Der Doppelgänger

„Innerhalb des Reiches unserer Wahrnehmung gibt es eine Kraft, die nichts mit dem zu tun hat, was wir ‚Ich’ nennen, und die wir durch das Träumen entdecken können. Diese Kraft kann sich ihrer selbst bewusst werden, die Eigenschaften unserer Persönlichkeit in sich aufnehmen und unabhängig handeln. Die damit verbundene Empfindung ist unbeschreiblich, weil es sich um ein anorganisches Wesen handelt.“
„Anorganisch?“
„Allerdings! Wir nennen unsere alltägliche Aufmerksamkeit organisch, weil sie auf einem organischen Körper beruht, richtig?“
Ich stimmte zu.
„Wie willst du dann den Körper nennen, mit dem du beim Träumen wahrnimmst und handelst?“
„Ich würde ihn als Erscheinung bezeichnen“, antwortete ich vorsichtig.
„Da stimme ich dir zu! Er ist ein anorganisches Wesen: Er hat eine Erscheinung, aber keine Masse. Für dich ist er lediglich eine mentale Projektion. Aus der Sicht dieses Wesens lebt jedoch unser psychischer Körper in einer imaginären Welt. Wenn du die nötige Energie und Konzentration aufbringen könntest, um dir deines Selbst bewusst zu werden, könntest du es fragen, was es von deiner Alltagswelt hält. Es würde dir antworten, dass es sie für ziemlich unwirklich hält, fast für einen Mythos. Und weißt du was? Es läge damit gar nicht mal so weit daneben.“

Ich hatte in Carlos Castanedas Büchern einiges über den Doppelgänger gelesen, aber meine Voreingenommenheit hinderte mich daran, offen an die Sache heran zu gehen. Mein Verstand war durch die dort vorgestellten Konzepte völlig verwirrt. Leuchtende Eier, Energiefelder, die alle lebenden Wesen umgeben, der Energiekörper, der Doppelgänger – das war einfach zu viel. Ich fragte ihn, ob das alles dieselben Dinge seien oder ob es da Unterschiede gäbe.
Er war über meine Frage sichtlich überrascht.
„Du hast nichts verstanden. Wir reden über Bewusstheit, nicht über physische Objekte. All diese Wesenheiten, sogar die Wahrnehmungseinheit, die ‚physischen Körper’ nennen, sind alle Beschreibungen derselben Sache. Es gibt nicht zwei Ausgaben von dir. Du bist du! Du ‚hast’ keinen Energiekörper, du bist Energie. Du bist ein Montagepunkt, der Emanationen (des Adlers) montiert, und du bist nur einer! Du kannst unterschiedliche Träume haben und in jedem Traum eine andere Erscheinungsform besitzen – menschlich, tierisch oder anorganisch. Oder du kannst im Träumen sogar mehrere Personen auf einmal sein. Aber du kannst dein eigentliches Bewusstsein nicht fragmentieren.“

Ich fragte Carlos nach dem enormen Aufwand, der zweifellos nötig war, um sich im Reich des Träumens einen Doppelgänger zu erschaffen.
„Für die meisten Zauberer ist dieser Aufwand eine Option, eine Pforte zu einem anderen Reich der Bewusstheit. Eine Art von Bewusstheit, die es ihnen im richtigen Augenblick erlaubt, den endgültigen Sprung in die dritte Aufmerksamkeit zu beabsichtigen. Indem sie ihrem Doppelgänger Autonomie und Zielstrebigkeit verleihen, bereiten sie sich darauf vor, auch über den Tod hinaus bewusst zu bleiben. Wenn dieser neue Körper vollständig und der Augenblick gekommen ist, verlässt die Bewusstheit die menschliche Hülle endgültig. Der physische Körper schwindet dahin und stirbt, aber die Bewusstheit, die Empfindung des Daseins bleibt.“

(aus „Begegnung mit dem Nagual – Gespräche mit Carlos Castaneda“ von Armando Torres)