Aus “Schamanismus“ von Carlo Zumstein


Dort, wo heute Kapellen, Kirchen, Klöster stehen, waren häufig Kraftplätze der alten Schamanen; dort haben sie Heilrituale, sowie Zeremonien zur Sonnenwende und zum Vollmond durchgeführt.
Die Kirchen haben die alten Jahreszeitfeste gleich mit übernommen. Die Katholiken feiern Weihnachten wenige Tage nach der Wintersonnenwende; Ostern am ersten Vollmond nach der Frühlings- Tagundnachtgleiche.

Schamanen waren die ersten Bewusstseinsforscher. Sie haben Techniken wie monotones Trommeln, Tanzen, Drogeneinnahme, Fasten in der Wildnis seit Jahrtausenden erforscht und erfolgreich zum Heilen eingesetzt. Ihre Berichte der Trancereisen in andere Wirklichkeiten liefern den Psychologen wertvolle Hinweise zum Verhalten von psychischen Krankheiten. Menschen in Psychosen treiben hilflos in Erlebniswelten umher, in welchen sich die Schamanen sicher zu bewegen vermögen. Von ihnen könnte man auch lernen, das Drogenproblem zu bewältigen. Was bei uns zum „Einwerfen“ von Drogen verkommen ist, gehört bei den Schamanen zu den heiligsten und bestgehüteten Ritualen.

Der Wissenschaftler dient insgeheim dem christlichen Auftrag, den Menschen die Vorherrschaft über die Welt zu sichern. Der Schamane ist beseelt vom Wunsch, mit der Pflanze als Partner zusammen zu leben. Sie spricht mit ihm, in welchen ihrer Teile Heilkräfte verborgen sind und zu welcher Jahres- und Tageszeit deren Kraft am größten ist. Der Schamane bedankt sich bei der Pflanze für ihr Wissen und ihre Heilkraft.

Die Schamanen sind die Weisen und Heiler jener Menschen, die als Gäste durch die Welt ziehen und vielerorts bis heute Nomaden geblieben sind.
Wenn wir auf dem Berggipfel den Aufgang der Sonne miterleben oder ihre glutrote Scheibe ins Meer versinken sehen, erwacht in unseren Knochen jenes uralte Wissen und durchströmt jede Faser unseres Wesens. Tief in uns allen lebt die Sehnsucht nach einem Leben in Einheit mit der Natur. Wenn heutige Menschen ihre Faszination durch den Schamanismus begründen, erwähnen sie als erstes seine Naturverbundenheit und dann den Zugang zu den verborgenen Kräften.
Die Menschen der Vorzeit wurden vom Leben selbst zum Schamanismus geführt. Heute ist es umgekehrt, die alten Schamanen lehren, dass die elementarsten Lebensprozesse eine Begegnung mit den verborgenen Kräften der Natur sind.

Fünf Pfade führen uns zum Schamanismus:
1.) Märchen und Mythen
2.) Das Träumen
3.) Die Reise zu Naturvölker
4.) Die Trancereisen des Core-Schamanismus
5.) Die Reise an den Ursprung des Bewusstseins in den Steinzeithöhlen

Märchen

Das Märchen „Frau Holle“ erzählt, wie das Waisenkind Marie von ihrer Stiefmutter und Stiefschwester ausgenützt und zurückgestoßen wird.
In allen schamanischen Traditionen ist überliefert, dass Menschen mit schwerem Schicksal wie das Waisenkind Marie – ausgestoßene, geschundene, erniedrigte Wesen, eben bereits an den Rand gedrängte – prädestiniert sind, Zugang und Aufnahme in der spirituellen Welt zu finden.
Der Brunnenschacht, in den sich Marie stürzt, um die Spindel wieder zu finden, ist der Durchgang zur anderen Welt, zur Nichtalltäglichen Wirklichkeit.
Drüben hört Marie einen Apfelbaum bittend rufen, er müsse dringend geschüttelt werden, Brote im Ofen wollen vor dem Verbrennen gerettet werden. In der Anderswelt wird die neu Angekommene Prüfungen unterzogen, ob sie für die Geheimnisse bereit ist.
Frau Holle ist die Lehrerin, sie führt die Novizin ins Wissen und die Kraft der anderen Welt ein.
Obwohl Marie von Frau Holle gut behandelt wird und ihre Aufgabe liebt, ruft Heimweh sie zurück, dorthin, wo sie vielleicht wieder ausgestoßen werden wird. Der Aufenthalt in der spirituellen Welt ist immer zeitlich begrenzt. Schamanen sind Brückenbauer und als solche Wanderer zwischen den Welten. Sie sagen, ein Jenseitsreisender, der nicht zurückkehrt, ist ein wirkungsloser Verrückter.
Marie muss nicht mühsam den Brunnenschacht hochklettern. Für sie öffnet die weise Frau das Tor zwischen den Welten. Hier findet die Initiation statt. Marie wird mit Gold übergossen, äußeres Zeichen der Verleihung besonderer Gaben und Fähigkeiten.

Viele andere Märchen und Mythen, auf die hier nicht eingegangen werden kann, enthalten Anleitungen zum Schamanisieren. Wer hat das schamanische Wissen in einer Mär wie „Frau Holle“ untergebracht? Aus welcher Zeit stammen sie? Wo sind die Schamanen von damals? Wir wissen nichts Verlässliches darüber. Man sagt, unsere schamanischen Vorfahren seien die keltischen Schamanen, die Druiden. Sie sind den Römern und der christlichen Kirche zum Opfer gefallen. Wie konnte dieses Wissen bis heute unentdeckt, gleichsam im Verborgenen überleben? Tom Cowan versucht in seinem Buch „Die Schamanen von Avalon“ nachzuweisen, dass in Schottland, Irland und England keltische Traditionen noch heute zum täglichen Leben gehören. Dennoch heilen bei uns keine Druiden mehr und ihr Zaubertrank wirkt nur noch in Comic-Heften.

Träumen

Die Traumreise ist eine Heilreise. Der Schamane kehrt für die Dauer seiner Träume in die Alleinheit mit dem Universum zurück. Er berührt die ursprüngliche Harmonie mit dem großen Ganzen.
Gehen wir kurz durch die einzelnen Stationen des Träumens, um besser zu verstehen, welchen Weg unser Bewusstsein dabei geht. Beginnen wir am Ende der Reise, bei der Rückkehr ins Wachen.

Wir nehmen an, dass wir während des Schlafens in unserem Körper anwesend sind, nur bewusstlos. Bei genauerem Hinsehen erwachen wir zum erwachten Erwachsenen aus einem Traumzustand, wie wir ihn vielleicht schon in der Gebärmutter und der frühen Säuglingszeit erlebt haben. Gleichzeitig rasen wir durch die Bewusstseinsgeschichte der Menschheit vom ersten Erwachen des Bewusstseins in archaischer Vorzeit bis zum selbstbewussten Menschen der heutigen Hochzivilisation. Auf diesem Weg nehmen wir unsere Vorurteile und Konflikte mit und holen unsere Leiden ab, die während des Schlafens nicht da waren.
Während des Erwachens durchleben wir alle Stufen der Bewusstseinsentwicklung vom bewusstlos scheinenden Tiefschlaf zum Träumen und von da zum Wachsein. Wir durchwandern in extremen Zeitraffer die ganze Entwicklungsgeschichte unseres Bewusstseins und unsere eigene Lebensgeschichte. Angesichts dieser Ereignisse müssten wir uns zum Erwachen ebenso viel Zeit nehmen wie zum Einschlafen. Stattdessen verkürzen wir sie mit unseren Weckmaschinen auf den Augenblick eines Schockes. Da ist es nur verständlich, dass von unseren Bewusstseinsreisen höchstens noch einige Traumfetzen hängen bleiben.

Farbige Bettlaken und moderne Pyjamas ändern nichts daran, dass Schlafen und Träumen „unzivilisiert“ archaisch ablaufen. Wir regredieren auf die unterste Stufe des Menschseins. Wir schlafen nicht anders als unsere archaischen Vorfahren. Wir kehren zurück ins ursprüngliche Einssein mit der Natur, wir werden zu biologischen Wesen, die dem Seinszustand von Tieren und Pflanzen sehr nahe sind. Wir tauchen ab ins Dunkel der Menschheitsgeschichte.
Während des Träumens sind wir inhaltlich hauptsächlich mit Wacherlebnissen, aber auch Erinnerungen aus unserer ganzen Lebensgeschichte beschäftigt. Doch schamanische Traumarbeit befasst sich nicht hauptsächlich mit den Inhalten, sondern mit der Art und Weise des Traumes.
Die Rückkehr in das Bewusstsein der Urahnen ist das Ziel der Reise der Schamanen. Sie besteht aus denselben drei Elementen wie die Traumreise. Einschlafen und traumloser Schlaf entsprechen der Bewusstseinsveränderung und dem Durchgang durch den schamanischen Tunnel. Träumen ist der Aufenthalt bei den Verbündeten in der Nichtalltäglichen Wirklichkeit. Erwachen ist die Rückkehr von der Reise. Nochmals der fundamentale Unterschied: Schamanen reisen mit einer klaren Absicht.

Die Reise zu Naturvölker

Die Ethno- und Anthropologen gelten als die Experten in Sachen Schamanismus. Sie prägen unser Bild des Schamanismus. Wer sich über Schamanismus informieren will, liest einen ihrer Berichte, von denen es inzwischen hunderte gibt. Die Geschichte vom Werden, Wirken und Sterben der alten Schamanen und Schamaninnen in Sibirien, Amerika und Australien muten oft an wie Souvenirsammlungen aus fernen Zeiten, verpackt in Interpretationen im Stil moderner Psychologie. Andere Bücher lesen sich wie Abenteuerromane.
Für Sachverständige und Laien scheint es längst selbstverständlich zu sein: Schamanismus lernt man bei indigen Schamanen, Feldforschern wie Amelie Schenk, Wolf Dieter Storl, aber auch Christian Rätsch verbringen oft Monate bis Jahre bei den Schamanen eines bestimmten Volkes und werden nicht selten Schüler eines mächtigen Schamanen.
Immer mehr „ausgebildete“ oder initiierte Westler bieten Seminare und mehrjährige Ausbildungen in Ethno-Schamanismus an – oft ohne sich Gedanken über den Kulturraub zu machen oder die Übertragbarkeit dieses fremden Wissens in unsere westliche Bewusstseinstradition. Aus meiner Sicht grenzt es an kolonialistische Ignoranz, das traditionelle Wissen der alten Völker bei uns zu importieren und ihre Praktiken für den Wocheendgebrauch zu kopieren. Die Naturvölker entwickelten eine hoch stehende Kultur des Lebens in Verbundenheit mit der Natur, wir aber sind vom Lehmhüttenleben Jahrtausende entfernt und Corn Flakes sind keine Maisfladen.
Wer sich von einem indigenen Schamanen in den Schamanismus einführen lässt, ist immer ein Quereinsteiger. Er bricht für eine kurze Zeit aus der zivilisierten Lebensweise aus, ohne sie wirklich abzulegen. In unserer Zivilisation fehlen die schamanische Tradition und die schamanische Lebensgemeinschaft.

Core-Schamanismus

Der amerikanische Anthropologieprofessor Michael Harner forschte bei den Schamanen und wie Carlos Castaneda wurde er unverhofft einem schamanischen Initiationserlebnis ausgesetzt. Nur war da kein Don Juan wie bei Castaneda, der ihm sagte, er sei ein Nagual, d.h. ein geborener Anführer eines Zaubertrupps, und Harner ist nicht dabei stehen geblieben, uns über seine Lehrzeit bei den Schamanen zu berichten. Als Harner 1961 bei den Conibo-Indianern am oberen Amazonas forschte und sie immer wieder drängte, ihm Einblick in ihre geheimen Welten zu gewähren, forderten sie ihn auf, selbst „natemä“, den heiligen Schamanentrunk Ayahuasca zu nehmen, einer halluzinogenen wirkenden Dschungelliane, der „Liane des Todes“. Harner sollte am eigenen Leib eine schamanische Initiation erleben und seine eigenen Verbündeten finden. So ist der Forscher vom Sammler zum Betroffenen und zu einem eigenen Forschungsgegenstand geworden und bis heute geblieben. Harner hat den Schamanismus an sich selbst erforscht und Methoden entwickelt, westliche Menschen in die Geheimnisse eines alten Wissens einzuführen, und zwar ohne Hilde halluzinogener Substanzen. Schamanismus von innen her zu erforschen, aus der persönlichen Erfahrung, ist seit Harner und Castaneda zum Standard authentischer Schamanismus-Forschung geworden. Trotzdem profilieren sich in der Fachwelt noch immer viele Schreibtisch-Schamanen.
Harner und Castaneda sind Quereinsteiger in den Schamanismus. Sie sind rational gebildet und selbst an Universitäten beschäftigte Forscher zu den nativen Schamanen gekommen. Beide waren um die 30 Jahre alt, als sie vor dem Hintergrund ihrer Erziehung, Bildung und Tradition begannen, Schamanismus zu praktizieren. Castaneda hat eindrücklich berichtet über seinen Kampf mit seinen Prägungen, Denk- und Empfindungsmustern. Diese Konflikte wurden zum stilistischen Grundelement seiner Berichterstattung. Er hat sich zeitlebens dem toltekischen Schamanismus gewidmet, einer angeblich längst untergegangenen oder nur noch im Untergrund betriebenen Schamanismus-Tradition.
Harner hat viele Jahre bei Schamanen auf der ganzen Welt gelernt und erkannt, dass in den Techniken und Ritualen der unterschiedlichen schamanischen Traditionen ein gemeinsamer Wesenskern steckt.
Harner hat eine für uns westliche Menschen einfach praktizierende Technik der schamanischen Reise entwickelt. Wir brauchen uns nicht in einen Ziehbrunnen zu stürzen, wie die verzweifelte Stieftochter Marie und auch nicht jahrelang die zweite Aufmerksamkeit des Träumens zu üben, um in die nichtalltägliche Wirklichkeit zu gelangen. Man legt sich auf den Boden und lässt sich durch anhaltendes monotones Trommeln in den so genannten schamanischen Bewusstseinszustand versetzen. Dort in der nichtalltäglichen Wirklichkeit lässt man sich von seinem Geist-Verbündeten die für die Heilung notwendige Kraft und das Wissen geben und kehrt damit durch den Tunnel in die Alltagswirklichkeit zurück.
Core-Schamanismus ist der westliche Weg zum Schamanismus. Harners Reisetechnik öffnet uns einen Weg, uns selbst als Schamanen zu erleben.
Dahinter steckt Harners Überzeugung, dass jeder Mensch die Fähigkeiten eines Schamanen hat und diese entwickeln kann. Schamanismus ist nicht speziell begabten Menschen vorbehalten.

Höhlenmenschen und Ur-Schamanen

Man muss in die Steinzeithöhlen hinuntersteigen, um die ersten Schamanen anzutreffen. Unter der Erde öffnen sich gewissermaßen die Geschichtsbücher über das Wirken der ersten Schamanen 20 000 Jahre vor unserer Zeit. Sie gehören zu den wenigen von Schamanen selbst hinterlassenen Zeugnissen ihrer Begegnung mit der „Kraft“. Die meisten anderen wurden uns von Ethnologen übermittelt.

Der Versuch, sich in das Bewusstsein jener Menschen zurückzudenken, mag dabei helfen, das Erwachen des Schamanen zu verstehen. Da war nichts außer der Wildnis, dem Tier und dem Menschen selbst. Sie lebten der Wildnis ausgesetzt, die sie gemeinsam mit dem Tier zu bewältigen hatten. Wohin sie auch gingen, sie setzten ihre Füße in die Wildnis, wohin sie schauten - nur Wildnis. Sie schenkte ihnen Feuer und Wasser, Früchte und Samen. Wo ihre Haut nicht durch Tierfell bedeckt war, berührte sie die Sonne, der Regen und der Wind. Ihr Tag war der Tag der Sonne. Sie waren Wesen der Wildnis und hatten doch Bewusstsein ihrer Selbst.
In der Wildnis fanden sie die höchste Macht, die Hüterin aller Geheimnisse des Lebens und des Sterbens. In Sonne, Mond und Erde sahen sie wohl Vater und Mutter des Lebens. Später suchten sie in anderen markanten Gestirnen wie dem Polarstern, den fünf sichtbaren Planeten eine Verbindung zu den Geheimnissen der Schöpfung.
Da war noch keine Zivilisation, die sie von der Wildnis trennte und ihnen die Herausforderungen des Überlebens abnahm. Da gab es auch noch keine Obrigkeit, keine Instanzen, keine Institutionen, denen sie angehörten und die ihnen ihr Verhalten vorschrieben, die ihnen Lebenssinn verschaffen und die Welt erklären. Alle waren einander gleich, verbunden im Überlebenskampf in der Wildnis.
Für uns ist das Weltverhältnis der archaischen Menschen heute kaum nachvollziehbar. Unser Bewusstsein sieht die Wildnis nicht mehr. Wenn wir uns für das Leben in der Natur entscheiden, stecken unsere Füße immer in Schuhen, wir tragen Ausrüstungen, mit zumindest Feuerzeug und Taschenmesser.