekten Oberkörper trägt er ein schwarzes, ärmelloses T-Shirt. An den Füßen bestaunt Leyla schwarze, schwer aussehende Nietenlederstiefel, die fast bis zu den Knien seiner langen, wohl geformten Beinen reichen.
„Wo ist mein Hund?“ wagt Leyla zu fragen und geht nun zwischen den beiden.
„Ich war dein Hund. Auch damals der kleine, dicke Mops. Irgendwer musste doch auf dich aufpassen, als du so mir nichts dir nichts die Zentrale verlassen hast. Wir wussten, wie stark die Energie im Universum wirkt, dass auch du alles vergessen könntest, also wurde ich als Wächter degradiert und an deine Fersen geheftet.“
„Und wie heißt du wirklich?“ fragt Leyla und hakt sich bei Ari unter. Obwohl dadurch ein Schauder durch ihren ganzen Körper wandert, drückt sie sich noch fester an ihn.
Er lächelt.
„Hast du immer nicht kapiert, dass Namen keine Bedeutung haben? Wir können alles sein. Alles, was wir wollen. Wie ich schon sagte, - du kannst mich weiterhin Ari nennen, und ihn Uriel oder Adam Adam oder den Alten den Alten.“
„Und das Nix?“ stellt Leyla die alles entscheidende Frage.

Das offene, weite Maul erstreckt sich dem gesamten Rand der Welt entlang. Tiefe Schwärze, die wie ein schwarzes Loch alles zu verschlingen droht. Die 50 Jungfrauen, aufgeteilt über den gesamten Rand der Welt, starren über den Rand hinaus, nachdem sie erkannt haben, dass sie sich wie ein Ei dem anderen gleichen.
Keine Unterschiede. Nur so kann es klappen, dass kein Neid entsteht. Und wenn nur eine bloß ein bisschen herausragt, ist es vorbei mit der Harmonie. Es gilt nicht, zu sagen, dass unter der Haut alle gleich sind. Das sind sie nämlich nicht, denn einer hat längere Muskeln oder kürzere Knochen oder was auch immer. Die Menschen sind nie alle gleich. Das hat schon die Natur so eingerichtet. Ihr könnt es zwar nicht ändern, aber doch einiges dazu beitragen, um den ständigen Kontakt nicht abbrechen zu lassen. Versteht ihr?
Die 50 Jungfrauen verstehen gar nichts. Wie auch? Vor kurzem waren sie noch kleine Kieselsteine, die irgendeine Menschenseele aufgehoben und irgendwann hinter sich geworfen hat. Und nun? Sie wissen nicht, was oder wer sie sind.
Was meint ihr, was ihr seid? Ihr seid noch immer nichts anderes als billige Kieselsteine. Nur weil man sagt, ihr seid so schön, braucht ihr euch darauf nichts einbilden. Schön ist bald etwas. Anmutig auch. Selbst Luzifer, der Allerschönste unter euch, weiß das und hält nichts, absolut nichts von seinem Aussehen. Ein ständig nach Atem keuchender, dicker, kurzbeiniger Mops war er und einmal verkleidete er sich sogar in irgendein insektenartiges Lebewesen, das jedem, der es sah, zum Erbrechen brachte, so eklig war es. Ihm war es egal. Er tat nämlich alles, um gewisse andere Lebewesen zu beschützen, die ihn so sehr missverstanden haben, dass sie aus ihm das absolut Böse machten.
Und was soll das jetzt? Soll uns das mit Luzifer irgendwie weiterhelfen, wenn sich das Universum in jedem nächsten Augenblick erneuert?
Ja, doch! Genau das soll es. Ihr sollt erkennen, dass eure Form nutzlos ist und jederzeit durch eine andere ausgewechselt werden kann. Werdet Brückenbauer! Baut aus euch selbst Brücken in andere Welten. Ihr Schönen sollt die neue Verbindung zwischen dem Universum und der Zentrale sein. Wenn der Alte aufwacht, wird er in der Blüte seines Lebens sein und alles so vorfinden, wie er es gerne möchte.
Wer ist der Alte?
Eigentlich ist er die Zentrale. Aus ihm ging und geht alles hervor. Aus ihm und Lady Gaia. Die beiden sind nämlich ein Liebespaar. Sie sind DAS Liebespaar, von dem all diese lächerlichen Geschichten wie Romeo und Julia und solch Quatsch ausgegangen sind. Sie waren DIE Inspiration, etwas, das nichts anderes ist als eine chemische Reaktion des materiellen Körpers, Liebe zu nennen. Alles unecht, wenn mich jemand fragt. Echt ist nur das, was zwischen dem Alten und Gaia passierte, wieder passiert und immer wieder passieren wird. Nur für kurze Zeit sind sie wieder zusammen, wenn sich das Universum erneuert. Aber in dieser kurzen Zeit schöpfen sie jede Menge Kraft, die ich ihnen schicke. Na ja, von irgend woher muss es ja kommen, - das, was generell die Lebenskraft genannt wird. Seht mich an in meiner absoluten Schwärze. Hier bin ich! Unerschöpflich und stets neu! Ach, glaubt nicht alles, was ihr hört. Das Leben ist nur ein Spiel und nicht immer so schön, wie man es gerne hätte.
Die 50 Jungfrauen neigen sich über den Rand der Welt hinaus, als sie eine leichte Erschütterung spüren. Instinktiv dehnen sie ihre schönen Körper immer weiter über den Rand hinaus. Die tiefe Schwärze umhüllt sie, dehnt sie weiter hinaus und hinab und nach alle Seiten, bis die schönsten 50 Brücken, die man je gesehen hat, entstehen und sich an jene Dimensionen haften, welche das neue Universum ausmachen.

„Dem Nix wird mehr Bedeutung beigemessen, als es verdient“, antwortet Ari, „aber niemand weiß so genau, welche Funktion es wirklich hat. Manche sagen, es kann nicht benannt werden, denn sobald man es benennt, ist es das nicht mehr. Na ja, du kennst doch all diesen religiösen und esoterischen Quatsch der Menschheit. Eben das, was sie missverstanden und wir ihnen in unserer Vergesslichkeit falsch erklärt haben. Wie gesagt, nichts und niemand ist je vollkommen.“
„Das hast du nicht gesagt“, berichtigt Leyla.
„Was?“
„Dass nichts und niemand je vollkommen ist.“
„Wozu auch? Es müsste logisch sein in einer Welt der ständigen Veränderungen. Wenn etwas vollkommen ist, braucht es keine Veränderung mehr, aber da nichts vollkommen ist, wird es stets Veränderungen geben. Natürlich gibt es nicht nur Veränderungen zum Besten, sondern auch zum Schlechten“, philosophiert Ari, als aus einer der Mauern der Betonbauten Adam heraus tritt.
Leyla winkt ihm zu.
„Alles okay?“ fragt sie, als er vor ihr, Uriel und Ari steht, die mit dem ewigen Menschensohn nicht ganz so versöhnlich umgehen, ihn kaum beachten und nur durch ein kaum erkennbares Nicken grüßen.
„Jetzt ja“, atmet er auf und blickt sich in der Betonstadt herum, in der sich nichts geändert hat, außer, dass der Müll verschwunden ist.
„Wie geht es dem Alten?“ fragt Leyla.
„Jetzt geht es ihm gut. Gaia ist bei ihm. Sie ist wunderschön. Wie ein Feuerdrache tauchte sie auf, wärmte die Steinhütte des Alten und flog mit ihm in die ewigen Gefilde, wo sie sich nun ein paar Tage vergnügen werden.“
„So was von eklig. Dann entstehen wieder derartig geschmacklose Geschichten auf der Erde und womöglich spicken sie es dann wieder mit Erotik oder gar Pornografie aus, als gäbe es nichts schöneres“, keift Ari.
„Körpersäfte“, meint Uriel und spuckt angeekelt aus, „sind echt das Letzte und sie haben das echt genossen, obwohl sie sich stets von Tieren unterscheiden wollten. Tiere waren da viel besser dran. Sie sahen es als Teil der Natur, sich zu vermehren, aber Menschen haben Dramen daraus gemacht. Ich darf gar nicht darüber nachdenken.“
„Na, na, na“, machen Leyla und Adam wie aus einem Munde und stellen sich bedrohlich, mit beiden Fäusten in den Hüften, vor den beiden Engeln* (*lassen wir es bei dieser Benennung, wo doch eh bald jeder wissen müsste, dass Benennungen absolut keine Bedeutung haben) auf.
„Ist doch wahr“, meint Ari und scharrt verlegen mit dem Fuß, während er beschämt zu Boden blickt.
„Gehen wir mal weiter und lassen wir die beiden hier ihre Arbeit tun“, sagt schließlich Uriel, hakt sich bei Ari unter und schleppt ihn weiter die gerade Straße entlang.
„Was war das jetzt?“ fragt Leyla.
„Der übliche Konkurrenzkampf zwischen Engel und Menschen“, antwortet Adam und zuckt mit den Achseln.
„Ich dachte, es gibt keine Engel und das alles ist Quatsch, was den Menschen darüber erzählt wurde.“
„Ist es ja auch, aber wie willst es sonst benennen, wenn all das hier in der ewigen Chronik notiert werden muss?“

Das Prinzip des Zufalls. Gott würfelt nicht. In der Natur hat alles einen Sinn. - Gedanken dieser Art gehen Leyla durch den Kopf, als sie und Adam durch die Betonwand in die düstere, enge Schlucht kommen, an der Hütte des Alten vorbei, den unwegsamen Steig hoch und den steilen Pfad hinab bis zur Bucht des steinernen Meeres wandern. Vor allem aber spukt die Frage 'warum vergessen wir?' oder vielleicht 'warum müssen wir vergessen?' durch ihre imaginären Gedankengänge.
Es ist etwas heller geworden. Am Himmel lassen sich sogar einige Schönwetterwolken blicken. Es ist, als würde eben die Sonne am Horizont des steinernen Meeres aufgehen. Selbst der Sand ist nicht mehr ganz so schwarz, obwohl schwarz und weiß oder hell und dunkel nicht wirklich die Bedeutung von gut und böse oder weiblich und männlich haben. Vielleicht hätte Leyla sich die Frage 'was hat hier überhaupt Bedeutung?' stellen sollen.
„Was geht dir nur durch deinen hübschen Kopf? Hast du dich etwa schon wieder in Luzifer verliebt?“
Leyla blickt Adam von der Seite verächtlich an.
„Das ist wieder mal typisch Männer. Da braucht nur ein hübsches männliches Gesicht auftauchen und schon verdächtigen sie die Frau des Betrugs. Und warum? Weil diese Schelme selbst so sind. Da gibt es doch diesen Spruch: Wie der Schelm denkt so ist er.
Ich denke darüber nach, welche Arbeit wir tun sollen, wie Uriel gesagt hat und auch, warum sich Engel und Menschen nicht vertragen. Noch immer nicht vertragen. Außerdem, warum sollte ich mich schon wieder in Luzifer verliebt haben?“
„Antwort auf deine letzte Frage: Kam mir nur so in den Sinn und weiß nicht warum. Antwort auf die Frage, warum sich Engel und Menschen nicht vertragen: Das ist, weil wir mehr zu sagen haben als sie. Engel gehen nur selten in die Welt hinaus. Und wenn, machen sie nur Unsinn.“
„Das sollten wir uns verkneifen, wenn ich daran denke, was ich damals in die Welt gesetzt habe. Ach, wenn ich mich nur genauer erinnern könnte. Ich weiß zwar, dass ich den Sprung über den Rand der Welt wagte und du mich zurück halten wolltest. Wenn ich mich recht erinnere, hörte ich auch die warnende Stimme des Alten.“
„Stimmt! Er eilte aus seiner Hütte, den Weg hoch und hinunter zur Bucht. Er konnte uns beide zwar nicht sehen, aber er schien zu wissen, was du vor hast. Auch ich hörte sein gellendes 'nein' bis an den Rand der Welt. Es war ein gewaltiger Schrei und dann gab es einen Knall.“
„Den Urknall?“
„Es dürfte sich um so was ähnliches gehandelt haben, obwohl das Universum bereits in Entwicklung war. Aber über diesen Hall des Neins des Alten zerbrachen sich einige Wissenschaftler den Kopf. Dennoch, das war nicht der Anfang des Universums, - immerhin hatten der Alte und Gaia schon jede Menge Planeten, Sonnen, Monde und so anders Zeugs hinaus geschleudert.“
„Hinaus geschleudert?“
„Anders kann ich diesen Vorgang nicht nennen. Wenn Gaia gebiert, ist es so viel anders, als das, was du auf der Erde getan hast. Außerdem, so habe ich vorhin in Erfahrung gebracht, sind wir beide nicht die Einzigen, die so etwas getan haben. Im alten Universum gab es einige Planeten, auf denen Humanoide lebten und die auf ähnliche Art wie die Menschen auf der Erde kamen. Nur dürfte der Sog dieser Planeten nicht so groß gewesen sein wie der Sog Gaias. Frag mich nicht, was das bedeutet. Vielleicht ist es der Sog des Vergessens, aber mit Sicherheit weiß ich es nicht. Ich habe es mir nur sagen lassen.“
„Von wem?“
„Von anderen Humanoiden, die verantwortlich für bestimmte Planeten sind.“
„Sind wir denn für Gaia verantwortlich?“ fragt Leyla fast empört.
„Seit Anbeginn oder viel mehr seit jeher.“
„Scheiß auf den Alten. Ich hau ab.“
„Leyla!“
„Ist doch wahr. Es ist immer das Selbe. Wir müssen was tun und wenn wir was tun, ist es falsch.“
„Wer sagt denn so was?“
„Ist doch so!“
„Wir waren damals zu wenig kreativ und ließen den Dingen ohne unser echtes Zutun ihren Lauf. Vielleicht hätte ich dir folgen sollen und zusammen wären wir kreativ genug gewesen, um glückliche Menschenseelen zu schaffen. Und vielleicht sogar Menschenseelen, die nicht vergessen.“
„Was passiert mit denen in den Betonzellen?“
„Das ist auch so eine Sache, die mir gesagt wurde. Du weißt schon, von den anderen Humanoiden. Sie waren schier entsetzt, als ich sagte, dass unsere Menschenseelen in Zellen hausen und alles aus Stein ist. Da sollten wir doch etwas dagegen tun, meinten sie. Aber was? - fragte ich. Kreativ sein! - antworteten sie.“
„Uriel! Uriel weiß, wie man kreativ ist. Er ließ zwei kleine Männchen auf seinen Handflächen Musik machen und sagte, das sei wahre Kreativität. Verstehst du, was er damit meinte?“
„Etwas Neues. Etwas, das noch nie da gewesen ist. Das ist wahre Kreativität. Früher nannte man es Kunst und sagte, Kunst kommt von können, was kaum stimmen kann, da es einige gab, die sich Künstlern nannten und die Menschen mit ihrem Tun nur verarschten. Außerdem pausten sie alles von der Natur ab.“
„Warum griffen die Engel damals nicht ein?“ fragt Leyla nach einer Weile, als beide langsam weiter zu den Hütten der Gesichtslosen gehen.
„Sie haben zu spät eingegriffen, als es nichts mehr zu retten gab. Damals hat der Prozess der Zerstörung bereits begonnen und der ging auf Gaia eindeutig von den Menschen aus.“
„Aber was geschieht nun wirklich mit den Menschenseelen. Ich denke vor allem an den fröhlichen Mann, der singend und tanzend durch die Betonstadt hüpfte. Er schien so glücklich zu sein und stieß sich überhaupt nicht an dieser fürchterlichen Betonkahlkeit. Es schien, als würde er über eine Blumenwiese tanzen, über ihm die Sonne und in den Bäumen singen elfenähnliche Wesen und...“
„Das ist es!“ ruft Adam aus. „Elfen! Elfen und Zwerge und Riesen und Einhörner und Sphinxe und... Drachen! Ja, Drachen, feuerspeiende Drachen, wie Gaia in ihrem Innersten einer ist.“
„Das ist doch nichts Neues!“
„Doch! Vorher gab es das nur in den Köpfen der Menschen. Natürlich wurde es ihnen teilweise von den Engeln eingegeben, um ihnen in Form eines Märchens zu zeigen, dass es auch anders, eben friedlicher gehen kann, aber diese Märchen blieben Märchen und die Menschen konnten damit nichts anfangen. Wir schicken die Menschenseelen einfach als Märchenfiguren auf die Erde hinab und schauen, was dabei heraus kommt.“
„Und wenn auch das nicht funktioniert?“ fragt Leyla.
„Dann ist ja auch nichts verhaut. Ist doch alles nur ein Spiel. Die Welt ist ein riesiges Theaterhaus, in dem viele, viele Theaterstücke gespielt werden.“
„Leider vergessen das alle. Sogar wir, Adam.“

„Wie es scheint, hast du sogar vergessen, dass du mehrmals hier warst und dich selbst nicht erkannt hast“, bohrt Adam weiter, um vielleicht doch die eine oder andere Erinnerung in Leyla zu wecken.
„Erinnern sich die Menschenseelen an ihre Leben?“ fragt Leyla.
„Manche erinnern sich zum Teil an ältere Leben, an Leben, die also viel weiter zurück liegen als ihr letztes, das sie eben abgelegt haben.“
Sie stehen vor einer der Hütten der Gesichtslosen und Adam klopft höflich an die Tür, was höchstwahrscheinlich innen nicht gehört wird, da die dicke Stahltür kaum ein Geräusch durchlässt. Dennoch öffnet wenig später einer der Gesichtslosen die Tür und geht wieder an einen runden Tisch zurück, der in der Mitte des Raumes steht und an dem die anderen Gesichtslosen sitzen und Karten spielen. Rommé, ein einst sehr beliebtes Kartenspiel der Menschen.
„Verzeiht, wenn wir euch stören, aber wir hätten ein Anliegen“, beginnt Adam, „Es geht um die neue Welt, vorzugsweise um die neue Erde, für deren Bewohner, zumindest für einen Teil der Bewohner wir verantwortlich sind.“
Der Gesichtslose, der ihnen die Tür geöffnet hat und noch immer im Raum steht, ohne sich wieder zu setzen, weist mit dem rechten Arm hinaus auf den steilen Weg nach oben.
„Wir sollen wieder gehen?“ fragt Adam und der Gesichtslose schüttelt seinen Kopf.
„Wir sollen irgendwohin gehen?“ fragt Adam und der Gesichtslose bejaht mit dem Kopf.
„Vielleicht zum Alten?“ fragt Adam und das Bejahen des Gesichtslosen mit dem Kopf wird heftig.
„Ist er schon zurück vom Ausflug mit Gaia?“ fragt Adam und der Gesichtslose nickt einmal, bevor er die beiden aus der Hütte ungeduldig aus der Hütte schiebt.
„Ja, verdammt noch mal und jetzt zieht Leine, denn ich habe gerade ein gutes Blatt!“
„Er kann reden!“ ruft Leyla aus und dreht sich überrascht zu dem Gesichtslosen um, der aber gerade wieder die Tür schließt. „Und unhöflich ist er“, setzt sie hinzu.
„Man kann von ihnen kaum etwas erwarten. Im Theater sind sie für eine Tanzeinlage gut, aber sonst echt zu nichts zu gebrauchen. Manchmal frage ich mich, wozu sie gut sind und wozu es sie überhaupt gibt“, meint Adam, als sich beide wieder den steilen Weg nach oben bis zur Hütte des Alten kämpfen, wo die Tür offen steht, als würde man sie schon erwarten.
Drinnen sitzt der Alte, der gar nicht mehr alt ist, am Tisch und blickt Adam und Leyla freundlich lächelnd entgegen. Stumm bietet er Adam den Stuhl gegenüber mit einem Handzeichen an und Leyla winkt er zum frisch gemachten Bett, über dem sogar eine bunte Tagesdecke gelegt ist.
„Ich weiß, ihr habt viele Fragen“, beginnt der Alte. „Wie jedes mal nach der Erneuerung“, setzt er seufzend hinzu.
„Bei dir, Leyla, kann ich es ja verstehen, denn Gaia liebt es, die Erinnerungen aller auszusaugen. Da ist sie echt unersättlich. Sobald jemand den Fuß auf ihren Leib setzt, beginnt sie zu saugen und weg ist jegliche Erinnerung. Aber was können wir dagegen tun? Nichts, absolut nix.“
„Nix?“ wagt Leyla zu fragen.
Der Alte, ein total durchschnittlicher Mann um die 25, wendet sich zu ihr um.
„Entschuldige, das war nur ein Sprachfehler meinerseits. Es ist besser, wenn wir dieses Wort so wenig wie möglich verwenden. Am besten gar nicht.“
„Warum? Habt ihr alle Schiss vor dem Nix? Hat es euch in seinen Krallen? Ist es der große Boss, der euch alle in der Hand hat?“
„Genug!“ schreit der Alte auf und schlägt als Zugabe fest mit der Faust auf den Tisch, dass es nur so donnert.
„Das dürfte dann abermals ein Urknall gewesen sein“, kommentiert Leyla furchtlos und unbeeindruckt.
„Schon möglich, falls es wieder Menschen gibt, die sich dem Forschertum widmen. Nun aber zum Wesentlichen. Uriel hat mir vorhin übermittelt, dass sich die Menschenseelen weigern, abermals auf die Erde zu gehen, um dort feste Menschengestalt anzunehmen. Ihnen gefällt es in der Betonstadt in ihren Zellen, wo sie träumen können, was sie wollen und wenn sie bis in die Ewigkeit hinaus träumen, ist ihnen das recht. Hauptsache, sie müssen nie wieder auf die Erde, obwohl sie sich nicht erinnern können, was dort passiert ist. Genau dafür sind sie dankbar. So übermittelte es Uriel. Im Hintergrund hörte ich Luzifer kichern. Anders äußerte er sich nicht.“
„Wofür sind sie dankbar?“ fragt Adam.
„Für das Vergessen. Sie können sich an nichts erinnern, an kein einziges ihrer Leben und dennoch weigern sie sich, auf die Erde zu gehen“, antwortet der Alte.
„Warum tut Gaia so etwas?“
„Es ist nun mal ihre Art. Gaia saugt alle Erinnerungen auf. Es ist ihre Nahrung. Manchmal tut sie es schon zu Lebzeiten der Menschen, was die Menschen dann Demenz oder Alzheimer nennen. Alles geht von Gaia aus. Alle Krankheiten und Leiden und Katastrophen. Ihr könnt sie dafür verantwortlich machen, wenn was schief gelaufen ist und wenn weiterhin etwas schief läuft.“
„Klar, immer sind die Frauen schuld“, keift Leyla im Hintergrund auf dem Bett des Alten, der ihr einen bösen Blick zuwirft.
„Wahrscheinlich hat sie dich diesmal nicht ran gelassen, weil du so über sie sprichst? Typisch Mann! Wenn Frau Mann nicht ran lässt, ist Mann grantig,“ keift Leyla unverschämt weiter und der Alte wirft ihr einen weiteren bösen Blick zu.
Zu Adam gewandt meint er: „So bösartig habe ich sie gar nicht in Erinnerung.“
„Sie hat auf der Erde Schlimmes erlebt. Und ich denke, sie kann verstehen, warum die Menschenseelen keine Leben auf der Erde mehr leben wollen. Manche werden als Krüppel oder als Schwachsinnige geboren. Das, so denke ich, will wohl jede Menschenseele vermeiden.
Was also sollen wir tun? Märchenfiguren kreieren? Das wäre doch eine gute Idee.“
„Märchenfiguren?“ sinniert der Alte, „So was wie Elfen, Zwerge, Trolle, Hexen, Zauberer, Monster?“
„Oh, ich vergaß, dass alles immer seine zwei Seiten hat und womöglich hat es nicht nur zwei, sondern mehrere Seiten. Nur – muss denn ein Monster oder eine Hexe immer böse sein?“
„Wenn es etwas Gutes gibt, gibt es auch etwas Böses. So will es das Gesetz Gaias.“
„Gaia, Gaia, immer geht es nach ihrem Schädel!“ schimpft Adam.
„Echt?“ ruft Leyla freudig auf und reibt sich die Hände.
„Was also sollen wir tun, wenn die Märchenfiguren keine so gute Idee sind? Hat Gaia keine Wünsche, so wie letztes Mal geäußert?“ fragt Adam.
„Welche Wünsche hat sie denn letztes Mal geäußert?“ fragt Leyla.
„Erinnert ihr euch an eure ersten Lebenssekunden?“ fragt der Alte und richtet seinen Blick zuerst auf Adam und dann auf Leyla. „Wahrscheinlich nicht, aber in Adam dürfte etwas hängen geblieben sein, denn es war tatsächlich ein Wunsch Gaias, Menschen auf der Erde zu haben. Sie wollte etwas, das sie an mich erinnert. Also kreierte ich zuerst euch beide. Uriel hat, glaube ich, Leyla gezeigt, wie das geht. Man denkt ganz fest an das, was man kreieren möchte, hebt beide Handflächen...“
„Wer war zuerst da, er oder ich?“ fragt Leyla.
„Beide gleichzeitig. Ihr wart beide gleichzeitig da, weil ich euch beide gleichzeitig visualisiert habe. Fragt mich nicht, warum, aber es war so, dass es beide Geschlechter sein müssen. Es gibt weibliche Wesen hier, wenn auch nur wenige.“
„Deshalb geht also so viel daneben“, wirft Leyla ein.
„Die fünf Gesichtslosen sind übrigens weiblich, auch wenn man das nicht direkt erkennt und manche Engel sind ebenso weiblich“, spricht der Alte unbeeindruckt weiter. „Nun weiter! Ihr wart beide gleichzeitig auf meinen Handflächen. Du, Adam, rechts und du, Leyla, die meist Eva genannt wird, rechts. Dann hauchte ich euch an, wie es mir Gaia geraten hat und ihr wurdet zu dem, was ihr jetzt noch immer seid. Adam gab seinen Samen in Leyla und Leyla stürzte sich auf die Erde, um dort ihre Brut zu gebären. Leider waren es anfangs lauter Frauen, bis Gaia ziemlich wütend eingriff und der erste Mann geboren wurde, der sie an mich erinnerte. Ihr Wunsch war nun mal ein menschliches Wesen nach meinem Ebenbild.“

„Vergisst du eigentlich auch?“ fragt Leyla den Alten, steht vom Bett auf und hockt sich vor dem Tisch nieder, vor dem plötzlich ein großer runder Stein liegt.
„Der Stein der Weisheit“, murmelt Adam.
„Was?“
„Du sitzt auf dem Stein der Weisheit, Leyla“, antwortet der Alte. „Hat aber keine Bedeutung. Wir nennen ihn nur so, weil er oft unverhofft irgendwo auftaucht. Na ja, das ist natürlich auch nicht der Grund, warum wir ihn Stein der Weisheit nennen. Also, wir nennen ihn nicht Stein der Weisheit, weil er unverhofft irgendwo auftaucht...“ Leyla verdreht die Augen. „Und ja, ich vergesse eigentlich auch einiges, aber nicht so schnell wie ihr“, setzt er schnell hinzu.
„Adam sagte etwas von einer Chronik, von der ewigen Chronik, in der alles aufgeschrieben ist.“
„Kannst du vergessen. Ich wollte sie lesen. War mir dann aber zu langweilig“, sagt der Alte.
„Was steht denn drinnen? Ist es überhaupt ein Buch?“
„Es sieht aus wie ein Buch. Es fasst sich an wie ein Buch. Es lässt sich öffnen wie ein Buch. Und es lässt sich sogar lesen wie ein Buch. Und doch ist es das alles nicht. Es zeigt sich uns so, dass wir es verstehen. In diesem Buch - der ewigen Chronik – soll angeblich alles stehen, alles, was es bisher gab, gibt und sogar geben wird und alles, was bisher geschah, geschieht und sogar geschehen wird. Aber man kann es nur lesen, wenn man es von vorne und Seite für Seite zu lesen beginnt. Bei Seite 852 habe ich aufgehört zu lesen“, erzählt der Alte und dreht die Augen über. Man kann übrigens gar nicht sagen, welche Farbe seine Augen haben, - mal erscheinen sie braun, dann wieder blau oder grün, manchmal grau und in seltenen Fällen leicht rötlich.
Adam kichert und Leyla sieht ihn daraufhin fragend an.
„Ich hatte die ewige Chronik auch schon mal in meinen Händen“, äußert sich Adam. „Ich wusste, dass alles, was bisher passiert ist, in ihr aufgeschrieben ist und man nicht wahllos darin blättern kann, um vielleicht zu sehen, was in Bälde passiert. Als ich es versuchte, waren die Seiten leer. Als ich jedoch mit Seite 1 begann, war sie beschrieben und ich konnte alles lesen. Das Problem war, es stand immer nur ein und dasselbe Wort auf der Seite. Die nächste Seite offenbarte ebenfalls immer nur ein und dasselbe Wort. Die übernächste Seite ebenso. Ich gab schon früher auf. Bei Seite 245 legte ich das Buch beiseite.“
„Welches Wort? Und wo ist dieses Buch?“ fragt Leyla.
Adam wirft dem Alten einen fragenden Blick zu. Der Alte nickt seufzend.
„Nix“, flüstert Adam.
„Was nix?“
„Ach, komm – stell dich nicht dümmer als du bist“, schimpft Adam. „Das Wort, das sich immer wieder wiederholt war und ist NIX.“
Der Alte zuckte zusammen, als Adam das Wort sehr laut aussprach.
„Wo das Buch ist, kann ich dir nicht sagen. Wenn du es lesen möchtest, ist es einfach da.“
„Gut! Ich will es lesen!“ ruft Leyla bestimmt aus und im nächsten Moment liegt ein ziemlich großer und immens dicker Foliant auf dem Tisch. Er sieht unheimlich alt aus. Leyla befürchtet, wenn sie das uralte Buch anfasst, würde es in Staub zerfallen.
„Nimm es nur. Es sieht nur schwer aus, ist es aber nicht. Du wirst es kaum fühlen. Und keine Angst, auch zu Staub kann es nicht zerfallen“ beruhigt der Alte, als hätte er Leylas Gedanken gelesen, was er natürlich nicht hat, da er weiß, dass alles ein und denselben Gedanken haben, wenn sie dieses sehr alte Druckwerk sehen.
„Dann zieh ich mich mal zurück. Wo kann ich hier in Ruhe lesen?“
Der Alte schnippt mit den Fingern. An der Rückseite des Raumes flimmert es und eine Tür erscheint.
„Stell dir einen Raum vor, in dem du es bequem und angenehm hast. Wenn du den Raum einigermaßen visualisiert hast, wird er, wenn du die Tür öffnest, da sein“, erklärt der Alte.
„Ich will es mal so richtig mädchenhaft“, sinniert Leyla und konzentriert sich. Kurz danach bricht sie ab und sieht den Alten an. „Fenster mit Aussicht? Möglich?“ fragt sie kurz angebunden.
„Möglich!“
„Gut!“
Wenige Augenblicke betritt Leyla mit dem alten, unheimlich dicken Buch einen Raum in dem die Farbe rosarot vorherrscht. Ansonsten ist nichts Ungewöhnliches: Ein bequemes Sofa mit vielen Kissen, ein Sockel, auf dem man bequem die Füße legt, ein kleines Tischchen mit allen möglichen Naschzeug, unter anderem ein Schokoriegel, ein Säckchen Kartoffelchips, ein Krug mit frischem Wasser und eine Flasche Himbeersirup. Links vom Sofa, wo auch die Tür noch zu sehen ist, steht ein mittelhoher Schrank auf dem (bunte, mit der vorherrschenden Farbe rosarot) Töpfe mit (ganz sicher rosaroten!) Plastikblumen stehen, an der rechten Seite eine Stereoanlage und eine Stellage mit lauter alten Platten aus den 60igern. Leyla legt sofort eine Langspielplatte auf und tanzt durch das eher geräumige Zimmer. Direkt gegenüber des (unbedingt rosarot!) Sofas hat sich Leyla das Fenster vorgestellt. Da war es auch und eine Aussicht zum träumen: Grüne Wiesen, ein See, dahinter Tannen bedeckte Berge und ein blauer Himmel. Ja, ein blauer Himmel, aber mit kleinen rosaroten Schäfchenwolken. Natürlich ziert das Fenster ein rosaroter Vorhang mit Rüschen. Leyla lässt sich schließlich bei der Musik – sie wählte eine LP mit den größten Hits aus den 60igern – und dem Folianten auf die Couch fallen und beginnt zu lesen.
„Nix, Nix, Nix...“, und das viele, viele, viele Seiten lang...

Genauer gesagt, steht auf jeder Seite etwa 600 bis 700 mal hintereinander das Wort mit den drei Großbuchstaben „NIX“. Lässt Leyla nur einmal „NIX“ aus, verschwimmen vor ihr alle Buchstaben und sie muss von Neuem beginnen. Es gilt also nicht, das Buch zwischendurch wegzulegen, um eventuell die Augen zu schonen, was ohnehin nicht nötig ist, sondern das Buch, die ewige Chronik, von Anfang an bis zum möglichen oder vielleicht auch unmöglichen Ende zu lesen und das Wort für Wort, auch wenn es sich ständig um ein und dasselbe Wort handelt.
Als Leyla die Seiten 1 und 2, also das erste Blatt des Buches, las, verschwand es und Leyla las das zweite Blatt sehr sorgfältig Wort für Wort, nachdem sie auf Seite 35 einmal „NIX“ ausgelassen hat und sich alles auflöste und sie mit Seite 1, die plötzlich wieder da war, beginnen musste.

Inzwischen macht sich Adam, auf Rat des Alten, auf in die Betonstadt, um die Menschenseelen zu Vernunft zu bringen. Es muss doch möglich sein, ihnen weitere Leben auf der neuen Erde schmackhaft zu machen.
Auf einer der geraden Straßen trifft er auf Uriel und Luzifer, die noch immer seelenruhig auf und ab flanieren, als wäre dies eine Prachtstraße mit wundervollen Auslagen in den Geschäften, wo vielleicht auch auf der anderen Seite ein Kai liegt und man einen herrlichen Ausblick auf die Weite des Meeres hat, auf dem sich vereinzelt die weißen Segel einiger Boote im sanften Wind blähen.
„Warum auch nicht?“ fragt Uriel und tut so, als würde er eben in ein Schaufenster blicken, in dem es ganz interessante Dinge gibt.
„Ich muss mit den Menschenseelen kommunizieren. Vielleicht ist unter ihnen ein Sprecher, eine Obermenschenseele, die für alle spricht“, beginnt Adam zaghaft, weil es ihm unangenehm ist, wie Luzifer ihn von oben bis unten genau betrachtet und immer wieder seinen Kopf schüttelt.
„Was ist?“ zischt er endlich und Luzifer meint nur: “Schon gut. Ich wundere mich nur, was sie an dir findet.“
„Leyla?“
„Genau, DIE Schlange, wie du sie abwertend genannt hast, nachdem sie auf die Erde gegangen ist, um ihre Aufgabe zu erledigen und du sie in Stich gelassen hast. Du warst es nämlich, der die Aufgabe nicht verstanden hat. Okay?“
„Ja, okay. Das ist nicht mehr zu ändern. Jetzt gibt es Wichtigeres zu tun.“
„Ach ja? Machst du wieder einen Blödsinn, damit auf der Erde alles schief läuft?“
„Schluss jetzt, ihr Streithähne!“ ruft Uriel und geht zwischen beide, die sich gefährlich einander nähern, um sich gegenseitig die Gurgel zu zudrücken.
„Es geht tatsächlich um Wichtigeres“, spricht Uriel weiter. „Und ja, es gibt eine Menschenseelen, die durchaus fähig ist, für so ziemlich alle anderen Menschenseelen zu sprechen. Nur ist es nicht einfach, sie zu erreichen, weil sie ständig durch die Betonstadt tanzt und singt, als wäre sie tatsächlich in so was wie in einem Paradies.“
„Wo ist sie eigentlich?“ fragt Luzifer.
„Wer?“ fragt Adam gereizt.
„Leyla!“
„Sie liest in der ewigen Chronik.“
„Ach du grüne Neue“, stößt Uriel hervor.
„Verdammte Scheiße“, stöhnt Luzifer auf.
„Wieso?“
„Da schafft sie nie“, meint Uriel. „Ich habe es auch versucht. Du doch auch, Luzy, oder?“
„Luzy?“ wiederholt Adam und bricht in schallendes Gelächter aus.
„Aus!“ mahnt Uriel wieder zur Ruhe.
„Schon gut“, beschwichtigt Adam. „Wie weit seid ihr gekommen?“
„Seite 2356“, wispert Uriel.
„Das ist doch gut“, lobt Luzifer und klopft dem Engel auf die schwarz bemantelte Schulter. „Ich schaffte es knapp weiter bis Seite 3076.“
„Immer nur NIX?“ fragt Adam.
„Immer nur NIX“, antworten Uriel und Luzifer wie aus einem Munde.
„He du!“ ruft Adam plötzlich, als ein seltsam aussehendes Männchen mit schulterlangem Haar und einen Blumenkranz auf dem Kopf aus einer der Mauern tanzt und dazu einen alten Hit aus den 60igern summt. Dieses Jahrzehnt dürfte es der Menschheit angetan haben.
„Natürlich war es ein gutes Jahrzehnt. Hippiebewegung. Woodstock. Freie Liebe. Make Love not war. Gegen das Establishment. Freies Leben ohne Arbeitszwang. Kein Besitztum mehr. Allen gehört alles, Ehefrauen mit einbezogen“, leiert Luzifer herunter.
Gekleidet ist der singende Tänzer diesmal mit einem bunten T-Shirt im Batikstil und ausgefransten, ausgewaschenen Jeans. An den Füßen trägt er leichte Sandalen. Trällernd kommt er auf die drei zu.
„Was gibt’s?“ fragt er und hockt sich im Schneidersitz an die Mauer, ohne in ihr zu verschwinden.
„Es geht um euch. Um euch Menschenseelen“, beginnt Adam. „Das Universum hat sich erneuert und somit auch die Erde. Es bedeutet, alles hat sich gesäubert. Wie du siehst, hier auf den Straßen auch. Es ist also alles neu. Wie wär's, wenn du den anderen Menschenseelen in ihren Zellen sagst, dass neue Leben, ganz neue Leben, auf der Erde auf sie warten?“
Der singende Tänzer, der noch immer ziemlich ruhig im Schneidersitz an die Mauer gelehnt hockt, blickt zu Adam hoch und überlegt eine Weile. Dann sagt er: „Ich glaube nicht, dass sie das wollen.“
„Warum nicht?“
„Weil es ihnen hier besser gefällt. Hier können sie durch Wände gehen, wenn sie das wollen. Es wurde ihnen anfangs zwar gesagt, dass sie eingesperrt werden, aber irgendwann kamen sie drauf, dass alles hier nicht echt ist, dass man, wenn man will, durch alles hindurch gehen kann, als wäre alles ein Hologramm. Plötzlich fühlten sie sich frei, so frei wie noch nie und schon entschieden sich einige dazu, für immer hier zu bleiben und nie wieder ein Leben auf der Erde zu beginnen.“
„Warum nicht?“ wiederholt Adam und Uriel und Luzifer hören amüsiert mit verschränkten Armen vor der Brust zu.
„Weil das Leben auf der Erde für sie nicht artgerecht ist.“
„Moment! Ihr wart es doch, die sich gegen die Natur gestellt haben. Wenn ihr nur das Netz, diese ewige Verbindung mit allem, erkannt hättet, wäre euer Leben auch anders verlaufen.“
„Du hast sie wohl nicht alle“, stößt der singende Tänzer hervor. „Wenn wir uns nach der Natur gerichtet hätten und auf Mutter Erde, wie manche so blöde säuselten, gehört hätten, würde es uns wahrscheinlich gar nicht mehr geben.“
„Warum nicht?“ fragt Adam zum dritten Mal.
„Du warst wohl noch nie dort, oder? Hast noch nie eine so wundervoll bunt aussehende Blumenwiese genauer betrachtet? Weißt du, von weit weg sieht alles meist nach Friede, Freude, Eierkuchen aus, schaut man aber mal genauer hin, offenbart sich einem ein Horrorszenarium sondergleichen. Da geht es nur darum, wer wen zuerst auffrisst. Das ist alles. Das ist das so genannte Leben auf der Erde, wenn man sich der Natur ergibt. Der Stärkere gewinnt. Wir haben den Spieß umgedreht und daraus 'der Reichere gewinnt' gemacht. Na und? Es war dasselbe Schema.“
„Du meinst also, das Leben auf der Erde ist für euch Menschenseelen viel zu hart?“ fragt Adam.
„So ist es“, gibt der singende Tänzer zu, erhebt sich und tanzt wieder durch die Mauer hindurch.

Leyla blättert um. Seite 3078. Den Raum, das Rosarot, das Fenster mit Aussicht, einfach alles, hat sie längst ausgeblendet. Vor ihr, in ihren Händen, das Buch. Sonst nichts. Nicht einmal die Sitzfläche des Sofas ist mehr vorhanden. Aber Leyla blendet nicht wirklich alles aus. Durch das genaue Lesen des noch immer einzigen Wortes „NIX“, das sich ständig wiederholt und auf einer Seite zwischen 600 und 700 mal erscheint, löste dies in ihr eine Art meditatives Gefühl aus, oder eher etwas Traumhaftes, als würde sie im Nichts schweben, in einem leeren Schwarz, - sie und die ewige Chronik, die sich vor ihr ausbreitet und immer größer, zu einer gigantischen Leinwand wird.
Die Leinwand wiederum formt sich zu einem quadratischen Hologramm, in dem ein Zimmer erscheint, in dessen Mitte sich ein Bett befindet. Alles in ekelhaftem Krankenhausweiß. Weiße Wände, eine weiße Tür, durch die eben ein weißer junger Mann tritt, der Adam sehr ähnlich sieht, jedoch nicht wirklich menschlich wirkt, da alles an ihm weiß ist, weiters ein weißes Bett, in dem ein weißer alter Mann liegt, der dem Alten, als er alt war, sehr ähnlich sieht (dasselbe Phänomen wie bei Adam, dass er wegen des absoluten Weiß nicht menschlich wirkt) und sogar der Boden, wahrscheinlich Linoleum, ist auch weiß. Über dem Bett hängt vom weißen Plafond eine nackte weiße Glühbirne, die weißes Licht spendet. Der junge Mann hockt sich seitlich auf das Bett und sieht den alten Mann genau ins Gesicht. Mühsam, wie es scheint, öffnet der Alte die eitrig (weißes Eiter!) verklebten Augen, stöhnt heiser auf, als wäre dies sein allerletzter Atemzug, was er auch war, denn der Alte stirbt, sinkt in sich zusammen und löst sich in Asche auf. Schließlich bleibt ein Häufchen weiße (!) Asche im Bett zurück und der junge Mann, der wie Adam aussieht, verlässt wieder das weiße Zimmer.
Plötzlich ein Flimmern, das Zimmer verschwindet, taucht aber nach dem Flimmern wieder auf und die Szene, die sich eben abgespielt hat, wiederholt sich. Leyla seufzt, obwohl ihr nicht 100% ig bewusst ist, was hier vor sich geht. Wohl instinktiv sagt ihr irgendetwas, dass sich diese Szene nun mehrmals wiederholen wird.
Irgendwo im Hintergrund ertönt Applaus, aber so leise, dass es sich eher wie eine leichte Störung im Hologramm anhört. Uriel und Luzifer erscheinen an der Bucht des steinernen Meeres und blicken die Felswand dahinter hoch, wo es sich tausende von Menschenseelen in den steinernen Balustraden der Ränge und Logen so halbwegs bequem gemacht haben. Bei der vierten Wiederholung gibt es Buh-Rufe und wildes Scharren der Beine, dass ab und zu ein durchaus nervenaufreibendes Quietschen ertönt.
„Man sollte sie abschieben“, meint Uriel. „Sie erlauben sich bereits viel zu viel.“
Luzifer murrt stumm.
„Leyla macht sich aber gut. Andererseits, was wäre sie ohne Zuschauer? Und wenn es keine Menschenseelen hier gibt, wer würde applaudieren?“
Luzifer murrt erneut stumm.
„Was ist? Hat es dir die Stimme verschlagen?“
„Verdammt!“ zischt Luzifer.
„Was denn?“
„Wenn ich nur eine Seite, nur eine einzige Seite im Drehbuch weitergelesen hätte!“
Uriel lacht auf.
„Aha, daher weht der Wind! Ja, ja, Neid ist durchaus ein Laster.“
„Es hat nichts mit Leid zu tun. Es geht um Leyla, du Narr!“ schimpft Luzifer. „Sie ist zu schwach für diese Rolle. Wir hätten sie nicht da hinein ziehen sollen.“
„Haben wir doch nicht. Es waren Adam und der Alte. Sie haben ihr diese Rolle schmackhaft gemacht. Wer denkt schon, dass sie gerade jetzt alles ernst nimmt? Dass sie wirklich daran glaubt, es würde ein Buch geben, in dem alles, Vergangenheit, Gegenwart und sogar Zukunft, steht? Wie soll das auch möglich sein, wo wir doch jetzt erst bei mehreren Dimensionssphären gleichzeitig sind und die Zeitdimensionen noch weit in der Zukunft liegen?“
„Was weißt du über Zeitdimensionen?“
„Ach, Luzy! Weißt du, nicht nur du hast die Weisheit mit dem Löffel gefressen.“
Applaus ertönt und ein einziges lautes Aufatmen. Die Wiederholungen der einen Szene scheinen vorbei zu sein. Jetzt schwebt Leyla mitten in das riesige quadratische Hologramm, in dem sich eine Welt auftut, wie sie sich stets das Paradies vorgestellt hat, als sie noch als kopftuchtragende Frau durch die zerbombten Straßen ihrer Heimatstadt schlich. Gleichzeitig jedoch ertönt ein einziger Schrei vom Publikum.
„Sie mögen die Natur nicht“, flüstert Luzifer. „Ich kann es ihnen nicht verübeln. Es geht ja wirklich grausam dort zu. Es ist, das streite ich nicht ab, wunderschön. Sieh doch mal die grünen Wiesen, die Berge, die Bäume und all das andere Grünzeug, welches Gaia aus sich selbst heraus wachsen lässt. Oh! Das war mal eine wunderschöne Blume. Weg ist sie. Gelandet im Magen eines vorzeitlichen Tigers. Ich glaube, Säbelzahntiger nannten sie diese Spezies. Siehst du? Und genau das verabscheuen sie. Das und vorher das ewige Sterben des Alten. Warum muss das sein? Wer braucht das wirklich?“
„So ist Gaia. Du kannst sie nicht ändern. Du kannst ihr aber den Wunsch abschlagen, ein Lebewesen auf ihr zu haben, das dem Alten ähnelt. Wenn sie sich schon so sehr nach ihm sehnt, soll sie eine Pflanze aus sich wachsen lassen, die dem Alten ähnlich sieht. Vielleicht einen Blumenkelch, der wie sein Allerweltsgesicht aussieht? Damit wäre das Problem gelöst. Sie fühlt sich mit all dem Grünzeug und all den Wesen, die da fliegen, schwimmen und rennen, durchaus wohl. Und auch das Grünzeug, wie auch all die Wesen, beschweren sich nicht. Sie nehmen es hin, wie es ist, ohne zu murren. Aber wehe, der Mensch erscheint auf der Bildfläche. Da haben wir es schon! Leyla ist mitten unter ihnen und gebärt mit großen Schmerzen die erst Menschenfrau. Das darf nicht sein! Das darf nie wieder sein!“
„Toll, Uriel! Wirklich toll“, stößt Luzifer kopfschüttelnd hervor. „Hier will sie niemand haben und auf Gaia auch nicht, wobei sie ja selbst nicht mehr auf Gaia leben wollen. Wohin also mit dem Menschenseelenpack?“

Leyla hält ihr erstes Baby in den Händen. Es war gar keine so schwere Geburt, keine wie damals, als sie sich wie eine Gebärmaschine fühlte und dem Ehemann am besten lauter Söhne schenken sollte. Jetzt ist es ein Mädchen, das sie mitten auf einer blühenden Wiese das Leben geschenkt hat.
„Sie befindet sich schon wieder mitten im Wahn“, stellt Uriel fest.
„Holen wir sie raus?“ fragt Luzifer.
„Noch nicht.“
Sie ist stolz auf sich. Ganz alleine schaffte sie es, Leben zu schenken. Im Moment fühlt sie sich wie eine Göttin, wie die Herrin über all das, was sich vor ihr ausbreitet. Im nächsten Moment wird dieses Gefühl zunichte gemacht, denn eine Herde Raubtiere nähert sich. So genau weiß man noch nicht, um welche Gattung es sich handelt, irgendwie hündisch, vielleicht sogar die Vorfahren der Wölfe, nur um einiges größer und gefährlicher. Leyla rennt. Sie rennt, mit dem Baby im Arm, um ihr Leben in Richtung Berge, um in einer Höhle Schutz zu suchen. Aber in der Höhle, die sie als erstes entdeckt, leben riesige Bären.
„Blende sie aus, verdammt noch mal!“ suggeriert Uriel.
„Machst du schon wieder den selben Fehler? Man soll Menschen nichts einsagen, sonst fühlen sie sich manipuliert“, schimpft Luzifer.
Die Menschenseelen sind aus dem Häuschen, wie man so sagt. Sie applaudieren und jubeln, ja johlen sogar, während als Zugabe Hinz und Kunz neben dem quadratischen Hologramm stehen und ihre Musik zum Besten geben. Es ist nicht gerade eine Ohrenweide, aber irgendwie werden sich die beiden schließlich einig und einigen sich zuerst auf ein Lied des einen und als zweites auf ein Lied des anderen. Warum ausgerechnet die beiden? Diese Frage haben sich sicher schon einige gestellt, aber es liegt wohl an der Beliebtheit der letzten Jahre, als das Universum noch alt war und es noch Menschen auf der Erde gab. Es wäre vielleicht noch ein Musikant in Frage gekommen, aber es hätte am Strand des steinernen Meeres seltsam ausgesehen, einen Mann mit Fellmoonboots auftreten zu lassen. Die beiden genügen vollkommen, um den Musikgeschmack der letzten Menschen Genüge zu tun.
„Ich weiß, warum es nicht funktioniert hat“, sinniert Luzifer.
„Was hat nicht funktioniert? Wird sich Leyla nicht retten können?“ fragt Uriel.
„Das Menschenleben auf der Erde. Es lag an der Zeit. Die Zeit trennte beide. Menschen leben in der Zeit, aber Pflanzen und vor allem Tiere, wie auch Gaia selbst, erkennen stets nur den Augenblick der Ewigkeit. Das passt nicht zusammen. Das ist, als würden die Menschen nicht wirklich auf Gaia existieren.“
„Sie waren ja auch nie etwas anderes als Gäste und manche erkannten das sogar“, wendet Uriel ein.
„Das glaubst du doch selbst nicht! Und wenn es Millionen mal gesagt wurde, nahm das keiner der Menschen ernst. Noch etwas gibt es, was beide unterscheidet und es beiden unmöglich macht, wie ein Netz oder ein Ganzes zu funktionieren.“
„Was denn, Luzy?“ fragt Uriel etwas zu zärtlich.
„Sinn.“
„Sinn?“
„Ja, Sinn. Für Menschen muss alles Sinn haben. Aber was hatte jemals auf Gaia Sinn? Oder hier? Oder anderswo? Nicht mal als Seelen dürften sie sich hier wohl fühlen.“
„Oh doch! Hier fühlen sie sich wohl. Hier erkennen sie, dass es keinen Sinn gibt und alles nur Theater ist. Sieh mal, wie sie sich von Leylas Spiel und ihrer Lieblingsmusik mitreißen lassen. Ich wusste doch, dass Hinz und Kunz ein Konzert geben werden, aber ich wusste nicht, dass es hier sein wird.“
Über den steilen Weg schreiten Adam und der Alte herab und auf die beiden zu. Es scheint zum ersten Mal zu sein, dass sich der Alte vor den Engeln zeigt. Es kann aber auch sein, dass sie nur vergessen haben, dass er sich schon mehrmals vor ihnen gezeigt hat.
„Wie kommt es, dass sie plötzlich hier ist, wo ich ihr doch ein wundervolles Lesezimmer angeboten habe?“ fragt der Alte die beiden Engel.
„Das liegt an den Dimensionen“, erklärt Uriel. „Das Universum ist nun um 50 Dimensionen reicher, was bedeutet, dass überall überall ist. Das wiederum heißt, dass zum Beispiel Leylas Lesezimmer durchaus dort ist, wo du es ihr angeboten hast, aber auch hier am Strand des steinernen Meeres, auf dem sich eben die Heerscharen der Engel versammeln, um den letzten Akt nicht zu verpassen. Das heißt, jeder Ort kann an jedem anderen Ort gleichzeitig sein. Frag mich nicht, wie das möglich ist, aber es ist so.“
„Soll ich etwa wieder hoch laufen und nachsehen, ob Leyla im Raum ist, den ich an meiner Hütte visualisiert habe?“
„Das wird deinen Glauben auch nicht stärken, selbst wenn du sie dort oben antriffst und wir dir sagen, dass sie gleichzeitig auch hier ist. Wen glaubst du? Dir oder uns?“
„Gute Frage, denn man sollte sich schon auf seine eigenen Wahrnehmungen verlassen“, antwortet der Alte.
Das Publikum brüllt vor Lachen und scharrt ausgelassen mit den Füßen. Manche sind von den Balustraden herunter gesprungen und tanzen zur Musikeinlage von Hinz und Kunz. Andere treten nahe an den Quader heran, fassen hinein und lachen wie irre.
Adam tut es ihnen gleich, aber im Gegensatz zu den Menschenseelen wird er in das Hologramm hinein gezogen und verhilft Leyla zur Flucht. Er erscheint direkt neben ihr, als sie vor den Bären aus der Höhle flüchtet, packt sie und fliegt mit den beiden, Leyla und das kleine Töchterchen, hoch zu den Sternen.
„Wer war der Spielverderber?“ fragt eine der tanzenden Menschenseelen.
Eine Menschenseele zeigt auf. Sie befindet sich nahe am Hologramm, in dem sie Leyla, Adam und das Baby hoch fliegen ließ.
„Ich war das. Ist doch langweilig das Ganze. Lasst uns endlich was anderes träumen, etwas, das noch nie da gewesen ist.“
Das Heer der Engel (unter ihnen auch Michael, muskelbepackt, mit Lendenschurz aus Leopardenfell und dazu passende Stiefel, ebenfalls aus Leopardenfell, mit einem Lederband bis zu den Knien zusammen gebunden) zittert leicht auf dem steinernen Meer, als würde es flüssig werden und sie alle in seine Tiefe ziehen. Endlich erscheinen auch die Gesichtslosen, die bereits zur Hälfte aufgelöst sind und sich beschweren, weil sie nicht mehr Kartenspielen können, da ihnen die Hände dazu fehlen. Der Alte, Uriel und Luzifer sehen sich gegenseitig an, bis Luzifer die alles entscheidende Frage an Uriel stellt: „Was sagtest du über die Menschenseelen, als du meintest, sie wollen nie wieder auf die Erde?“
„Ihnen gefällt es in der Betonstadt in ihren Zellen, wo sie träumen können, was sie wollen und wenn sie bis in die Ewigkeit hinaus träumen, ist ihnen das recht“, wiederholt Uriel.
„Und was träumen sie?“ fragen der Alte und Luzifer, als Leyla, Adam und das Baby auf einem sehr seltsam aussehenden grünen Planeten landen und sich im nächsten Moment das Hologramm vollkommen auflöst.
„Sie träumen uns“, sagen alle drei, der Alte, Uriel und Luzifer aus einem Munde und sehen, wie sich alles um sie herum auflöst, bis sich die Auflösung (Säuberung?) an ihre Füße und immer höher ran macht.
Im Hintergrund jedoch ertönt ein lautes „ÄHEM“ aus den Tiefen des Nichts, direkt aus dem Schlund des ewigen und unendlichen NIX und schließlich und endlich bliebt das Wort Wort und wurde nie wieder zu Fleisch.

Amen