Phänomenologie bedeutet dem Worte nach „die Lehre vom Erscheinenden“, „die Lehre vom Sich-Zeigenden“, d.h., sie gefasst sich mit allem, was uns als Erkennenden als Objekt der Erkenntnis gegenübertritt. Dazu gehören sowohl die Objekte unserer Wahrnehmung als auch die Objekte unserer Vorstellung, wie etwa die der Erinnerung oder die des denkenden Urteils. Die Phänomenologie hat also all das zum Thema, was unser Bewusstsein von der Welt ausmacht.
Dieses Bewusstsein erweist sich aber immer als „Bewusstsein von etwas“. Jenes sinngebende Bezogensein des Bewusstseins auf einen vermeintlichen Inhalt nennt Husserl „Intentionalität (zu lat.: intendere = sein Streben auf etwas richten, etwas beabsichtigen). So beziehe sich jede Wahrnehmung auf einen wahrgenommenen Inhalt, jede Erinnerung auf einen erinnerten Inhalt, jede Vorstellung auf einen vorgestellten Inhalt usw. Jedes Bewusstwerden ist also unlösbar mit der Intentionalität verbunden, durch die wir dem Wahrgenommenen, Erinnerten etc. erst Bedeutung verleihen. Die Intentionalität ist demnach die sinngebende Funktion unseres Bewusstseins.

Ob die Welt, welche wir in unserem Bewusstsein z.B. mit Hilfe der Wahrnehmung konstituiert, d.h. aufgebaut haben, sich mit einer tatsächlichen Welt außerhalb unseres Bewusstseins zur Deckung bringen lässt, versucht Husserl in seinen Werken offen zu legen. Damit stehen wir wieder vor der Grundfrage der Erkenntnistheorie, der Frage nach dem Zusammenhang zwischen wahrhaftem Sein und dem Erkennen. Doch das einzige wahrhafte Sein, welches uns direkt gegeben ist, ist unser Bewusstsein selbst. „Sein als Bewusstsein“ ist also der Grundgedanke der Phänomenologie.

Wir haben eine Erinnerung von „Apfel“ und kennen die Konstitutionsregeln, nach denen dieser aufgebaut ist. Nur auf diese Art können wir zu einer bildlichen Vorstellung von „Apfel“ in unserem Bewusstsein kommen.
Damit ich aber zu einer Erinnerung an den Aufbau kommen kann, so wird der natürlich denkenden Mensch einwenden, muss ich „Apfel“ erst kennen, ihn gleichsam wahrgenommen haben – und da lägen die Dinge ja anders, da habe man den realen Apfel ja immer vor sich liegen. Aber genau das ist der springende Punkt, antwortet der Phänomenologe: Wir müssen wissen, d.h. gelernt haben, was ein Apfel ist, ansonsten können wir ihn nicht als solchen wahrnehmen oder erkennen.

Die Phänomenologie enthält sich des Urteils über eine als „wirklich“ vorgestellte Welt der selbständig existierenden Objekte; sie leugnet diese nicht, sie klammert die Realitätsvorstellung nur ein, stellt sie unter „Quarantäne“. Husserl nennt dieses „sich-enthalten“ Epoche.
Den Vorgang des Ausschaltens aller Vorurteile bezüglich einer Dingwelt jenseits des Bewusstseins, der zur Epoche (von gr. epoché – das Anhalten) führt, nennt er phänomenologische Reduktion.
Die phänomenologische Reduktion gibt uns den prärationalen Bereich des reinen Schauens zurück, den wohl jeder als Kind gekannt hat.

Die erkenntnistheoretischen Untersuchungen Husserls kommen zu der Schlussfolgerung, dass wir nie absolute Gewissheit über die Welt oder unser eigenes Sein haben können. Die Welt ist und bleibt ein unergründliches Geheimnis und genauso wir selbst. Trotzdem können wir versuchen, diese Geheimnisse zu enträtseln, jedoch nur in dem Sinne der Enträtselung unserer eigenen Bewusstheit und deren Mechanismen.

Don Juans „Anhalten der Welt“ erweist sich demnach als phänomenologische Epoche im Sinne Husserls.
Es gibt aber auch bedeutende Unterschiede zwischen den Positionen der Phänomenologie und der toltekischen Lehre. Husserl entdeckte in seiner Wesensschau keine leuchtende Welt der Energiefelder, die die Tolteken in ihrem „Sehen“ wahrnehmen. Castaneda sagt treffend über den Unterschied: „Husserl ging nie über das theoretische Niveau hinaus und befasste sich daher nicht mit dem Menschen in seinem täglichen Leben.“


Ich bin nicht ich

Ich bin jener,
der an meiner Seite geht, ohne dass ich ihn erblicke,
den ich oft besuche,
und den ich oft vergesse.
Jener, der ruhig schweigt, wenn ich spreche,
der sanftmütig verzeiht, wenn ich hasse,
der umherschweift, wo ich nicht bin,
der aufrecht bleiben wird, wenn ich sterbe.

Juan Ramòn Jimènez

Das Tonal
(Textausschnitte)

Das Tonal ist der Teil von dem, was Don Juan das “ursprüngliche Paar” oder das “echte Paar” nennt. Der andere Teil wird als „Nagual“ bezeichnet. Die toltekische Lehre besagt nun, dass diese beiden Teile zusammen bei der Geburt des Kindes ihre Existenz aufnehmen. Zusammen bilden sie die ursprüngliche „Ganzheit des Selbst“. Die Tolteken gehen davon aus, dass wir alle von Geburt an zwei verschiedene Arten von Bewusstsein besitzen. Man kann sie sich als Zwillinge vorstellen, von denen der eine – das Tonal – erzogen, belehrt und ausgebildet wird. Der andere Zwilling wird nach der Geburt in den Keller gesperrt und weitgehend vergessen. Es ist der verborgene Teil des Menschen, das Nagual, das sich beim Durchschnittsmenschen allenfalls noch in Träumen äußert.

Die Vernunft ist das Zentrum, sozusagen die Warte, aus der wir auf die Welt des Tonal blicken. Sie verwaltet die Regeln, nach denen wir die Welt begreifen und erkennen.
Das Sprechen ist eine Art Satellit, der um das Zentrum der Vernunft kreist. Dies symbolisiert das Kreisen unseres inneren Dialogs um die vernünftige Erklärung der Welt, die ein Werk der Sprache ist. Vernunft und Sprechen sind direkt miteinander verbunden; sie funktionieren nur gemeinsam. Die Vernunft ordnet die Sprache – die Sprache ist einziges Ausdrucksmittel der Regeln der Vernunft. Die Verbindung von Sprechen und Vernunft symbolisiert mithin den Prozess des Verstehens.
Durch dieses System halten wir also unsere vernünftige Welt in Gang. Würden wir das nicht tun, dann könnte man nicht einmal diese Zeilen lesen, da sie keinen Sinn ergäben.

Die historischen Leistungen der Vernunft sollen hier nicht geschmälert werden, aber sie muss sich grundsätzlicher Kritik gegenüber offen zeigen. Sie muss außerdem in ihre tatsächlichen Schranken verwiesen werden. So sagen die Tolteken z.B. erkenntnistheoretisch richtig, „dass die Vernunft lediglich eine äußere Ordnung reflektiert und die Vernunft nichts über diese Ordnung weiß. Die Vernunft kann nur die Wirkung des Tonal erleben, aber niemals könnte sie es verstehen oder entschlüsseln. Die bloße Tatsache, dass wir denken und sprechen, weist auf eine Ordnung hin, die wir einhalten, ohne zu wissen, dass wir es tun oder was diese Ordnung eigentlich ist.“
Hier schließt sich der Kreis abermals, denn wir sind wieder bei der Erkenntnis angelangt, dass die Welt ein unergründliches Geheimnis ist und auch bleiben wird.





Das Verborgene – Carlos Castaneda und C. G. Jung
(Textausschnitte)

Das zweite große System der toltekischen Lehren, die Kunst des Träumens, geht von der Prämisse aus, dass wir alle von Geburt an zwei Arten von Bewusstheit besitzen. Die eine Art, das Tonal, ist die einem jeden wohlbekannte Ich-Bewusstheit, durch die wir in der Alltagswelt handeln und funktionieren.
Die andere Art Bewusstheit nennen die Tolteken „Nagual“ (von tolt. „nahualli“ = sich verbergen, maskieren). Für den Bereich des Nagual gibt es keine Worte und Begriffe, denn es ist für das Ich, das Tonal, völlig unzugänglich. Wir können nur die Wirkung des Nagual erleben, weshalb es ehesten als „Kraft“ zu verstehen ist. In der Allegorie vom Tonal als Insel ist das Nagual das Meer, das die Insel umgibt.
Nach toltekischer Überzeugung besitzen wir Menschen spezielle Auffassungsfunktionen, die es uns ermöglichen, das Nagual und seine Welt wahrzunehmen, ganz ähnlich wie Sprechen und Vernunft es ermöglichen, die Welt des Tonal wahrzunehmen. Eine dieser Funktionen für das Nagual ist das „Träumen“. Das toltekische Träumen ist jedoch nicht identisch mit den normalen nächtlichen Träumen, noch hat es etwas mit Tagträumen oder Wunschvorstellungen zu tun.

Die analytische oder komplexe Psychologie C.G. Jungs hat mit ihrer Idee vom Unbewusstsein als eine dem Ich komplementären, autonomen Sein eine große Ähnlichkeit mit der toltekischen Lehre vom Tonal und Nagual.

Aber auch Jung stand vor dem Problem, seine Thesen wissenschaftlich absichern zu müssen. Kann man überhaupt von einem autonomen psychischen Teil reden? Die normale Auffassung der meisten Menschen geht dahin, Psyche mit Bewusstsein, dem „geistigen Innenleben“ des Ichs zu identifizieren. Auch viele psychologische Theorien der Moderne tendieren zu dieser naiven Auffassung. Gibt es also eine dem Ich unbewusste, selbständige handelnde Psyche, wie Jung sie postuliert? Er selbst beantwortete diese Frage folgendermaßen:

Diese Auffassung ist empirisch durchaus berechtigt, denn nicht nur auf primitiver Stufe, sondern auch beim Kulturmenschen erweist dich das Psychische als Objektives, das unsere Bewusstseinswillkür im hohen Maße entzogen ist. So können wir z.B. die meisten Emotionen nicht unterdrücken, wir können eine schlechte Laune nicht in eine gute verwandeln, wir können Träume weder bestellen noch abbestellen. Wir lieben es bloß, uns mit dem Gedanken zu schmeicheln, dass wir Herr im eigenen Haus seien. In Wirklichkeit sind wir in einem unheimlichen Maße darauf angewiesen, dass unser unbewusstes Psychisches von sich aus richtig funktioniert und uns gegebenenfalls nicht im Stich lässt. Angesichts dieser Sachlage ist es durchaus begreiflich, dass die alte Anschauung von der Seele als etwas Selbständiges, nicht nur bloß Objektivem, sondern direkt gefährlich Willkürlichem ihre Berechtigung hat.

Das heißt, es gibt tatsächlich eine Instanz in oder an uns selbst, die dem Ich unbewusst ist, aber autonom handelt. Diese Instanz, die die Tolteken Nagual nennen, kann selbst unter normalen Bedingungen die Kontrolle über sämtliche körperliche Vorgänge übernehmen, die üblicherweise dem Ich unterstellt sind. Man denke nur an das Beispiel des Schlafwandelns.

Wir können also davon ausgehen, dass es jenen geheimnisvollen Teil des Menschen wirklich gibt, von dem das Ich nichts weiß oder wissen will.

Die Funktion der Träume ist nach tiefenpsychologischer Ansicht kompensatorischer Natur. Kompensation ist, wie Jung in seinem Aufsatz „Vom Wesen der Träume“ sagt, „eine Gegeneinanderhaltung und Vergleichung verschiedener Daten und Standpunkte, wodurch eine Ausgleich oder eine Berichtigung entsteht.“

Auch die Tolteken haben erkannt, dass die Träume eine Brücke, eine natürliche Verbindung zwischen den beiden Seiten der menschlichen Bewusstheit darstellen. Nur, sie kümmern sich nicht um die Traumdeutung.
Sie haben eine spezielle Art zu träumen entwickelt, die sie die „Kunst des Träumens“ nennen.
Normalerweise ist die Traumbrücke nur in der Richtung vom Unbewussten zum Bewusstsein, vom Nagual zum Tonal befahren. Die Tolteken gehen den umgekehrten Weg. Sie gehen mit voller Bewusstheit selbst über die Traumbrücke hin zur Kraft, zum Nagual, zum Unbewusstsein.
Aber wie haben wir uns das in der Praxis vorzustellen?
Der zentrale Unterschied zwischen den normalem Träumen und dem Träumen der Tolteken liegt in der bewussten Kontrolle der eigenen Handlungen im Traumgeschehen. Bei der Übung des Träumens beginnt man damit, in einem beliebigen Traum auf die Hände zu sehen. Damit sind natürlich die Hände des Traumkörpers und nicht die des psychischen Körpers gemeint. Dieses Auf-die-Hände-sehen bringt ein gewisses Maß an Reflexivität mit sich, so dass man sich bewusst werden kann, im Traum zu sein. Dieser „Trick“ funktioniert nach vielfachen eigenen Erfahrungen tatsächlich.
Das Erstaunen ist meist groß, wenn der Träumer erkennt, dass er zugleich völlig bewusst und doch nicht in seinem normalen Körper ist.

Bei den Naturvölkern ist der Wert der Träume schon immer hoch angesetzt worden. Den zivilisierten Menschen führt vor allem sein Denken vom Traum als „inneres“ Erlebnis in die Irre. Er denkt, Träume hätten keinen Realitätswert, da sie ja im Gehirn zusammengesetzt und somit ein inneres Produkt, eine Phantasie wären. Er vergisst allzu leicht, dass dies auch für seine Wahrnehmung und all sein übriges Erkennen gilt, das ja auch „bloß“ in seinem Gehirn zusammengesetzt wird.

Die Tolteken beschreiben den Kosmos als eine unendliche Ansammlung von Energiefeldern. Diese gleichen dünnen Lichtfasern und strahlen aus der Urquelle alles Seienden, welches symbolisch der „Adler“ genannt wird. Deshalb werden diese Energiefelder auch als „Emanationen des Adlers“ bezeichnet.
Der Mensch besteht, genau wie jedes andere Lebewesen, aus einer unendlichen Zahl solcher faserförmiger Emanationen. Sie bilden ein abgeschlossenes Agglomerat, das sich als Lichtkugel von der jeweiligen Körpergröße des betreffenden Lebewesens darstellt. Der Mensch gleicht einem großen leuchtenden Ei.
Nur ein winziges Spektrum von Energiefeldern wird im Inneren der Kugel beleuchtet, und zwar von einem intensiv leuchtenden Punkt, der sich an der Oberfläche der Kugel befindet. Dieser Punkt, genannt „Montagepunkt“, bestimmt, welche Energiefelder das betreffende Lebewesen als seine Welt wahrnimmt. Er beleuchtet die Emanationen in seiner unmittelbaren Umgebung und macht sie somit wahrnehmbar.
Bei der Wachbewusstheit ist der Montagepunkt immer an der Schale der Kugel fixiert, an einer Stelle, die erst erlernt werden muss. Diese Stelle bestimmt durch die Region, wo die Artgenossen bzw. Mitmenschen ihren Montagepunkt fixiert halten. Das Einhalten dieser eng umgrenzten Region kann buchstäblich als „Normalität“ verstanden werden.
Im Schlaf rutscht der Montagepunkt auf natürliche Weise in das leuchtende Ei hinein, wodurch Energiefelder im Inneren der Kugel erhellt werden, die normalerweise ungenutzt sind. So entstehen Träume, die Wahrnehmung einer separaten Traumwelt.
Zu „träumen“ bedeutet nun, den Montagepunkt an einer ungewohnten Position im leuchtenden Ei zu fixieren. Beim normalen Traum befindet sich der Montagepunkt in ständiger Bewegung, weshalb sich die Traumbilder ständig wandeln: Personen verwandeln sich in andere, die Landschaft verändert sich oder wird von anderen Bilder überlagert.
Wenn der Montagepunkt allerdings im leuchtenden Ei fixiert wird wie beim toltekischen Träumen, verändert sich die Szenerie des Traumes nicht mehr, sondern wird als feste, in sich geschlossene Welt wahrgenommen.


„Das Tonal beginnt mit der Geburt und endet mit dem Tod, aber das Nagual endet niemals. Das Nagual ist grenzenlos.“

Castaneda stellt Don Juan die Frage, ob denn nun Tonal und Nagual in uns selbst seien. Don Juan antwortet: „Du würdest sagen, sie sind in uns. Ich würde sagen, die sind es nicht, aber keiner von uns hätte recht. Das Tonal deiner Zeit verlangt, dass du behauptest, alles, was mit deinen Gefühlen und Gedanken zu tun hat, finde in dir statt. Das Tonal der Zauberer sagt, im Gegenteil, es ist draußen. Wer hat nun recht? Keiner von beiden. Drinnen oder draußen – darauf kommt es wirklich nicht an.“
Wir müssen uns also auf das Wesentliche reduzieren, jenseits von einer Innen-Außen-Betrachtung. Wesentlich ist vor allem die Wirklichkeit der beiden Teile unseres Gesamt-Selbst, die Wirklichkeit des ursprünglichen Paares Tonal-Nagual.
Über das Tonal und die Aufmerksamkeit für das Tonal, den ersten Ring der Kraft, sprachen wir bereits in Kapitel 1.2. Mit den Funktionen „Sprechen“ und „Vernunft“ stellt er die Grundlagen für die Wahrnehmung und Nutzung unserer normalen Welt dar.
Nun besitzt der Mensch aber auch andere Auffassungsfunktionen, die die Tolteken „Aufmerksamkeit für das Nagual“ nennen.

Don Juan sagt über den zweiten Ring der Kraft:
„Das Geheimnis der leuchtenden Wesen ist, dass sie noch einen weiteren Ring der Kraft haben, der gewöhnlich nie genutzt wird, den Willen. Der Trick der Zauberer ist der gleiche Trick, wie ihn die normalen Menschen anwenden. Beide haben sie eine Beschreibung. Der eine, der normale Mensch, erhält sie mit Hilfe seiner Vernunft aufrecht, der andere, der Zauberer, erhält sie mit seinem Willen aufrecht. Beide Beschreibungen haben ihre Regeln, und die Regeln sind wahrnehmbar, doch der Vorteil des Zauberers liegt darin, dass der Wille umfassender ist als die Vernunft.“

Der zweite Ring der Kraft umfasst sechs Punkte, sechst verschiedene Auffassungsfunktionen, welcher sich die Tolteken bedienen: Fühlen, Träumen, Sehen, Wille, Tonal, Nagual.




Fühlen

Da das Fühlen den Tiefen des Unbewussten entspringt, hat es auch immer einen für die Vernunft nicht greifbaren Aspekt, was jeder aus eigenem Erleben bestätigen kann. Wir können uns Fühlen aufgrund seiner vermittelnden Funktion zwischen den Kraftringen, zwischen Bewusstsein und Unbewusstem, als eine Art Brunnenschacht oder Kanal vorstellen, in dem der Wasserstand unser Stimmungsbarometer ist. Manchmal, auch während der normalen Wachbewusstheit, drängen durch diesen Kanal Botschaften und Äußerungen des Unbewussten, des Naguals, an die Oberfläche des Bewusstseins. Die Tolteken sprechen in diesem Zusammenhang vom „Auftauchen des Nagual“, ein plötzliches Auftauchen von völlig unerklärlichen, übermächtigen Gefühlswallungen, welche das Alltagsbewusstsein zu überschwemmen drohen.

Sehen

Das toltekische Sehen ist eine besondere Auffassungsfunktion. Es hat nichts mit dem gewöhnlichen Schauen der Augen zu tun, sondern bezeichnet einen eigenartigen Bewusstseinszustand, in dem man fähig ist, die Welt auf eine andere, neue Weise wahrzunehmen. So nimmt man beim Sehen den Menschen als leuchtendes Ei wahr.

Man kann lernen, beim Sehen viele Einzelheiten, z.B. am leuchtenden Ei des Menschen, zu erkennen und was diese zu bedeuten haben. So kann man sehen, ob der betreffende Mensch gesund oder krank ist. Es stellt also für die Tolteken eine Wahrnehmungsfunktion dar, die ebenso pragmatisch und nützlich ist wie die alltägliche Wahrnehmung.

Wille

„Was ein Zauberer Wille nennt, ist eine Macht in uns. Es ist weder ein Gedanke, noch ein Gegenstand, noch ein Wunsch. Der Wille ist das, was bewirkt, dass du gewinnen kannst, wenn dein Denken dir sagt, dass du besiegt wirst, Der Wille ist das, was dich unverletzlich macht. Der Wille ist das, was einen Zauberer durch eine Wand, durch den Raum und, wenn er will, auf den Mond führt“, sagt Don Juan über das Zentrum des zweiten Ringes der Kraft.
Wille hat also nichts mit dem herkömmlichen Begriff von Willen zu tun.
Der Wille des toltekischen Verständnisses ist Teil des leuchtenden Eies des Menschen. Er ist gleichzeitig das Zentrum desselben und auch eine ungeheuerliche Ranke, eine Art Tentakel, die von diesem Zentrum ausgeht und uns mit der Welt verbindet. Don Juan bezeichnet den Willen als das wahre Bindeglied zwischen den Menschen und ihrer Welt. Dies ist auch im Schema des zweiten Kraftringes ersichtlich (Abbildung im Buch); der Wille ist der einzige Punkt, der eine direkte Verbindung zu Tonal und Nagual, dem ursprünglichen Paar, aufweist.

Wenn wir die Welt anschauen und wenn wir sie hören, dann haben wir den Eindruck, dass sie da draußen ist und dass sie real ist. Wenn wir die Welt mit unserm Willen erkennen, dann wissen wir, dass sie gar nicht so sehr „da draußen“ oder „real“ ist, wie wir glauben.



Der Adler

Die Kraft, die das Universum, den Kosmos, erschaffen hat, nennen die Tolteken den „Adler“, nicht weil er irgendetwas mit einem Adler zu tun hätte, sondern weil diese Kraft den „Sehenden“ so erscheint. Der Adler regiert das Schicksal aller lebenden Wesen. Er verleiht ihnen bei ihrer Geburt die Bewusstheit, die die Lebewesen weiterentwickeln und ausdehnen sollen. Die Mehrung der Bewusstheit ist also die Aufgabe allen Lebens und mithin der Sinn des Lebens. Durch den Tod kassiert der Adler die „Leihgebühr“ für das Leben der Wesen, denn er ernährt sich von der Bewusstheit, die durch den Prozess des Lebendigseins gemehrt und ausgedehnt wurde. Beim Tod wird also die Bewusstheit eines jeden Wesens gelöscht und gleichsam vom Adler verschlungen.

Doch der Adler gewährt jedem lebenden Wesen die Gabe, sich diesem Befehl zu widersetzen, um nicht gefressen zu werden, um die Bewusstheit zu behalten und gleichsam nicht zu sterben. Zu diesem Zweck schuf der Adler einen Durchlass zur Freiheit, zur totalen Bewusstheit. Er erschuf den Durchlass, um die Bewusstheit weiter bestehen zu lassen. Außerdem schuf der Adler spezielle Lebewesen, die „Naguals“ genannt werden, um die Lebewesen, die die Bewusstheit behalten wollen, zu dem verborgenen Durchlass in die Freiheit führen. Diese „Naguals“ sind nicht zu verwechseln mit der gleichnamigen Kraft, die wir bereits kennen gelernt haben. Sie sind sog. Doppelwesen, die nicht wie alle anderen Lebewesen aus zwei Teilen bestehen, sondern aus vier Teilen. Dies bezieht sich natürlich nicht auf die physischen Körper, sondern auf die leuchtenden Eier dieser Wesen.


Traum und Wirklichkeit

Die toltekische Lehre reduziert den Menschen nicht einfach auf bruchstückhafte Teilwahrheiten einzelner Fachgebiete, wie es die modernen Wissenschaften tun, sondern sie lässt ihn im wesentlichen als Ganzes, indem sie die trennenden Schranken des üblichen Denkens auf praktische und konsequente Weise zerbricht. So wird z.B. die trennende Schranke zwischen der normalen Wirklichkeit und der Traumwirklichkeit zerbrochen, indem die normale Wirklichkeit auf ein Produkt unseres Bewusstseins reduziert wird. Durch diesen magisch-philosophischen Akt verschwindet die Trennlinie, die den Traum als unwirklich und als minderwertiges Produkt unserer Psyche aus unserem bewussten Leben zurückhielt. Traum und normale Realität werden so auf die gleiche Stufe gestellt, mit gleichem Wert und gleichem Wirklichkeitsanspruch: der einen Wirklichkeit unserer Bewusstheit.


Teil II

Die praktischen Künste der Tolteken

Die Kunst des Pirschens

„Der Krieger beugt den Kopf vor niemanden, aber gleichzeitig erlaubt er es keinem anderen, seinen Kopf vor ihm zu beugen.“
Sich in den Vordergrund zu stellen, würde ja schon bedeuten, dass man seinen Kopf über andere erhebt, weil man glaubt, man wäre wichtiger oder besser als jemand oder etwas anderes. Solche Eitelkeiten sind stets illusionär, denn alles Leben ist dadurch, dass es letztlich dem Tod anheim fällt, auf mysteriöse Weise gleichgestellt. Der allgegenwärtige Tod führt alles menschliche Streben und Tun als Eitelkeit und Torheit ad absurdum und reduziert uns auf das, was wir wirklich sind: ein Nichts im Angesicht des unerklärlichen Todes.
Die Pirscher sind sich sowohl der Torheit allen menschlichen Tuns bewusst als auch der absoluten Endgültigkeit des Todes. Damit sie in dieser paradoxen Lage in der normalen Welt handeln können, entwickelten sie das Konzept der „kontrollierten Torheit“.
Wenn ein Pirscher handelt, wird man ihn nicht von anderen Leuten unterscheiden können; er scheint ganz vertieft in sein jeweiliges Tun zu sein, und sein Tun erscheint genauso töricht wie alles andere Tun auch. Der einzige Unterschied zwischen dem Durchschnittsmenschen und einem Pirscher besteht darin, dass ersterer seine Torheit nicht kontrolliert, weil er an das glaubt, was er tut. Der zweite, der Pirscher, kontrolliert seine Torheit, aber er glaubt nicht unbedingt an das, was er tut, sondern ist sich der vergänglichen Eitelkeit allen Tuns durchaus bewusst.

Die Tolteken sprechen von „vier Stimmungen des Pirschens“:

Rücksichtslosigkeit ist nicht gleich Härte; sie bedeutet im Sinne der Pirscher einen völligen Mangel an Mitleid, vor allem auch an Selbstmitleid; aber sie hindert den Pirscher nicht daran, hilfsbereit zu sein. Hilfsbereitschaft bedeutet nämlich für die Pirscher nicht den Drang, andere zu verändern, sondern sie stets in dem zu unterstützen, was sie bereits sind. Damit enthält sich der Pirscher des Urteils und ist doch voll handlungsfähig.

List bedeutet nicht Grausamkeit und Heimtücke, sondern sie bezeichnet den Einfallsreichtum der Pirscher in allen Situationen, seine Tricks und Kniffe. All das hindert ihn nicht daran, gleichzeitig freundlich zu sein.

Geduld darf niemals Nachlässigkeit oder Faulheit sein; sie bedeutet für den Pirscher seine echte Fähigkeit zu warten und gleichzeitig zur ausdauernden Beschäftigung jeglichen Tun.

Sanftheit ist nicht gleich Albernheit oder Schwäche; sie ist ein Ausdruck der gewaltfreien Zielstrebigkeit der Pirscher. Denn sie wissen, dass durch Zwang – egal, ob dieser sich gegen sich selbst oder andere richtet – nie etwas erreicht werden kann. Sanftheit ist eine dauerhafte Eindringlichkeit, mit der viel mehr erreicht werden kann als durch jede direkte Einflussnahme.




Rekapitulation des Lebens

Eine der wichtigsten Grundübungen in der Kunst des Pirschens ist die „Rekapitulation“. Bei ihr handelt es sich um ein Erinnerungs- und Gedächtnistraining großen Umfangs, das einige bedeutsame Effekte auf den Praktiker hat. Bei der Rekapitulation erinnern sich die Pirscher an ihr gesamtes bisheriges Leben, bis in die kleinsten Einzelheiten. Dies geschieht nicht ohne Grund, denn die persönliche Rekapitulation ist der Weg der Pirscher in die Freiheit, die ja das zentrale Ziel aller toltekischen Bestrebungen ist.
Dem liegt die Idee zugrunde, dass der Adler, jene Macht, die uns bei der Geburt die Bewusstheit schenkt und sie bei unserem Tod wieder verschlingt und gleichsam löscht, mit einer Kopie unseres Bewusstseins – anstelle unserer eigentlichen Bewusstheit – zufrieden gestellt werden kann. Die Pirscher fertigen daher eine möglichst genaue Kopie ihrer Bewusstheit an, und das Mittel zum Kopieren und gleichsam die Kopie selbst ist die Rekapitulation.

Der Gedanke der Rekapitulation ergibt sich aber auch auf direkte Weise aus dem toltekischen Wissen über den Tod. Die Tolteken sagen nämlich, dass der individuelle Tod mit einer solchen Rekapitulation beginnt. Beim Sterben erleben wir demnach eine komplette Wiederholung unseres ganzen Lebens, allerdings rückwärts, vom Moment des Todes bis hin zum Moment unserer Geburt. Diese Vorstellung vom Ablauf des Sterbens ist auch bei den südamerikanischen Andenindiandern allgemein verbreitet, aber es scheint sich bei dieser Auffassung nicht um einen Mythos zu handeln, da auch von westlichen Sterbeforschern (z.B. Kübler-Ross) über einen solchen „Lebensfilm“ berichtet wird, mit dem das individuelle Sterben beginnt. Nach toltekischer Auffassung kommt es beim Sterben auf den reibungslosen Ablauf dieses „Lebensfilms“, der persönlichen Rekapitulation an. Denn wenn wir bei irgendeiner Erinnerung stocken, sei es aus Furcht, Verwunderung oder Freude, verschlingt uns der Adler und löscht die Bewusstheit. Wenn wir die Erinnerung unseres Lebens bis zum letzten Moment, unserer Geburt, vorurteilslos ertragen, wird hingegen die Freiheit erreicht; der Adler verschlingt uns nicht, und wir können unsere Bewusstheit behalten.

Das Nicht-tun der Gewohnheiten

Das Nicht-tun der Gewohnheiten (Routinen) ist die grundlegende Art des Nicht-tun des Selbst. Es beruht auf der Beobachtung der Pirscher, dass alle normalmenschlichen Handlungen gewissen Routinen bzw. Gewohnheiten unterliegen. Das ganze Tun des Durchschnittsmenschen ist auf solchen Routinen aufgebaut. So liegt z.B. der Tagesablauf schon von vorneherein fest; man steht morgens zur gleichen Zeit auf, frühstückt zur gleichen Zeit am gleichen Ort, nimmt immer zur festen Zeit sein Mittagessen ein und schläft schließlich immer zur gleichen Zeit im selben Bett etc.

Das erste beim Nicht-tun der Routinen ist das Durchbrechen einfacher Gewohnheiten, z.B. eine Veränderung des gewohnten Tagesablaufes. So isst man einfach nur dann, wenn man wirklich hungrig ist und nicht zu festen Uhrzeiten. Auch eine Änderung der Schlafgewohnheiten ist möglich; mit dem Kopf an Fußende des Bettes schlafen, mehrere kurze Schlafperioden anstatt einer langen einlegen oder auch tagsüber schlafen.

Wichtig zu bemerken ist noch, dass bei einer Routine, die unterbrochen und durch eine andere Verhaltensweise ersetzt wurde, nicht der Fehler gemacht werden darf, die neue Verhaltensweise ebenfalls zur Routine zu machen, denn dann wäre nichts erreicht.

Das Nicht-tun der persönlichen Geschichte

Dieses Nicht-tun, das auch den Namen „Das Auslöschen der persönlichen Geschichte“ trägt, ist wohl das Prinzip der toltekischen Lehren, das die Glaubenswürdigkeit Castanedas als Autor untergraben hat. Es beruht auf der Grundvorstellung, dass ein Pirscher keine persönliche Geschichte im Sinne einer festen Vorstellung von der eigenen Vergangenheit - bei sich selbst und bei anderen – benötigt und sie daher auslöscht bzw. zurücklässt.

Genau diese Methode wandte Castaneda beim Schreiben seiner Bücher an. Er berichtet zwar über die Geschehnisse seiner Lehrzeit und über die Praxis der Zauberei, klammert aber sein eigenes Leben weitgehend aus.

Das Prinzip dieses Nicht-tuns ergibt sich direkt aus den übrigen Praktiken der Pirscher: So trägt es dem siebten Prinzip des Pirschens Rechnung, nachdem ein Pirscher sich nie in den Vordergrund drängen soll. Es kommt nicht darauf an, wer wir sind (und nur das ist es, wovon unsere persönliche Geschichte berichtet), sondern es kommt darauf an, was wir sind, nämlich sterbliche Menschen in einer geheimnisvollen Welt.

Nicht-tun der eigenen Wirklichkeit

Die eigene Wichtigkeit, oft auch „Eigendünkel“ genannt, ist nach der Überzeugung der Tolteken der größte Feind aller Erkenntnis. Der Eigendünkel der Menschen ist eine direkte Folge der normalen Ich-Bezogenheit allen Erkennens. Wenn alles, was wir erkennen, wissen und wahrnehmen, auf unser Ich bezogen ist, so müssen wir uns folglich wichtig nehmen, da ja alles auf das zentrale Ich bezogen zu sein scheint. Diese Ich-Bezogenheit oder ihre meist übersteigerte Form, die eigene Wichtigkeit, verstellt uns den wirklich neutralen Blick auf die Welt, da aus diesem Blickwinkel alles nur auf die eigene eingebildeten Interessen bezogen wird.
Don Juan sagt das seinem Schüler in aller Deutlichkeit: „Solange du dich für das Wichtigste auf der Welt hältst, kannst du die Welt um dich her nicht wirklich beurteilen. Du bist wie ein Pferd mit Scheuklappen, und du siehst nur dich, losgelöst von allem anderen.“

Es gibt nur einen Weg, die eigene Wichtigkeit zu verlieren. Don Juan rät seinem Schüler in „Reise nach Ixtlan“, mit Pflanzen zu sprechen.
Man kann natürlich genauso gut mit einem Käfer oder einem Nachtfalter reden – aber das Gefühl muss stimmen. Man muss sich bemühen, ehrlich und nicht herablassend zu sein, denn Heuchelei bewirkt bei dieser Übung nur das Gegenteil.