Kims Monolog

Kim wartete keine Antwort ab, denn er „sah“ ja, was sich die beiden dachten und begann mit seinem Monolog. Dieser Monolog ist deshalb so erwähnenswert - zumindest empfinde ich das so - weil nicht nur Maria, sondern auch Mike, immer mehr staunte, je länger dieser Monolog dauerte. Mike hörte anfangs zwar belustigt wie immer zu, ließ sich bequem auf der Couch zurück fallen und grinste auch ständig. Aber bald wurde er ernst und hörte Kim konzentrierter zu. Mike staunte sozusagen mehr und mehr und fühlte, dass Kim ihnen Dinge offenbarte, die sie nie zuvor gehört haben. Mike hing dann fast an Kims Lippen und saugte jedes seiner Worte wie ein Heiligtum, ja beinahe wie einen Befehl auf. Er richtete sich dann auch auf und lehnte sich nicht wieder zurück. Es schien fast, als ob er nicht nur von Kims Worten angesaugt wurde, sondern auch von ihm selbst. Mitten im Monolog legte Mike sogar seine Arme auf den Couchtisch und neigte sich ziemlich weit Kim zu hinüber, um ja jedes einzelne Wort genau zu hören und es sich auch einzuprägen.
Maria hingegen beachtete Mike überhaupt nicht, denn sie war in diesen Momenten ebenso mit Kim beschäftigt, der sie genauso verblüffte, wie er Mike verblüffte.
Schon alleine diese logische Schlussfolgerung, die Kim eben erwähnt hatte, ließ die beiden ein bisschen nachdenklich werden. Nun ja, ich nenne es eine logische Schlussfolgerung, obwohl sie wahrscheinlich nicht für jeden so logisch und verständlich ist. Aber so begann dieser Monolog, den Kim, ohne ein Wort abzuwarten, gleich weiter führte.
„Wo ich gerade sagte, dass ihr und auch sonst niemand mich kennt, muss ich eben an die Fans denken. Hör zu, Maria - Mike und ich haben vorhin darüber gesprochen, warum wir Alarmanlagen haben. Ich erklärte es ihm, aber er hat es, glaube ich, nicht ganz verstanden. Mir geht es eigentlich nicht darum, weil ich Angst habe, dass nun zigtausend Menschen in unser Haus kommen, dass sie sozusagen wie Sardinen in einer Dose sich in unserem Haus zwängen, dass sie vor Platzmangel kaum mehr atmen können, denn ich bezweifle, dass so viele Menschen kommen. Hier ist es ja nicht so wie auf den Straßen in der Stadt, wo wirklich viele Menschen sind, die mich alle umringen würden. Hier gehen am Tag, wenn es viele sind, höchstens zehn Leute vorbei. Mag sein, dass sich herum spricht, dass Kim heute Tag der offenen Tür hat und dann würde wirklich die eben dargestellte Vision der Sardinendose eintreffen. Aber das müsste man ausprobieren - das kann ich wirklich nicht voraussagen.
Siehst du, Maria, eben als ich das vorhin zu Mike sagte, schrie es förmlich in ihm, wie ich es nur wagen kann überhaupt an so etwas zu denken. Und in dir schreit es jetzt ebenso. Aber es ist wirklich so, wie ich sagte - man müsste ausprobieren, wie sich die Leute verhalten, wenn sie zu mir ins Haus kommen dürften. Aber okay, darum geht es eigentlich nicht. Ich möchte immer zum Punkt kommen, wenn ich in einem Gespräch ein Thema beginne. Manchmal, wenn nicht meistens, fällt mir das schwer, weil in meinem Kopf so viele Punkte zusammen treffen und dann möchte ich alle gleichzeitig erwähnen, um ja keinen zu vergessen.
Wo war ich nun? Ach, ja! Ich sagte, es geht mir nicht darum, weil ich Angst vor den Menschen habe, dass sie mir womöglich die Kleider vom Leib reißen - nein - es ist eher zwischenmenschlicher Natur. Seht ihr, die Leute da draußen behaupten, dass sie mich kennen. Warum sagen sie das? Nur weil mein Gesicht in allen Zeitungen ist? Weil ich ein paar mal vor ihnen auf einer Bühne herum gesprungen bin? Weil ich sozusagen berühmt bin? Ja, okay, ich bin berühmt - ich bin sogar - laut der Medien - der weltberühmteste Rockstar - ein Rockstar, wie es ihn noch nie gegeben hat. Aber sagt ehrlich - haben die Leute deswegen das Recht, zu behaupten, dass sie mich kennen? Ich sage euch - das haben sie nicht, denn sie kennen mich nicht.
Und wie steht es mit mir? Was soll ich sagen, wenn plötzlich wildfremde Menschen in unser Haus kommen? Ja, was erwarten sie denn von mir? Wisst ihr, was ich denen sage würde? Ich würde ihnen sagen, dass sie sich zum Teufel scheren sollen - dass ich sie noch nie gesehen habe und wie sie es nur wagen können, in ein fremdes Haus einzudringen.
Das ist der einzige Grund, warum ich mit den Alarmanlagen einverstanden bin. Und wisst ihr, was dieser Grund wirklich bedeutet? Dabei geht es um die Dummheit der Menschen. Ja, diese Menschen, die sich da draußen ganz frech Kims Fans nennen, sind dumm - so dumm, dass es nicht einmal mehr weh tut.
Wisst ihr, ich würde vielleicht einige freiwillig herein lassen. Aber diejenigen kommen ja nicht. Und wisst ihr, warum sie nicht kommen? Weil sie klug sind. Diese wenigen Menschen, die wahrscheinlich auch sagen, dass sie Kims Fans sind, wissen genau, dass sie mich nicht kennen. Sie kennen meine Äußerlichkeit, meine Musik, aber nicht mich. Und ich würde sagen, diesen wenigen, klugen Menschen ist es egal, wer und was ich bin. Und gerade deshalb würden sie an diesem offenen Tor da draußen vorbei gehen. Sie würden es niemals wagen, ja nicht einmal daran denken, meine Privatsphäre zu stören. Für diese Menschen würde ich keine Alarmanlage brauchen. Nein, diese Alarmanlage ist ein Mahnmal für die Dummheit.
Oh, ich sehe die Bilder um euch, die ihr euch nun von mir macht. Wie kann dieser herzensgute und so demütige Junge nur so etwas sagen?
Ja, Leute - ich bin eben nicht so herzensgut und demütig, wie ihr euch das vorgestellt habt.
Okay, ja, ich bin gut, wie ihr das ausdrückt. Aber was bedeutet gut wirklich? Womit definiert ihr das Gute? Mit Wahrheit? Mit Demut? Womit?
Das Buch, das ich noch immer in meiner Hand halte, ist von Dostojewskij - es ist der Idiot. Warum ich das sage? Nun, auch von ihm wird behauptet, dass er gut ist - herzensgut sogar. Man sagt von ihm auch, er sei geistreich - sozusagen klug. Aber die eigentlichen Hintergedanken sehen anders aus, denn der Titel sagt schon alles aus - immerhin ist er ein Idiot. Er war im Irrenhaus - und er landet auch wieder im Irrenhaus.
Ich möchte jetzt aber nicht über dieses Buch reden, sondern über uns. Nein, nicht wie ihr eben gedacht habt, über mich, sondern über uns.“
Hier muss ich den Monolog kurz unterbrechen, obwohl Kim nie eine Pause macht. Er sprach jedoch langsam und sehr deutlich in Hochdeutsch. Manchmal fiel er zwar ins Bayrische über, aber die meisten Worte sprach er hochdeutsch aus. Er sprach keineswegs ernst, sondern lächelte ständig dieses selige Grinsen. Seine Körperhaltung blieb immer die selbe - lässig im Fauteuil seitlich hinein gelehnt und die Beine über Marias Schoß, die neben ihm im zweiten Fauteuil saß. Seine linke Hand war unter dem Buch, die rechte lag auf den aufgeschlagenen Seiten. Kim machte keine Handbewegungen. Er saß während seines Monologs vollkommen ruhig da und lächelte bloß. Seine Stimme hatte einen sanften, tiefen Klang, war beinahe hypnotisierend und passte eigentlich kaum zu seinem ständigen Grinsen.
Aber nun weiter in seinem Monolog.
„Der eigentliche Ausgangspunkt, so viel ich mich erinnern kann, war der, dass ich behauptet habe, ihr kennt mich nicht. Ich wage jetzt sogar, mir selbst zu widersprechen, da ich gesagt habe, ich kenne Maria in- und auswendig. Nein, ich kenne sie nicht in- und auswendig. Was ich kenne, sind ihre Reaktionen.
Warum ich das jetzt sage, wollt ihr wissen? Okay, ich will euch meine Meinung dazu sagen. Wir sind nichts, Leute - wir sind bloß Ideen. Das, was uns wirklich ausmacht, ist für uns nicht erkennbar. Wir nennen es manchmal Momente, Augenblicke - also bestimmte Situationen, die uns besonders bewegt, oder auch erregt haben. Nein, Mike - mit Erregen meine ich sicher nicht Sex. Also, diese Momente, wo wir - sagen wir, wo ich mit jemandem, oder mit irgendeinem Gegenstand zusammen treffe - eben genau der winzige, zeitlich kaum nennenswerte Moment des Zusammentreffens, der macht mich eigentlich aus. Es bin nicht ich selbst, auch nicht der andere, oder der andere Gegenstand, sondern bloß dieser zeitlose Moment. Ja, es ist ein zeitloser Moment, da es ständig, fortwährend, beinahe unendlich viele solche Momente gibt. Das Leben besteht ja nur aus solchen Momenten und aus sonst nichts.
Mann, ich glaube, ich habe mich nun ganz schön in einen Wirbel hinein geredet. Aber ich musste euch das sagen, denn ihr seid es ja, die immerzu irgend einen Menschen kennt. Nein, ich will das anders ausdrücken - ihr seid es, die es wagen, zu behaupten, einen Menschen zu kennen.“
Ich muss abermals unterbrechen, um zu schreiben, dass das nun der Moment war, als Mike damit begann ernsthaft zuzuhören. Anfangs konnte er gar nicht glauben, was Kim da von sich gab. Für ihn war das eigentlich nichts anderes als irrsinniger Schwachsinn. Es war eigentlich nur die Art, wie Kim das sagte, wie er ihnen grinsend diese Worte hinwarf und dabei so überzeugend wirkte, dass Mike fest davon überzeugt war, dass genau das stimmt, was Kim eben sagt.
Dazu möchte ich aber sagen, dass Kim diese Worte nicht sagte, um überzeugend zu wirken. Für ihn wurde dieser Monolog nämlich bald zum Selbstgespräch, in dem er sich eigentlich selbst überzeugen wollte. Und je mehr Kim redete, um so mehr fühlte er in sich die Erleuchtung. Ich schrieb, dass er keine körperlichen Bewegungen machte und nur ständig grinste. Dabei erwähnte ich aber nicht seine Augen, die zwar durch die Wirkung des „Rauchs“ ziemlich klein waren, aber der Ausdruck seiner Augen veränderte sich mehr und mehr. Bald glänzten sie so sehr, dass Maria und Mike den Eindruck hatten, sie würden von innen heraus leuchten. Und das taten sie auch.
Nun aber wieder weiter im Monolog.
„Wie wollt ihr das zustande bringen, wenn doch nur diese zeitlosen Momente euch das zu erkennen geben? Zu diesen zeitlosen Momenten gehören auch die Reaktionen, von denen ich eine Marias vor kurzem richtig deuten konnte. Warum konnte ich das? Oh, ich sehe, ihr denkt an einen sechsten Sinn, den ich eurer Meinung nach habe. Nein, diesen Sinn, glaube ich, gibt es nicht. Ich will auch nicht sagen, dass ich so klug bin, weil mir Dinge dieser Art möglich sind. Immerhin gebe ich offen zu, dass ich eure Gedanken lesen kann. Eigentlich sehe ich keine Gedanken. Es sind eher Bilder, die ihr mir freiwillig preisgebt. Würde ich Gedanken sehen, würde ich Worte sehen. Aber ich sehe keine Worte - ich sehe Bilder. Auf diese Art lernte ich sprechen. Ihr wisst ja, dass ich ziemlich verwahrlost auf einem Dachboden aufgewachsen bin. Man hat mich nur beachtet, wenn man seine Aggressionen an mir auslassen wollte. Meine Zieheltern haben mir kein einziges Wort beigebracht. Aber ich sah die Bilder und lernte auf diese Art die Sprache. Ich kombinierte und versuchte genau aufzupassen, was sie gerade sagen und wie es zu dem jeweiligen Bild passt. Ich kann das nicht gut erklären, weil da ja noch mehr im Spiel war - also nicht nur das Kombinieren, sondern viel mehr Gefühle. Mir wurde nie gesagt, dass etwas so und so ist. Ich lernte alleine und sagte mir selbst, dass etwas so und so ist. Euch hingegen wurde alles erklärt. Ich will jetzt nicht sagen, dass ihr deswegen nicht fähig seid, Gedanken zu lesen. Ich möchte euch nur klar legen, warum ich eurer Meinung nach so ganz anders bin als alle anderen. Ich bin ja nicht anders, ich bin nur anders aufgewachsen als ihr. Bei mir waren andere Momente ausschlaggebend als bei euch. Ja, genau darauf wollte ich hinaus, als ich sagte, dass alles - dass wir alle bloß eine Idee sind und nur die Momente, diese zeitlosen Momente zählen.
Ich sehe euch in die Augen, Leute - und ich sehe in euren Augen - in deinen, Maria, wie auch in deinen, Mike, die selbe Frage. Worauf will er eigentlich hinaus? Okay, ich will versuchen auf diesen versteckten Punkt zu kommen. Es geht ja darum, ob wir wirklich behaupten können, dass wir einen Menschen kennen. Und darüber hinaus geht es auch darum, ob jemand das Recht hat, einem anderen zu sagen, dass er sich ändern soll.
Nein, mein Mädchen, es geht nicht alleine um dich - ich meine das auch ganz allgemein. Ich will jetzt auch nicht sagen, dass mich das nicht getroffen hat. Es hat mich sogar getroffen, weil du das gesagt hast. Ich will ja ehrlich sein, denn die Guten sind immer ehrlich. Dostojewskijs Idiot war ja auch immer so ehrlich. Aber verstanden hat ihn keiner in dem Buch.
Scheiße, ich komme einfach nicht zum Punkt. Ich möchte so gerne darüber reden, wie ihr mich zu kennen glaubt. Das ist es ja, worauf ich wirklich hinaus will. Ihr behauptet, dass ich gut und auch klug, also gebildet bin, obwohl ich bloß die Grundschule und sonst keine Ausbildung hinter mir habe. Außerdem war ich mehrmals im Irrenhaus, was auch ganz groß in euren Hintergedanken steckt. Ganz schlimm ist für euch mein letzter Irrenhausaufenthalt, wo ich von selbst gegangen bin und ein Attest mitbekam, in dem steht, dass ich nicht ganz gesund bin. Was bedeutet nun dieses - nicht ganz gesund - für euch? Wäre ich in einem sogenannten normalen Krankenhaus gewesen und hätte man mir dort ein Attest mit der Aussage - nicht ganz gesund - mitgegeben, hättet ihr keine Hintergedanken. Da ich aber in einem Irrenhaus war, lese ich bei euch einige Zweifel. Ja, ich sehe große, schwarze Fragezeichen über eure Köpfe. Sozusagen würdet ihr mich als gut und klug bezeichnen, obwohl... .
Ich lass dieses - Obwohl - im Raum stehen. Das hat seinen besonderen Grund - und zwar diesen:
Ich bezeichne mich auch als gut und klug - nur mit dem Unterschied, dass es bei mir kein - Obwohl - gibt. Da staunt ihr, was?
Jetzt möchte ich euch aber klarlegen, was gut und klug für mich bedeutet. Anfangs sagte ich, dass ich meine Fans, falls sie in unser Haus kommen, zum Teufel schicken würde. Das war ehrlich. Ja, ich würde es ihnen ins Gesicht sagen. Und wie vorhin gesagt, gehört zum Guten auch die Wahrheit. Wenn ich also gut bin, muss ich auch ehrlich sein - also auch die Wahrheit sagen. Aber ist die Wahrheit denn immer gut? Ist das Gute immer gut?
Seht ihr? Für mich gibt es da keinen Unterschied. Ich bezeichne nichts. Damit meine ich, dass ich in mir drinnen nichts bezeichne. Nach außen hin muss ich aber alles bezeichnen, da ihr mich sonst nicht verstehen würdet. Momente sagen uns noch immer zu wenig, deswegen kann keiner von uns behaupten, irgend etwas, oder irgend jemanden zu kenne. Wir kennen nichts - wir kennen höchstens undefinierbare Ideen.
Der Grund, warum Maria will, dass ich mich ändere, ist schnell erklärt. Wenn du, Mike, nun zu mir sagst, ich soll mich auf der Stelle vor dir niederknien - ich würde es tun. Warum? Nun, ich habe mich von Anfang an auf die Seite der Erniedrigten geschlagen. Wenn ihr schon dieses Schubladenspiel spielen wollt: - Es gibt Menschen, die erniedrigen, und es gibt Menschen die erniedrigt werden. Ich gehöre zu der zweiten Gattung, weil ich von Macht ausüben nichts halte. Es bedeutet mir nichts, einem Menschen zu sagen, was er zu tun hat. Egal, wie ihr das nun auslegt - egal in welcher Situation - es bedeutet mir nichts.
Okay, Mike - ich weiß, was du nun sagen willst. Du willst sagen, dass du keineswegs immer zu den Menschen gehörst, die erniedrigen. Das ist sicher richtig, denn auch du bist sicher schon mehrmals erniedrigt geworden. Und ich kann auch von mir nicht behaupten, dass ich noch nie erniedrigt habe. Wenn, dann geschah es unbewusst, denn ich kann ganz klar und ehrlich sagen, dass ich mich stets zu den Erniedrigten zähle. Der Gute zeichnet sich ja auch durch Demut aus. Oder nicht? Aber ist Demut immer gut? Was tu ich euch damit an, indem ich demütig bin und mich erniedrigen lasse? Immerhin bin ich kräftig genug, um mich gegen euch zu wehren. Aber ich setze meine Körperkräfte nicht ein. Warum nicht? Diesen Punkt kann ich nicht klären, weil es mir selbst nicht bewusst ist, warum mir das unmöglich ist. Wenn ich nun sage, es ist deshalb, weil ich euch nicht weh tun will, wäre das zu billig. Das ist es ja auch nicht. Das heißt jetzt aber nicht, dass ich euch weh tun will, es aber aus einem nicht erkennbaren Grund nicht kann. Es ist weder das eine, noch das andere. Ich zähle mich nun mal zu den Erniedrigten und bleibe dabei, weil es auf keinen Fall zu ändern ist. Und da es nicht zu ändern ist, kann ich mich selbst auch nicht ändern. Ich müsste mehr als dreißig Jahre meines Lebens für null und nichtig erklären, wenn ich mich ändern würde. Nebenbei bemerkt kann ich das Wort - würde - kaum zu meinen ganz eigenen Sprachschatz zählen. Würde, was wäre wenn - all diese Worte sind für mich unsinnig, weil sie nichts aussagen. Für mich zählen Tatsachen, Momente, aus denen klar hervorgeht wie man agiert und reagiert. Agieren und reagieren - das sind die Dinge, woran man erkennen und kennen kann. Aber nicht so wie ihr denkt. Es geht dabei nicht um das was ihr seht und wahrnehmt, denn ihr seht ja den Menschen, der agiert, oder reagiert. Ja, was zum Teufel, soll man sonst sehen oder wahrnehmen? - werdet ihr euch jetzt fragen. Oh, ihr stellt ja wirklich diese Frage.
Den Moment, Leute! Diesen winzigen, unsichtbaren, zeitlosen Moment, der im Grunde genommen mit dem Agierenden oder Reagierenden absolut nichts zu tun hat - nein, nicht absolut, sondern scheinbar. Ja, man könnte sagen, dass dieser Moment etwas aus der Luft gegriffene ist - etwas aus dem Nichts gegriffene ist. Deshalb ist er ja nicht zu erkennen.
Und wieder sehe ich eine Frage in euren glänzenden Augen, vor allem in Mikes glänzenden Augen. Warum erkenne ich diesen Moment? Ich erkenne ihn nicht. Ich nehme ihn nicht einmal wahr. Aber man könnte sagen, dass ich ihn auf eine seltsame Art fühle. Leider kann ich euch dieses Gefühl nicht erklären. Das ist nun mal der Unterschied zwischen Gedanken und Gefühlen. Gedanken kann man mit Worten vollkommen erklären, aber bei Gefühlen wird es immer nur ein Versuch bleiben, sie zu erklären.
All dieser Schwachsinn, über den ich jetzt geredet habe, ist nicht nur von mir. Das sage ich deshalb, weil Mike eben den Gedanken hatte, dass ich ja doch kein Irrer, oder kein Kind bin, sondern Dinge sage, die man eher von einem Philosophen erwartet. Das mit dem Philosophen ist von Mike - nicht von mir. Das sind eben jetzt seine Gedanken gewesen, wirkliche Gedanken, also Worte.
Ich verwende ja auch nur Worte - die selben Worte wie ihr. Mag sein, dass ich sie etwas anders aneinander reihe - trotzdem sind es die selben Worte, die ihr auch kennt und ebenso benutzt. Einige dieser Worte habe ich aus Bücher, da ich schon sehr viel gelesen habe. Darunter waren auch viele Bücher über Philosophen, über zum Teil wahnsinnige Theorien. Ich streite nicht ab, dass ich aus diesen Büchern viel übernommen habe und die Worte aus diesen Büchern nun benutze.
Welche Worte benutzt ihr? Wohl doch auch die, welche euch beigebracht wurden - die man euch gelehrt hat.
Okay, ich sagte, dass ich mir die Sprache selbst beigebracht habe. Wie ich das schaffte, ist vielleicht unerklärbar. Trotzdem behaupte ich weiterhin, dass es dabei sicher nicht um einen sechsten Sinn geht. Vielleicht habe ich zu dem Zeitpunkt irgend etwas in mir mobilisiert, was ihr nie gebraucht habt - was ihr aber durchaus auch in euch habt, denn euch wurde ja alles beigebracht. Den Rest, als ich sprechen konnte, gab man mir ebenso in der Schule zum besten. Alles andere habe ich aus Bücher. Woher sonst? Man braucht ein Gegenüber, um erkennen zu können, um sich bewusst zu sein, dass man existiert.
Oh, ihr hört einen Widerspruch. Das ist schon richtig. Aber mit diesem Widerspruch möchte ich euch doch nur ein weiteres Paradoxon unserer Wahrheit und Wirklichkeit vor Augen halten.
Übrigens - auch das habe ich in einem Buch gelesen, dass alles, beinahe alles paradox ist.
Warum ist das so? Ja, ich bin überzeugt, dass es so ist - ich bin mit diesem Schriftsteller einer Meinung.
Aber woher habe ich das mit dem Moment? Ich kann mich im Augenblick nicht erinnern, dass ich das in irgendeinem Buch gelesen habe. Es könnte aber sein, dass es unbewusst in mir hängen geblieben ist, als ich ein Buch über Zenbuddhismus gelesen habe. Im Zenbuddhismus geht es darum - nun, eigentlich geht es um nichts. Alles wird widerlegt, alles widerspricht sich - aus Gut wird Böse - aus beiden wird eins - und so weiter.
Ja, diese Momente könnten sich aus diesem Grund von meinem Unbewussten gelöst haben.“
In diesem Moment bekam Kims Monolog die Züge eines Selbstgesprächs. Er schloss sogar für kurze Zeit seine Augen und hielt sie dann weiterhin meistens auf das aufgeschlagene Buch gesenkt. Nur mehr ganz selten blickte er auf Maria, oder auf Mike - und wenn, dann nur ganz kurz.
„Ich sagte, dass man nichts wirklich erkennen kann - und im nächsten Moment wage ich zu sagen, dass man sich selbst nur im Gegenüber erkennen kann. Welch großartiger Widerspruch! Es scheint, dass ich in eine Sackgasse geraten bin. Aber warum? Ganz einfach! Weil es nie etwas zu erklären gab. Weil es nie etwas zu erklären gibt. Und es wird auch nie etwas zu erklären geben.
Was sind denn diese Momente, diese teuflisch gut versteckten Momente, die uns und all das was uns umgibt, ausmachen? Sie sind doch ständig da - gleichzeitig und zeitlos. Wir leben mitten in einem unendlichen Energiefeld, in dem die einzige Wirklichkeit Momente sind. Aber sind diese Momente überhaupt Momente? Kann man dieses Phänomen überhaupt mit dem Wort - Moment - definieren?
Wenn gut nicht immer gut ist, was ist es dann? Böse?
Und umgekehrt. Wenn böse nicht immer böse ist, was es ist dann? Gut?
Ist es denn möglich, dass mich Zenbuddhismus so sehr beeinflusst hat? Das ist durchaus möglich, denn nur damit lassen sich alle Paradoxien auf irrsinnige Weise erklären. Zenbuddhismus ist ja das paradoxeste, was es überhaupt gibt. Paradoxes lässt sich nur mit etwas noch paradoxerem besiegen. Soll unsere Weltanschauung denn ein Kampf sein? Soll es deswegen zu einem Kampf kommen, um Klarheit zu erlangen? Klarheit weswegen? Wir sind doch bloß Ideen. Haben Ideen das Recht, sich ihrer selbst klar zu werden? Und was bedeutet dann unser Kampf? Bekämpfen wir wirklich nur das Paradoxe? Woraus besteht es, wenn nicht aus Träumen und Phantasien? Soll denn aus Ideen eine Wirklichkeit hervor gebracht werden? Wer hat uns hervorgebracht?
Oh, ich sprach vorhin von einem unendlichen Energiefeld, in dem die einzige Wahrheit und Wirklichkeit diese Momente sind. Wenn ich schon lauter irrsinnige Dinge sage - bleiben wir dabei. Also könnte man sagen, dass wir scheinbar diese Momente herbei geführt haben - dass diese Momente sozusagen Emanationen von uns sind. Was sind wir - wir - diese Ideen? Wessen Idee sind wir? Die Idee des unendlichen Energiefelds? Sind wir Emanationen dieses Energiefelds?“
Langsam hob Kim seinen Blick und sah Maria mit leuchtenden Augen an. Er wusste sehr wohl, dass das eben ein Selbstgespräch war. Er grinste noch immer selig und wirkte durch dieses Lächeln und durch das Leuchten in seinen Augen beinahe göttlich. Ich spreche jetzt nicht von Kims unbeschreiblicher Schönheit. Selbst wenn er hässlich gewesen wäre, würde er nun mit diesem Lächeln und diesem Leuchten in seinen Augen göttlich wirken.
Kim wirkte nicht wegen der eben gesagten Worte göttlich auf Maria, denn sie verstand ja überhaupt nicht, was er damit eigentlich sagen wollte. Auch Mike verstand kein Wort von dem, obwohl ihn alles derart beeindruckt hatte, dass er jetzt noch immer staunte. Er lag mit seinem nach vorne geneigten Oberkörper beinahe auf dem Tisch, um Kim näher zu sein und hatte seinen Mund noch immer verblüfft offen.
Niemand, nicht einmal Kim selbst, war sich bewusst, was diese letzten Worte bedeuteten. Ja, sogar Kim staunte nach seinem Monolog. Eigentlich war er noch nicht ganz fertig, denn es ging noch immer so viel in seinem Kopf vor, wofür er aber keine Worte fand. Er selbst war mit dem Gesagten, also mit dem Monolog, überhaupt nicht zufrieden, da sich in ihm selbst noch viel mehr abgespielt hatte, als er mit Worten erklären hätte können. Seiner Meinung nach war er überhaupt nicht nur annähernd zum eigentlichen Punkt gekommen. Er sagte dann selbst, dass er den eigentlichen Punkt nur leicht angeschnitten hat, indem er wie nebenbei erwähnt hat, dass die Wahrheit nicht immer gut ist und damit auch das Gute nicht immer gut ist - vorausgesetzt man definiert das Gute mit der Wahrheit.

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Dazu fällt mir eine besonders lustige - scheinbar lustige - Geschichte über Kim ein. Ich kann jetzt nicht genau sagen, wann sie passiert ist, aber ich nehme an, dass es sicher noch in Wien war - also lange bevor er mit Maria zusammen war. Es ist durchaus möglich, dass es damals passierte, als Ian und Robert mit ihm zusammen in eine gemeinsame Wohnung zogen, in der sie auch ein Fernsehgerät besaßen. Kim sah damals gerade eine Werbesendung, in der ein Waschmittel angepriesen wurde, das jeden Fleck, sei es ein Öl-, ein Obst-, oder auch ein Rostfleck, - und zwar eingetrocknete Flecken vollkommen rein waschen kann. Man sah auch das blendend weiße Leibchen, das sogar ins Sonnenlicht gehalten wurde, nachdem es mit diesem sogenannten Wunderwaschmittel von den eingetrockneten Flecken reingewaschen wurde. Kim ließ sich das erst mal durch den Kopf gehen. Man könnte schon sagen, dass er daran zweifelte, denn er wollte ja den Beweis dafür haben. Und wenn man nach einem Beweis verlangt, glaubt man das Gesagte ja auch nicht hundertprozentig. Kim hatte aber überhaupt keine Vorurteile, was heißt, dass er genauso gut an den Erfolg wie auch an den Misserfolg dieses Waschmittels glaubte. Er wusste, dass nun mal eines von beiden zutreffen wird und gab weder dem Erfolg noch dem Misserfolg den Vorteil. Er wollte sich sozusagen wie ein kleines Kind überraschen lassen. Also nahm er ein weißes T-Shirt, beschmierte es an der linken Brustseite mit Obst, an der rechten mit Schmieröl und vorne, an der unteren Seite fügte er auch noch Rostflecken hinzu, die er mit einem Chemiekoffer zustande brachte. Dieses Experiment führte er ganz alleine und heimlich durch, dass seine Wohnungskollegen wirklich nicht wussten, wo derjenige Fleck am T-Shirt war. Dieses Leibchen bewahrte er an einem geheimen Ort ungefähr eine Woche lang auf. Erst dann gab er es mit anderer Schmutzwäsche zusammen in die Waschmaschine und wusch all das mit dem sogenannten Wunderwaschmittel mit 40°, wie es in der Werbung gesagt wurde - denn das war ja das besondere - diese 40°, denn mit 60° oder gar mit Kochwäsche wäre es ja durchaus möglich, dass jedes x-beliebige Waschmittel diese Flecken auswaschen kann.
Nachdem die Wäsche trocken war, öffnete Kim das Fenster, durch das die Sonne schien und hielt das T-Shirt ins Licht. Es war nicht rein. Man konnte noch immer grobe Umrisse des Obstflecks sehen, auch der Ölfleck hob sich ziemlich deutlich hervor, und der Rostfleck war sogar noch dunkler geworden, dass ihn - Kims Meinung nach - sogar ein Blinder sehen könnte. Kim war wütend, sehr wütend sogar. Er rief sofort seine Wohnungskollegen zu sich und zeigte ihnen das T-Shirt, wobei er sie natürlich auch über sein Experiment aufklärte.
„Wisst ihr, was das bedeutet?“ begann er noch immer sehr erregt. „Das bedeutet, dass man uns ganz schön belügt. Die verkünden da ein Wundermittel - sagen, dass man es sofort - am besten gleich gestern kaufen muss, weil es schon mit 40° alles rein wäscht - alle möglichen Flecken - alle eingetrockneten Flecken. Wisst ihr, ich habe eigentlich nicht so sehr daran gezweifelt, weil ich es ausprobiert habe. Ich war sogar nahe dran, es wirklich zu glauben. Aber irgendein Gefühl in mir, das ich mir nicht erklären kann, sagte mir, dass ich das erst einmal testen soll. Glaubt mir, ich hätte mich für alle, für diese Waschmittelfirma wie auch für die Kunden ganz ehrlich gefreut, wenn mein Experiment geklappt hätte. Aber es hat nicht geklappt, wie ihr ja sehen könnt. Und das macht mich jetzt nicht nur traurig, sondern auch sehr, sehr wütend. Warum sagen sie so etwas im Fernsehen, wenn es ja doch nicht stimmt? Warum?“
Seine „Freunde“ sahen ihn zuerst etwas ratlos an, denn sie konnten im ersten Moment nicht ganz begreifen, dass wirklich jemand so einen Versuch unternimmt.
Der Grund warum ich Freunde unter Anführungszeichen schreibe, ist der, weil das für mich keine Freunde waren. Immerhin haben sie Kim misshandelt und missbraucht. Kim nennt sie natürlich seine Freunde, aber darüber will ich jetzt nicht schreiben, denn jetzt geht es erst einmal um diesen Waschmitteltest, den Kims „Freunde“ ganz und gar nicht verstehen konnten.
„Das ist doch nur Werbung, Kim“, sagte einer von den beiden - wahrscheinlich Ian, der Kim ja schon länger kannte und wohl auch das, was wir gewöhnlich Naivität nennen, für die Kim ja ganz berühmt ist.
„Was heißt das - das ist doch nur Werbung? Sind die von der Werbung dazu berechtigt, zu lügen? Erwartet man das etwa von ihnen?“ fragte Kim nun vollkommen ruhig, beinahe wie ein kleines Kind.
„Sie übertreiben einfach, um eine bessere Wirkung zu erzielen. Und das weißt man, Kim. Schau dir doch andere Werbungen an - wie etwa über Schokolade. Da sagen sie dir ja auch, dass nur diese Schokolade am besten schmeckt. Aber jeder normale Mensch weiß, dass Geschmäcker verschieden sind. Dem einen schmeckt das, dem anderen etwas anderes“, sagte Ian und konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen.
„Ich esse aber kein Waschmittel, und in dieser Werbung wurde auch nicht gesagt, dass es von allen am besten schmeckt, sondern dass es die unmöglichsten, eingetrockneten Flecken schon bei 40° vollkommen heraus wäscht“, beharrte Kim auf seinem Standpunkt.
„Ich sagte schon, dass es bloß Werbung ist, Kim. Niemand zwingt dich dazu, dieses Waschmittel zu kaufen. Es zwingt dich auch niemand, diesen Schwachsinn zu glauben“, sagte Ian diesmal ziemlich ungeduldig.
Der andere „Freund“, nämlich Robert, lachte plötzlich laut auf und verließ mit folgender Bemerkung Kims Zimmer: „Ich wusste schon, dass er ein seltsamer und auch ein sehr ungewöhnlicher Junge ist, aber dass er irre ist und zwar wirklich irre, das weiß ich jetzt.“
Kim überging diese Bemerkung keinesfalls. Er fasste sie aber nicht als Beleidigung auf. Er fasste sie eher als Beleidigung für Robert selbst auf - also, dass sich Robert damit selbst beleidigt hat.
Kim hatte bereits alles begriffen, dass es nun mal so war und ist, dass sich die Menschen vollkommen von der Werbung anlügen lassen. Und das war der Punkt. Robert bezeichnete einen Menschen für irre, der die Wahrheit überprüfen wollte. Ja, in was für einer Welt leben wir denn wirklich? - fragte sich Kim in diesem Moment. Wohin soll das alles noch führen, wenn wir uns bewusst belügen lassen und das womöglich auch noch gut finden? Bei so arglosen Werbungen lassen wir es lachend zu, wie die Lüge zu einer Art Kunst wird. Wie ist das erst bei ernsthafteren Dingen, die wir eigentlich kaum überblicken können? Was bedeutet den Menschen dann noch die Wahrheit?
Für Kim brach bei diesen Gedanken, die ihm nach Roberts Bemerkung durch den Kopf gingen, beinahe die Welt zusammen. Wie konnte Robert einen Wahrheitssuchenden für irre erklären? Nein - wie gesagt, es ging Kim nicht um sich selbst, sondern einzig und alleine um die Wahrheit. Nach seinen Gedanken, oder besser gesagt, nach seinen Gefühlen zu urteilen, hatte Robert nicht ihn (Kim), sondern die Wahrheit für irre erklärt.
Jetzt stand er noch immer mit dem T-Shirt in seinen gesenkten Händen, mit dem Rücken zum offenen Fenster, vor Ian und sah ihn hilflos an.
„Ist es wirklich ein Problem für dich, dass dein - in der Werbung angepriesenes Waschmittel - die Flecken nicht bei 40° reingewaschen hat?“ fragte Ian und schüttelte seinen Kopf über Kim.
„Es ist ein Problem für die gesamte Menschheit, würde ich sagen - zumindest für die Menschheit, die diese Werbung achselzuckend in sich hinein ziehen. Was denken sie sich dabei? Wie ist es überhaupt dazu gekommen, dass es üblich ist, in der Werbung zu lügen? Ich meine, die in der Werbung halten uns alle doch für blöd, weil sie uns diese Lügen aufbinden. Man müsste nach eurer Reaktion doch annehmen, dass ihr wisst, dass es eine Lüge ist - und trotzdem belügen sie euch weiterhin. Das ist doch paradox. Sag es mir klipp und klar, Ian - sag mir, ob du gewusst hast, dass es eine Lüge ist?“
„Ich habe mir darüber, ganz ehrlich gesagt, keine Gedanken gemacht. Wenn ich jetzt so darüber nachdenke, könnte es doch sein, dass unsere Waschmaschine schuld daran ist, dass dieses Waschmittel nicht bestanden hat.“
„Nein, Ian! In der Werbung heißt es: Von folgenden Waschmaschinenfirmen empfohlen. Und darunter ist auch unsere Waschmaschine.“
„Vielleicht hast du nicht die richtige Menge genommen?“
„Auch das nicht, Ian! Ich habe es genauso gemacht, wie in der Werbung und auch am Paket habe ich noch mal nachgelesen.“
„Mein Gott, Kim! Ist das nicht egal? Was willst du denn jetzt tun? Etwa die von der Werbung klagen? Willst du vor Gericht gehen?“ schrie Ian fast.
„Du verstehst nicht, Ian“, sagte Kim vollkommen ruhig. „Es geht mir sicher nicht um das Bestrafen dieser Firma. Es geht um die Wahrheit. Immerhin ist das Fernsehen zur Zeit das größte Medium für die Menschen. Und wenn wir uns vom größten Medium so leichtfertig betrügen lassen - nun, das gibt mir auf jeden Fall zu denken. In diesem Fall bin ich jetzt ziemlich misstrauisch, was mir von diesem Medium in Zukunft gesagt wird.“
„Warum denn? Für die meisten Menschen zählt Werbung überhaupt nicht. Werbung ist, meiner Meinung nach, dazu da, um den Menschen zu sagen, was alles auf dem Markt ist. Und es müsste auch klar sein, dass jede Firma ihren Artikel als den allerbesten anpreist. So ist das Ganze - so und nicht anders. Sozusagen weiß jeder normale Mensch, dass diese Firmen übertreiben, denn in diesem Fall ist jeder Markenartikel der beste - egal, worum es geht. Hast du das noch nicht mitbekommen, Kim? Jedes Waschmittel ist das beste, und ich wette, jedes wäscht in der Werbung jeden Fleck bei 40° heraus. Es ist auch jede Schokolade die beste. Und so geht das weiter bis zu allen möglichen Markenartikeln. Willst du also jede dieser Firmen klagen?
Weißt du, Kim, ich habe noch keine Werbung gesehen, wo einem gesagt wurde, dass man den eigenen Artikel nicht kaufen soll, weil er schlecht ist. Werbung macht man, um besser verkaufen zu können. Hast du das jetzt verstanden?“
Kim hatte Ian interessiert zugehört und ab und zu auch zustimmend mit dem Kopf genickt.
„Durchaus, Ian - ja, ich habe das durchaus verstanden“, sagte er aufrichtig. „Das ist mir vollkommen klar, sonst würden diese Firmen auch so etwas wie Werbung nicht brauchen.
Okay, Ian - vielleicht geht es mir gar nicht mehr so sehr um die Werbung. Die Werbung ist eigentlich nur der Auslöser, und zwar der Auslöser leichtgläubige Menschen zu schaffen. Kannst du denn ermessen, was sie uns nach der Werbung noch alles einreden wollen? Zuerst geben sie dir diese leichte Kost der Werbung, von der du ohnehin weißt, dass das alles nicht so sehr stimmt. Du denkst gar nicht darüber nach. Du verlernst sogar das selbständige Denken, und bald frisst du alles in dich hinein, was man dir sagt. Du lässt dir von diesem großen Medium, genannt TV, in den Kopf scheißen. Du lässt dich sozusagen programmieren, ohne, dass es dir wirklich bewusst ist.“
Ian schüttelte lachend seinen Kopf.
„Was willst du eigentlich, Kim? Willst du dich nun heraus reden, weil du selbst erkannt hast, wie naiv du warst, weil du diese Werbung geglaubt hast?“
„Okay, ich gebe zu, ich war so naiv und habe es glauben wollen. Aber liegt das nicht klar auf der Hand? Wann hatte ich denn wirklich Gelegenheit, um fernzusehen? Meine Zieheltern ließen mich nie ins Wohnzimmer, wenn sie gemeinsam fernsahen. Klar, ab und zu konnte ich mich anschleichen und von der Tür aus auf den Fernseher schauen. Aber da sah ich nur Musiksendungen, weil meine Zieheltern kulturell sehr interessiert waren. Ich habe erst in der Herberge Gelegenheit gehabt, fernzusehen. Und da habe ich nie eine Werbung gesehen. Ob du es glaubst, oder nicht, ich wurde erst jetzt so richtig mit Werbung konfrontiert.
Ja, ich habe es glauben wollen, Ian. Wollen! Lach mich ruhig aus - das macht mir nichts. Nein, wirklich nicht. Du kannst dein Leben lang über mich lachen, wenn es dich glücklich macht – nur, bitte, lass dir nicht das Hirn vollscheißen. Verlerne, bitte, nicht das Denken. Eigentlich wollte ich eher sagen - verlerne nicht dein ureigenes Fühlen, womit nur du selbst für dich die Wahrheit finden kannst. Nur darum geht es mir jetzt. Das habe ich durch mein naives Experiment erkannt. Nur das, Ian!“
Kim seufzte tief nach seiner Rede, drehte sich zum Fenster und machte es zu. Dann ging er an Ian, der staunend mit offenem Mund dastand, vorbei, in die Küche und warf sein T-Shirt in den Abfalleimer.
Damit war die Geschichte beendet. Es wurde auch nie wieder darüber gesprochen, obwohl auch Robert Kims Rede vom Gemeinschaftszimmer aus gehört hat, da ja die Tür zu Kims Zimmer offen stand. Und auch er (Robert) staunte über diese Worte. Aber keiner von beiden, weder Ian noch Robert, auch wenn sie staunten, haben Kims Worte verstanden. Sie staunten auch nicht deswegen, weil Kims Worte der Wahrheit entsprechen könnten - nein, sie staunten, weil Roberts Worte gar nicht so abwegig waren und Kim wirklich irre sein muss. Nur ein Irrer kann so etwas von sich geben, was ja absolut keinen Sinn ergibt.
Aber genau diese eben erwähnte Geschichte ließ Kim noch vorsichtiger werden, wenn ihm einmal etwas gesagt wurde. Er nahm nie mehr etwas für bare Münze, was er ja auch vor dieser Geschichte auch nie getan hat, aber nun machte er es noch prüfender.
Es ist wirklich schwer zu sagen, warum er das tat und wahrscheinlich noch immer tut. Es ist ja wirklich nicht einfach, diese so tiefe, beinahe unergründliche Seele zu verstehen. Zuerst kommt seine Naivität der Dummheit gleich, aber dann zieht er plötzlich eigene Schlüsse und erkennt die wirkliche Gefahr der Medien und das auf Grund einer banalen Werbung.
Ja, es ist auch meine Meinung, dass diese Medien sehr gefährlich sind. Ich schlage mich ohnehin auf Kims Seite, obwohl ich diesmal eher objektiv bleiben wollte. Aber diese Naivität, die plötzlich beinahe in Genialität umschlägt, zieht einfach an. Nun, vielleicht ist Genialität übertrieben - vielleicht mache ich nun den selben Fehler wie die Leute in der Werbung, indem ich meinen „Helden“ mit Genialität anpreise. Nein, das liegt mir fern, denn ich will Kim selbst reden und auch selbst denken, oder fühlen lassen, da wohl jede Beschreibung dieser blinden Seele fehlschlagen muss.

Das Durchbrechen der Eierschale

Und nun komme ich zu einem Gespräch zwischen Kim und Maria, das lange nach ihrem Loslösen - man könnte fast sagen, das kurz vor ihrem Abschied von der Erde stattgefunden hat.
Die beiden befanden sich damals in ihrem Schlafzimmer, dem einzigen Raum, wo sie wirklich ungestört sein konnten. Immerhin lebten ihre beiden Töchter mit ihren Männern und Kindern im selben Haus und da war immer Hochbetrieb und kaum Ruhe. Also, wie gesagt, die beiden machten es sich in ihrem Schlafzimmer, auf dem Bett, das mit einer wunderschön gestickten Überdecke geschützt war, angekleidet, bequem.
„Weißt du, Kim“, begann Maria das Gespräch. „So ganz kann ich unser Loslösen noch immer nicht verstehen. Für mich ist es viel mehr, als das, was du das letzte Mal gesagt hast - dass dieses Loslösen alle Menschen betrifft, weil ja alle sterben müssen und es da kaum einen Unterschied zwischen ihnen und uns gibt, denn auch wir gehen für immer von der Erde fort. Nur kann ich dieses - viel mehr - nicht begreifen. Aber ich fühle es, Kim. Ich fühle, dass unser Loslösen viel mehr bedeutet als nur das, was du gesagt hast. Also, was ist es?“
Kim hockte, wie meistens, im Türkensitz auf der Überdecke des Bettes und lächelte sehr geheimnisvoll. Er kratzte sich am Kinn und schien zu überlegen, wie er dieses Phänomen Maria erklären kann. Es war nicht so einfach für ihn seine Gefühle in Worte umzuwandeln. Das war es ja nie.
Maria lag fast neben ihm, stützte sich mit einem Arm seitlich ab und hatte die andere Hand auf Kims Schenkel gelegt, der direkt vor ihr im Türkensitz hockte. Sie drückte mit ihrer Hand seinen Schenkel etwas fester, womit sie auszudrücken versuchte, dass Kim etwas schneller antworten sollte.
„Das ist nicht so einfach, mein Mädchen. Ich überlege gerade, wie ich dir das sagen kann. Klar bedeutet dieses Loslösen für uns viel mehr, als für einen Durchschnittsmenschen. Man kann es eigentlich gar nicht damit vergleichen.“
„Warum hast du mir das nie gesagt, Kim?“ fragte Maria beinahe empört und Kim lachte hell auf.
„Wie soll ich dir etwas erklären, was du selbst tust? Immerhin hast du ja erkannt, dass es viel mehr ist. Man kann es eigentlich nicht mit Worten ausdrücken - zumindest nicht nur mit Worten, denn dahinter steckt viel mehr, als ein Mensch begreifen kann. Und wir sind ja keine eigentlichen Menschen mehr.“
„Glaube mir, Kim - ich habe nichts erkannt. Ich fühle es nur irgendwie, aber mehr nicht. Ich weiß eigentlich gar nicht, was ich wirklich getan habe.“
„Das kommt schon noch, mein Mädchen. Diese Schritte gehen eigentlich sehr langsam und vor allem unbewusst vor sich. Klar, in dem Moment, wo du sie machst, bist du dir dessen sicher bewusst, aber irgendwann später vergisst du sie. Und das ist deshalb, weil du in dem Moment, wo du diese Schritte gemacht hast, dich in einem höheren Bewusstseinsstadium befindest. Sobald du wieder zum sogenannten normalem Bewusstsein zurückkehrst, hast du alles vergessen. Nun, vergessen kann man das nicht nennen, denn du fühlst ja noch etwas. Aber dieses Fühlen lässt sich mit dem sogenannten normalen Bewusstsein nicht erklären. Verstehst du das bis dahin?“
„Ja, obwohl ich es nicht direkt verstehen nennen kann. Aber sag mir endlich, was ich mit diesen Schritten vollzogen habe?“ fragte Maria ungeduldig.
„Das ist es ja, mein Mädchen. Das ist nun mal unheimlich schwer zu erklären, denn das, was vollzogen wurde, fand eigentlich nicht in dieser Dimension – nicht in dieser Wirklichkeit statt.
Erinnerst du dich noch an das Gespräch von damals, als ich über die Momente sprach?“
„Natürlich, Kim. Ich werde nie ein Wort von dir vergessen“, sagte Maria einschmeichelnd und warf ihrem Liebling als Draufgabe noch einen ziemlich herzlichen Blick zu, den Kim aber überging.
Er mühte sich nämlich bereits mit den Gedanken ab, wie er das Loslösen am besten erklären kann.
„Ich sprach damals auch davon, dass sich dieses Momente nicht in unserer Wirklichkeit befinden, sondern an einem Ort, der für Menschen gar nicht vorhanden zu sein scheint. Es ist also ein Ort, den man nicht erklären kann, weil er gewissermaßen überhaupt nicht existiert - zumindest für Menschen scheint er nicht zu existieren, weil sie ihn weder anfassen, noch sehen können. Nur sehr, sehr wenige können diesen Ort fühlen und wenn, dann bloß für Bruchteile einer Sekunde.“
„Und was hat das mit unserem Loslösen zu tun?“ fragte Maria wieder sehr ungeduldig. „Willst du damit sagen, dass unser Loslösen an diesem Ort stattgefunden hat?“
„Nein, das nicht“, meinte Kim milde lächelnd, wurde aber sofort wieder nachdenklich und ernst. „Nein, mein Mädchen - das Loslösen begann in der sogenannten normalen Wirklichkeit. Wir mussten uns ja von dieser sogenannten normalen Wirklichkeit loslösen. Aber was bedeutet diese sogenannte normale Wirklichkeit? Sie ist nicht das, was du von diesem Fenster aus da draußen siehst. Davon mussten wir uns nicht loslösen, obwohl wir jetzt auch diese Wirklichkeit mit anderen Augen sehen. Viel wichtiger war das Loslösen von unserem sogenannten Innerem, was für mich nichts anderes als verschwörerische und irreführende Energien waren.“
„Energien?!“ stieß Maria verblüfft hervor.
„Ja, du meinst jetzt sicher, dass du von diesen Energien nie etwas gespürt hast. Aber wie bereits gesagt - das ist klar, denn du warst nur zu dieser Zeit in einem höher gesteigerten Bewusstseinszustand, als du diese Energien abgewehrt und dich von ihnen für immer befreit hast. Jetzt brauchst du diesen Bewusstseinszustand nicht, denn es gibt hier für dich nichts mehr zum Abwehren, oder zum Befreien. Und da du bereits in diesem Zustand warst, ist es ganz leicht für dich, wieder dorthin zurück zu kommen, wenn es nötig ist.“
„Und wann ist es nötig?“
Kim grinste und rieb sich sein linkes Auge.
„Weißt du nicht, wann du das erste Mal in diesem Zustand warst?“
Maria schüttelte stumm ihren Kopf.
„Es war, als du das erste Mal mit mir ins Reich des Bösen gegangen bist. Was meinst du, wie dir diese Reise sonst möglich gewesen wäre? Das Reich des Bösen ist nicht so ein Ort wie etwa München, oder eine andere Stadt, eine andere Landschaft auf unserer Erdoberfläche. Es ist sogar etwas ganz anderes als eine Dimension, denn das Reich des Bösen ist überall im Universum. Also, wie hätten wir es schaffen können, in diesen Reich real einzudringen, ohne uns in einen höheren Bewusstseinszustand zu versetzen?“
„Oh, mein Gott!“ stieß Maria hervor.
„Was hast du denn, mein Mädchen? Sag bloß, das war dir nie bewusst?“
„Nein, war es nicht, Kim. Natürlich wusste ich, dass man das Reich des Bösen nicht mit irgendeiner Landschaft unserer Erde vergleichen kann. Ich wusste schon, dass es nur eine Art Dimension, oder gar etwas Imaginäres ist, aber dass es mit dem Bewusstseinszustand zusammenhängt - nein, das habe ich nie so empfunden. Warum kann ich mich dann an die Kämpfe so gut erinnern? Und warum kann ich mich an das Loslösen nicht erinnern?“
„Weil das zwei verschiedene Bewusstseinszustände waren, mein Mädchen. Trotzdem muss ich sagen, dass es für dich eine geniale Leistung war, weil du dich an die Kämpfe im Reich des Bösen erinnern kannst. Es würde kaum einem Menschen gelingen - aber du bist ja auch kein Mensch mehr, sondern viel mehr ein Leuchtendes Wesen und befindest dich zudem auch jetzt in einem höheren Bewusstseinszustand als Durchschnittsmenschen.“
„Klar, sonst würde ich sicher verrückt werden.“
Kim lachte wieder hell auf.
„Mag sein, dass du das werden könntest.“
„Was ist nun mit diesen Energien, von denen ich mich befreit habe, Kim? Was bedeuten sie?“ fragte Maria, weil Kim schwieg.
„Ich überlege noch immer, wie ich dir das am besten begreiflich machen kann. Ja, okay - so könnte es gehen. Du weißt ja, dass Gedanken mehr Kraft haben, als Menschen ahnen können. Ihre Gedanken, sogar ihre Weltvorstellung und Weltanschauung manifestiert sich in anderen Menschen und das von Geburt an. Sie müssen dem Kleinkind eigentlich gar nicht sagen, dass das so und so ist, weil ihre Gedanken bereits ein Teil dieses Kindes sind. Du kannst es mit erblichen Genen vergleichen. Nicht nur der Körper, also nicht nur Teile der Materie sind vererbbar, sondern auch Teile des Geistes. Menschen lassen sich stets von irgend etwas oder irgend jemanden beeinflussen, ohne es bewusst zu merken. Sie gehen nun mal nicht weiter hinaus und sagen sich, dass sie von nichts etwas erkennen können. Sie brauchen ständig ein Gegenüber, von dem sie Erfahrungen sammeln können - egal welcher Art. Nur selten glauben Menschen mit ihrer ganzen Überzeugung an Dinge, die sie noch nie gesehen und berührt haben. Aber doch haben sie von diesen Dingen gehört. Also kam es nicht aus ihrem eigenen Geist, sondern aus Erfahrungen, von irgendeinem Gegenüber. Das ist nun mal, grob ausgedrückt, das sogenannte menschliche Bewusstsein. Irgendwie ist es ja schon sehr viel, dass sie kombinieren, vergleichen und manchmal sogar über Grundgedanken, die sie mal wo gehört, oder gelesen haben, ein bisschen hinaus gehen können. Aber für das wirkliche Loslösen ist es viel zu wenig.
Es ist auch so, dass sich in der Geschichte der Menschheit ständig etwas wiederholt, wenn man zum Beispiel die Modetrends ansieht. Damit meine ich jetzt nicht nur die Kleidung, sondern viel mehr die Weltanschauung, die sich ja auch ständig wiederholt. Den Menschen ging es im vorigen Jahrhundert auch ziemlich gut und trotzdem waren sie nicht zufrieden, zumindest materiell waren sie zufrieden, aber nicht geistig. Zu dieser Zeit begann der Boom mit Wahrsagern und solchen Unsinn. Nun, und im nächsten Jahrhundert, wo es den Menschen materiell wieder sehr gut ging, kam der sogenannte Esoterikboom, was nichts anderes war, als damals, nur wurde es eben anders genannt. Und es war auch so, dass dieser Boom nicht nur einen, oder wenige Menschen gleichzeitig mitriss, sondern sehr viele. Und das war eben durch die Gedanken, die nichts anderes als Energien sind. Egal, welche Wirklichkeit zur Zeit in ist, sie wird nur durch allgemeine Gedanken ausgelöst. Und warum ist das so? Ich glaube, die Menschen werden immerzu von irgend etwas beeinflusst, und sie suchen immer nach mehr, wenn sie von einem genug haben. Das heißt, wenn sie jetzt genug materiellen Reichtum haben, sind sie ja doch nicht zufrieden, weil sie dadurch den Geist vernachlässigen. Kurz vor dem Jahr 2000 lieferten sich die Menschen allgemein einem unheimlichen Stress aus, sie wollten mehr und mehr Reichtum, aber diese Eintönigkeit stumpfte bald ab und man suchte nach geistiger Erlösung. Aber auch dieser geistige Erlösung führte eigentlich zu nichts, denn die Menschen konnten ja doch nicht vor ihrer allgemeinen Wirklichkeit, wie sie diese auch immer sahen, fliehen. Sie waren noch immer in ihrer Eierschale gefangen. Und sie blieben das auch - bis heute, weil sie noch immer diese Gedanken, diese Energien in sich aufnehmen, welche diese Eierschale nur härten, um ja nicht zu entkommen. Die Oberen tragen natürlich auch einen Großteil dazu bei, um die Menschheit in dieser Eierschale gefangen zu halten. Das heißt, die manipulieren die Menschheit ziemlich genial, denn die Menschheit nimmt diese Manipulation gar nicht bewusst wahr. Viele glauben sogar, von selbst auf dieses, oder jenes Phänomen draufgekommen zu sein, obwohl es ihnen still und heimlich in Form einer sehr starken Energie suggeriert wurde.
Wie du weißt, gab es nach meinem angeblichen Tod, in dieser Dimension der Erde, beinahe das Paradies. Die Menschen priesen den Frieden und die Freiheit, gingen Hand in Hand auf die Straße und so weiter. Das war auch so eine Energie, die eigentlich zu gar nichts führt, weil sie ja aus einer Wirklichkeit hervor gekommen ist, die nur eine kleine Schublade der sogenannten üblichen Wirklichkeit ist.“
„Was sind die wahren Energien, Kim?“ unterbrach Maria.
„Alles sind wahre Energien, mein Mädchen. Jede Energie verändert etwas, wenn sie mit einer anderen Energie zusammen kommt.“
„Sagtest du nicht, dass das Leben reine Energie ist? Sogesehen müsste doch das die wahre Energie sein.“
„Natürlich ist das Leben reine Energie. Woher sollen die Energien sonst hervorgehen, wenn nicht aus dem Leben?“
„Und das ist schlecht?“
„Ich sagte nie etwas von schlecht, mein Mädchen. Ich sagte nie, dass es schlecht ist, die Eierschale nicht durch zu durchbrechen. Du weißt, dass ich immer gesagt habe, ich werde die Menschen nie beeinflussen, weil ich das meiner Meinung nach auch nicht kann, denn sie werden immer in irgendeiner Wirklichkeit, also in irgendeiner Schublade dieser sogenannten Wirklichkeit hängen bleiben und damit absolut nichts erreichen. Selbst, wenn sie Hand in Hand auf den Straßen gehen und für Friede und Freiheit einstehen, verändert das nichts an der Wirklichkeit, die sie kannten und kennen. Ich wage sogar zu sagen, dass selbst Yogis nichts erreichen, auch wenn sie behaupten, das Nirvana gesehen zu haben, denn das alles gehört noch immer in diese Wirklichkeit, das alles lässt sich erklären und erkennen.“
„Sozusagen ist alles, was es auf dieser Welt gibt, egal, ob materiell oder geistig nur eine Wirklichkeit?“
„Was denn sonst?“
„Sagtest du nicht, dass es viele Wirklichkeiten gibt?“
„Das sagte ich, mein Mädchen. Und jetzt widerlege ich das und sage, dass diese vielen Wirklichkeiten bloß Schubladen der einen, sogenannten Wirklichkeit sind, wie Menschen und auch andere Lebewesen sie kennen. Und mit anderen Lebewesen meine ich nicht nur Tiere, Pflanzen, oder Minerale, sondern auch Lebewesen in anderen Dimensionen und auf anderen Planeten.“
„Aber braucht man kein höheres Bewusstsein, um diese anderen Lebewesen in anderen Dimension und auf anderen Planeten zu verstehen?“
„Nein, kein höheres, mein Mädchen. Man erweitert vielleicht die Kenntnis der sogenannten Wirklichkeit, weil man ja weitere Dinge dazu lernt, neue Welten sieht und so weiter. Aber damit spielt sich im Herzen selbst nichts ab. Und wie ich schon damals sagte, befinden sich die Herzen ebenso an diesem Ort, den es nach menschlichem Ermessen gar nicht zu geben scheint. An diesem Ort, mein Mädchen, ist die Leere, wobei auch das schon falsch ausgedrückt ist, denn diesen Ort kann man nicht benennen. Er liegt fern jeder Beeinflussung, jeder Erkenntnis - er ist eigentlich ein Ort vollkommener Stille, ohne Ereignis.“
„Das ist ja wie tot sein, Kim“, stieß Maria beinahe erschrocken hervor.
„Der Tod findet noch immer in der sogenannten Wirklichkeit statt, mein Mädchen. Außerdem bedeutet der Tod sicher nicht vollkommene Stille, und außerdem ist er ein Ereignis. Ich sagte ja, dieser Ort ist ohne Ereignis. Er ist mit einem Wort - unvorstellbar und unerklärbar. Er ist nun mal der Ort, wo es keine Energien mehr gibt, die dich beeinflussen. Er ist der Ort, der dich unsterblich macht. Aber alle meine Erklärungen bedeuten nichts, denn sie erklären nicht den eigentlichen Ort, der sich ja nicht erklären lässt. Ich kann dir nur eines sagen - dieser Ort ist die höchste Wirklichkeit und die höchste Wahrheit. Die Wirklichkeit, welche ich nun immer die sogenannte Wirklichkeit genannt habe, ist dagegen nichts als Phantasie und Traum.“
„Sagtest du nicht, es ist gut, wenn man an seine Phantasien und Träume glaubt? Was ist denn plötzlich los, Kim? Du widerlegst ja alles“, rief Maria empört aus.
„Ich versuche dir nur diesen Ort ein wenig begreiflich zu machen.“
„Widerlegt dieser Ort alles?“
„So könnte man es sagen, obwohl es dort nichts zu widerlegen gibt.“
„Kennst du diesen Ort wirklich, Kim?“
„Wir beide kennen ihn, mein Mädchen.“
„Ich kenne ihn nicht, Kim.“
„Doch, mein Mädchen. Du wirst es nicht glauben, aber du kennst ihn genauso gut wie ich.“
„Und warum kann ich ihn nicht so erklären wie du? Warum wusste ich nichts von diesen Energien, von der sogenannten Wirklichkeit, die bloß in Schubladen eingeteilt ist?“
„Du weißt es, mein Mädchen. Und das mit dem Erklären - nun, ich würde sagen, dass ich es genauso wenig kann wie du. Oder kannst du dir diesen Ort jetzt wahrhaft vorstellen?“
„Nein, Kim. Vielleicht ist mir das nicht möglich, weil es diesen Ort ja wahrhaft gar nicht gibt.“
„Das hast du gut gesagt. Ich glaube, damit hast du diesen Ort besser erklärt als ich.“
„Und trotzdem ist er der Ort der höchsten Wirklichkeit und Wahrheit? Das ist ja wieder ein Widerspruch, Kim.“
„Was immer es auch ist, mein Mädchen - auf jeden Fall haben wir uns von all den Einflüssen dieser sogenannten Wirklichkeit losgelöst. Die Energien des menschlichen Bewusstseins prallen einfach von uns ab und können uns nichts mehr anhaben. Wir werden keinen neuen Boom mehr verfallen sein und ihn auch nicht mehr erkennen. Was wir erkennen, ist die Umwelt, wie wir sie nun mal wahrnehmen. Und ich sagte ja bereits, auch das erkennen wir mit anderen Augen, als sogenannte Durchschnittsmenschen.“
„Wie anders, Kim? Wie anders erkennen wir unsere Umwelt als sogenannte Durchschnittsmenschen?“
„Weißt du nicht, wie du einen Baum, oder auch eine winzige Pflanze erkennst?“
„Ich sehe sie als Teil von mir und somit als Teil vom Ganzen.“
„Und was ist das Ganze, mein Mädchen?“
„Das gesamte Universum. Aber wenn das so ist, sind wir sicher nicht die einzigen, denn es gibt genug Menschen, die das auch so sehen. Immerhin gibt es viele Bücher und Religionen, die alles als das Ganze betrachten - sie miteingeschlossen.“
„Ich sprach vom sogenannten Durchschnittsmenschen, der sich sicher keine Gedanken darüber macht, ob er nun ein Teil vom Ganzen ist, oder nicht. Derjenige, der über dem Durchschnittsmenschen steht - ich muss das so ausdrücken, obwohl ich diese Ausdrücke überhaupt nicht mag - wird sich wahrscheinlich Gedanken darüber machen und sich auch damit befassen, aber ob er auch überzeugt davon ist, dass das so ist, ist eine andere Frage. Und dann gibt es noch einige wenige, die über demjenigen stehen, der über dem Durchschnittsmenschen steht, der auch davon überzeugt ist, dass er ein Teil des Ganzes ist, dass alles, was ihm umgibt, ein Teil des Ganzen ist. Und doch ist das alles wiederum nichts anderes als ein Teil der sogenannten Wirklichkeit.
Der Unterschied zwischen diesen Menschen und uns ist, dass wir es erkennen und erst gar nicht glauben müssen. Wir brauchen keine Überzeugung, denn wir erkennen ja das Ganze und wissen, dass wir nichts verlieren, weil wir nichts besitzen. Wir willst du als Teil von einem Ganzen andere Teile dieses Ganzen besitzen? Ja, ja, ich weiß, mein Mädchen - manchmal erkennst du das noch nicht ganz so, aber du bist nahe dran.“
„Weißt du, Kim - dieses Gespräch hat mir irgendwie gezeigt, dass die gesamte Menschheit nichts anderes als geistige Klone sind – nur von was weiß ich was. Sie ahmen einfach alles nach, selbst wenn man einige von ihnen Originale nennt, machen sie ja doch nichts Neues.
Was bedeutet diese Eierschale? Meinst du damit, dass sie alle in einer einzigen Wirklichkeit gefangen sind?“
„Ja, mein Mädchen - und aus dieser Wirklichkeit, die ja im Grunde genommen eigentlich keine Wirklichkeit ist, wie ich ja vorhin sagte, gibt es nur sehr, sehr schwer ein Entkommen.“
„Wie steigert man das Bewusstsein, dass man dann in diesem höheren Bewusstseinszustand entkommen kann?“
„Ich glaube kaum, dass man es selbst steigern kann, mein Mädchen - höchstens du bekennst dich dazu, dass es kein Ich gibt.“
„Das ist schon wieder paradox, Kim.“
„Es ist auch ein Teil dieses Ortes, den man nicht erklären und nicht benennen kann. Da hilft dir auch keine Religion, wo manche ja genau das lehren wollen, wovon ich spreche, denn sie gehören ja auch zur sogenannten Wirklichkeit, obwohl manche sagen, dass sie nur eine Flucht vor der Wirklichkeit sind. Das höhere Bewusstsein, das wir beide erreicht haben, mein Mädchen - ist genauso unerklärbar wie dieser Ort. Anscheinend müssen wir es haben, um unsere Aufgabe selbstlos zu lösen. Dazu kann ich nur sagen, dass eigennützige Zauberei in diesem Universum keinen Platz hat.“
„Du meinst, wenn andere Menschen dieses Bewusstsein erreichen, würden sie damit eigennützig prahlen?“
„Das kann ich nicht beurteilen - ich kann nur annehmen, dass es so ist.“
„Befinden wir uns denn ständig an diesem seltsamen Ort, Kim?“
„Das ist eine Frage, die du besser nicht hättest stellen sollen, mein Mädchen. Überlege doch, wo unsere Herzen sind - wo die Herzen des gesamten Universums sind. Ich sagte auch, dass die Wirklichkeit dieses Orts die wahre, also die höchste Wirklichkeit, wenn nicht die einzige Wirklichkeit ist. Alle anderen Wirklichkeiten sind bloß die Stufen zu dieser höchsten Wirklichkeit, in die wir alle einmal eingehen werden.“
„Kim, ich glaube, jetzt habe ich’s. Dieser Ort könnte doch die Quelle der Kraft sein.“
Kim lächelte geheimnisvoll und hüllte sich in Schweigen.
„Sag es mir, Kim. Ist er die Quelle der Kraft?“
„Weißt du eigentlich, was du dir unter der Quelle der Kraft vorstellst, mein Mädchen?“
„Nein, für mich ist sie unvorstellbar. Aber du kennst sie, Kim. Du hast in ihr gebadet.“
„Mag sein, aber ich würde eher sagen, dass ich in meinem Herzen gebadet habe - an diesem seltsamen Ort, wie du es nennst.“
„Ist dieser Ort dann nur ein Teil der Quelle der Kraft?“
„Alles ist ein Teil der Quelle der Kraft - alles sind ihre Emanationen. Was darüber hinaus geht, wird immer unvorstellbar und unerklärbar bleiben, so lange das Universum ausgebreitet ist.“
„Zieht es sich denn einmal zusammen? Heißt das, dass wir uns, wenn es sich zusammen zieht, mitten in der Quelle der Kraft befinden, eins mit ihr sind - vollkommen selbstlos eins mit ihr sind - ja, eigentlich sie selbst sind? Ist es das, Kim?“
„Mein Mädchen, du gehst zu weit. Das sind nichts anderes als Visionen.“
„Hattest du diese Visionen?“
„Ich habe sie ständig, aber ich denke nicht darüber nach. Ich - ich - nein, ich kann das nicht erklären, sonst würde ich wieder in die sogenannte Wirklichkeit zurück fallen, die ständig nach Erklärungen sucht. Es ist auch absoluter Schwachsinn über diesen Ort zu sprechen. Du musst ihn real in dir fühlen, denn mit diesem Bewusstsein, mein Mädchen, sind alle Erklärungen überflüssig.
Und mit Fühlen meine ich nicht das, was Menschen Gefühl nennen. Wozu erkläre ich dir das überhaupt - wozu versuche ich dir das zu erklären? Ich weiß doch, dass du das alles irgend wann einmal erkennen wirst.“
„Sozusagen war unser Gespräch jetzt sinnlos?“ fragte Maria enttäuscht.
„Natürlich war es das. Gespräche dieser Art finden immer in dieser von Menschen und anderen Lebewesen konstruierter Wirklichkeit statt. Mein Mädchen, wir müssen beide da hinaus, und zwar für immer, sonst werden wir den Endkampf verlieren - wir könnten sogar unseren nächsten Kampf im Reich des Bösen verlieren.“
„Also meinst du, dass wir uns noch gar nicht hundertprozentig losgelöst haben?“
„Was ist schon hundertprozentig, mein Mädchen? Halte dich nicht mit diesem relativen Kram auf.“
„Es ist wahr, Kim - du bist wirklich schon zu weit weg. Ja, du hast dich wirklich losgelöst, denn du bist mir immer um einige Schritte voraus. Und ich werde noch lange brauchen, um all das, was du jetzt erkennst, zu erkennen.“
Nach diesen Worten stand Maria seufzend vom Bett auf und verließ das Schlafzimmer. Es verletzte Kim nicht - nicht mehr. Er atmete tief durch, streckte seinen Rücken durch, schloss seine Augen und versenkte sich im Nichts, was immer das auch ist. Kim hätte auch das nicht erklären können.
Nach etwa einer halben Stunde kam Maria zurück. Kim spürte ihre Anwesenheit bereits, als sie den Flur entlang bis zur Schlafzimmertür ging und öffnete schon da seine Augen. Als sie nun eintrat, hockte er mit dem Gesicht zur Tür, wo Maria stand, im Türkensitz, ohne sich bewusst bewegt zu haben, denn vorher saß er noch mit dem Rücken zur Tür. Kim wunderte sich nicht deswegen. Er ahnte schon immer, dass Zeit und Raum, wie alles in den unzähligen Wirklichkeiten, relativ ist.
Maria sah ihn prüfend an. Ihr war in diesem Moment, als ob Kims Körperumriss leuchten würde. Noch vor kurzem, bevor sie Tür öffnete, waren die Worte, die sie ihm sagen wollte, noch ganz klar in ihrem Kopf. Sie wollte energisch sein und Kim in allem, was er eben gesagt hatte, widersprechen. Aber dieses Leuchten verwirrte sie. Sie fühlte sich beinahe schuldig für die Worte, die sie sich zurecht gelegt hatte. Aber gleichzeitig war sie auch wütend auf Kim, weil er genau zu diesem Augenblick seine Aura leuchten ließ und auf sie wie ein Gott, oder zumindest wie ein Halbgott, wirkte. Der dritte Gedanke, der gleichzeitig mit diesen beiden in Maria auftauchte, war, dass Kim seine Aura sicher nie von selbst leuchten lassen würde. Also, was bedeutete dieses Leuchten in diesem Moment? Wollte irgend etwas, oder irgend jemand Maria zeigen, dass dieses Wesen, das nun so strahlend und selig lächelnd vor ihr saß, unfehlbar und wirklich göttlich ist?
Wir wissen ja, dass Maria ziemlich religiös angehaucht war und wahrscheinlich noch immer ist. Für sie war Kim immer ein göttliches Wesen, also ein Überwesen, das weit über alle anderen Lebewesen stand. Kim selbst sah sich niemals so. Er stand immer auf der selben Stufe mit allen Lebewesen, egal wie breit diese Stufe auch ist.
Maria war also ziemlich verwirrt, als sie eintrat und nach diesem herrlichen Anblick die Tür leise zumachte, als ob sie Angst hätte, den göttlichen Geist, der auf dem Bett saß, zu verscheuchen.
Kim lächelte noch immer selig mit geschlossenen Lippen. Seine Augen leuchteten so grell wie noch nie, obwohl sie nicht gelb, sondern schocktürkis waren.
Zaghaft näherte sich Maria mit kleinen Schritten dem Bett und setzte sich ebenso zaghaft auf die Bettkante vor Kim.
„Es tut mir leid“, sagte sie beinahe flüsternd und senkte den Blick vor ihrem „Gott“.
„Was denn? Was tut dir leid, mein Mädchen?“ fragte Kim lächelnd und hob verwundert seine Brauen.
„Ich wollte dir etwas sagen, Kim. Ich war unten im Garten, unter dem Schlafzimmerbalkon und habe nachgedacht. Aber das war nicht richtig. Ich wollte mir nicht eingestehen, dass du recht hast und wollte dir dagegen reden. Und der Grund, warum ich das tat - ich schäme mich deswegen, Kim. Ich wollte recht haben, mich in den Vordergrund stellen - und das aus reinem Egoismus.
Kim, ich bin nicht würdig, deine Frau zu sein“, stammelte Maria mit Tränen in den Augen.
Obwohl Kim fühlte, dass es Maria ziemlich ernst meinte, konnte er sein helles Lachen nicht zurück halten. Sein Mädchen wunderte sich deswegen nicht. Das hatte Maria ja erwartete - so gut kannte sie Kim bereits. Aber das brachte sie nie davon ab, ihn als Gott zu sehen. Sie war auch nicht gekränkt wegen seines Lachens, da sie spürte, Kim lacht nicht sie aus, sondern ihre Worte, die sie, nach Kims Meinung, niemanden betreffen. Maria erinnerte sich jetzt sehr genau an die Gespräche über die Momente, die sie damals geführt haben. Deshalb kannte sie jetzt auch Kims Einstellung über das Kennen des Gegenübers. Es sind die Momente, die kürzer als der kleinste Teil einer Sekunde sind, die Lebewesen und auch Dinge ausmachen, aber niemals ihre Worte, auch nicht ihre Taten, da sie in einer niedrigen, also ziemlich zweifelhaften Wirklichkeit stattfinden. Und in diesen zweifelhaften Wirklichkeiten regieren Unterschiede und Vergleiche, welche diese Wirklichkeiten noch zweifelhafter machen. Und doch war es Kims Meinung, dass auch diese Wirklichkeiten wirklich sind, genauso wie die höchste Wirklichkeit. Ein Widerspruch in sich, aber doch richtig, denn die zweifelhaften Wirklichkeiten waren spürbar und deshalb auch vorhanden. Kim sagte ja einmal, dass aus Phantasien und Träumen das Reich des Bösen und viele andere Dimensionen und Welten entstanden sind. Sie sind nicht wirklich, und doch sind sie wirklich.
Maria war nun mehr als verwirrt nicht deswegen, was ich eben geschrieben habe, denn das waren nicht ihre, sondern Kims Gedanken, die er zwar jetzt nicht hatte, die aber trotzdem immer in ihm, besser gesagt, in seinem Herzen stecken. Sie wusste zwar, was Kims Lachen bedeutete, dass er nur ihre Worte, aber nicht sie selbst auslachte, obwohl auch das kein Auslachen in dem Sinn war, wie wir es kennen. Kim machte sich nie über etwas lustig. Es erheiterte ihn einfach und sein Lachen wirkte auch nie beleidigend. Maria bemühte sich sogar, nicht mitzulachen, denn ihr war jetzt nicht unbedingt nach Lachen zumute. Sie wollte ihre Gedanken ordnen, die noch vor kurzem so klar waren. Jetzt wusste sie, dass sie Kim diese Worte unbedingt sagen musste.
„Ich möchte es dir trotzdem sagen, Kim“, flüsterte Maria.
„Was, mein Mädchen?“ fragte Kim nun ziemlich ernst.
„Dass ich es nicht richtig finde, was du gesagt hast. Für mich hat sich das alles so angehört, dass alles, was wir kennen, worüber wir auch sprechen, nicht wahr ist. Wir haben auch über diese Momente gesprochen und demnach sind auch sie nicht wahr. Alles, was wir uns vorstellen können, selbst unsere kühnsten, wahnwitzigsten Träume, all das ist nicht wahr, weil all das zu einer einzigen Wirklichkeit gehört, die bloß in verschiedene Schubladen eingeteilt ist und deshalb nicht die einzige wahre Wirklichkeit sein kann. Und sobald wir über die einzige, wahre Wirklichkeit reden, ist sie auch nicht mehr wahr. Du musst dich da versprochen haben, Kim. Es gibt doch so viele Menschen, die sich von selbst in ein gesteigertes Bewusstsein versetzen können. Denk doch nur an Religionen, egal, an welche, besonders östliche Religionen, wo Meditation an der Tagesordnung ist - an Naturreligionen, an Schamanen. In diesem Fall, würde ich sagen, gehört das alles in eine höhere Wirklichkeit und nicht in die selbe Wirklichkeit, die man normal nennt, selbst wenn du sie in Schubladen teilst.
Außerdem, seit wann teilst du etwas ein, Kim? Für dich gibt es ja keine Unterschiede, keine Vergleiche, kein Teilen. Und doch teilst du die Wirklichkeit in Schubladen ein. Demnach gibt es also nur zwei Wirklichkeiten - eine falsche und eine richtige. Für mich ist das alles ein Widerspruch, was du eben gesagt hast, Kim. Ich kann mich damit nicht abfinden, selbst, wenn ich nun als Idiot dastehe, der dem einzigen Weisen in diesem Universum widerspricht.“
Nach einigen Sekunden lächelte Kim wieder.
„Oh, du nennst mich den einzigen Weisen im Universum?“ fragte er etwas zynisch.
„Ja, das tu ich, Kim. Ich habe sogar Hochachtung vor dir, und ich denke, das weiß du.“
Kim lachte wieder auf, aber nur kurz. Dann schüttelte er seinen Kopf und rieb sich die Augen, als ob er eben aus einem tiefen Schlaf erwacht wäre.
„Versuch einmal das Ganze so zu sehen, mein Mädchen. Vielleicht ist es ein großer Fehler, dass ich dir so viel sage - vielleicht sollte ich besser schweigen. Ja, das wäre sicher das Beste. Ich weiß nicht, warum ich trotzdem rede. Nein, ich weiß es wirklich nicht“, begann Kim etwas zögernd mit seiner Rede. „Also, versuch es einmal so zu sehen. Für jeden Menschen, für jedes Lebewesen - vielleicht sogar für jedes Ding, das ja auch von Lebewesen geschaffen, oder hervorgebracht wurde, existiert ein eigenes Universum. In diesem Universum ist alles inbegriffen - die Wahrnehmung, der Glaube, Phantasie, wie auch Wirklichkeit, was immer sich die einzelnen Wesen darunter vorstellen. Und für jeden einzelnen läuft all das, was wir Leben und auch Tod nennen, individuell verschieden ab, dass man meinen könnte, es gibt so viele Universen, wie es Lebewesen und Dinge gibt. Mag sein, dass manche von ihnen diese Momente, so wie ich, erkennen oder fühlen - trotzdem findet das in einer vollkommen anderen Ebene statt, eben in der eigenen Ebene der einzelnen Individuen.
Du sagtest eben etwas von Religionen. Also nehmen wir einen sehr religiösen Menschen her, der täglich betet, der sich täglich in tiefste Meditation versetzt, der stets darauf bedacht ist, nach seiner Religion, die er gut heißt, zu denken und zu handeln, der sogar das Wenige, das er gerade zum Überleben braucht, mit Armen teilt. Für dich hat dieser Mensch ein gesteigertes Bewusstsein. Du bringst ihm also mehr Ehrfurcht entgegen als dem Menschen, den ich dir als nächstes nennen möchte, nämlich einen Menschen, der täglich irgend einen anderen betrügt, die sogenannte Dummheit, oder Leichtgläubigkeit der anderen schamlos ausnützt, sogar über Leichen geht, um zu seinem Ziel zu kommen, der Reichtum ansammelt und Bettler verjagt, selbst wenn sie knapp vorm Verhungern und Erfrieren sind. Diesen Menschen würdest du sicher verachten und böse nennen. Ich will mich jetzt nicht für den sogenannten Bösen einsetzen, auch nicht für den sogenannten Guten, denn ich kann nur sagen, dass die Zeit für beide reif ist. Das heißt, sie haben mit der Zeit ihre eigene Wirklichkeit erkannt, die weder gut, noch böse ist, denn beide haben sich das geholt, was aus ihrer Umgebung zu holen ist, wenn auch auf verschiedene Art und Weise. Der Gute konnte dem materiellen Reichtum nichts abgewinnen, denn das war und ist nicht seine Wirklichkeit. Wahrscheinlich hat er auch gar nicht das Umfeld, in dem er materiellen Reichtum anhäufen kann, was jetzt aber nur reine Spekulation ist. Wie gesagt, seine Wirklichkeit ist eben diese, dass er gerne enthaltsam lebt, gerne betet und sich gerne in tiefste Meditation versetzt und ebenso gerne das Wenige, das er hat, mit Armen teilt. In seiner Wirklichkeit steht die Liebe und das Mitleid an erster Stelle.
Glaube mir, mein Mädchen - kein Mensch quält sich gerne, und wenn, dann empfindet er in den Qualen, die er sich selbst auferlegt, und die nur andere Qualen nennen, das Wahre.
Und nun kommen wir zur Wirklichkeit des sogenannten Bösen. Im Grunde genommen ist er ein starker Mann, denn er traut jedem das zu, was auch er zustande bringen kann. Wenn schon Dumme auf der Welt sind, die sich übers Ohr hauen lassen, sind sie im Grunde genommen selbst schuld. Für ihn besteht die Wirklichkeit daraus, dass der Stärkere gewinnt und der Schwächere verliert. Er kann keinen zwingen, sich ihm zu unterwerfen. Man kann nie jemanden wirklich zu etwas zwingen, mein Mädchen. Und diese Menschen, die mit dem sogenannten Bösen ein Geschäft machen wollen, sind doch erbärmlicher als er selbst, wenn du schon über andere urteilen willst, denn sie wollen auf der selben Stufe stehen wie er, wo es ja nur um Profit geht.
Und ich bin überzeugt davon, dass sich der Gute selbst sicher nicht als gut bezeichnet und ebenso wenig bezeichnet sich der Böse als böse, denn beide sind in ihrer Wirklichkeit davon überzeugt, dass sie nur so und nicht anders denken oder handeln können.
In diesen beiden Wirklichkeiten ist es genauso gut möglich, dass es plötzlich so weit kommt und die beiden tauschen ihre Wirklichkeiten miteinander. Gefühle, Gedanken ändern sich nun mal, was du sicher schon oft erkannt hast. Vielleicht tut es dem Bösen einmal leid, weil er die Dummen ausgenutzt hat - und vielleicht tut es dem Guten ebenso einmal leid, weil er die sogenannten Leidenschaften des Lebens nie ausgekostet hat.
Und genau aus dem Grunde, weil ja wirklich nichts sicher ist, wage ich zu sagen, dass keine dieser Wirklichkeiten wirklich ist. Selbst für einen erleuchteten Mönch besteht die Möglichkeit, dass er sich verändert und das Nirvana im materiellen Reichtum erkennt. Ich sagte jetzt nicht, dass so etwas schon passiert ist - ich sprach nur von einer von vielen, vielen Möglichkeiten, die diese Wirklichkeiten offen lassen.
Also, was bedeutet dann dein gesteigertes Bewusstsein, das du religiösen Menschen zugestehen möchtest? Meinst du nicht, dass du in dieser Beziehung niemals von dir selbst ausgehen kannst, wenn du einen Menschen beschreiben willst? Meinst du nicht, dass es in ihm vollkommen anders aussieht, als du ihn beschrieben hast?“
Maria überlegte einige Sekunden.

„Nein, Kim. Ich würde sagen, dass sich ein Mönch niemals ändert, weil das Gute nun mal das Wahre ist. Diese Möglichkeit, von der du eben gesprochen hast, trifft nur auf den Bösen zu, denn seine Handlungen haben keine Zukunft. Er kann seinen Reichtum nicht mit in den Tod nehmen. Aber der Mönch hat geistige Schätze und die kann ihm nicht einmal der Tod nehmen.“
„Woher hast du diese Sicherheit, mein Mädchen? Wer sagt dir denn, dass du geistige Schätze mit in den Tod nehmen kannst? Und was nennst du geistige Schätze? Etwa deinen Glauben? Schon alleine dieses Wort würde mich zweifeln lassen. Ich zweifle sogar bei dem Wort - Wissen, mein Mädchen. Denn was bedeutet in so einer Wirklichkeit schon das Wissen?
Mir hat noch nie ein Toter gesagt, dass er sein Bewusstsein behalten hat und mit diesem Bewusstsein eine Wiedergeburt ansteuert. Natürlich ist das Gegenteil auch nicht bewiesen, dass er ja doch seine sogenannten geistigen Schätze mitnehmen konnte.
Gedanken sind Energien, mein Mädchen - und Energien bestehen genauso aus Materie, nur dass du diese Materie nicht anfassen und nicht sehen kannst. Sozusagen sind geistige Schätze nichts anderes als materielle Schätze, denn beide Schätze bestehen aus Materie.“
„Was soll denn ein Mensch dann tun, um seinem Leben einen Sinn zu geben, Kim? Sagtest du nicht, dass man das Herz auffüllen soll? Ja, womit denn?“
„Das Herz ist voll, mein Mädchen - es war schon immer voll - es geht nur ums Erkennen.“
„Und was sollen wir erkennen?“
„Unsere Wirklichkeit, wie sie nun mal in diesem Stadium, in dem wir geboren wurden, ist.“
„Glaubst du nicht an Wiedergeburt?“
„Sagen wir es so - ich glaube nicht an ein plötzliches Verschwinden. Wenn etwas da war, wird es immer da sein und ebenso immer da bleiben. Es verändert sich immerzu - das ist alles.“
„Was ist das Feuer, wenn es erlischt? Was ist das Wasser, wenn es vertrocknet?“
„Luft, mein Mädchen - das müsstest du ja schon in der Schule gelernt haben. Gerade am Wasser lässt sich am leichtesten erkennen, dass nichts verschwindet. Eis ist die feste Materie - Wasser ist die flüssige Materie - Luft ist die gasförmige Materie. Und was es darüber hinaus noch für verschiedene Materien gibt, ist den Menschen leider noch verborgen. Aber jede Materie, egal in welcher Form, besteht aus Energien - und Energien verschwinden nicht, sie verändern sich bloß.“
„Dann bedeutet doch der Tod gewissermaßen ja doch das Aus und Vorbei, wenn wir uns an nichts mehr erinnern können“, sagte Maria enttäuscht.
„Du hast das ganz richtig gesagt - wenn wir uns an nichts mehr erinnern können. Aber was bedeutet dieses Erinnern? Ich würde sagen, seit es Materie gibt, besteht alles nur aus Erinnerung. Wir müssen uns sogar an die Zukunft erinnern, mein Mädchen.
Aber verlaufe dich jetzt nicht in meiner Wirklichkeit, denn darauf läuft unser Gespräch ja jetzt hinaus. Ich bin nicht unfehlbar, mein Mädchen. Immer wieder gibt es Situationen, wo ich meine Gedanken, die ich gestern erst laut gesagt habe, heute widerlegen muss, weil sie einfach nicht mehr in meine Wirklichkeit passen. Und gerade deshalb muss ich sagen, dass jede erkannte Wirklichkeit irreal ist. Menschen gebrauchen zu viele Worte, deren Sinn etwas ganz anderes bedeutet, als der, den sie fühlen. Wirklichkeit ist nicht wirklich Wirklichkeit - sie ist bloß für jeden einzelnen wirklich. Sobald wir über etwas sprechen, was du ganz richtig bemerkt hast, ist es nicht mehr das, was wir Wirklichkeit nennen können. Und das ist vollkommen logisch, denn jeder Mensch, egal mit wem ich rede, ob du ihn nun gut, oder böse nennt, ob mit gesteigertem Bewusstsein oder weniger hohen Bewusstsein - einfach jeder nimmt meine Wirklichkeit so auf, dass sie in seine eigene Wirklichkeit passt.
Und deshalb sagte ich auch immer, dass es keinen Sinn hat, wenn ich auf die Straße hinaus gehe und den Menschen sage, wie sie leben müssen, um das Paradies in ihren Herzen zu haben. Erstens wäre das Beeinflussung und zweitens würde es den Menschen nicht weiterhelfen, weil sie es niemals so verstehen können, wie ich es verstehe, sondern nur auf ihre eigene Art. Und selbst wenn sie es auf ihre eigene Art verstehen und auch danach handeln würden, würde das ihre eigene Wirklichkeit ganz schön ins Schwanken bringen. Glaube mir, mein Mädchen - falls ich das tun würde, was mir zwar nicht einmal im Traum einfallen würde - aber sagen wir - falls, wäre ich von den Menschen, die mir folgen, sehr enttäuscht, aber diejenigen, die mich auslachen und verdammen, die würde ich sofort in mein Herz schließen, weil sie der Wahrheit näher sind.“
„Das ist paradox, Kim.“
„So ist nun mal diese Wirklichkeit, wie wir sie kennen, mein Mädchen.“
„Warum würdest du diese Menschen in dein Herzen schließen, die dich auslachen und verdammen? Sie stellen dich doch als unglaubwürdigen Narren hin. Aber die anderen ehren dich und erkennen dich als Führer oder gar als Guru an, der ihnen hilft, ihre Herzen zu finden. Ich würde diese Menschen einsichtig nennen.“
„Nein, sie sind mehrsichtig und stehen nicht zu sich selbst. Würden sie das tun, wären sie von ganz alleine in der Lage, ihre Herzen zu finden.“
„Und die anderen, die dich auslachen und verdammen, finden ihre Herzen?“
„Das kann ich nicht beurteilen - ich kann nur sagen, sie finden eher zu ihren Herzen, als diejenigen, welche einen anderen Menschen dazu brauchen, der ihnen sagt, wie sie denken, fühlen und handeln sollen. Und diese Menschen würden niemandem folgen - höchstens dem, der ihrer Wirklichkeit am ehesten entspricht.“
„Welche würden die Mehrheit bilden, Kim?“
„Das wiederum kommt ganz auf die Situation an. Nach meiner Wirklichkeit würde ich sagen, die Mehrheit bilden diese Menschen, die mich auslachen und verdammen. Vergiss dabei meine Ausstrahlung, welche die Menschen nur blendet. Ich würde als Richard hinaus gehen, sozusagen ohne Ausstrahlung.
Ich sagte ja schon mehrmals, dass Menschen sich nur für das interessieren, was ihnen wichtig erscheint.
Zum Beispiel bei Bücher - kaum einer, der sich nicht für Physik interessiert, oder der Meinung ist, dass er es ohnehin nicht versteht, wird ein Physikbuch lesen. Oder, kaum einer, der sich nicht für höhere Literatur interessiert, wird kaum Goethe lesen, sondern einen einfachen Krimi. Jeder bleibt nun mal in seiner Wirklichkeit, wie immer sie auch entstanden ist und wie sehr sie sich auch von anderen Wirklichkeiten unterscheidet.“
„Demnach ist die Welt ja in Ordnung“, sagte Maria spöttisch.
„Ich habe nie etwas anderes behauptet.“
„Doch! Du sagtest, es müsste sich nur jeder einzelne ändern - die Welt an sich ist in Ordnung. Das sagtest du, Kim.“
„Ja, wenn er mit der Welt nicht zufrieden ist, dann muss er sich ändern, denn die gesamte Welt lässt sich nicht ändern. Dazu habe ich eine schöne Geschichte für dich, die ich einmal in einem Buch gelesen habe. Da ging es um einen Guru und seinem Schüler. Es war gerade abends, als die beiden gingen zu Bett. Zu dieser Zeit gab es unheimlich viele Moskitos, die den Schüler ziemlich störten, obwohl er um sein Bett ein Netz gespannt hatte, was aber nicht viel half. Also weckte er seinen Meister und klagte ihm sein Dilemma. Und der Meister sagte: Soll ich etwa deinetwegen die ganze Welt ändern? Ändere dich selbst, und streiche die Moskitos aus deinem Bewusstsein!
Ich werde die Menschen sicher nie ändern können. Und das habe ich dir ja auch bereits erklärt, wenn du mit bis jetzt gut zugehört hast. Es geht eigentlich darum, weil die Menschen zwar zu ihrer eigenen Wirklichkeit stehen, aber ihre Möglichkeiten nicht ausschöpfen können. Sie sind in ihren eigenen Wirklichkeiten wie in einer Eierschale gefangen. Die Menschen sind eigentlich nichts anderes als Kokons, über denen noch mal eine ziemlich dicke Eierschale liegt, nämlich die Wirklichkeit, die man die allgemeine Wirklichkeit nennt, was eigentlich das System ist, nach dem sie sich richten.“
„Heißt das, dass sie ihre eigene Wirklichkeit gar nicht bewusst wahr nehmen?“
„Zu wenig bewusst, würde ich sagen, weil sie denken, es bringt nichts. Und doch ist diese Wirklichkeit in ihnen fest verankert. Sie ist sogar der Schlüssel zu ihren Herzen. Aber erst wenn sie die Eierschale durchbrechen, können sie die Tür finden und vielleicht auch öffnen. Und was sich dann dahinter verbirgt - das ist dann ihre Sache. Darüber kann ich nicht sprechen, nicht einmal von mir selbst, denn die Fülle der einzelnen Herzen besteht aus allen Wirklichkeiten und geht sogar darüber hinaus.“
„Das ist dann das, was man nicht mehr erklären kann und wofür es auch keine Worte mehr gibt.“
„Nein, da gibt es nichts mehr, nicht einmal das, was Menschen Gefühle nennen, denn sogar darüber geht das Herz hinaus.“
„Und was passiert mit diesen Menschen, wenn sie ihre Herzen erkannt haben?“
„Meiner Meinung sind sie zu allem fähig. Du siehst es ja bei uns. Wir reisen in Welten, die es für Menschen scheinbar gar nicht gibt. Wir erkennen das Reich des Bösen als feste Materie, obwohl es das nicht ist.“
„Und was heißt das?“ fragte Maria, weil Kim verstummte.
„Das heißt, dass wir in der Lage sind, das Unerkennbare zu erkennen, das Unmögliche zu ermöglichen und - und - und. Wir dringen in die Unendlichkeit ein und zugleich auch in die Endlichkeit. Alles hebt sich auf und doch ist alles da.“
„Meinst du wirklich, dass wir die Einzigen sind, die ihre Eierschale durchbrochen haben?“
„Das meine ich nicht vollen Ernstes - es ist nur so - ich kenne keinen außer uns, zumindest noch nicht. Ja, okay, ich kenne schon einige, aber noch ist die Eierschale nicht durchbrochen - sie zeigt nur Risse auf.“
„Meinst du damit Kerstin und Andy, und die anderen, die auf die Leuchtende Welt kommen werden?“
Kim lächelte und streichelte Maria sanft über die rechte Wange.
„Genau die meine ich damit. Das heißt aber nicht, dass sie die Einzigen sind, aber ich habe nun mal nicht die Beweise, dass es auch andere, für mich Fremde, gibt, die das geschafft haben.“
„Heißt das auch, dass sie die Leuchtende Welt anders wahrnehmen, als wir?“
„Auf jeden Fall.“
Damit wurde dieses Gespräch beendet, denn Kim streichelte dann nicht nur über Marias Wange... .
Wir hören da einen sehr krassen Widerspruch heraus, als Kim sagte, dass ihm das Wort „Glaube“ zweifeln lässt. Dabei habe ich geschrieben, dass das Um und Auf der Glaube ist, nämlich der total überzeugte Glaube an die eigenen Phantasien und Träume, die dann erst durch diesen total überzeugten Glauben zur sogenannten Wirklichkeit werden.
Aber im Grunde genommen ist das gar kein Widerspruch, denn unsere Wirklichkeiten, solange wir in dieser Eierschale gefangen sind, sind nun mal paradox und voll mit Widersprüchen. Kim spricht hier auch von ständigen Veränderungen des Geistes und natürlich auch des Körpers (es ist ja sichtbar, was das Alter aus uns macht), und eben diese Veränderungen hat auch er selbst durchgemacht. Ohne diesen total überzeugten Glauben wäre er niemals fähig gewesen, die Eierschale zu durchbrechen.
Es erhebt sich noch eine Frage, nämlich diese: Kim sprach von eigennütziger Zauberei, die in diesem Universum keinen Platz hat und dass wir nicht von uns selbst aus diese Eierschale durchbrechen können. Sozusagen müssen wir erst warten, bis wir dazu bereit sind, um diese gewaltige Tat zu vollbringen. Der Wunsch alleine genügt also nicht, indem wir uns sagen, dass es ganz toll wäre, wenn wir nun vollkommen frei und dazu noch wunschlos glücklich wären. Für manche wäre diese Situation wie Sterben, was sogar Maria feststellte, obwohl sie schon längst ihre Eierschale durchbrochen hatte. Aber hier haben wir einen Beweis, dass es ja doch nicht wie Sterben ist, denn Maria fühlte sich alles andere als tot. Sie war wissbegieriger und neugieriger als früher. Sie alterte genauso wenig wie Kim und hatte genauso unheimliche Kräfte in sich wie er. Und das Wissbegierige ist total logisch, wenn man bedenkt, was sich da alles vor einem öffnet. Es ist die Unendlichkeit und die Endlichkeit in einem, also Dinge, die für uns jetzt unvorstellbar sind. Wir fragen ja selbst immer wieder, was wohl hinter all dem noch stecken kann. Aber wir sind nicht in der Lage, dieses Geheimnis zu erforschen und zu erkennen. Maria hingegen ist es, also wuchs auch ihre Neugier und ihr angeborener Forscherdrang.
Kim hatte nie zugegeben, dass es einigen Menschen möglich ist, diese Eierschale zu durchbrechen, selbst wenn es Menschen sind, die allem Weltlichen entsagen, die mit Meditation darauf hinarbeiten, in ein höheres Bewusstseinsstadium zu erlangen. Diese Menschen entsagen nicht nur dem Weltlichen, sondern auch sich selbst, indem das Ich nichts mehr zählt. Für sie gibt es nur mehr Glückseligkeit, bis sich auch die Glückseligkeit auflöst und sie in die Ewigkeit eingehen. Aber ist diese Ewigkeit das, wovon Kim spricht? Ist sie das Durchbrechen der Eierschale, oder bloß eine Wunschvorstellung, die sich so fest manifestiert, dass es nur den Anschein hat - dass es also nichts anderes als Selbsthypnose ist?
Kim sagte, dass es für kaum einen Unterschied zwischen einem sogenannten Guten und einem sogenannten Bösen gibt. Er sagte aber nicht, dass es beiden möglich ist, die Eierschale zu durchbrechen. Irgendwie war es für mich bei diesem Gespräch so, dass Kim dem sogenannten Bösen den Vorzug gab, den er als sehr stark bezeichnete, weil er den Menschen das selbe wie sich selbst zutraut.
Wir wissen, dass Kim dem Mitleid nie zugetan war, dass er sogar sagte, es sei schlecht, wenn man seine Hilfe anbietet. Also, aus Mitleid handeln hat immer einen bitteren Nachgeschmack, weil es einen leicht egoistischen Hauch hat. Nicht nur Kim sieht das so, auch ich bin dieser Meinung. Wenn mir also jemand leid tut, dann will ich das ändern, weil ich es nicht ertragen kann, Leid zu sehen. Ich kann es nicht einmal akzeptieren. Also geht das Ganze von mir selbst aus - ich will mir damit selbst einen Gefallen tun, um das nicht mehr sehen zu müssen. Ein schlimmer Gedanke, wo man doch so oft hört, dass Menschen selbstlos handeln und spenden. Mag sein, dass es wirklich solche gibt, aber ich würde eher sagen, dass dem die größte Bewunderung geschenkt werden müsste, der demjenigen hilft, der seine Hilfe auch sucht und will. Und der immer hilft, wenn Hilfe verlangt wird. Aber auch darüber könnte man stundenlang diskutieren, man würde auf keinen grünen Zweig kommen, weil ja in dieser Beziehung die Gefühle eines jeden anders sind. Man könnte dann auch sagen, dass einer nur deswegen hilft, weil er vor anderen gut da stehen will.
Also, eine Antwort habe ich noch immer nicht, welche Menschen denn in der Lage sind, die Eierschale zu durchbrechen. Liegt es wirklich daran, ob sie auch bereits dazu sind? Brauchen sie mehrere Leben, um bereit dazu zu sein? Oder gibt es da einen Zufallsgenerator im Universum? Es ist ja auch so, dass nicht jeder einen total überzeugten Glauben aufbringen kann. Wer glaubt schon daran, dass er wirklich fliegen kann?
Ich komme noch einmal zu dem sogenannten guten und dem sogenannten bösen Menschen zurück und auch darauf, dass Kim zwischen den beiden kaum einen Unterschied erkennt. Demnach hebt er die christlich religiöse These auf, dass ein Kamel eher durch ein Nadelöhr geht, als dass ein Reicher in den Himmel kommt. Auf der anderen Seite aber verabscheut er Besitztum und anhäufen von Reichtum, obwohl er selbst vielfacher Millionär war. Aber Kim brauchte diesen Reichtum nicht für sich, sondern für seine Familie, seine Kinder und Kindeskinder. Er wusste nicht, wie sie einmal zum Leben stehen werden, also sorgte er für die Zukunft vor. Schon das zeigt, dass er Reichtum bei anderen nicht verabscheut, wohl aber bei sich selbst, weil er nun mal so ist und weil er nicht mehr zum Leben auf der Erde brauchte, als Kleider zum einmaligen Wechseln, ein Dach über dem Kopf, um sich vor Kälte, oder Hitze zu schützen und Nahrung, um ein Mensch zu bleiben und sich nicht vor seiner Familie zu einem Leuchtenden Wesen zu verwandeln, was ja für Menschen eine tödliche Gefahr bedeutet. Sozusagen traut er einem Reichen, wie natürlich auch einem Armen zu, die Eierschale zu durchbrechen. Immerhin waren Kerstin und Andy und all die anderen Menschen, welche auf die Leuchtende Welt kamen, auch reich und schafften diesen Sprung.

Gespräch zwischen Mary und Kim

Eigentlich verurteilte Kim die Menschen nie, wenn es sich auch manchmal so anhörte - besonders wenn er über das sogenannte System wetterte. Von seiner frühen Vergangenheit kennen wir eigentlich kaum Gespräche, um zu wissen, wie Kim damals zu all dem stand. Wir wissen nur von dem Gespräch zwischen Maria und Mary, nach dem Konzert in London, als Maria erstmals Kims Heimathaus betrat und etwas später Mary kennen lernte, als diese sagte, dass Kim schon immer weltfremd wirkte und man bei seinen Worten, die er sagte, zweimal hinhören musste, wenn nicht dreimal, um sie nur ein bisschen zu verstehen. Man darf nicht vergessen, dass Kim damals hochgradig heroinsüchtig war und Mary wahrscheinlich annahm, dass ihn diese Droge so sprechen ließ und ihn gewissermaßen verwirrte. Aber so war es keineswegs - ganz im Gegenteil. Denn dadurch kam Kims Seele erst richtig zum Vorschein. Ihn konnte nie eine Droge derart verändern, dass diese Droge aus ihm sprach und nicht sein Herz. Zu seinem Herzen stand Kim schon immer, sozusagen von Geburt an, obwohl er sich dessen nicht immer bewusst war. Er musste ja erst richtig erkennen, und wir wissen ja, wie lange das wirklich gedauert hat. Aber wie Kim schon bei den Gesprächen sagte, wurde er stets „durchgeschüttelt“, was heißt, dass sein Bewusstsein mal hoch gesteigert war und mal so tief war, dass man ihn wirklich für einen Idioten hätte halten können.
Um wieder auf die Drogen zurück zu kommen - diesmal zum Heroin, dem Kim damals wirklich verfallen war. Ich möchte jetzt nicht den Anschein wecken, dass Heroin, oder härtere Drogen, wie etwa auch Kokain den Menschen helfen könnten, ein höheres Bewusstsein zu erlangen. Mag sein, dass es bei einigen möglich ist, aber man darf nicht vergessen, dass gewisse Drogen lebensgefährlich sind, und gerade deswegen lehnte ich sie eher ab, wobei ich jetzt nur meine Meinung sage, was nicht heißt, dass ich diese Menschen, welche solche Drogen nehmen, verabscheue, oder gar verdamme. Ich verabscheue auch Alkoholiker nicht - es ist nur, ich kann mit diesen Menschen nichts anfangen. Sie stehen deswegen nicht tiefer, oder gar höher als ich - sie haben nun mal andere Interessen und sind nun mal anders als ich. Natürlich sind alle Menschen individuell verschieden, was heißt, dass alle nun mal so sind wie sie sind und demnach auch anders. Damit will ich mich nicht hervor heben - das soll also nicht heißen, dass nur ich anders bin. Kim würde jetzt sicher mächtig dazwischen fahren, obwohl er selbst ständig von Individualität gesprochen hat, aber diese Individualität war eine ganz andere, die, wie ich glaube, sehr schwer zu verstehen ist. Und um diese Individualität geht es jetzt. Ich bin also nun in der Lage, ein Gespräch zwischen Mary und Kim aufzuschreiben, das damals stattfand, als Kim wirklich hochgradig heroinsüchtig war und das zeigen soll, dass er gerade damals ein sehr hohes Bewusstsein hatte, das sich erst viel später richtig hervor hob, wo er keine Drogen mehr nahm. Das heißt also, dass es nicht das Heroin war, das damals bei diesem einzigartigen Gespräch aus ihm sprach, sondern ein sehr tiefer und großer Teil seines Herzens. Ich möchte noch einmal warnen, dass diese Droge lebensgefährlich ist und nur scheinbar Kraft und Wissen gibt. Wir dürfen auch nicht vergessen, dass Kim auf der Erde nicht nur als Mensch geboren wurde, obwohl er wie ein Mensch aussah, sondern als Leuchtendes Wesen. Was ich eigentlich sagen will, ist, dass ihm die Droge nicht geholfen hat, seinem Herzen näher zu kommen. Man könnte vielleicht sagen, dass er sich ein klein wenig mit der Energie der Droge vereinigt hat, aber sie hat nicht aus ihm gesprochen. Sie war also eventuell der Auslöser, das Sprungbrett, das ihn zu dieser folgenden Erkenntnis brachte.
Kim war damals etwa 17 Jahre alt, als er bei Mary in der Wohnung, in ihrem bescheidenen Wohnzimmer am Boden, im Türkensitz, hockte, während sie bequem auf der Couch lag und ihn beobachtete, wie er ein Kunstbuch studierte. In diesem Buch waren Bilder von Malern zu sehen, die man dem phantastischen Realismus zuordnet. Kim erzählte Maria aus seiner Lebensgeschichte, dass er ein ganz bestimmtes Bild stundenlang studiert hatte. Er sagte aber, dass er es in der Wohnung seiner Junkiefreunde in London gesehen hat. Das war aber nicht richtig, obwohl es irgendwie unwichtig ist, wo er dieses Bild studiert hat. Wahrscheinlich konnte sich Kim an damals nicht mehr richtig erinnern, weil ihn das Heroin manchmal mächtig in die Irre führte. Er wusste zwar noch, dass er sich damals, als er dieses Bild studierte, an einem halbwegs sicheren Ort befand und das konnte nur in der Wohnung seiner Freunde, in der Wohnung von Mary, oder in Ians Haus gewesen sein, aber niemals an einem Ort, wo er stets Schmerzen empfand, also nicht in seinem Heimathaus, wo er nur beachtet wurde, wenn man ihn bestialisch quälte und vergewaltigte.
So hockte er nun, reichlich mit Heroin eingespritzt, am Boden, dieses Buch in seinen Händen und starrte bereits seit mehr als zwei Stunden auf ein und das selbe Bild. Mary machte das nichts aus, denn sie liebte es, Kim anzusehen und zu beobachten. Seine Schönheit war ja damals schon so gewaltig, dass es ein Wunder war, ihn noch immer zu den Menschen zu zählen. Es stimmt schon, dass man ihm die Sucht nie ansah, was er ja bestritten hat. Aber wenn man einiges über Kim weiß, weiß man auch, wie er das gemeint hat - er sah sich viel mehr innerlich... .
Plötzlich, nach diesen zwei Stunden, hörte ihn Mary etwas sagen. Natürlich sprach Kim damals nur englisch. Mary verstand zuerst nicht, also fragte sie nach.
„Die Menschen können nicht einmal einen Punkt berechnen“, wiederholte Kim mit heiserer Stimme, ohne seinen Blick vom Buch zu wenden.
„Was? Warum sollten sie keinen Punkt berechnen können?“ fragte Mary lachend.
„Wie könnten sie das? Wer weiß schon, wie tief dieser Punkt ist? Man könnte es nur relativ berechnen - also nur ahnen, wie tief er ist.“
„Wie kommst du darauf, dass ein Punkt tief ist? Ist denn ein Blatt Papier, auf dem ein Punkt gezeichnet ist, auch tief?“
„Wenn du es richtig betrachtest, ist ein Blatt Papier so tief, dass du nicht einmal bis zum Grund hinab sehen könntest. Würdest du es vor deinen Augen gerade halten, könntest du nie so weit sehen, wie weit dieses Blatt reicht“, sagte Kim vollkommen ernst, noch immer mit gesenktem Blick auf das Buch.
Mary seufzte und drehte ihre großen, dunklen Augen über.
„Das ist doch verrückt“, sagte sie mehr zu sich selbst und richtete sich auf, weil sie die Absicht hatte, in die Küche zu gehen, um sich etwas zu trinken zu holen.
Aber dem machte Kim energisch ein Ende, dass Mary ihre Absicht urplötzlich vergaß. Er sah sie mit glühenden Augen an - seine Brauen, die er herunterzog, stießen fast in der Mitte zusammen.
„Verdammt!“ schrie er unbeherrscht auf, was damals des öfteren vorkam. „Was glaubst du, wer du bist? ! Was lehrst du denn in der Schule? ! Was willst du den Kindern schon beibringen? !“
Mary zuckte zusammen und sah Kim erschrocken an.
„Was hat das denn jetzt damit zu tun?“ fragte sie etwas eingeschüchtert.
„Weil du nichts erkennst“, sagte Kim nun schon etwas ruhiger, aber noch immer sehr energisch.
„Was soll ich denn erkennen?“ fragte Mary und lehnte sich sitzend auf der Couch zurück.
„Das, was nun mal da ist. Sag deinen Kindern in der Schule, dass ein Blatt Papier nicht einfach nur ein Blatt Papier ist.“
„Was ist es denn, Kim?“ fragte Mary, als ob sie zu einem Irren sprechen würde.
Kim hörte diesen zynischen Unterton natürlich sofort heraus.
„Du meinst jetzt wohl, dass du das einzig richtige in der Schule lehrst, was?“
„Ich lehre den vorgeschriebenen Stoff, das ist alles.“
„Und von wem wurde er vorgeschrieben?“ fragte Kim eifrig, legte das Buch aus der Hand auf den Boden rechts neben sich und nahm sich eine Zigarette aus der Hülle, die links neben sich auf dem Boden lag. Er rauchte sie noch nicht, sondern spielte damit in seiner Hand, indem er sie zwischen seinen Fingern vom kleinen, bis zum Zeigefinger rollen ließ. Mary wurde von diesem „Kunststück“ etwas abgelenkt und konnte nicht sofort antworten.
„Also, Mary! Von wem?“ fragte Kim noch mal etwas drängend.
„Das ist allgemein der Schulstoff in England. Das werden wohl die Unterrichtsminister gemacht haben. Wer den sonst?“ sagte Mary ungeduldig.
„Ach, so? Und du lehrst dieses Zeug nur deshalb, weil es vorgeschrieben wurde. Ist es das?“
„Was willst du überhaupt, Kim?“ sagte Mary nun ärgerlich. „Wenn dir das nicht passt, geh in die Regierung und stelle selbst einen Lehrplan auf. Aber du wirst sehen, dass das nicht so einfach ist.
Mein Gott, ich weiß selbst, dass man von diesem Zeug, was wir lehren, im späteren Leben nicht alles braucht. Aber so ist es nun mal. Das System schreibt das nun mal so vor. Und wenn auch irgendwo der Wurm drinnen ist - es ist doch noch immer besser, die Kinder in die Schule zu schicken, als zur Arbeit. Oder bist du da anderer Meinung, Kim?“
„Moment, Mary. Du bringst da einiges durcheinander. Ich habe nicht das System angegriffen - auch nicht den Lehrplan. Ich wollte nur von dir selbst wissen, wie du zu dem stehst, was du in der Schule den Kindern lehrst. Das war alles. Und ich sehe in diesem Fall, dass du nicht dazu stehst. Also, warum machst du es dann?“
„Worauf willst du wirklich hinaus, Kim?“, fragte Mary entnervt und seufzte.
„Ich dachte, du liebst deine Arbeit und stehst voll und ganz dazu. Aber jetzt hat es den Anschein, dass dem nicht so ist. Also, warum suchst du dir nicht eine andere Arbeit, zu der du voll und ganz stehen kannst?“
„Ich liebe meine Arbeit, Kim!“ sagte Mary ziemlich laut und energisch - beinahe so wie Kim vorhin.
„Das tust du nicht. Sonst hättest du eben nicht gesagt, dass es nun mal so ist. Und das hat ziemlich unsicher, sogar resigniert geklungen. Außerdem hast du von einem Wurm im System gesprochen. Und auch das zeigt, dass du ganz und gar nicht mit allem zufrieden bist.“
„Ja, wer ist denn das schon? !“ schrie Mary auf. „Meinst du, alle Menschen gehen mit strahlenden Gesichtern zur Arbeit?“
„Wir reden jetzt über dich, Mary - nicht über die anderen Menschen. Warum fühlst du dich so angegriffen?“
„Oh, Gott!“ stieß Mary hervor.
„Glaubst du an ihn?“ fragte Kim leise.
„Was? An wen soll ich glauben?“ fragte Mary vollkommen verwirrt.
„An Gott!“
„Wie kommst du jetzt darauf?“
„Du sagtest eben - oh, Gott - und ich fragte dich, ob du an ihn glaubst.“
„Was - was hat das jetzt mit all dem zu tun, worüber wir eben gesprochen haben?“
„Du unterrichtest auch Religion, so viel ich weiß. Also erzählst du den Kindern etwas über Gott. Und deshalb fragte ich dich, ob du an ihn glaubst. Du hast mich selbst dazu gebracht, als du vorhin - oh, Gott - ausgerufen hast.“
Mary seufzte wieder.
„Was ist, Mary? Kannst du es mir nicht sagen?“
„Verdammt, was willst du heute von mir? Willst du mich ärgern? Willst du, dass ich dich hinaus werfe? Ja, willst du das?“
Mary klang mehr als wütend und ihre Augen funkelten sehr, sehr böse. Aber Kim blieb ruhig und war sich absolut keiner Schuld bewusst. Es war sogar so, dass er Mary beinahe bemitleidete.
„Es ist deine Wohnung, Mary. Wenn du mich nicht mehr erträgst, musst du das tun, was du nun mal für richtig hältst. Das wäre immerhin ein Anfang.“
„Ein Anfang? Ein Anfang wofür?“ fragte Mary, nachdem sie zweimal tief durchgeatmet hatte, um sich wieder einigermaßen zu beruhigen.
„Zu dem stehen, was du sagst und tust.“
„Wie kommst du dazu, mich zu kritisieren? !“ schrie Mary und ihr Puls jagte abermals hoch. „Ausgerechnet du, Kim? !“
„Weiche mit nicht immer aus, Mary. Wir sprechen von dir - weder von anderen Menschen, noch von mir. Ich wollte bloß wissen, wie du zu all dem stehst, was du sagst und was du tust. Und dabei ist nun mal deine Arbeit vordergründig. Und jetzt habe ich eben heraus gehört, dass du zu deiner Arbeit überhaupt nicht stehst - oder sagen wir: du stehst nur zum Teil dazu. Fühlst du dich wirklich kritisiert von mir?“
„Allerdings, Kim!“ stieß Mary tief atmend hervor.
Kim senkte kurz seinen Blick, schüttelte seinen Kopf und zündete sich die Zigarette an, die er eine Weile im rechten Mundwinkel stecken ließ. Erst dann nahm er sie zwischen Zeige- und Mittelfinger seiner rechten Hand und ließ den Rauch langsam aus seinem leicht geöffneten Mund steigen. Er sah Mary wieder an und lächelte sanft.
„Das war sicher nicht meine Absicht, Mary“, sagte er dann leise, beinahe flüsternd. „Aber du hast recht - ja, es klang sicher so, als ob ich dich kritisieren wollte. Das ist doch nicht wichtig, Mary - das sind doch bloß Worte.“
„Und du meinst, damit hat sich’s?“
„Bist du jetzt ernstlich böse auf mich? Wirst du mich jetzt hinaus werfen?“ fragte Kim und blickte von unten herauf, wie ein Unschuldsengel, zu Mary hoch, die noch immer aufrecht auf der Couch saß.
„Ich möchte nur wissen, was du mir eigentlich sagen wolltest, Kim“, sagte sie und war nun wirklich ruhig und auf alles gefasst.
„Im großen und ganzen - auf unser Gespräch zurück blickend - würde ich sagen, ging es einfach nur darum, dass du zu all dem stehen solltest, was du anderen lehrst. Ich meine - ich kann anderen Menschen nicht etwas lehren, wovon ich überhaupt nicht, oder nur wenig, überzeugt bin. Es geht nicht um den Wurm im System - es geht auch nicht um andere Menschen, sondern nur um dich selbst, Mary.“
„Aber ich lebe mit anderen Menschen auf dieser Welt, Kim.“
„Das ist es ja, Mary! Also, wie kannst du diese anderen Menschen in etwas hinein stoßen, wovon du nicht überzeugt bist?“
„Ich muss leben, Kim. Ich muss die Miete für diese Wohnung bezahlen. Ich muss Essen und Trinken für mich kaufen.“
„Vergiss diesen Quatsch.“
„Ach, ja? Soll ich deiner Meinung auf der Straße leben? Soll ich eine Herumtreiberin werden wie deine Freunde und womöglich auch auf den Strich gehen und mir Drogen kaufen, um die Wirklichkeit nicht mehr sehen zu müssen?“
„Wärst du dann nicht ehrlicher zu dir selbst?“
„Nein, dann wäre ich in wenigen Monaten tot!“ schrie Mary auf und schüttelte ihren Kopf.
Kim lächelte in sich hinein.
„Ja, lach mich nur aus, Kim. Bist du etwa glücklich und zufrieden mit dem Leben, das du führst?“
Kims Blick wurde ernst, beinahe traurig.
„Ich werde dir diese Frage beantworten, wenn du mir gesagt hast, ob du an Gott glaubst.“
„Ich weiß es nicht, Kim.“
„Ist es eher ein Ja, oder eher ein Nein?“ bestand Kim auf seine Frage.
„Es ist beides gleich viel, würde ich sagen“, meinte Mary nachdenklich.
„Okay - nein, ich bin nicht glücklich und zufrieden. Ich gebe sogar zu, dass ich ein gewaltiges Arschloch bin.“
Mary gab es einen Stich im Herzen. Sie wollte Kim in diesem Augenblick nicht verletzen, obwohl auch sie sehr oft Akes Gewalt unterlag und Kim mit einer Reitpeitsche schlug, bis er blutige Striemen hatte. Aber jetzt empfand sie tiefes Mitleid mit ihm. Sie setzte sich sogar zu ihm auf den Boden und strich ihm zärtlich übers Haar. Kim sah sie dabei überrascht an.
„Hey - nur kein falsches Mitleid, Mary“, sagte er verlegen lachend, wandte sich ab und dämpfte seine Zigarette im Aschenbecher, der neben dem Päckchen mit den Zigaretten und dem Feuerzeug lag, aus.
„Weißt du, Mary - das war es ja, was ich sagen wollte“, sprach er dann weiter, nahm ihre Hand, mit der sie ihm eben übers Haar gestreichelt hatte, zwischen seine Hände und drückte sie leicht. „Ich rede mich nicht aufs System, oder auf sonst etwas aus. Ich bekenne mich dazu, dass ich ein verdammtes Arschloch bin.“
„Das bist du nicht, mein Liebling“, säuselte Mary. „Du kannst nichts dafür, dass du so abgestürzt bist.“
„Ich bin voll und ganz der Meinung, dass es nur an mir selbst liegt, dass das aus mir geworden ist, was ich nun bin. Ich kann sicher nicht sagen, dass ich zu dem Leben, das ich nun führe, hundertprozentig stehe. Aber ich stehe zu dem, was ich bin. Und ich bin nun mal ein stinkendes, verdammtes Arschloch.
Und nun zu dir, Mary! Wenn ich auch dachte, dass du deine Arbeit liebst und zu dem stehst, was du den Kindern in der Schule lehrst - was ja im Grund irgendwie egal ist, denn es ist jedem einmal selbst überlassen, das zu finden, was er wirklich sucht. Aber wenn es schon so ist, dass du einiges und vielleicht auch das meiste anzweifelst - Mensch, dann steh doch dazu und sag, dass du es so und nicht anders willst, weil es für dich so einfacher ist. Sag, dass du nichts ändern willst, weil du Angst hast, deinen Job zu verlieren, oder sonst vor etwas Angst hast. Aber rede dich nicht auf andere aus.
Wahrscheinlich grübelst du sogar nachts, bevor du einschläfst, dass dies oder jenes nicht richtig ist, was du machst. Aber egal - steh dazu, denn du willst und kannst es ja doch nicht ändern. Und wenn du glaubst, dass du das kannst, dass du damit auch für andere Menschen den ersten Schritt machst, dann tu es. Aber, Himmel noch mal - steh zu allem - steh auch dazu, dass du ebenso manchmal ein dreckiges Arschloch bist. Du verlierst doch dabei nichts - im Gegenteil, du gewinnst nur an Einsicht. Du erkennst, dass all das ja doch nicht zählt, denn es sind bloß Erscheinungen - bloß Worte.“
„Was meinst du mit Erscheinungen - mit Worte?“ fragte Mary, die ziemlich interessiert zugehört hatte.
„Das alles ist nicht echt, Mary. Echt ist das, was wir nicht sehen - nicht wirklich wahrnehmen. Ich nenne es das Herz - andere nennen es die Seele, oder den Geist, was aber nicht das ist, was ich wirklich meine. Weißt du, manchmal fühle ich mein Herz ziemlich stark. Es ist dann so, als ob ich ein vollkommen anderer wäre, als ob ich alles in mir ausgeschaltet hätte. Und ich glaube, das Herz ist das Wahre - es ist das, worum es eigentlich geht. Unser Leben, Mary - das ist nur ein Punkt, aber niemand weiß, wie tief dieser Punkt ist - er kann sogar unendlich sein. Aber was über diesen unendlichen Punkt hinaus geht, ist noch viel unendlicher als er selbst. Das Leben, das wir hier führen, ist vollkommen bedeutungslos. Wir werden das alles vergessen, als ob es nie passiert wäre. Denn das, was wirklich passiert ist, das spielt sich im Herzen ab und ist jetzt für uns nicht erkennbar. Ich weiß, das hört sich irrsinnig an, aber glaube mir, manchmal fühle ich das so real - viel realer als diesen Moment, wo ich eben mit dir spreche. Es sind doch nur Worte, Mary - vollkommen bedeutungslose Worte. Ich könnte einfach nur blabla -sagen - es hätte die selbe Wirkung. Kannst du wenigstens ein bisschen verstehen, was ich meine?“
Mary sah Kim nur verwirrt an und zuckte mit den Achseln. Und Kim senkte seinen Blick und seufzte tief.
„Ich kann es nun mal nicht genauer erklären, Mary. Worte bedeuten ja nichts.“
„Okay, Kim - wenn es so ist, wie du eben gesagt hast, dann leben wir ja für nichts. Dann wäre es genauso gut, wenn wir bloß so dasitzen und aufs Sterben warten. Ungefähr so habe ich deine Worte jetzt verstanden.“
„Meinst du, dein Leben, dein Wirken auf der Erde, hat wirklich eine Bedeutung, dass man dich nie wieder vergisst? Dass man in Millionen Jahren noch immer über dich spricht?“
„Es gibt berühmte Künstler, die noch immer leben, obwohl sie schon mehrere hundert Jahre tot sind.“
„Ja, das nennt man so. Aber hast du noch nie darüber nachgedacht, warum nur sie noch immer leben, sozusagen nie in Vergessenheit geraten sind? Warum nicht auch andere? Was haben denn diese Künstler so besonderes getan? Ich sehe sie nicht - ich sehe nur die Bilder, die sie gemalt haben - ich höre nur die Musik, die sie komponiert haben - und ich lese nur die Zeilen, die sie geschrieben haben. Glaube mir, das könnten mehr Menschen - wenn nicht alle. Und ich denke, in dieser Beziehung hat jeder irgend etwas zurück gelassen, bloß wurde sein Name vergessen. Woher haben sie die Bilder, die Musik, die Zeilen? Meinst du wirklich, sie sind die einzigen Gründer dieser Kunst? Gab es da nicht Einflüsse, die viel mehr genannt werden müssten, als ihre Handlanger?“
„Welche denn, Kim? Welche Einflüsse?“
„Geräusche, die man hört - Situationen, die man erkennt - eben die Umgebung, die Zeit, den Raum, die Natur - aber niemals sich selbst alleine, denn da ist nichts. Diese großen Künstler hatten nun mal die Zeit und vielleicht auch die Geduld, das alles zu hören, zu sehen und zu fühlen. Das ist schon alles. Sie haben ein Geschenk empfangen, mehr nicht. Und für dieses Geschenk sollte ihr Name unsterblich sein? Nein, Mary - ich gebe diesen Bildern niemals den Namen ihrer Erzeuger. Denn sie sind nicht die wahren Erzeuger, genauso wenig wie Eltern die wahren Erzeuger ihrer Kinder sind.
Menschenleben, wie alle anderen Leben, die wir um uns sehen und erkennen können, sind bloß ein winziger, wenn auch unendlich tiefer Punkt in einer noch größeren Unendlichkeit. Und irgendwann werden sie für immer verschwinden, weil all das, was wir bedeutend nennen, überhaupt nicht bedeutend ist. Das Wahre, das wirklich Bedeutende erkennen wir nicht, solange wir unsere Herzen nicht wirklich fühlen. Erst dann erkennen wir die Tiefe eines Punktes, die wir dann auch hervor holen können und mit allen Punkten vereinen, um für immer in die ewige Unendlichkeit als Einheit eingehen. Du siehst, es verschwindet eigentlich nichts, denn es kann ja auch nichts verschwinden, weil schon immer alles da war.
Aber das, womit wir unsere Kraft nur unnötig vergeuden, das ist nicht wirklich da - das machen wir nur zu einer höchst verwirrenden und irrealen Wirklichkeit, die man eher Illusion nennen könnte.“
„Und was sollen wir deiner Meinung nach tun? Unsere Arbeit wegwerfen? Unser Leben von Grund auf ändern?“
„Wenn du es willst und kannst, dann tu es, Mary. Und wenn nicht, dann steh zu dem, was du tust. Das sagte ich ja bereits. Du musst dir nur deiner sicher sein.“
„Und so lebe ich dann richtig? Nur deshalb, weil ich zu dem stehe, was ich tu, obwohl ich es nicht hundertprozentig richtig finde? Das ist doch absurd, Kim.“
„Als du vorhin gefragt hast, ob du mich hinaus werfen sollst - weißt du noch, was ich darauf geantwortet habe?“ fragte Kim und sah Mary erwartungsvoll an.
„Ja, ich glaube, du sagtest - ich soll tun, was ich tun will - und, dass es ein Anfang wäre.“
„Richtig! Ich sagte, dass es ein Anfang wäre. Und? Weißt du nicht, was ich damit meine?“
„Dass ich immer das tun soll, was ich für richtig halte? Aber das kann ich nicht immer, Kim.“
„Okay, wenn du weißt, dass du es nicht immer kannst, dann steh auch zu dem. Du wirst doch deine ganz persönlichen Gründe dazu haben, warum du dies oder jenes, was du gerne tun möchtest, nicht tun kannst. Was ist schon dabei, wenn du ja doch den Vorteil hast?
Du sagtest, du liebst deine Arbeit. Ich kann mir vorstellen – obwohl es keine Bedeutung hat, was ich mir vorstelle, trotzdem sage ich es - also, ich kann mir vorstellen, dass es für dich sehr schön ist, mit Kindern zusammen zu arbeiten. Nur ist es jetzt eben so, dass du nicht mit allem einverstanden bist, was du ihnen lehrst. Trotzdem willst du diese Arbeit nicht missen und weißt auch, dass du alleine keinen Aufstand machen kannst, dass du nicht plötzlich einen vollkommen anderen Lehrstoff lehren kannst. Würdest du das tun, würdest du deinen Job sicher verlieren. Also fragst du dich, was denn wichtiger ist - deine Arbeit, oder Rebellion, die wahrscheinlich zu nichts führt. Du wirst sicher der Arbeit den Vorzug geben, weil du ja davon lebst. Also ist diese Diskussion für immer abgehakt.“
„Und was soll nun das Ganze?“
„Steh dazu, dass du gegen den Lehrplan nichts tun kannst und auch nichts tun willst.“
„Das tu ich doch, Kim.“
„Nein, denn du spielst die Hilflose und gibst anderen die Schuld.“
„Kim, ich habe noch nie darüber nachgedacht, ob ich mit diesem Lehrplan einverstanden bin. Darauf hast erst du mich gebracht. Bis jetzt war meine Welt immer in Ordnung.“
„Nein, Mary“, unterbrach Kim energisch. „Das kann nicht so gewesen sein. Deine Welt kann bis jetzt nicht in Ordnung gewesen sein. Sonst hättest du nie gesagt, dass du nichts dafür kannst - dass der Lehrplan eben von anderen aufgestellt wurde und du praktisch dazu gezwungen bist, ihn auch so und nicht anders zu lehren. Ich bin mir sogar sicher, das war ein sehr tiefer Schnitt in deinem Herzen. Okay, du hast das nicht mit diesen Worten gesagt, wie ich es eben ausgedrückt habe, aber du hast es so gefühlt. Sei ehrlich, Mary. Es ist doch so. Nur bist du dir bis heute dieser Tatsache nicht bewusst gewesen.
Weißt du, es sind immer nur Kleinigkeiten im Leben, die dir zu einer Erkenntnis verhelfen. Es ist nicht so absurd, über seine Tätigkeiten nachzudenken, ob man damit zufrieden ist. Ist man es nicht, sollte man über andere Wege nachdenken - einfach so, wie ich es dir eben gesagt habe. Wenn du deinen Lehrplan änderst, fliegst du von der Schule. Das wäre also nicht der richtige Weg, obwohl du willst, dass den Kindern der Lehrstoff etwas humorvoller und verständlicher gelehrt wird, was du ja ohne weiteres machen kannst. Aber die Gefahr besteht, dass du mit dem Lehrplan nur langsam vorwärts kommst und für das, was du in einem Jahr lehren sollst, zwei Jahre brauchst. Und es wäre auch möglich, dass du einiges aus dem Lehrplan heraus nehmen und anderes hinzufügen möchtest. Wir könnten das alles jetzt bis ins kleinste Detail durch diskutieren. Aber im Grunde genommen ist dir das ja nicht das Wichtigste, sondern einzig und alleine deine Arbeit als Lehrerin, deine Arbeit mit Kinder, weil du Kinder sehr liebst und dich dazu berufen fühlst, ihnen etwas zu lehren.
Erforsche deine Umrisse, Mary - nur so kannst du die Schale knacken und ins Innere vorstoßen. Denke nach über die Dinge, die du tust und warum du sie tust. Und wenn du alle diese Überlegungen aufgezählt hast, wie ich es eben tat, dann steh zu dem, was deiner Meinung nach das beste ist und schieb die Schuld nicht auf andere, sondern nur auf dich selbst. Und dann ändere das, was du Schuld nennst und du wirst sehen, dass es so etwas wie Schuld überhaupt nicht gibt.
Das ist der Anfang, Mary. Wie es dann weitergeht, wirst du ganz von alleine erkennen. Vielleicht sind sich unsere Herzen sogar ähnlich und du wirst sehen, dass alles um uns nur ein Teil vom Ganzen ist. Das Ganze ist wichtig - nicht der einzelne Teil - denn der einzelne Teil kann nichts verändern - im Grunde genommen nicht einmal sich selbst. Du aber, du solltest etwas an dir ändern, denn das, was du jetzt dein Ich nennst, Mary - das ist nur Illusion. Der Teil, der sich nicht ändern lässt, ist das Wahre von dir - nämlich dein Herz, das du, sobald du die Schale geknackt hast, erkennen wirst. Ich könnte stundenlang darüber sprechen, da mir immer wieder etwas neues dazu einfällt. Vor allem dazu, dass du niemand anderem die Schuld geben kannst. Das alles, was du siehst, was dich umgibt - ist das Ganze. Du kannst es mit deinem eigenen Körper vergleichen. Wenn dir der Finger weh tut, gibst du ihm die Schuld dafür? Sicher nicht! Du wirst wahrscheinlich etwas dagegen unternehmen, damit er dir nicht mehr weh tut. Du wirst ihn deswegen weder lieben, noch hassen - sondern einfach akzeptieren. Triffst du jetzt einen Menschen, der dir Böses antut, egal in welcher Form - auf jeden Fall schmerzt er dich, wie vorhin dein Finger. Also, wozu machst du einen Unterschied zwischen ihm und deinem Finger? Warum bist du ihm böse? Warum hasst du ihn? Und frage dich, was du vorhin getan hast, als dein Finger weh tat. Hast du ihn noch mehr verletzt, oder hast ihm etwas Gutes getan, um seinen Schmerz zu lindern?“
Mary sah Kim nach diesen Worten verwundert an. Sie überlegte, ob sie diese Frage auch wirklich stellen soll. Ja, sie überlegte wirklich, was nun wichtiger für sie ist - die Antwort auf diese Frage, die in ihr brannte, oder Kim damit nicht zu verletzen. Und sie überlegte weiter, dass sie Kim ja gar nicht verletzen kann, denn mit so einer Einstellung, wie er sie hat, müsste er doch über alles und allem stehen. Also entschloss sie sich zur Frage.
„Wehrst du dich deswegen nicht? Ich meine, schlägst du deswegen nie zurück?“
„Nein, das ist sicher nicht der Grund, auch wenn es ein Grund wäre.“
„Was redest du dann? Du bist ja von dem, was du sagst, genauso wenig überzeugt.“
„Ich bin überzeugt davon, Mary. Aber das ist für mich kein Grund, um mich nicht zu wehren. Mag sein, dass es ein kleiner Teil davon ist, aber nicht mehr. Es ist schon richtig, dass ich dem schmerzenden Teil nicht noch mehr Schmerzen zufügen will. Aber das ist nicht der Grund, warum ich mich nicht wehre.“
„Was dann, Kim?“
Kim blickte zu Boden und seufzte. Nach wenigen Sekunden sah er Mary etwas unentschlossen an. Er hielt noch immer ihre Hand zwischen seinen und drückte sie nun leicht.
„Ich wehre mich, Mary“, sagte er nach einer Weile. „Ich wehre mich gegen mich selbst. Ich bin mein größter Feind in diesem Kampf - und ich hasse es, wenn ich weine, wenn ich traurig bin, wenn ich mich sozusagen selbst bemitleide. Ich habe ja keinen Grund, mich selbst zu bemitleiden. Ich könnte weglaufen, irgendwohin, wo keine Menschen sind, die mich quälen, aber ich tu es nicht. Und dazu muss ich stehen. Das ist mein Kampf, den wohl kaum jemand verstehen kann. Ich wehre mich gegen mich selbst, um das Wahre, um mein Herz nicht zu verlieren. Mein Herz fühlt den Schmerz nicht - für mein Herz ist all dies so unbedeutend. Und das weiß ich. Dafür kämpfe ich, aber man sieht es nicht. Es ist ein sehr, sehr schwerer Kampf, Mary - ja, ein wirklich unheimlich schwerer Kampf.“
Mary kamen die Tränen, aber Kim lächelte und nahm sie in seine Arme. Er hasste sein Selbstmitleid und viel mehr das Mitleid der anderen. Er hätte noch zu gerne über die Sinnlosigkeit dieses Mitleids gesprochen, was wir ja schon kennen, aber er schwieg und blieb lange Zeit mit Mary eng umschlungen am Boden sitzen. Das Gespräch war beendet.
Ich schrieb vor diesem Gespräch zwischen Mary und Kim, dass es dabei um Individualität geht. Man wird sich jetzt fragen, was dieses Gespräch mit Individualität zu tun hat. Aber das hat es, denn Kim sagte ja, dass man zu sich selbst stehen soll, selbst wenn man erkennt, dass man ein Arschloch ist. Sobald man sich nach jemand anderem richtet, ist es vorbei mit der eigenen Individualität. Mary richtete sich zwar nach dem vorgeschriebenen Unterrichtsstoff, aber wenn sie dazu steht und weiß, dass jeder andere Weg sinnlos ist und sich mit jedem anderen Weg nur selbst schadet, bleibt sie ihrer Individualität treu.
Kim sagte in den Büchern Kim 1.Buch bis Kim 12.Buch, dass nur ein Weg zum Herzen führt und zwar der wahre. Im Buch „Die Rebellen“ ging es beim Gespräch zwischen Una und Kim ebenfalls um den wahren Weg, als Una Kim fragte, ob er seine Urenkelin nicht gerne sehen würde und deshalb einmal von der Leuchtenden Welt zu ihr kommen könnte. Kim sagte, dass er das wirklich gerne tun würde, und Una sagte darauf, dass er es tun soll, denn der Weg des Herzens ist ja nichts anderes, als das, was man gerne tut. Aber Kim erwiderte darauf, dass manche Wege, die man gerne tut, kaum etwas mit dem Herzen zu tun haben, sondern viel mehr dem Egoismus dienen. Man muss ständig abwägen und sich gewiss sein, dass man sich nach jeder Tat, nach jedem Wort noch immer mit reinem Gewissen selbst in die Augen schauen kann. Wenn er nun, zum Beispiel, nur für einen Moment auf die Erde kommen würde, um seine Sehnsucht nach seiner Enkelin zu stillen, wäre es möglich, dass er genau in diesem Moment abgelenkt und eine fremde Welt von Dämonen bedroht wird. Er könnte sich nie verzeihen, wenn diese fremde Welt verloren gehen würde, während er seiner eigenen Befriedigung nachgegangen ist. Sozusagen ist der wahre Weg nur der, auf der Leuchtenden Welt zu bleiben, um immer achtsam zu sein, falls irgendwo eine Bedrohung seitens der Dämonen auftritt. Durch den Anblick seiner Enkelin wäre er zu sehr von seiner Achtsamkeit abgelenkt, also wäre das nicht der wahre Weg, obwohl er es gerne tun würde.
Es ist also nicht einfach, den Weg des Herzens zu finden, geschweige denn ihn zu gehen. Es spielen zu viele Faktoren mit, wobei einige leicht übersehen werden können. Aber nur durch dieses ständige und sehr genaue Abwägen wäre die Möglichkeit da, unsere Herzen zu finden. Man darf dabei nicht darauf vergessen, dass dieser Weg mit Egoismus und Eigenliebe absolut nichts zu tun hat, sondern, dass dieser Weg ein Weg der Sklaven ist, um allem und jedem in selbstloser Liebe zu dienen.
Aber hier sind wir schon bei der zweiten Stufe. Ich möchte zuerst einmal die erste Stufe klären, wo es darum geht, zu sich selbst zu stehen, auch wenn man erkennt, dass man ein Arschloch ist. Viele Menschen können und wollen sich nicht ändern. Einige sagen, dass sie einfach zu schwach sind, andere wieder meinen, dass es ohnehin sinnlos sei, also kosten wir alles aus, was es zum Auskosten gibt. Aber im Hinterkopf steckt ja doch ein kleiner Mann, der ständig mit dem drohenden Zeigefinger winkt. Und nun geht es darum, diesen kleinen Dämon, diesen kleinen Mann mit dem drohenden Zeigefinger zu besiegen und voll und ganz dazu stehen, was man nun mal tut und sagt, selbst wenn dabei heraus kommt, dass man, wie bereits mehrmals gesagt, ein Arschloch ist.
Den Weg zum Herzen kann man nicht erzwingen, wenn man noch nicht dazu bereit ist. Selbst Carlos Castanedas Don Juan sagte, es zeigt nur von Schwäche, wenn man sich unter Zwang etwas abgewöhnen, oder sich ändern will, denn nur die Kraft wählt den Krieger aus, niemals der Krieger die Kraft. Also stehen wir dazu, wie wir nun mal sind, um erst einmal unsere eigene Individualität zu erkennen. Kim sagte ja auch, dass es im Grunde genommen kein Gut und kein Böse gibt, denn diese moralischen Begriffe wurden ja nur von den Menschen aufgestellt. Und wir sind nun mal von Natur aus Jäger - also, wenn sich ein Opfer förmlich anbietet, dann jagen und stellen wir es. Ich will jetzt Mord oder Diebstahl sicher nicht gut heißen, aber es ist nun mal so, dass es diese Phänomene auf unserer Erde gibt und wir damit klar kommen müssen, selbst wenn wir es nicht verstehen. Ein Urteil über andere führt uns nur weiter weg vom wahren Weg zum Herzen.

Gespräch zwischen Melanie und Kim auf der Leuchtenden Welt

„Ein Traum ist niemals perfekt. Perfektion gibt es nicht wirklich, denn es wird immer etwas zu erkennen geben, selbst wenn es die ständige Leere ist, werden wir in dieser Leere eine weitere Leere erkennen“, sagte Kim zu Melanie, als sie sich lange nach dem Endkampf einmal am Ufer der ewigen Quelle unterhielten. „Diese Träume sind der reine Egoismus, von dem sich das Herz befreien muss und will. Es kann mit diesen Träumen nicht ewig mitten in der Quelle der Kraft ausharren. Wir sind Verstoßene, Melanie, nichts als verstoßene Träume, mit denen man nichts anfangen kann. Wir haben nicht das Recht, uns als Retter, oder sogenannte Heilige aufzuspielen.
Ich will jetzt nicht sagen, dass ich in meinem Leben auf der Erde nur Fehler und Unsinn gemacht habe und dass mir das alles leid tut, weil ich erst so spät erkannt habe. Es tut mir nichts leid, denn heute weiß ich, dass ich bloß ein abgestoßener Traum meines Herzens bin, der sich selbst erkennen muss - der das, als was er hervorgegangen ist, ablegen muss - sich sozusagen davon loslösen muss. Ich bin mit meinem Loslösen noch immer nicht am Ende, Melanie. Wir alle sind noch immer mitten drin. Was ist das Paradies schon wert, wenn es ja doch nur ein Traum ist?
Ich erinnere mich daran, als ich Dinge sagte, die man von mir niemals erwartet hätte. Aber warum hat man sie niemals erwartet? Ja, doch nur, weil man mich nicht als das erkannt hat, was ich wirklich bin. Ich war und ich bin nicht besser als ihr. Ich bin bloß ein Traum meines Herzens, und dieser Traum hat die Möglichkeit zu erkennen, sich loszulösen, um mit einem neuen Bewusstsein in sich selbst einzugehen. Das hier, was du siehst, was du fühlst, was uns umgibt, was uns selbst ebenso ausmacht - von all dem musst du dich reinwaschen, um endlich das Wahre zu erkennen.
Ich bin nicht unfehlbar, Melanie - ich sage heute noch immer Dinge, die niemand von mir erwartet. Manchmal befinde ich mich in einer Dimension und spreche wie ein Mensch, dabei benutze ich vulgäre Ausdrücke und dann wundert man sich, wie ich - ausgerechnet der, der das Universum vor dem Bösen gerettet hat, solche Ausdrücke in seinen heiligen Mund nehmen kann.
Mann, ich wünsche euch alle zum Teufel! Ja, okay - das tu ich wirklich. Aber was bringt es? Es sind doch nur Worte, mit denen ich euch allen zeigen will, dass ich nichts Besonderes bin und auch nie etwas Besonderes getan habe.
Melanie, hast du nicht auch im Reich des Bösen gekämpft? Hast du nicht auch dasselbe wie ich zum Endkampf beigetragen? Sag jetzt nicht, dass du nicht gegen Luzifer gekämpft hast, so wie ich. Luzifer gab es nie, Melanie - es gab immer nur Träume, sonst nichts - Träume, die sich materialisiert haben, aber in einer Wirklichkeit, die nur wenige erkennen konnten. Eigentlich erkennen es alle, aber das Bewusstsein ist eine Geißel dieses Universums - es ist schlimmer als dieser Luzifer, an den sie einmal wirklich geglaubt haben.“
„Du warst berechnend, Kim. So etwas hätte ich nie von dir erwartet. Du hast diese Worte bloß aus dem Grund gesagt, um die Menschen, die deine besten Freunde waren, zu verarschen“, sagte Melanie verächtlich.
„Nein, Melanie, ich tat es nicht berechnend - es geschah einfach, wie nun mal alles einfach geschieht. Manchmal fühlte ich Kräfte in mir, die nun mal heraus mussten. Ich sagte oft Dinge, die ich selbst nicht verstand. Ich vergaß sie nicht, denn ich erkannte ihren Sinn immer erst viel später. So auch diese Dinge, die man nicht von mir erwartet hätte. Ich bin mir keiner Schuld bewusst, weil es keine Schuld gibt.
Weißt du nicht, dass ich niemals hassen konnte, Melanie? Selbst, als du mich fast zu Tode gequält hast, habe ich dich zu meinen Freunden gezählt. Es gibt keine Schuld, Melanie - und das wusste ich schon immer.“
„Was war mit deinen Gefühlen, Kim? Konntest du sie so einfach unterdrücken, nur weil du nicht an Schuld geglaubt hast?“ fragte Melanie.
„Meine Gefühle richteten sich immer nur gegen mich selbst. Man könnte sagen, dass ich mich selbst hasste, obwohl ich vorhin sagte, dass ich niemals hassen konnte. Es war ja auch nicht Hass, sondern der ständig zwingende Kampf um mein Herz, dessen Höhepunkt der Endkampf war. Das heißt aber nicht, dass mein Kampf nun zu Ende ist - das ist er noch lange nicht – wahrscheinlich dauert er ewig, wenn man bedenkt, dass alles gleichzeitig passiert.
Erinnere dich an den Besuch bei den Golinen, den wir vor kurzem gemacht haben. Du bist mir nicht gefolgt, als ich sagte, dass ich gleichzeitig ein Wolf und vieles andere bin, dass ich sozusagen gleichzeitig an verschiedenen Orten existiere.
Weißt du, Melanie - diese ganze Geschichte, die mit meiner Geburt begann und nun bald im ewigen Energiefeld enden wird - das sage ich jetzt nur so, um es dir verständlich zu machen, da du nur wenig von der Multidimensionalität erkennst - das war die reinste Phantasiestory. Wir lebten zwar in der sogenannten Wirklichkeit, aber das Wahre spielte sich ganz woanders ab. Man könnte sagen, wir haben uns alle in uns selbst verloren und glaubten an Wirklichkeiten, die für andere Menschen nichts als Unsinn waren. Ich hätte niemals in die Öffentlichkeit hinaus gehen und mein sogenanntes Geheimnis offenbaren können. Entweder hätte man mich sofort ins Irrenhaus gesperrt, oder einfach nur ausgelacht. Man hätte nichts verstanden, Melanie, weil einfach der Glaube dazu fehlte. Um deine inneren Universen, ich sage jetzt absichtlich Universen, weil es ja unzählige, ja unendliche gibt - brauchst du zuerst einmal einen unerschütterlichen Glauben. Aber, um den zu erlangen, musst du dich von allem lösen, was diesen Glauben beeinflussen könnte.
Ich weiß das, Melanie - denn ich stieß durch diesen Glauben in Dimensionen vor, wo jeder Durchschnittsmensch damals gesagt hätte, dass es das nicht wirklich gibt. Man hätte gesagt, dass ich bloß träume. Aber niemand hätte wirklich gewusst, dass er damit recht hat. Jeder träumt nur, Melanie. Jeder träumt seine eigene Wirklichkeit - nur einige wenige, so wie wir, hatten die Kraft, darüber hinaus zu gehen und eine Wirklichkeit zu träumen, die sich so sehr von der gewöhnlichen Wirklichkeit unterscheidet, dass es schon eine andere Welt ist.
Verstehst du, was ich meine, Melanie? Jeder träumt seine eigene Wirklichkeit, aber diese Wirklichkeit unterscheidet sich nicht all zu sehr von den anderen. Und das ist deshalb, weil sich alle beeinflussen lassen, weil sie mit den Energien nicht umgehen können. Sie sagen ja und amen zu allem, und doch fühlen sie das Grün des Grases auf unterschiedliche Weise.
Mann, es hätte doch jedem sofort auffallen müssen, aber diese Kleinigkeiten gingen an allen vorbei. Weißt du, wenn ich schon bemerke, dass ich das Grün eines Grashalms ganz anders empfinde als mein Freund, dann hätte sich doch das Universum schon damals für mich öffnen müssen. Es fehlte einfach der Glaube. Nun, wir hatten auch nie den wahren Beweis für diese Unterschiede. Ja, die Menschen sahen Unterschiede, aber nur dort, wo eigentlich keine waren. Dort, wo sie wirklich waren, übersahen sie alles.
Du fragst dich jetzt, was ich mit dieser Rede bezwecke, was? Eigentlich gar nichts, Melanie. Es war nur ein weiterer Weg in mich selbst, sonst nichts.“
„Meinst du, dass wir alle, jeder einzelne von uns, eigentlich in einem eigenen, ganz eigenen Universum und einer ganz eigenen Wirklichkeit leben?“
„Das tun wir ganz sicher, Melanie. Wie könntest du dir sonst meine Lebensgeschichte erklären?“
„Du tust jetzt so, als ob es dich nicht wirklich geben würde, Kim.“
„Das muss ich, Melanie. Denn deine Welt ist eine andere als meine. Das, als was du mich siehst, existiert nicht für mich. Das ist deine Welt, nicht meine. Ich bin in meiner eigenen Welt, Melanie und habe mit deiner Welt nichts zu tun. Mag sein, dass du mich als beinah perfekte Kopie in dir trägst, aber lass dir das gesagt sein, das bin nicht ich, also existiere ich auch nicht.“
„Maria hat recht - dich zu verstehen wird immer schwieriger. Du bist der Widerspruch selbst. Wenn wir nun alle, jeder einzelne für sich in seinem eigenen Universum, existieren, wie soll es dann jemals zur Einheit kommen?“
„Sagte ich nicht, dass wir bloß Träume sind, Melanie? Die Einheit ist doch immer anwesend - sie ist gleichzeitig mit dieser unendlichen Zerstreutheit anwesend. Wir sind die Einheit und doch lebt jeder einzelne in seinem ganz eigenen Universum. Und zugleich sind wir nicht die Einheit, weil wir ja nur Träume dieser Einheit sind. Weißt du nicht, wer dieses WIR ist, Melanie? Willst du denn behaupten, dass dieser kleine Teil, als den du dich jetzt wahrnimmst, das Ganze ist?“
„Ich lebe nach meinem Herzen, Kim - also bin ich mein Herz.“
Kim lachte hell auf.
„Du lebst nach deinem Herzen, Melanie - das ist vollkommen richtig - das streite ich nicht ab - wirklich nicht, denn ich fühle, dass du deinem Herzen wirklich schon sehr, sehr nahe bist. Aber wie kannst du etwas sein, dem du nahe bist? Meinst du nicht, dass DAS ein Widerspruch ist?“
„Dann bin ich also nur ein Traum, ja?“
Kim lachte wieder hell auf.
„Lass dich nicht in mein Universum ziehen. Träume nicht mehr - denn die Zeit des Träumens ist schon lange vorbei. Wir haben sie durch den Endkampf beendet.“
Mit diesen Worten erhob sich Kim und ließ Melanie total verwirrt zurück.

Manola

Das nächste Thema betrifft Kims Erziehungssinn. In den Büchern Kim 1.Buch bis 12.Buch war immer die Rede davon, dass es nie Strafen und nur ganz selten laute Worte gab. Als Manola und Cora noch klein waren, gab es für Kim auch nie Gelegenheiten dazu. Auf jeden Fall war er immer für sie da und hörte sich ihre kleinen Probleme vollkommen ernsthaft an. Er nahm seine „kleinen Mädchen“ genauso ernst wie Erwachsene. Für ihn gab es da keinen Unterschied.
Als Manola geboren wurde, sorgte er sich mehr um sie als ihre Mutter, da Maria damals einmal sogar sagte: „Schade, dass du keine Milch in deiner Brust hast, sonst wärst du die vorbildlichste Mutter, die es gibt.“ Sie wusste damals noch nicht, dass Kim ein Leuchtendes Wesen ist und genauso Babys säugen kann, wie es Frauen tun. Auf jeden Fall durfte Manola niemals weinen. Beim kleinsten „Mucksen“ sprang er nachts vom Bett auf und hob sein kleines Mädchen aus dem Gitterbett. Wenn es sein musste, trug er Manola die ganze Nacht in seinen Armen spazieren.
Problematischer wurde es, als Cora und Manola in die Pubertät kamen und sich in Kim verliebten. Diese Liebe konnten sie nie aus ihren Herzen streichen - erst, als beide ihre Partner kennen lernten und heirateten, tat sie nicht mehr weh.
Cora war in ihrer Pubertät etwas vernünftiger als Manola, denn Manola ging sogar so weit und prüfte Kims Liebe. Sie hatte mit 14 ihren ersten Freund, mit dem sie sogar Geschlechtsverkehr hatte. Etwas später stahl sie in die Schule aus der Klassenkasse Geld, aber so, dass man sie sicher erwischte und der Klassenvorstand einen Brief nach Hause schickte und sie eine Diebin nannte. Auch damit wollte sie ihren Vater prüfen, ob er auch dann noch immer zu ihr steht, ohne wirklich verzeihen zu müssen, was ja immer seine Rede war.
Manola konnte nicht einsehen, dass Kim nichts aus der Ruhe bringt – dass seine Liebe im Grunde genommen wirklich bedingungslos war. Maria war in dieser Beziehung nicht so tolerant und ruhig, denn ihr rutschte des öfteren, zwar nur leicht, die Hand aus, und sie schimpfte auch sehr oft mit beiden Mädchen, wo Kim dann natürlich sagte, dass es gar nicht notwendig gewesen wäre. Und eben das konnte Manola nicht verstehen. Sie hörte ja in der Schule von ihren Kollegen, dass ihre Eltern oft ausrasten und sagen, dass sie es nur deshalb tun, weil sie sich sorgen, weil sie wollen, dass es die Kinder im späteren Leben leichter haben. Und wenn Kim nie strafte, nie schimpfte, dann sorgte er sich auch nicht um seine Mädchen. Zumindest Manola sah das so.
Cora, die Adoptivtochter, hingegen war glücklich und spürte nur so die Liebe ihres Daddys, dessen Hand sie vom ersten Augenblick an, als sie ihn im Waisenhaus sah, nie mehr loslassen wollte.
Als dieser Brief ins Haus kam, dass Manola in der Schule Geld gestohlen hat, war es nur Maria, welche Manola zur Rede stellte, denn Kim ging ihr aus dem Weg. Er verweigerte jede Kommunikation mit seiner Tochter. Maria verstand das nicht, deshalb stellte sie ihn am Abend, als sie im Bett lagen, zur Rede.
„Manchmal glaube ich, dass dir alles egal ist. Sogar Kerstin sagte schon einmal, dass du dich nicht mehr so liebevoll um deine Töchter kümmerst, wie früher. Damals warst du immer für sie da, bist zu ihnen gegangen, hast sie zur Rede gestellt, stundenlang mit ihnen gesprochen. Aber jetzt? Jetzt behandelst du sie, als ob sie Luft für dich wären. Findest du es denn gut, Manola nicht zu strafen, obwohl sie gestohlen hat?“ fragte sie.
„Womit soll ich sie denn strafen? Meinst du nicht, dass sie ohnehin schon genug gestraft ist?“
„Womit ist sie denn gestraft?“
„Mit sich selbst.“
„Du machst es dir leicht, Kim. Deine Ausreden, die du immer hast, helfen Manola nicht weiter. Du musst mit ihr reden.“
„Was soll ich ihr denn sagen? Dass man nicht stehlen darf? Meinst du nicht, dass sie das schon längst weiß?“
Maria schüttelte ihren Kopf.
„Ich an deiner Stelle würde sie mal ordentlich übers Knie legen. Ich will nicht sagen, dass uns Manola Probleme macht, trotzdem mache ich mir um sie mehr Sorgen als um Cora.“
„Das siehst nur du so, mein Mädchen.“
Maria schüttelte abermals ihren Kopf.
„Was ist nun? Du hättest jetzt noch die Gelegenheit dazu, mit Manola zu reden. Sie ist in ihrem Zimmer und schläft noch nicht. Und dann verdonnere sie zu Hausarrest, Fernsehverbot, oder was auch immer.“
„Was würde das ändern? Meinst du, wenn ich sie strafe, dass sich ihre Tat in nichts auflöst? Es ist passiert und kann durch nichts ausgelöscht werden, nicht einmal durch die härteste Strafe.
Sag mal, bist du für, oder gegen die Todesstrafe?“
„Was soll das jetzt wieder? Was hat das damit zu tun?“ fragte Maria entnervt.
„Gib mir nur eine Antwort, mein Mädchen. Bist du dafür, oder dagegen?“
„Natürlich dagegen.“
„Und warum?“ fragte Kim.
Maria sah ihn entgeistert an.
„Warum?“ fragte er noch mal.
„Das - das hat doch damit wirklich nichts zu tun, Kim. Manola hat doch niemanden umgebracht - sie hat bloß ein bisschen Geld aus der Klassenkassa gestohlen.“
„Warum bist du gegen die Todesstrafe, mein Mädchen?“
„Weil es unmenschlich ist und das Opfer davon nicht mehr lebendig wird. Es würde also genügen, den Täter lebenslänglich einzusperren.“
Kim lachte auf.
„Lebenslänglich einsperren? Ach, ja. Und davon würde das Opfer sicher lebendig werden“, meinte er dann sarkastisch.
„Willst du mich auch fragen, ob ich gegen Gefängnisse bin?“
„Natürlich will ich das. Bist du es denn?“
„Nein“, stieß Maria bereits sehr ärgerlich hervor.
„Und warum nicht?“
„Weil ich der Meinung bin, dass man solche Menschen nicht frei herum rennen lassen darf. Sie sind eine Gefahr für andere.“
„Du meinst, jeder, der einmal einen Mord begeht, wird immer wieder zuschlagen?“
„Die Wiederholungsgefahr besteht - vor allem, wenn er irre ist.“
„Klar, und wenn er irre ist, kommt er ins Irrenhaus - und das wohl auch lebenslänglich“, meinte Kim, abermals sehr sarkastisch.
Maria war bereits mehr als entnervt.
„Was, um aller Welt, hat das alles jetzt mit Manola zu tun?“ fragte sie ernstlich böse.
„Du sagtest, ich soll sie bestrafen. Und ich möchte dir allgemein klar legen, dass jede Strafe total sinnlos ist. Sie ist nicht einmal dazu da, um andere abzuschrecken, denn wenn es so wäre, würde es überhaupt keine sogenannten Verbrecher geben.“
„Nun gut, Kim. Ich lasse mich auf diese Diskussion ein. Was also schlägst du vor? Keine Strafen mehr? Keine Gesetze mehr? Ist es das, was dir in deiner - tut mir leid, dass ich das jetzt sagen muss - in deiner idiotischen Traumwelt, vorschwebt?“
Kim lächelte.
„Das ist es, mein Mädchen. Sobald es keine Gesetze mehr gibt, gibt es auch keine Verbrecher mehr. Ist doch logisch, oder nicht?“
„Du bist irre - total irre!“
„Nur ein Beispiel, mein Mädchen. Du hättest die Wahl mit einem von zwei Männern in einem Wald spazieren zu gehen. Du weißt über beide nichts - bis auf die Tatsache, dass einer von ihnen bereits einen Menschen getötet hat. Mit welchem würdest du in den Wald gehen - mit dem sogenannten Mörder, oder mit dem anderen?“
„Natürlich mit dem anderen“, sagte Maria schnell.
„Warum?“
„Du kannst blöd fragen. Der Mörder hat ja nichts mehr zu verlieren. Für ihn wäre es leicht, einen zweiten Menschen umzubringen.“
„Glaubst du? Glaubst du wirklich, dass es für jeden Menschen vollkommen gleich ist? Oder meinst du nicht, dass es ein Schock für diesen Menschen gewesen sein könnte, als er durch seine Hand einen anderen sterben sah? Dass er für alle Zeit geheilt ist?
Aber der andere Mann, mit dem du es eher vorziehst, in den dunklen, tiefen Wald zu gehen, hat diese Situation noch nicht hinter sich. Er ist also nicht gewarnt.
Also ich würde eher den sogenannten Mörder wählen. Er weiß, wie furchtbar es ist, einen Menschen gewaltsam sterben zu sehen. Der andere, wie gesagt, weiß es noch nicht. Und ich würde sagen, jeder ist dazu fähig, - wirklich jeder.“
„Und was soll das Ganze?“
„Damit würde ich meinen, dass man alle Menschen dieser Welt einsperren müsste - nicht nur die sogenannten Verbrecher. Oder man sollte alle Gesetze aufheben und die Menschen sich selbst überlassen, dass jeder tun und lassen kann, was er will.“
„Also, ich würde dann sicher nie wieder auf die Straße gehen.“
„Hast du so wenig Vertrauen zu den Menschen?“
„Ich weiß, dass da draußen zu 99% nur Irre herum laufen. Und ich bin mir sicher, dass jeder irgend wann einmal an Mord denkt. Wenn es dann keine Gesetze mehr gibt, hat niemand mehr Angst vor Strafen - und dann würde es auf den Straßen wie auf einem Kriegsfeld aussehen.“
„Glaubst du das wirklich? Glaubst du wirklich, dass es die Gesetze sind, welche manche Menschen von einem Verbrechen abhalten?“
„Es geht ja nicht nur um Mord, Kim - es geht auch um Diebstahl. Die Banken wären überfüllt von Räubern - jeder Juwelierladen würde ausgeräumt werden. An jeder Ecke gäbe es Vergewaltigung und Schlägerei. Es wäre das reinste Chaos.
Die Welt, die du dir vorstellst, ist noch lange nicht möglich, wenn überhaupt. Du hast es ja zum Teil versucht und dann auch am eigenen Leib gespürt, dass die Menschen das auch gar nicht wollen. Wenn du nicht Richard gewesen wärst, hätte dich diese Organisation damals getötet. Du warst nicht nur Staatsfeind Nummer 1, sondern sogar Weltfeind Nummer 1. Du bist zu empfindlich in ihre Geschäfte eingedrungen.
Menschen dieser Art, so wie du einer bist, hatten noch nie eine Chance. Früher wurden sie für verrückt erklärt und kamen lebenslänglich ins Irrenhaus, bis sie dann ja auch wirklich verrückt wurden, denn dafür haben die da drinnen schon gesorgt. Heute ist das nur mehr schwer möglich - also wird der Typ einfach weggeräumt und dieser Mord als Unfall, oder Unglück dargestellt.
Mit deinen Erziehungsmethoden - um wieder auf unsere Kinder zurück zu kommen, tust du ihnen nichts gutes, Kim. Du versetzt sie bloß in deine imaginäre Traumwelt, die es, so lange sie leben, nicht geben wird. Also hör endlich mit diesem Schwachsinn auf und lass uns diese ebenso schwachsinnige Diskussion endlich beenden.“
„Okay, trotzdem werde ich nicht zu Manola gehen und auch nicht mit ihr reden, weil ich weiß, warum sie das getan hat.“
„Ach, ja? Und warum hat sie das getan?“
„Um mich zu prüfen.“
„Um dich zu prüfen? Was heißt das nun wieder?“
„Sie will prüfen, wie weit sie gehen kann, wie sehr sie meine Liebe strapazieren kann.“
„Das ist doch Schwachsinn, Kim. Und als nächstes begeht sie wahrscheinlich einen Mord. Ist es das, was du denkst?“
„Ich weiß es nicht, Maria. Es könnte möglich sein, dass sie das tut.“
„Du bist ja wirklich verrückt! Wenn du schon so etwas annimmst, dann müsstest du erst recht mit ihr reden.“
„Was denn? Was soll ich ihr sagen - was tun? Soll ich zu ihr gehen, mich nackt zu ihr ins Bett legen und sagen: Du kannst mich haben? Ist es das, was du von mir verlangst? Soll ich zu ihr gehen, mit ihr schlafen und ihr dann sagen, dass es mir vollkommen egal ist, was sie tut - ob sie nun stiehlt, oder gar mordet, denn meine Liebe zu ihr wird immer die selbe bleiben?
Bist du wirklich so blind, Maria? Siehst du noch immer nicht, was da vorgeht? Manola spielt nur mit mir - das ist alles. Aber ich werde mich auf dieses Spiel nicht einlassen.“
„Du meinst, sie will, dass du mit ihr ins Bett gehst? Dass sie nur deshalb diesen Unsinn gemacht hat? Das klingt ja nach Erpressung, Kim.“
„Im Grunde genommen ist es das auch. Auf der einen Seite will sie, dass ich genauso bin wie alle Väter - dass ich strafe, schimpfe und manchmal sogar zuschlage. Wäre ich so, könnte sie mich vielleicht für einen Moment hassen, was ihre Liebe zu mir logischerweise schwächen würde, die ihr im Moment ziemlich weh tut. Und auf der anderen Seite, wenn ich auf das erste nicht eingehe, will sie mich in ihrem Bett haben. Nur ist es jetzt so, dass ich beide Seiten nicht akzeptiere, einfach nicht eingehen kann. Also? Was soll ich tun? Jede Diskussion wäre unnötig.“
„Und du meinst, als nächstes bringt sie jemanden um?“ fragte Maria schockiert.
Kim lächelte gequält.
„Woher soll ich das wissen, Maria? Vielleicht hat sie sogar den Gedanken, sich selbst umzubringen. Wer weiß schon, was in einem anderen Menschen wirklich vorgeht?“
„Du, Kim!“
Kim seufzte.
„Nein, auch ich nicht, mein Mädchen. Ich kann es nur annehmen, aber mit Wissen hat das absolut nichts zu tun. Jeder einzelne Mensch ist individuell zu verschieden - jede einzelne Energie, die auf ihm einwirkt, kann nie berechnet werden, da sie auf jeden anders wirkt.
Glaube mir, ich will unsere Mädchen niemals in meine Welt ziehen - ich will nur, dass sie einsehen, dass sie niemand anderem die Schuld geben können, als nur sich selbst. Ich möchte sie für sich selbst verantwortlich machen. Bei Manola hat das anscheinend versagt.“
„Wie meinst du das eigentlich, dass jeder individuell verschieden ist?“
„Es ist das berühmte Schubladenspiel der Menschen, welches sie blind dafür macht. Es gibt zu viele Gruppeneinteilungen, wie etwa: Hier leben die Christen - hier leben die Moslems - hier leben die Buddhisten - hier leben die Schwarzen - hier die Weißen - hier die Männer - hier die Frauen - hier die Schwulen - hier die Lesben - und - und - und. Für alles hat man Kategorien, was meiner Meinung nach aber unmöglich ist, denn kein Christ, kein Mann, keine Frau empfindet gleich wie ein anderer Christ, ein anderer Mann, eine andere Frau. Dabei haben ich noch die Staatszugehörigkeit vergessen. Mann, ich hasse Fahnen! Du kannst nicht einmal alle Menschen in einen Topf werfen, obwohl sie sich so nennen. Was ist denn der Mensch? Was ist denn typisch für ihn? Doch nur das Aussehen - und nicht einmal das, weil es keinen gibt, der dir bis aufs Haar gleicht.
Ich war schon auf vielen Planeten und habe Lebewesen kennen gelernt, die ganz anders leben, die ganz andere Vorstellungen haben, als Menschen, die sich seit Urzeiten in Schubladen zwängen lassen. Manche Lebewesen benennen sich nicht einmal. Ihre Art hat keinen Namen - sie sind bloß Lebewesen, das ist alles.
Aber Menschen müssen alles in Schubladen stecken, wie etwa Minerale, Pflanzen oder Tiere. Da wird eingeteilt in Meerespflanzen, in Alpenblumen - in Säugetiere und - und - und. Wozu das alles? Wenn ihnen schon langweilig ist, weil sie dieses Spiel vielleicht zum Auswendiglernen erfunden haben, sollen sie es alleine spielen - und zwar nur die, denen es auch wirklich Spaß macht - aber sie sollen die anderen damit in Ruhe lassen.
Wenn du heute einem Menschen da draußen von einem fremden Planeten und fremden Lebewesen erzählst, wollen sie sofort wissen, wie diese Wesen sind, wahrscheinlich sogar, wie sie sich nennen. Was soll ich da für eine Antwort geben? Was soll das ganze? Was wollen die Menschen denn wirklich wissen? Eines dieser fremden Lebewesen kann genauso ein Mörder sein, wie es ein Mensch sein kann - und es kann genauso gut ein liebendes Wesen sein, wie es ja auch bei einem Menschen möglich ist. Also, wo ist wirklich der Unterschied?“
„Sie sehen anders aus, Kim.“
„Das tut doch jeder Mensch, Maria“, sagte Kim nun etwas entnervt.
„Aber nicht so prägnant. Diese Wesen haben vielleicht mehr als zwei Arme, einen anderen Kopf – und so weiter.“
„Na, klar - deshalb werden bei uns die Behinderten auch abgeschoben, weil sie keine zwei Beine zum Gehen haben, weil sie ein schwächeres Gehirn haben und für die Arbeit in der Gesellschaft nutzlos sind. Zum Teufel noch mal! Sieht denn wirklich niemand diesen riesigen Wurm, der da draußen alles auffrisst?“
„Beruhige dich, Kim“, sagte Maria schnell, da Kims Stimme ziemlich laut klang. „Was quält dich denn wirklich? Sind es nur die Menschen, oder nicht viel mehr Manola?“
Kim schluckte und schloss für einen Moment seufzend seine Augen.
„Es ist alles - zur Zeit ist es einfach alles. In meiner Welt ist es manchmal zu einsam - und wenn ich dann nach draußen blicke, ist der Schock noch viel größer, als der meiner Einsamkeit. Also wohin?“
Maria schmiegte sich an Kims nackten Körper und drückte ihn mit beiden Armen fest an sich.
„Ich kenne noch eine andere Welt, Kim - eine Welt, in der du dir die nötige Kraft holen kannst, die du jetzt brauchst, - unsere Liebeswelt“, flüsterte sie sanft und suchte mit ihrem Mund seine Lippen.

Es war dann wirklich so, dass Kim Manola noch immer aus dem Weg ging. Insgeheim aber wartete er darauf, dass sie zu ihm kommt, denn in diesen Tagen hielt er sich meistens nur im Schlafzimmer auf. Und Manola kam wirklich zu ihm. Leider kam kein Gespräch auf, da Manola nur sagte, es täte ihr leid. Kim wollte den bösen Vater spielen, was ihm aber nicht gelang, denn er wollte diesmal konsequent bleiben. Und da nichts heraus kam, verließ Manola enttäuscht das Schlafzimmer und zog sich laut heulend in ihr Zimmer zurück.
Aber all das steht ohnehin in „Manolas Tagebuch“.
Es war dies wohl die schwierigste Phase in Manolas jungem Leben, denn Maria war schon so weit, mit ihr zu einem Psychiater zu gehen, wo Kim natürlich entschieden dagegen war.
Es kam sogar zu einem sehr lauten Streit zwischen Maria und Kim, wobei Kim dann die Nacht im Wohnzimmer auf der Couch verbrachte und Maria alleine im Schlafzimmer schlief.
Aber auch diese Phase ging dann friedlich vorüber. Manola musste zu keinem Psychiater.
Die nächste Phase in Manolas Leben war LSD. Sie kaufte mit ihrem Taschengeld diese Droge und legte sie offen vor ihren Eltern auf den Tisch. Und wie ein Wunder - Maria hatte diesmal nichts dagegen, denn sie vertraute Kim, der seine Tochter liebevoll und helfend bei diesem „Trip“ beistand.
Das war der Moment, wo er erkannte, dass seine Tochter eigentlich der Mensch war, den er schon immer suchte. Sie war für alles offen - war eigentlich die erste, die für den einsamen Weg voll und ganz bereit gewesen wäre. Und er nahm sich ihrer auch voll und ganz an.
Kim sah die Kraft in Manola, die es ihm ermöglichte, sie mit seiner Kraft in ein Bewusstsein zu führen, das bis jetzt wohl kaum einem Menschen möglich war.
„Vergiss nicht, dass du in diesem Zustand - wobei Zustand nicht ganz okay ist - es ist nur so, dass ich dafür kein anderes Wort kenne - also, du bist in diesem Zustand nicht mehr auf dem Weg, den du bisher gewohnt warst“, klärte Kim eines Tages seine Tochter auf, als sie am nahen See am Ufer saßen. „Man könnte sogar sagen, du hast den Sprung in den Abgrund gewagt. Und jetzt ist nichts mehr so wie es war. Für dich gibt es kein Zurück mehr, mein kleines Mädchen.
Mag sein, dass du für die Welt da draußen als Verrückte abgestempelt wirst, aber das sollte dir egal sein. Ich kann dir nur einen Rat geben - sprich mit niemandem darüber, dem du nicht vollkommen vertrauen kannst. Das ist alles, was ich dir sagen kann. Du musst mit deiner inneren Welt selbst klar kommen. Dabei kann dir niemand helfen - nicht einmal ich.“
„Was bedeutet, in den Abgrund springen?“ fragte Manola.
„Es ist das, was du getan hast. Natürlich habe ich das bildlich gemeint, obwohl es in Wirklichkeit ja doch ein Sprung in den Abgrund war. Du wusstest nicht, was dich dort erwartet - du weißt es nicht einmal jetzt, obwohl du schon dort warst - und du wirst es auch nie wissen, denn dieser Abgrund hält immer neue Überraschungen für dich bereit. Du erinnerst dich an nichts, nicht wahr?“
„Absolut nicht, Daddy.“
„Das ist klar, denn jetzt befindest du dich in der rechten Seite, welche die linke total verhüllt. Jetzt leitet dich der Verstand, aber auf der linken Seite existiert kein Verstand mehr.“
„Carlos Castaneda! So gesehen sind seine Bücher wahr“, meinte Manola lächelnd, die in diesem Moment ihren Vater wohl für etwas verrückt hielt und ihm eigentlich nicht glaubte, was er sagte. Klar, sie hatte keine Erinnerungen an die letzten Erlebnisse, als Kims Kraft sie in die andere Seite stieß.
„Für Carlos sind sie sicher wahr - falls er das alles auch wirklich ernst gemeint hat. Nur würde ich mich auf fremde Aussagen nicht verlassen. Zumindest habe ich noch keinen riesigen, schwarzen Adler gesehen, der unser Bewusstsein verschlingt, denn unser Bewusstsein lässt sich nicht verschlingen. Es umhüllt uns und ist zugleich in uns - wobei beides natürlich nicht ganz richtig ist, denn das Bewusstsein, das ich meine, lässt sich nicht bestimmen.“
„Was habe ich getan, als ich in der linken Seite war?“ fragte Manola, deren Misstrauen langsam schwand.
„Das weiß ich nicht.“
„Und warum weißt du dann, dass ich dort war?“
„Weil ich dich dort gesehen habe.“
„Dann hast du auch gesehen, was ich getan habe,“ sagte Manola etwas lauter und ungeduldig.
Kim lächelte und schüttelte ungläubig seinen Kopf.
„Sei nicht so verbohrt, Manola. Natürlich habe ich gesehen, was du getan hast, aber das sah nur von meiner Seite aus so aus. Was du wirklich getan hast, konnte ich natürlich nicht wirklich sehen, denn das war nur dir möglich. Unsere inneren Welten sind zu verschieden.
Meinst du, wenn ich mit Maria ins Reich des Bösen, oder sonst auf irgendwelche fremde Planeten gehe, weiß ich, was Maria dort tut? Okay, ich sehe sie, kann sie sogar an der Hand nehmen, aber was sie wirklich sieht und fühlt ist wieder etwas ganz anderes, als das was ich sehe und fühle. So ist es nun mal auf der linken Seite.
Jede innere Welt ist individuell verschieden - was heißt verschieden - jede innere Welt ist nun mal eine Welt für sich - einfach unvergleichlich.“
„Und trotzdem können alle an dem selben Ort sein? Das verstehe ich nicht, Daddy.“
„Deine Wahrnehmung ändert sich in der linken Bewusstseinsseite vollkommen. Dein Verstand, wie auch deine Gedanken, setzen vollkommen aus. Deshalb ist es auch klar, dass du nachher, wenn du wieder in der rechten Bewusstseinsseite bist, keine Erinnerung daran hast. Wie denn auch? Ohne Gedanken kann es keine Erinnerung geben. Ohne Gedanken ist alles immer so wie es ist, zeit- und raumlos. Man könnte es die absolute Freiheit nennen - die Freiheit, endlich so wahrzunehmen, wie es für dich wirklich und wahr ist. Egal, ob sich nun zehn, oder mehrere Personen im linken Bewusstsein aufhalten, sie werden sich sicher sehen, aber doch auf eine andere Art, wie im rechten Bewusstsein.
Das heißt, wenn wir beide uns jetzt im linken Bewusstsein befinden würden, würden wir zwar noch immer hier am Ufer des Sees sitzen. Wahrscheinlich werden wir uns wie Kinder, oder wie junge Hunde benehmen - herum springen, uns vielleicht auch anspucken, oder was immer - aber diese Handlungen werden im linken Bewusstsein vollkommen andere Handlungen sein.“
„Und welche?“ fragte Manola, weil Kim schwieg.
„Das weiß ich nicht, Manola. Das könnte ich dir nicht einmal von meiner Seite aus sagen. Ich weiß nicht, ob das Anspucken eines anderen Menschen immer die gleiche Handlung im linken Bewusstsein ist.“
„Moment, Daddy! Du sagtest, dass wir noch immer hier an dieser Stelle sitzen würden. Aber du und Mama, ihr seid nicht mehr im Schlafzimmer, wenn ihr im Reich des Bösen kämpft.“
„Das sind wir, Manola.“
„Wir sehen euch aber nicht.“
„Das würdet ihr aber, wenn ihr euch im linken Bewusstsein befinden würdet. Außerdem gibt es im linken Bewusstsein unzählige Schichten - wobei ich jetzt nicht sagen will, dass einige tiefer sind. Das hat damit nichts zu tun. Es ist nur so, dass dich einige Schichten vollkommen verschlingen, was aber nur für den Betrachter im rechten Bewusstsein so aussehen würde.
Ich sagte schon einmal, in der linken Bewusstseinsseite - in dem Bewusstsein, welches die 3% übersteigt, sind dir Dinge möglich, welche jeder Durchschnittsmensch Zauberei nennt. Du musst nur wissen, in welcher Schicht welche Dinge möglich sind. Es ist nicht nur das Reich des Bösen, das dich sozusagen unsichtbar macht - es gibt Schichten, in denen du nur zum Teil verschwinden kannst. Für den Durchschnittsmenschen würde dann plötzlich deine rechte Hand verschwinden. Würdest du dich noch weiter in sie hinein bewegen, würde deine rechte Körperhälfte verschwinden. In anderen Schichten hebt sich die Schwerkraft der Erde auf, und du kannst schweben, oder wie ein Adler durch die Luft segeln.“
„Befinden sich denn fremde Planeten nur im linken Bewusstsein?“
„Das nicht, aber du kannst sie nur im linken Bewusstsein erreichen.“
„Du meinst also nicht, dass die Menschheit einmal so weit ist und Raumschiffe entwickelt, mit denen es ihnen möglich ist, einen bewohnten Planeten zu besuchen?“
„Das ist nicht so einfach zu erklären, Manola. Es betrifft zu sehr die vierte Dimension, und von der vierten Dimension erkennen wir im rechten, menschlichen Bewusstsein bloß einen winzigen Punkt.“
„Also gibt es jetzt keine Außerirdischen.“
„Ja und nein.“
„Was heißt das? Drücke dich klarer aus, und lass dir nicht jedes Wort aus der Nase ziehen, Daddy!“ sagte Manola ungeduldig.
„Glaubst du, dass es diese wirklich Schichten gibt, die wir im linken Bewusstsein erkennen und auch betreten können?“
Manola lächelte.
„Wenn ich ganz ehrlich bin, ist es unvorstellbar mich, und noch viel unvorstellbarer ist, dass ich, wie du sagtest, schon dort war. Werde ich mich wirklich nie daran erinnern können?“
„Nicht in diesem Bewusstsein, Manola.“
„Aber in der linken Seite, und das, obwohl ich dort nicht denke. Wie soll denn das funktionieren?“
„Die Menschen leben nicht vom Denken und von ihren fünf Sinnen alleine - es gibt noch einen Wahrnehmungssinn, den sie aber erst in der linken Bewusstseinsseite kennen werden. Es gibt noch kein Wort dafür, Manola. Es hat auch nichts mit Gefühle zu tun - vor allem nicht mit Gefühle, was der Durchschnittsmensch normal Gefühle nennt.
Worauf ich wirklich hinaus wollte, als ich dir die Frage stellte, ob du an diese Schichten glaubst, war das, dass sie auch ohne deinen Glauben wirklich existieren - auch ohne, dass du sie jetzt siehst, oder wahrnimmst. Für dich, wie gesagt, existieren sie jetzt eben nicht, also könnte ich genauso gut sagen, dass es auch keine Außerirdischen gibt, denn du hast bis heute noch keinen gesehen.“
„Dich, Daddy!“
„Ich wurde auf der Erde geboren, Manola.“
„Aber dein Vater war ein Außerirdischer, denn er kam von der Leuchtenden Welt.“
„Hast du meinen Vater gesehen?“
Manola lachte auf.
„Nein, wie könnte ich das? Aber deine Mutter hat ihn gesehen.“
„Weißt du das genau? Hast du Beweise dafür - handfeste Beweise?“
„Das habe ich auch nicht. Daddy, du verwirrst mich komplett. Warum tust du das?“
„Ich möchte dich bloß auf die Tatsachen hinweisen.“

„Ach, ja? Und dann erzählst du mir Schauergeschichten von anderen Welten, die in unserem Bewusstsein überhaupt nicht existieren.“
„Das hast du jetzt sehr, sehr treffend gesagt, mein kleines Mädchen. Andere Welten, die in unserem Bewusstsein überhaupt nicht existieren. Und genauso ist es. Sie existieren nicht in diesem Bewusstsein, in dem wir uns jetzt befinden, wohl aber in einem anderen - und das ist der springende Punkt.
Das, was da draußen vor sich geht, ist vollkommen unwichtig, denn da draußen wird sich nie etwas ändern, bevor wir uns nicht selbst ändern. Du kannst Dinge, mit denen du nichts anfangen kannst, aus deinem Bewusstsein streichen, und sie werden dich nie wieder belästigen. Jeder hätte diese Macht, wenn er nur endlich die Verantwortung über sich selbst übernehmen würde. Aber noch immer verlassen sich die Menschen auf andere und geben allem und jedem die Schuld, nur nicht sich selbst, wenn sie Scheiße bauen. Sie müssten ihre innere Welt finden, und damit auch die große Welt des Bewusstseins, die an keinem bestimmten Ort ist - die unbeschreiblich, aber doch existent ist. Deshalb wird es wohl noch lange, ja, unendlich lange dauern, bist die Menschheit endlich dazu bereit ist, das zu erkennen.“
„Warum habe ich angeblich diese Macht?“
„Weil du wirklich bereit dazu bist, Manola. Weil du die Kraft selbstlos aufnehmen kannst - das heißt, du willst damit nicht prahlen und es nur für dich behalten.
Ich hielt schon oft den Vortrag über Energien, den du ja auch schon kennst. Kraft bedeutet in dem Sinn nichts anderes als Energien. Und bestimmte Energien fließen dir erst dann zu, wenn du in dir selbst Energien entwickelt hast, welche diese bestimmten Energien anlocken. Durch diese Vereinigung bist du dann bereit - das ist die ganze Zauberei, die eigentlich keine Zauberei, sondern ein vollkommen natürlicher Vorgang ist.“
„Ich kann mich nicht daran erinnern, dass ich gewisse Energien in mir produziert habe, Daddy.“
Kim lachte auf.
„Das ist mir klar“, sagte er dann. „Aber du wirst dich vielleicht daran erinnern können, wie sich deine Einstellung zu allen Dingen verändert hat, indem du dich selbst nicht mehr wichtig genommen hast und auch die Beurteilung der anderen dir gegenüber egal geworden sind, weil du selbst ja deine eigenen Schwächen und Stärken kennst. Das war nichts anderes als die Energie, die du entwickelt hast. Anders hättest du es in diesem Bewusstsein nicht empfinden können.“
„Warum brauche ich dann noch deine Kraft, um in die linke Seite zu kommen?“
„Du wirst sie nur mehr so lange brauchen, bis dein Körper von selbst erkennt. Vielleicht überrumpelt er dich irgend wann einmal. Plötzlich wirst du dich auf der anderen Seite befinden, obwohl du gar nicht daran gedacht hast. Du musst von nun an nur mehr eines tun, Manola - sehr bewusst leben - bewusst darauf achten, was du tust und woran du denkst. Dann wird dich dein Körper nicht überrumpeln können und du wirst aus eigenem Willen, wann immer du es für nötig hältst, in die andere Seite wandern. Also, bist du nun bereit für die nächste Lehrstunde?“
Manola nickte lächelnd, und Kim legte seine Hände an ihre Schläfen.

Als die beiden ein anderes Mal an den nahen See fuhren - übrigens mit Kims Harley - wollte Manola mehr über das Reich des Bösen wissen.
„Es ist nicht wichtig für dich, etwas über das Reich des Bösen zu wissen. Je weniger du darüber weißt, um so besser für dich“, meinte Kim, während er seine Motorradstiefel auszog, die Jeans bis zu den Waden hochkrempelte und seine nackten Füße am Ufer ins Wasser streckte.
„Ich möchte bloß wissen, ob es wirklich existiert, oder ob es nur in deiner Welt existent ist“, sagte Manola, die es vorzog, sich ganz, bis auf den Badeanzug, zu entkleiden und in den See watete. Sie blieb nahe am Ufer, um sich gut mit Kim zu verständigen. Es war ein ziemlich heißer Vormittag, wo es wirklich eine Wohltat war, sich in das Wasser zu hocken, wo nur der Kopf und ein bisschen die Schultern heraus ragten.
„Was meinst du mit - wirklich existieren?“ fragte Kim, dem es nun wohl auch zu heiß wurde, denn er zog sein T-Shirt aus.
„Nun, ob jeder das Reich des Bösen erkennen würde?“
„Haben wir denn nicht schon darüber gesprochen? Und sagte ich damals nicht, dass das Reich des Bösen auf Maria vollkommen anders wirkt, als auf mich, obwohl wir uns dort die Hände reichen können?
Ich könnte jetzt beide deiner Fragen mit ja beantworten. Sozusagen existiert das Reich des Bösen wirklich, und genauso existiert es auch nur in meiner Welt.“
„Das ist nicht einfach zu verstehen, Daddy. Kannst du mich nicht einmal dorthin mitnehmen?“
„Weißt du, es gibt Bestimmungen, fast schon Gesetze im Universum, die niemand übergehen, oder brechen kann. Es gibt für jedes Lebewesen eine ganz bestimmte Aufgabe, die es erfüllen muss. Marias und meine Aufgabe ist es nun mal, das Reich des Bösen auszulöschen, und deshalb ist auch nur uns beiden möglich, diesen Teil des Bewusstseins zu betreten.“
„Und die Geister, wie Xilar, oder Galdron, und alle anderen, welche du für den Endkampf auserwählst? Was ist mit ihnen?“ fragte Manola.
„Auch sie haben diese Aufgabe - zwar nicht jetzt, aber zu einem bestimmten Zeitpunkt. Du bist keine Auserwählte, also ist es dir auch nicht möglich, ins Reich des Bösen zu gelangen.“
„Wer bestimmt das? Etwa die Quelle der Kraft?“
Kim lächelte.
„Du willst wohl immer alles sehr genau wissen, was? Aber gut! Ich weiß - zumindest fühle ich, dass du für dieses Geheimnis bereit bist, also werde ich dir einiges erzählen. Du musst es aber für dich behalten, Manola.“
„Weißt du nicht, dass ich das werde?“ fragte Manola listig, stieg aus dem See und setzte sich neben Kim auf das Badetuch.
„Natürlich weiß ich das, denn wie schon gesagt, würde ich es dir sonst wohl kaum erzählen“, sagte Kim lächelnd.
„Und warum mir? Heißt das, dass du dieses Geheimnis noch niemandem erzählt hast?“
„Zumindest nicht so ausführlich, wie ich es nun tun werde.“
„Warum mir, Daddy?“
„Anscheinend ist es Bestimmung, mein kleines Mädchen. Genauso Bestimmung wie unsere Aufgaben.“
„Und warum hast du es bis jetzt noch niemandem so ausführlich erzählt?“
„Weil ich sonst viele Träume zerstören würde, die genauso viel Früchte tragen, wie dieses Geheimnis. Außerdem ist es so, dass sicher jedes Lebewesen irgendwann einmal die selben Schlüsse ziehen wird, weil es nun mal Wahrheit und Wirklichkeit ist. Aber wie gesagt - es ist relativ, weil dann ja doch jeder einzelne seine innere Welt mit einbeziehen wird - und die innere Welt jedes einzelnen ist genauso Wahrheit und Wirklichkeit.
Ich sagte, ich fühle, dass ich es dir erzählen kann - und das ist deshalb, weil du bereit bist - weil du bereits eine Ahnung von diesem Geheimnis hast. Genau das habe ich bei unserer letzten Bewusstseinsreise erkannt.“
„Schade, dass ich mich nicht erinnern kann“, sagte Manola seufzend.
„Du wirst es einmal können, Manola, verlas dich darauf - und das wird sicher nicht mehr lange dauern.
Also, du fragtest mich, ob die Quelle der Kraft das alles bestimmt. Manola, die Quelle der Kraft sind im Grunde genommen wir selbst - zumindest sind wir ein winziger Teil ihrer selbst.
Ich nenne die Ganzheit unseres Selbst das Herz, wie du sicher weißt. Bis wir die Ganzheit unseres Selbst, also das Herz, erkennen, müssen wir auf unterschiedlichen Bewusstseinsstufen Erfahrungen sammeln, was nichts anderes bedeutet, als dass wir mehrere Leben leben. Nur ist es jetzt so, dass diese Leben in Wirklichkeit gleichzeitig ablaufen, was so viel heißt, dass deine Ganzheit des Selbst jetzt in diesem Augenblick Manola ist, wie auch alle anderen Lebewesen. Ich weiß, das ist unvorstellbar, trotzdem ist es so.“
Kim erklärte nun lang und breit, was ohnehin schon in diesem Buch steht, dass sich Manola dieses Phänomen ungefähr so vorstellen soll, dass man ein Blatt Papier in viele Streifen schneidet, und jeder Streifen stellt ein Leben dar. Erst wenn das Blatt Papier zusammen geklebt wird, das heißt, wenn man alle seine Leben bewusst erkennt und somit bereits multidimensional ist, ist man die Ganzheit seines Selbst. Dann vereinigen sich einige größte Bewusstheiten, bis nur mehr drei übrig bleiben. Und diese drei machen den letzten Schritt und gehen in die Quelle der Kraft ein - zu ihrem Ursprung zurück, wo sie dann wirklich erkennen, die Quelle der Kraft selbst zu sein, weil es dann kein Teilen mehr gibt. Somit hat sich das Universum geschlossen, um sich dann abermals zu öffnen, wie das ja schon mehrmals geschehen ist. Bloß ist es jetzt so, dass all diese Vorgänge gleichzeitig passieren, was heißt, dass alle geschlossenen, wie auch geöffneten, und das in jeder Situation immer existent sind. Zu diesen geöffneten Universen gehören auch Welten, oder Reiche, die zum Beispiel das Reich des Bösen, die nur in einem bestimmten Bewusstseinsstadium erkennbar sind. Und diese Welten, oder Reiche, entstanden aus kraftvollen Gedanken.
„Es gibt einen Himmel, Manola - es gibt unzählige Götter, aber sie sind nichts anderes als die Dämonen im Reich des Bösen“, sagte Kim nach dieser langen Rede.
„Aber bedeuten Götter nicht das Gute?“
„Es gibt nichts Gutes und nichts Böses, Manola“, sagte Kim und blickte seine Tochter durchdringend an. „Das sind bloß Werte, die von Menschen aufgestellt wurden, aber für andere Lebewesen gar nichts bedeuten. Dafür haben andere Lebewesen wieder andere Werte, welche für Menschen nichts bedeuten.“
„Andere Lebewesen? Was meinst du damit? Ich frage das deshalb, weil du vor kurzem sagtest, dass es eigentlich keine Außerirdischen gibt.“
„So viel ich mich erinnern kann, sagte ich ja und nein. Bedenke die Gleichzeitigkeit. Du bist jetzt Manola, aber genauso bist du ein sogenanntes außerirdisches Wesen - und das viele male, weil die Ganzheit deines Selbst nun mal aus allen unterschiedlichen Lebewesen besteht. Es muss so sein, denn all das, was du siehst, was du wahrnimmst, ist im Grunde genommen eins. Die Quelle der Kraft hat sich ausgebreitet und diese Ausbreitung ist nichts anderes als ein Teil von uns selbst, als ein Teil von all dem, was dich umgibt. Zieht sie sich wieder zusammen, zieht sie auch uns und alles, was uns umgibt, in sich zurück, dass nur mehr ein winziger, kaum erkennbarer Punkt übrig bleibt. Das mit dem Punkt nimm aber bitte nicht zu ernst, denn es ist kein Punkt - es ist etwas Unvorstellbares.“
„Heißt das, vom Menschlichen ausgesehen, dass, wenn ich nun einen Außerirdischen treffen würde, sozusagen entweder in die Zukunft, oder in die Vergangenheit reisen würde, und sogar mir selbst gegenüberstehe?“
„Nicht dir selbst, sondern einem Teil der Ganzheit deines Selbst. Dir selbst würdest du gegenüber stehen, wenn du nun in eine andere Dimension der Erde reisen würdest.“
„Darauf möchte ich auch noch zurück kommen, aber erst einmal möchte ich eine korrekte Antwort von dir, Daddy. Wäre das nun eine Reise in die Zukunft, oder Vergangenheit, oder nicht?“
„Vom menschlichen Standpunkt ausgesehen - so wie der Durchschnittsmensch heute erkennt - wäre das vielleicht so, bloß ist es jetzt so, dass das menschliche Bewusstsein viel mehr in sich birgt, als was der Mensch bis jetzt erkannt hat. Jeder Traum, jede noch so irreale Vorstellung wäre dem Menschen möglich, wenn er weiter nach innen forschen würde, wenn er über die 3% hinweg springen und die restlichen 97% erkennen würde. Und dann würde er auch einen Großteil der Gleichzeitigkeit erkennen und somit wissen, dass es im Grunde genommen keine Zukunft und keine Vergangenheit in dem Sinn, wie er das bisher wahrgenommen hat, gibt.“
„Was meinst du mit Traum und irreale Vorstellung, Daddy?“
„Einfach alles, was sich der Mensch ausdenkt, ausmalt, woran er aber nicht wirklich glaubt, weil er meint, dass es ohnehin unmöglich ist. Ich gab dir schon mal einige Beispiele, die ich Zauberei nannte - etwa unsichtbar werden, fliegen, indem man die Schwerkraft überwindet und - und - und. All das ist in der linken Bewusstseinsseite möglich.
Es ist ja so, dass sich der Mensch sehr viel vorstellen, es aber kaum logisch erklären kann, falls er es überhaupt erklären kann. Aber diese Vorstellungen kommen nicht etwa aus ihm selbst, sondern fließen ihm ständig aus der linken Bewusstseinsseite zu. Er befindet sich, naiv ausgedrückt, ja mitten in dieser riesigen Bewusstseinsblase, obwohl er bis jetzt bloß an der Oberfläche gekratzt hat - also wirken auch die 97% auf ihn ein, zwar sehr schwach, aber doch, wie man ja an manchen Träumen, damit meine ich auch manche Träume im Schlaf, oder eben sogenannte irreale Vorstellungen, erkennen kann. Im Grunde genommen gibt es keine Utopien, nichts Unmögliches, denn alles, was sich der Mensch, vorstellen kann, wirklich alles, gehört zum Großteil in die menschliche Bewusstseinsblase, die der Mensch bis jetzt nur leicht angekratzt hat.“
„Du meinst, auch das Unmöglichste ist möglich?“
„Natürlich, denn von nichts kommt nichts. Dieses riesige Energiefeld, die Quelle der Kraft, war schon immer da - auch unvorstellbar für Menschen - und eben durch die Ausbreitung, durch den Drang des Willens zu erkennen, was auch immer, entstanden verschiedene Bewusstseinsblasen. Man könnte sie auch Eier nennen, denn Maria und ich sagen immer, dass wir die Eierschale durchbrochen haben. Und sobald Lebewesen in eines dieser Eier eingeschlossen sind, können sie nur das wahrnehmen, träumen, sich vorstellen, erkennen, was in diesem Ei möglich nicht - nicht mehr und nicht weniger. Wollen diese Lebewesen aber mehr wahrnehmen, müssen sie sich von allem lösen, wirklich von allem - auch von den restlichen 97%, und somit zerbrechen sie für sich selbst die Eierschale und stoßen in ein anderes, in das sogenannte nächste Ei vor. Das ist natürlich wieder nur bildlich dargestellt, Manola.“
„Soll das heißen, du und Mama seid bereits über dem menschliche Bewusstsein hinaus?“
„Das ist kein Meilenstein im Universum, mein kleines Mädchen - es gibt Lebewesen, welche gleichzeitig mehrere Eierschalen knacken und das auch bewusst wahrnehmen. Es ist ein ständiges Lernen, ein ständiges Augenaufreißen und Staunen. Deshalb glaube nie, dass du etwas weißt. Du kannst nur staunen, mehr ist dir nicht möglich, denn noch immer ist alles einzelne um uns herum nur ein winziger Teil des Ganzen, obwohl es bereits gleichzeitig das Ganze ist.“
„Und du nimmst es wirklich wahr, dass alles ein Ganzes ist?“
„Manchmal nehme ich es wahr - manchmal lebe ich drei, oder vier Leben gleichzeitig. Aber auch das sollte unser Geheimnis bleiben. Nicht einmal Maria kennt es.“
Manolas Augen strahlten.
„Danke, Daddy“, sagte sie leise mit bebender Stimme.
„Das ist kein Vorteil für dich, Manola.“
„Trotzdem freut es mich unheimlich, dass wir beide ein ganz großes Geheimnis in uns tragen - nur wir beide, Daddy.
Aber nun zu der nächsten Frage, die wir ja angeschnitten haben, als ich sagte, dass ich mir selbst gegenüber stehe. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass du mich in den anderen Dimensionen genauso gut kennst, wie hier. Ist das so?“
„Vielleicht nicht genauso gut, aber man kann sagen, dass ich dich in den anderen Dimensionen genauso begleite, wie hier.“
„Bist du dort ein Engel für mich?“
Kim schmunzelte, wobei seine Augen seltsam glänzten.
„Manchmal bin ich das, und manchmal bin ich dort dein geistiger Vater.“
„Ich hätte noch eine Frage, Daddy. Du sagtest, Götter und Dämonen wären ein und das selbe. Du sagtest aber auch, dass man in sich selbst - dass jeder in sich selbst seinen Gott findet. Trotzdem willst du diesen Gott vernichten?“
„Durch das Ausbreiten entstand die Individualität - somit ist alles und jeder individuell verschieden, und er wird das auch in sich selbst erkennen, und somit auch seinen Gott, nämlich den kleinen Teil des Ganzen, der er selbst ist.“
„Dann bin ich doch mein eigener Gott - dann bin ich selbst Gott.“
„So kannst du es sicher auch nennen, aber vergiss nicht, dass dieser Gott, also du selbst, nur ein winziger Teil des Ganzen ist.“
„Und genau deshalb sollen wir uns nicht wichtig nehmen und wissen, dass wir im Grunde genommen nichts wissen.“
„So ist es, mein kleines Mädchen“, sagte Kim lächelnd.
„Wo wir nun bei Gott sind. Was bedeuten die Religionsstifter, zum Beispiel Jesus? Du weißt das nicht, Daddy, aber ich war früher einmal sehr religiös - vor allem fand ich Jesus irrsinnig cool.“
„Ich weiß es, Manola. Du hast es mir sogar gesagt und dabei geweint.“
„Was habe ich? !“ schrie Manola fast auf.
„Es war in der linken Bewusstseinsseite. Fast schien mir, als ob du neben ihm gelitten hast, als er am Kreuz hing und starb. Du machtest so seltsame Bewegungen, du hieltst dich kniend an einem imaginären Stamm fest, wahrscheinlich am Stamm des Kreuzes. Du hast hoch geblickt und immerzu weinend gestammelt: Warum? Warum du, ausgerechnet du?“
„Und was bedeutet das, Daddy? Bin ich Maria Magdalena?“
„Das kann ich dir nicht sagen. So weit möchte ich nicht in dich eindringen.“
„Dann sag mir wenigstens, ob Jesus wirklich gelebt hat, oder nur ein Dämon war?“
„Er hat gelebt, Manola, aber er war nicht der, über den man in der christlichen Bibel schreibt. Man hat ihn zu sehr missverstanden. Er sagte zwar, er sei der Sohn Gottes, aber er nannte seine Freunde die Kinder Gottes, und somit stellte er sich mit ihnen auf die selbe Stufe, was aber missverstanden wurde. Man hörte nur seine Aussage, dass er der Sohn Gottes sei, und zwar hörte man das so, dass er der alleinige Sohn Gottes, also der fleischgewordene Gott, ist.“
„Hat er seinen Jüngern denn nicht das Vaterunser gelernt?“ fragte Manola verblüfft.
„Nein, Manola - das hat er nicht. Er hat sie zwar das Beten gelernt - nur wurde das ebenso missverstanden, denn mit Beten meinte Jesus, dass die Menschen in sich gehen, sich selbst finden und nicht stets das Abbild eines anderen sein sollen.“
„Woher weißt du das alles, Daddy?“
„Das lass lieber mein alleiniges Geheimnis sein, wobei auch diese Unterhaltung jetzt unter uns bleiben muss.“
„Bist du Jesus?“
„Nein, Manola - ich habe mit keinem Religionsstifter etwas zu tun.
Ich glaube aber, mit der Zeit wird auch dieses Geheimnis zum Teil gelüftet werden, was das Leben Jesu betrifft. Man hat auch schon einige Schriftrollen gefunden, die bezeugen, dass sein Leben in der Bibel nicht ganz seinem wirklichen Leben entspricht. Denke einmal an die Vertreibung aus dem Tempel, als er Händler aus dem Tempel getrieben hat. Man wollte diese Schriftrollen, weil Jesus ziemlich aggressiv dargestellt wurde, verschwinden lassen - nur bei einer schaffte man es nicht ganz, nämlich die, auf der von dieser Vertreibung geschrieben wurde. Aber auch das wurde umschrieben und ziemlich verstümmelt, denn Jesus ging es nicht um den Tempel, sondern viel mehr ums Feilschen, um Glücksspiele, die während des Handels betrieben wurden. Jesus war nicht fürs Verkaufen, fürs Handeln, er war für Freiheit, weil er wusste, dass im Grunde genommen für alle Menschen genug Nahrung vorhanden war und man sie nicht kaufen, oder verkaufen musste. Das wenig Wahre in der Bibel, was über ihn geschrieben wurde, war, als er sagte: Gebt dem Kaiser was des Kaisers ist. Und damit meinte er das Geld. Die Menschen sollten also all ihr Geld dem Kaiser in Rom zurück geben und für sich selbst sorgen, weil ja genug Nahrung da ist. Und das war sein eigentliches Verbrechen. Jesus war ein Rebell - er kämpfte um die Freiheit seines Volkes, um sich von Rom zu lösen. Natürlich ließen sich die Römer das nicht gefallen, also ließ man ihn kreuzigen.“
„Und er starb?“
„Ja, er starb, so wie jeder normale Mensch stirbt.“
„Und was war mit der Auferstehung?“
„Das war das Spiel seiner Jünger, womit sie den Römern einen Schrecken einjagen wollten. Jesus sagte stets, dass man ihn nicht töten kann, denn er wird auferstehen. Und auch das wurde missverstanden, denn er meinte damit bloß, dass sie nur seinen Körper töten, denn seine Seele wird weiter erkennen, sich ins nächste Bewusstsein begeben.“
„Du meinst, das wusste er damals?“
„Das wusste er. Nun, man könnte sagen, er war seiner Zeit voraus, mehr als das, denn seine Worte gelten noch heute, was für mich mehr als seltsam ist. Immerhin würde er heute genauso Staatsfeind Nummer 1 sein, wenn man seine Worte wirklich ernst nehmen würde. Und manche Worte, die man ihm in der Bibel in den Mund gelegt hat, sind wahr. Wie gesagt, dieser Spruch: Gebt dem Kaiser was des Kaisers ist - und auch die schönen Worte, dass sich niemand um den nächsten Tag sorgen muss. Du weißt schon: - Seht die Lilien im Felde - die Vögel in der Luft - sie säen nicht, ernten nicht - und so weiter.“
„Mein Vater im Himmel ernährt sie. Wer war sein Vater im Himmel?“
„Ich sagte schon, man hat sehr viel dazu gedichtet. Du musst nur das Wahre heraus hören.“
„War er wirklich aggressiv?“
„Manchmal war er das, und das ist für die damalige Zeit auch verständlich, denn die Menschen waren damals sehr verbohrt, dass sie es gar nicht anders begriffen hätten, als durch solche Aktionen, wie etwa im Tempel, oder als Kranke und Aussätzige zu ihm kamen.“
„Was tat er da?“
„Er verscheuchte sie. Er heilte sie nicht, wie es in der Bibel steht - nein, er schickte sie schreiend weg. Nun, manchmal ließ er sich auf einige Gespräche ein, die er selbst nicht ganz ernst nahm. Es war schon so, dass er ein gewisses heiliges Image hatte - das sicher, und eben mit diesem Image wollte er dafür sorgen, dass er bei sehr verbohrten Leuten ernst genommen wird. Aber wie gesagt, es wurde trotzdem zu viel dazu gedichtet.
Andere sogenannte Religionsstifter, wie etwa Buddha, oder Mohammed, verließen sich viel auch auf dieses Image. Der Fehler war eben immer nur der, dass sie ihre eigene, innere Welt allen anderen Menschen einreden wollten. Und so was läuft nun mal immer schief, weil jeder Mensch irgendwann einmal aufwacht und zu zweifeln beginnt. Egal, ob er sich auf einen neuen Irrweg begibt, oder nicht - auf jeden Fall war das nun mal nicht seine eigene, innere Welt, sondern die eines anderen.“
„Gehst du deshalb nicht hinaus und predigst den Menschen dein Geheimnis?“ fragte Manola lächelnd.
„Genau deshalb.“
„Was habe ich noch gemacht, Daddy, außer mich an einem imaginären Stamm festgehalten?“
„Noch viele andere Dinge, nur ist es so, dass das alles nur für mich so ausgesehen hat - für dich kann das alles eine ganz andere Bedeutung haben.“
„Warum nimmst du dann an, dass es der Stamm des Kreuzes war, an dem Jesus starb?“
„Weil ich genau dieses Bild vor mir sah. Ich sah das Kreuz, mit Jesus, vor dem du gekniet bist und mit beiden Händen den Stamm umarmt hast.“
„Hast du keine Angst wegen Blasphemie?“
Kim lachte laut und hell auf.
„Aus welchem Grund, Manola?“
„Ich meine, zweifelst du denn nie? Könnte es nicht doch sein, dass es einen sehr erzürnten Gott gibt, wenn du so lästerst?“
„Kennst du die Geschichte, als der Teufel Gottes Allmacht prüfen wollte?“
Manola schüttelte stumm ihren Kopf.
„Also, der Teufel sagte zu Gott, er soll einen so großen und so schweren Felsen erschaffen, den er nicht hochheben kann. Was sagst du zu dieser Prüfung, Manola?“
Manola überlegte einige Sekunden.
„Der Teufel wollte die Allmacht Gottes prüfen, nicht wahr?“ fragte sie dann, und Kim nickte. „Nun, Allmacht bedeutet doch, dass ihm alles, wirklich alles möglich ist. Sozusagen müsste es ihm auch möglich sein, diesen so großen und so schweren Felsen hochzuheben. Also, für mich ist das eine unlösbare Aufgabe. Was hat Gott denn getan?“
„Das selbe wie du jetzt. Er hat die Prüfung genauso wenig bestanden, und der Teufel zog sich siegreich zurück“, sagte Kim schmunzelnd.
„Das ist doch bloß eine von Menschen erfundene Geschichte, Daddy. Damit ist noch lange nicht bewiesen, dass es Gott nicht wirklich gibt.“
„Welchen Gott denn, Manola? Den der Christen, den der Hindus, den der Moslems, den der Indianer? Als ich sagte, dass Gott für jeden anders aussieht, meinte ich nicht das. Damit meinte ich uns selbst, so wie wir alle eben individuell verschieden sind. Und wie gesagt, kann ich den Menschen nichts einreden, in dieser Beziehung nicht einmal meinen besten Freunden. Irgendwann erkennt jeder von selbst, Manola. Diese innere Welt ist zu intim, um als anderer in sie einzudringen. Es ist mir auch unmöglich, in die innere Welt eines anderen vollkommen einzudringen. Ich gebe meinen Freunden bloß den Schlüssel zu ihrer inneren Welt in die Hand - mehr kann ich nicht tun.“
„Man wird dich, ebenso wie Jesus, einmal sehr missverstehen.“
„Das glaube ich nicht, denn so etwas wie die Bibel wird es nie wieder geben, wenn die Menschen erkennen. Und ich hoffe, dass sie das bald tun.“
„Du rettest sie doch, Daddy.“
Kim lachte abermals laut und hell auf.
„Ich kann nicht einmal mich selbst retten, weil es nichts zu retten gibt, Manola. Das, was ich tu, ist erkennen und nichts anderes.“
„Sagte Mama nicht, dass du das Universum retten wirst?“
„Das sagte sie, aber auch das hat eine ganz andere Bedeutung. Damit greife ich nicht in das Leben eines anderen ein. Ich überreiche nur die Schlüssel, Manola. Mag sein, dass ich ein Befreier bin, dass ich, vom menschlichen Standpunkt aus gesehen, vielleicht der erste bin, der so vieles erkennt, aber verändern kann ich nichts und niemandem, das muss schon jeder für sich selbst tun.“
„You´re the keeper of the seven keys“, sagte Manola leise und bewundernd.
Kim lächelte nur kurz und schwieg.
„Du hast die Beweise, dass es keinen Gott, wie er in Religionen dargestellt wird, gibt, aber noch immer nicht erbracht, Daddy“, sagte Manola nach einigen Schweigesekunden.
„Beweise, in dem Sinn, kann ich dir auch nicht liefern, Manola. Ich kann dich höchstens fragen, ob du schon einen Gott gesehen, oder wahrgenommen hast, wie er in Religionen dargestellt wird.“
Manola zuckte mit den Achseln.
„Gesehen habe ich sicher noch keinen. Und wahrgenommen? Nein, eigentlich habe ich auch noch keinen wahrgenommen. Aber jetzt frage ich dich: Hast du die Quelle der Kraft schon wirklich gesehen, oder wahrgenommen?“
„Das habe ich. Ich nehme sie täglich wahr, weil ich selbst ein Teil von ihr bin. Steige ich in ein anderes Bewusstsein über, sehe ich sie sogar.“
„Und wie sieht sie aus, Daddy?“
Kim lachte auf.
„Das kann ich dir leider nicht sagen, Manola. Selbst du kannst nichts über die linke Seite des menschlichen Bewusstseins sagen. Also verlange nicht von mir, dir etwas über ein vollkommen anderes Bewusstsein zu erzählen.“
„Es ist seltsam, Daddy - irgendwie kann ich mich schon erinnern, aber es sind nur winzige Bruchstücke, eigenartige Bilder, die ich mir nicht erklären kann. Es ist wie nach einem Traum, den ich am Morgen, wenn ich aufwache, vergessen habe.“
„Ich sagte schon mehrmals, dass du dich bald an alles erinnern wirst und dann auch bewusst, also, wann immer du willst, in die linke Bewusstseinsseite hinüber wandern kannst.
Also, bist du wieder bereit für die nächste Lehrstunde?“

Maria machte sich zu dieser Zeit viele Gedanken, vor allem fragte sie sich, warum Kim so oft mit Manola zum See fuhr und warum sie sich dort ziemlich lange aufhielten. Immerhin fuhren sie oft schon am Morgen, etwa um 8 Uhr, weg und kamen erst am Nachmittag zum Mittagessen wieder zurück.
Also stellte sie Kim eines Abends, als sie beide bereits im Bett lagen, zur Rede.
„Was machst du mit Manola, Kim?“ fragte sie gerade heraus. „Nimmt sie etwa noch immer Drogen?“
„Nimmt sie nicht“, sagte Kim kurz angebunden.
„Das glaube ich nicht. In letzter Zeit gefällt sie mir gar nicht. Wenn ich sie anspreche, hört sie mich oft gar nicht, als ob sie mit ihren Gedanken ganz wo anders wäre. Manchmal kommt sie mir wie angetrunken vor. Sie schwankt und muss sich dann irgendwo festhalten. Und wenn sie mich ansieht, sind ihre Augen richtig seltsam - sie glänzen und scheinen etwas ganz anderes zu sehen, als vorhanden ist.“
Kim lachte auf.
„Das sagst gerade du, mein Mädchen. Was ist denn vorhanden?“
„Du weißt, wie ich das meine, Kim. Also, was machst du mit ihr?“
„Ich helfe ihr, den Schlüssel zu ihrer inneren Welt finden. Das ist alles, was ich mache.“
„Also nimmt sie keine Drogen, auch keinen Alkohol?“
„Nein, das tut sie nicht - zumindest nicht, wenn ich mit ihr zusammen bin. Und ich lege meine Hand für sie ins Feuer, dass sie auch dann nichts nimmt, wenn ich nicht mir ihr zusammen bin.“
„Was sprichst du mit ihr, Kim? Was erzählst du ihr?“
„Das, was sie braucht, um ihren Schlüssel zu finden.“
„Und was ist das?“
„Das kann ich nur Manola sagen.“
Maria wurde etwas ärgerlich, vielleicht auch etwas eifersüchtig. Sie überlegte und erinnerte sich an ein früheres Gespräch mit Kim.
„Du sagtest einmal, dass es viele Treuebrüche gibt. Ist das ein Treuebruch mir gegenüber, was du mit Manola machst?“ fragte sie, und Kim lachte wieder auf.
„Ich erzähle ihr keine Geheimnisse über uns beide, oder etwas wirklich Intimes aus meinem eigenen Herzen. Klar, ich erzähle ihr Geheimnisse, aber das sind Dinge, die nur sie etwas angehen - nur sie und mich. Es ist ja so, dass ich Andy nicht die selben Worte sagen kann, wie Mike. Umgekehrt ist es natürlich auch so. Der Fall ist dann der, dass ich Andy etwas erzähle, was Mike nie erfahren wird. Und genauso ist es mit Manola. Ich erzähle ihr Dinge, die du jetzt noch nicht kennst. Nur weiß ich, dass du diese Geheimnisse einmal von selbst wahrnehmen und erkennen wirst, also sind es im Grunde genommen keine Geheimnisse für dich.“
„Doch, denn sie weiß jetzt mehr als ich“, sagte Maria schmollend, und Kim lachte abermals.
„Und das ist etwas ganz schlimmes für dich, was?“
„Ja, weil ich es sein möchte, die dir am nächsten steht.“
„Würdest du sogar deine eigene Tochter nieder kämpfen, nur um mir am nächsten zu sein?“
„Vielleicht würde ich das, Kim“, sagte Maria leise und blickte ihn argwöhnisch an.
„Du hast keinen Grund dazu, mein Mädchen. Und jetzt lass uns dieses kindische Gespräch beenden.“
„Ich finde es nicht kindisch, wenn ich mir um unsere Tochter Sorgen mache.“
„Du machst dir keine Sorgen um unsere Tochter, Maria - du machst dir Sorgen, dass sie mehr wissen könnte als du. Und das nenne ich nun mal kindisch. Ich habe schon anderen Menschen etwas gesagt, was ich dir auch noch nie gesagt habe. Also, willst du auf diese Menschen auch eifersüchtig sein?“
„Darum geht es nicht, Kim. Du erzählst Manola viel mehr über das Geheimnis als mir, und das ist es, was mich stört. Immerhin sagtest du, dass ich diese Dinge irgendwann einmal von selbst erkennen werde. Also, warum erzählst du es Manola zuerst?“
Kim drehte seine Augen seufzend über.
„Ihr Weg ist ein anderer, Maria, deshalb muss ich ihr einige Dinge mehr sagen, als dir. Und wenn du jetzt nicht willst, dass ich ernstlich böse werde, hör endlich auf damit. Okay?“ sagte Kim, und seine Augen funkelten wirklich bedrohlich.
„Soll ich mich denn nicht wehren, wenn ich das Gefühl habe, dass du dich von mir entfernst und mich betrügst? Für mich ist das nun mal ein Treuebruch“, stammelte Maria und war den Tränen nahe.
Aber Kim blieb hart.
„Stell dir vor, es tut mir nicht einmal leid für dich, dass du dieses Gefühl hast - falls du es überhaupt hast, denn wenn, musst du ganz alleine damit klar kommen. Und dabei kann dir niemand helfen - nicht einmal ich. Ich sagte dir klipp und klar, dass ich Manola helfe und sie meine Hilfe will. Ich tu mit ihr nichts anderes, als mit unseren Freunden, die meine Hilfe ebenso wollen.“
„Und warum kannst du das nicht hier im Haus, oder im Garten tun? Warum musst du stundenlang mit ihr weg sein?“
„Weil Manola einen Ort braucht, an dem sie sich sicher fühlt - und dieser Ort ist nun mal dieser versteckter, romantischer Platz am Ufer des Sees. Dieser Ort gibt ihr Kraft, und diese Kraft braucht sie. Alles klar jetzt?“
„Wirst du noch oft mit ihr zum See fahren?“ fragte Maria kleinlaut.
„Verdammt noch mal, nein!“ stieß Kim entnervt hervor. „Außerdem ist es nicht so oft - höchstens ein, oder zwei mal in der Woche. Du bist doch sonst auch nicht Tag und Nacht mit mir zusammen. Oder fährst du nicht ein, oder zwei mal in der Woche in die Stadt zum Einkaufen und bleibst dann auch einige Stunden weg? Und frage ich dich dann, was du so lange in der Stadt getrieben hast?“
Manchmal waren die beiden wirklich wie ein ganz normales, menschliches Ehepaar... .
„Du weißt genau, was ich in der Stadt mache, wenn ich mal etwas länger aus bin. Entweder gehe ich zum Friseur, oder ich treffe mich mit Kerstin im Café. Und das sage ich dir vorher auch. Außerdem bleibe ich höchstens zwei Stunden weg und nicht acht Stunden, so wie du mit Manola“, schimpfte Maria erbost.
„Und was besprichst du mit Kerstin? Was sagst du ihr, was du mir nicht sagst?“
„Jetzt reicht es aber, Kim! Das ist typisch Mann. Ja, das ist wirklich typisch Mann. Ihr meint, euch ist wirklich alles erlaubt, natürlich viel mehr als uns Frauen. Wenn wir Frauen zwei Stunden aus sind, ist es sicher das selbe, als wenn ihr acht Stunden aus seid. Männer müssen sicher mehr Freiheit haben als Frauen. Und dann ist es so, dass ihr uns Frauen die Worte im Mund umdreht, um euch ja als die Guten hinzustellen. Klar, jetzt kommst du mir so und fragst, was ich mit Kerstin rede. Klar, es musste ja so kommen.“
Kim hob seine Brauen verwundert hoch.
„Und ich würde sagen, das ist typisch Frau, was du da eben gesagt hast - nämlich alles dramatisieren. Kannst du mir denn nicht sagen, was du mit Kerstin besprichst?“
Maria saß schon länger aufrecht im Bett, jetzt stand sie auf, nahm Decke und Kissen und wandte sich zur Tür.
„Hör mir gut zu, Kim. Du hast nicht alleine das Erziehungsrecht. Wenn ich Manola sage, dass sie nicht mehr mit dir zum See hinaus fährt, dann fährt sie auch nicht mehr hinaus. Und genau das werde ich tun. Ich bin ihre Mutter und habe das Recht dazu.“
Mit diesen Worten verließ sie das Schlafzimmer und ging hinunter ins Wohnzimmer, um sich auf die Couch zu legen. Aber jetzt wurde es Kim zu viel. Er sprang auf und lief ihr nach. Noch bevor sie sich der Couch nähern konnte, packte er sie von hinten am Arm und riss sie nicht gerade sanft zu sich.
„Wenn du das wagst, mein Mädchen, dann verlass dich darauf, dass du mich lange Zeit nicht mehr sehen wirst“, sagte er, trotz seiner Wut, sehr ruhig und gefasst, aber doch bestimmt.
„Ach, ja? Was sagst du dazu, wenn ich mich scheiden lasse?“ konterte Maria.
Kim rang die Hände, seufzte und setzte sich niedergeschlagen auf die Couch.
„Verdammt, was willst du von mir? Was verlangst du?“ fragte er nach einigen Sekunden und blickte verzweifelt zu Maria hoch, die noch immer mit der Decke und dem Kissen in den Armen, vor ihm stand.
„Lass Manola in Ruhe - das ist alles, was ich verlange.“
„Warum?“
„Ich habe Angst um sie, und das sagte ich bereits. Sie ist seltsam geworden und wandert den ganzen Tag herum wie eine Schlafwandlerin.“
„Das ist vollkommen normal, wenn man die linke Bewusstseinsseite kennen lernt.“
Jetzt wurde Maria hellhörig.
„Wenn man was? !“ fuhr sie auf.
„Sch!“ machte Kim. „Nicht so laut.“
„Also, das ist es! Das ist das große Geheimnis!“ rief Maria etwas leiser aus. „Und warum hast du mir das nicht gleich gesagt? Meinst du, ich hätte etwas dagegen gehabt?“
„Ganz und gar nicht.“
„Und warum hast du es mir nie gesagt?“
„Ist es denn wichtig?“
„Ob es wichtig ist? Kim - Manola ist nicht nur deine Tochter, sondern auch meine, falls du das noch immer nicht begriffen hast. Wie hast du denn erkannt, dass ihr diese Kraft zugetan ist?“
„Durch Trips - durch LSD. Und sie hat nicht nur die Kraft, sondern auch den Glauben - vielleicht sogar mehr als wir beide. Manola ist eigentlich der Mensch, dem es am leichtesten möglich wäre, das menschliche Bewusstsein zu durchbrechen. Trotzdem ist sie für unsere Armee untauglich. Das sagte ich ja schon, als ich bemerkte, dass ihr Weg ein anderer ist.“
„Das verstehe ich nicht, Kim“, meinte Maria und setzte sich zu ihm auf die Couch. „Wenn sie wirklich diese Kraft und auch diesen Glauben hat und damit dieses Bewusstsein durchbrechen kann, muss ihr doch mehr möglich sein, als der Endkampf. Oder kann sie nicht kämpfen? Fehlt ihr die Kampfkraft?“
„Das ist schwer zu erklären, Maria“, sagte Kim und legte seinen Arm versöhnlich um Marias Schultern, die es gerne zuließ, indem sie sich enger an ihn schmiegte. „Es gibt da etwas, was sie immer wieder mächtig zurück reißt. Und diese Energie ist ihr nun mal eigen. Ich kann sie nicht aus ihr heraus jagen. Das wäre ein zu intimer Eingriff.“
„Aber was kann Manola dann mit der linken Bewusstseinsseite anfangen?“ fragte Maria.
„Sie wird mich, so lange sie hier auf Erden lebt, nicht verlieren. Ich werde sozusagen immer bei ihr sein. Das ist ihr innigster Wunsch, den sich mit dieser Kraft und diesem Glauben selbst erfüllen wird.“
„Was soll das heißen, Kim?“
„Wenn wir auf die Leuchtende Welt gehen - sozusagen alles hinter uns lassen - auch unsere Familie, wird Manola die einzige sein, die die Kraft hat, mich zu materialisieren. Natürlich werde ich das nicht selbst sein, nicht einmal in meiner Multidimensionalität, aber doch eine sehr gelungene und wahrheitsgetreue Kopie, die all das sagen wird, was auch ich sagen würde. Sozusagen könnte man gewissermaßen auch sagen, dass ich es bin. Auf jeden Fall werde ich es für Manola sein.“
Maria seufzte.

„Sozusagen wird unser kleines Mädchen einmal verrückt“, meinte sie dann.
„So krass darfst du das nicht ausdrücken, Maria. Wirklich verrückt werden würde sie nur dann, wenn sie diese Kraft nicht nützen könnte. Aber dazu verhelfe ich ihr jetzt. Es ist das einzige, was ich für unser kleines Mädchen tun kann. Und eben deswegen muss ich ihr einige Dinge erzählen, die du jetzt noch nicht weißt, aber sicher einmal von selbst erfahren wirst. Für Manola bedeutet das keineswegs Wissen - das sind bloß Dinge, die ihre Kraft mobilisieren. Für dich wird es einmal wirkliches Wissen sein, also kannst du es auf keinen Fall einen Treuebruch nennen.“
„Das tu ich jetzt auch nicht mehr, Kim“, sagte Maria und blickte ihm schuldbewusst in die Augen.
„Wer ist dann dieser Kim, der immer bei ihr sein wird?“ fragte sie nach etwas längerer Schweigepause.
„Du könntest ihn Kim der Vergangenheit nennen, denn es ist der Kim, der ihr geholfen hat, den Schlüssel zu finden. Im Grunde genommen bin ich es, aber das Ich, das bei ihr war, als sie gelernt hat, in das linke Bewusstsein hinüber zu wandern. Ihre Kraft hält mich in diesem Bewusstsein fest und hat die Macht, mich immer wieder zu materialisieren, wenn es ihr Wunsch ist. Nur ist dieser Wunsch nicht so einfach zu erklären, denn er muss erst mobilisiert werden - entweder durch Traurigkeit, oder durch eine andere Energieform. Aber ich würde sagen, es wird die Traurigkeit sein, denn nur durch diese tiefe Traurigkeit würde sich Manola so sehr gehen lassen, um am Ende wirklich verrückt zu werden, wenn ich ihr jetzt nicht helfen würde, diese Kraft, die wirklich in ihr steckt, zu nutzen. Mag sein, dass man Manola dann trotzdem für verrückt erklärt, aber sie wird nie aggressiv werden, oder wirklich etwas anstellen, dass man sie einliefern müsste.“
„Was würde sie denn anstellen, wenn du ihr nicht helfen würdest?“
„Ich glaube, sie würde manisch depressiv werden und am Ende Selbstmord begehen. Und das möchte ich wirklich verhindern.“
Maria blickte versöhnlich in Kims Augen und drückte seinen Arm.
„Verhindere es, Kim. Bitte, verhindere es.“
„Das tu ich auch, mein Mädchen. Verlass dich darauf. Selbst, wenn du dich wirklich dazu entschließt, dich von mir scheiden zu lassen“, sagte Kim und lächelte dann.
Auch Maria lächelte, aber etwas beschämt, packte ihre Decke und ihr Kissen und gab Kim durch ein Kopfnicken zu verstehen, dass sie wieder nach oben ins Schlafzimmer gehen sollten. Also gingen sie Hand in Hand nach wieder nach oben.

Nachdem Manola bereits mit Jochen verheiratet war und sehnsüchtig auf Nachwuchs wartete, hatte sie im Park, an ihrer Lieblingsstelle, die erste Vision ihrer Kraft. Zu ihrer Lieblingsstelle sei noch gesagt - es war das hinterste Eck im Park, das Kim extra für Manola verwildern ließ. Dort wurde niemals Gras gemäht, und selbst die Büsche wurden niemals zurück geschnitten. Manola liebte es, mitten in dieser „Wildnis“ auf einer einfachen Holzbank zu sitzen und mit offenen Augen zu träumen.
An diesem Tag eben tat sie das selbe. Sie saß auf ihrer Holzbank und blickte verträumt in diese wild wuchernder Ecke des Parks, als sich Kim plötzlich vor ihr materialisierte. Er hockte etwa drei, oder vier Meter von ihr entfernt, im hohen Gras, im Türkensitz. Manola blieb ganz ruhig, als ob sie wüsste, was nun mit ihr passiert. Sie versuchte sogar an absolut nichts zu denken. Plötzlich war ihr, als ob sich alle Körperteile von Kim vervielfältigen würden, indem er sich an einer zweiten Stelle abermals materialisierte. Sozusagen hockten nun, im Abstand von zwei Metern, zwei Kims im hohen Gras vor ihr. Nach dieser „Zauberei“ erhob sich der erste Kim und kam langsam auf Manola zu. Als er direkt vor ihr stand, löste sich Manola innerlich auf und fühlte sich, als ob sie mehrmals existieren würde. Sie befand sich auch an mehreren Orten gleichzeitig, erkannte die Wirklichkeit von Vergangenheit und Zukunft. Und all die Orte waren ihr bekannt, obwohl sie wusste, dass sie sich später wohl kaum daran erinnern würde. Manola breitete sich aber noch weiter aus, so weit, bis sie ihre größte Bewusstheit in sich fühlte und dann sogar das Strahlen der Quelle der Kraft erkannte, in der sie sich selbst als Teil eines Strahls wahrnahm. Diese Visionen dauerten nicht länger als wenige Sekunden. Dann löste sich Kim vor ihr in nichts auf, während der andere Kim in der hinteren Ecke noch immer im Türkensitz vor ihr hockte. Manola bewegte sich auf ihm zu. Dann passierte das selbe noch mal. Kim löste sich zu einem zweiten Kim auf, dann zu einem dritten - und Manola trat an jeden Kim heran, bis zum letzten, der sich genau vor der Haustür materialisierte und ihr somit den vollendeten Kreis zeigte. Erst vor der Haustür lösten sich alle Visionen, alle Kims, wieder auf. Manola blickte zurück und sah, wie ihr eigenes Ich sich mehrfach von der Haustür bis in den Park bewegte, hinten an der Holzbank eine Kurve machte und sich wieder zum Haus bewegt, bis vor die Haustür, wo sich der Kreis der Bewegung schloss. Aber Manola sah nicht ihr jetziges Ich - sie sah sich als Baby, als Kleinkind, als junges Mädchen und als Frau, wie sie eben jetzt war. Plötzlich schloss sich dieser Kreis als winziger Punkt zusammen und löste sich über ihr auf. Aber die Visionen nahmen kein Ende. Manola sah sich als alte Frau, als undefinierbares Wesen, und dann klappte das, was wir Zeit nennen, in sich zusammen. Sie erkannte einen seltsam gekleideten Menschen, konnte aber das Geschlecht nicht erkennen, aber sie wusste, dass sie dieser Mensch war. Und dann fühlte sie sich abermals als Teil eines Strahls und ging mit einem unbeschreiblich seligem Gefühl in ein grelles Licht ein. Erst dann hatten alle Visionen ein Ende. Jetzt wusste sie beinahe, dass alles eins ist.

Manolas nächste Vision war schon realistischer. Damals waren ihre beiden Töchter Una und Miriam bereits geboren. Kim und Maria waren an diesem Tag mit ihren Enkelkindern zum nahen See spaziert, Cora und Markus arbeiteten, und Jochen war im Museum. Also war Manola alleine zu Hause. Sie hätte viel Zeit zum Malen gehabt, aber irgend etwas zog sie hinaus in den Garten. Sie ging aber nicht zurück zu ihrem Lieblingsplatz, sondern setzte sich vor dem Küchenfenster auf die Bank. Manola konnte sich nicht erklären warum sie ausgerechnet in diesem Moment daran denken musste, wie es sein wird, wenn Maria und Kim nicht mehr bei ihnen sind. Durch diese Gedanken wurde sie plötzlich unsagbar traurig - so traurig, dass ihr die Tränen kamen. Plötzlich sah sie durch den Tränenschleier einen dunklen Schatten vor ihr, der sich langsam in eine feste Gestalt verwandelte. Wie im Nebel sah sie schwarzes, langes, wallendes Haar und erkannte große, schocktürkise, leuchtende Augen. Manola sprang freudig erregt auf und rief: „Daddy!“ Sie sah das sanfte Lächeln um seinen Mund, aber sie wagte nicht, sich in seine Arme zu stürzen. Das Lächeln beruhigte sie, dass sie sich wieder auf die Bank setzte. Langsam gab der Nebel Kims ganzen Körper frei. In diesem Moment wusste Manola, dass Kim mit Maria und den Kindern spazieren war und diese Gestalt vor ihr bloß ein Teil von ihm war, eher ein Teil ihres eigenen Herzens, den sie, wann immer sie Lust hatte, hervor holen und materialisieren kann.
„Sag doch etwas“, bat Manola aufgeregt.
„Ich bin immer bei dir, Mädchen. Erinnere dich immer an diese tiefe Traurigkeit.“
Nach diesen Worten löste sich die Vision auf, über die Manola kein Wort verlor, nicht einmal an Kim. Wahrscheinlich hatte sie Angst, oder wollte nicht hören, dass er selbst nichts davon weiß und dies nur eine Vision aus ihrem Herzen ist, welche durch ihre eigene Kraft möglich ist. Und doch fühlte sie instinktiv die Wahrheit, die sie nie wirklich wahr haben wollte, denn sie wollte Kim selbst - ihn selbst sehen und mit ihm selbst reden. Dass es dann am Ende ja doch für sie so war, dazu verhalf ihr der übermächtige Glaube an ihre innere Welt und wohl auch Kims Zuspruch.
Nun, welcher Kim war das nun wirklich, der eines abends - als Manola im Dunkeln an Unas Bett und Miriams Gitterbett, im Kinderzimmer, stand und abermals in tiefster Traurigkeit daran dachte, wie es sein wird, wenn Kim nicht mehr da ist, im Nebel erschien?
„Du bist nicht mein Daddy“, sagte Manola leise, um die Kinder nicht zu wecken.
„Doch, ich bin dein Daddy“, sagte er mit Kims unverkennbarer Stimme.
„Wie ist das möglich?“
„Du hast mich für immer in deinem Herzen, also bin ich ständig bei dir. Es ist dein Wille, Mädchen.“
„Sehen dich die anderen auch?“
„Nur du siehst mich. Du sehnst dich mit deinem ganzen Herzen nach mir. Du kennst den Zauber der Wunschzeit.“
„Was ist die Wunschzeit, Daddy?“
„Das ist die Zeit, welche nur in der linken Bewusstseinsseite existiert, wo es keine Vergangenheit, keine Gegenwart und keine Zukunft gibt, sondern nur das allumfassende Jetzt, das weder Zeit, noch Raum kennt.“
„Wirst du immer bei mir sein?“ fragte Manola.
„Natürlich werde ich das. Wo ist denn dein Herz, Mädchen? Ist es nicht bei dir? Ist es nicht du selbst? Ich bin nun mal in deinem Herzen, also bin ich auch ständig bei dir.“
„Was wäre, wenn ich jetzt Daddy holen würde. Würdest du dann verschwinden?“
„Mädchen, ich bin bei dir. Wozu willst du mich holen, wenn ich doch direkt vor dir stehe?“
In dem Moment, als Manola das Zimmer verlassen wollte, war auch die Vision verschwunden.

Aber auch davon erzählte Manola niemandem etwas - auch nicht Kim, dem sie es wohl zu gerne erzählten wollte, aber doch nicht wagte. Also verließ sie sich eher auf ihre Visionen.
Sie dachte auch daran, dass sie das nächste Mal die Vision berühren wird. Dann wird sie ja sehen, was nun wirklich dran war. Das tat sie aber nicht - lange nicht. Erst, als Kim und Maria schon lange auf der Leuchtenden Welt waren, wagte sie es, seine Hand zu berühren. Und sie fühlte seine Hand in ihrer. Danach fragte sie sich nicht mehr, was nun Wirklichkeit ist und was nicht. Kim war da, das war alles was zählte - und er war da, wann immer sie ihn brauchte.
Und noch immer konnte sie mit ihm Gespräche führen - ihm Fragen stellen, die er genauso beantwortete, wie sie es auch von ihrem Daddy erwartet hätte. Aber Manola nannte ihn nicht mehr Daddy, sondern - Kim.
Es gab ein Geheimnis, das sie niemals verraten wollte, das sie heimlich in ihr Tagebuch schrieb, aber diese Schriften knapp vor ihrem Tod im Kamin verbrannte. Manola wollte dieses Geheimnis zwischen ihr und der „Vision“ Kim für sich alleine behalten, denn dieses Geheimnis war die Erfüllung ihres größten Wunsches, den sie seit dem Tag in sich fühlte, als sie wusste, dass sie sich in ihren eigenen Vater verliebt hatte. Auch ich werde kein Wort darüber verlieren... .
Aber es gibt ein interessantes Gespräch zwischen Manola und der „Vision“ Kim. Es war wohl eines der letzten Zusammenkünfte mit ihrem geliebten Daddy (ihrer Vision), bevor sie starb.
„Ich möchte dir von meinem Autounfall erzählen, der eigentlich keiner war“, begann Kim das Gespräch.
„Du meinst, als du noch nicht mit Mama zusammen warst und deinen Fiat an einem Baum zerschellen ließest?“ fragte Manola.
Kim nickte und begann zu erzählen.
„Nach dem Unfall sah ich mir den Wagen an. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass ich aus diesem Wrack lebend heraus gekommen bin. Vorne war er so zusammen geschoben, dass es mir beide Beine zerquetschen hätte müssen, und zwischen Lenkrad und Fahrersitz waren kaum mehr als 5cm Freiraum. Ich war fassungslos, als ich vor dem kaputten Wagen stand. Ich fragte mich wirklich, wie das möglich war, dass ich das überlebt habe. Und plötzlich sah ich den Unfall noch mal vor mir. Er lief vor meinem inneren Auge noch mal genauso ab, wie er wirklich war. Ich spürte anfangs kaum Schmerzen, bloß das Atmen tat ein bisschen weh, und mein Arm, der gebrochen war. Meine Beine spürte ich überhaupt nicht, als ob sie gar nicht vorhanden wären. Als die Sanitäter kamen, standen sie zuerst ratlos da und wussten anscheinend nicht, was sie mit mir tun sollen. Ich bat sie inständig, mich endlich aus dem Wagen zu ziehen, weil die Schmerzen immer ärger wurden. Es waren auch mehrere Rippen gebrochen, und das Atmen fiel mir immer schwerer. Die Ärztin fragte mich, ob ich einen Priester will. Ich versuchte zu lachen und schüttelte meinen Kopf. Ich sagte: Verdammt, zieht mich endlich da raus. Plötzlich wusste ich, was sie denken. Sie denken, dass mein gesamter Unterleib zerquetscht und abgetrennt ist, dass sie mich bloß zur Hälfte heraus bekommen und das mein Tod sein wird. Aber eigentlich hätte ich ja schon tot sein müssen, deshalb wunderten sich die Sanitäter und die Ärztin noch viel mehr.
In meiner Vision aber erkannte ich, was wirklich passierte. Ich hatte ziemlich starke Bewusstseinsschwankungen. Zum Teil befand ich mich in einer vollkommen anderen Welt. Und das war meine Rettung. Mein Verbündeter kam mir zu Hilfe - mein Verbündeter der Leuchtenden Wesen, den ich erst viel später kennen gelernt habe. Er versetzte meinen Unterleib in eine andere Welt - und als mich die Ärztin endlich heraus zog, wurde er in dieser Welt wieder materialisiert. Deshalb war ich sozusagen fast unverletzt, bis auf die paar Rippenbrüche und den Armbruch.“
„Du hast mir noch nie von einem Verbündeten erzählt. Wer ist dein Verbündeter - und vor allem, was ist ein Verbündeter?“
„Verbündete sind Wesen, die sich mit anderen Lebewesen verbinden.“
„Wesen? Heißt das, dass sie keine richtigen Lebewesen sind?“ fragte Manola.
„Ich sagte schon einmal, dass alles, ob Lebewesen oder Dinge, aus Energien besteht. Und Energie bedeutet nichts anderes als Leben.“
„Kannst du dich mit ihnen unterhalten?“
„Nicht so, wie ich mich jetzt mit dir unterhalte, aber man könnte es doch Kommunikation nennen.“
„Wie bist du auf diesen, deinen Verbündeten gestoßen, Kim?“
„Du hättest besser fragen sollen, wie er auf mich gestoßen ist, Manola.“
„Gut! Wie ist dein Verbündeter auf dich gestoßen, Kim?“
„Das passierte in einem Traum. Ich stand plötzlich in einer Landschaft, die aus vielen Hügeln bestand. Ich überquerte viele dieser Hügel, bis ich am Horizont so etwas wie Bäume sah. Diese Bäume sahen unseren Tannenbäumen auf der Erde sehr ähnlich. Als ich nun vor diesen Bäumen stand, lösten sie sich plötzlich in lauter bunte Blasen auf, die wie Seifenblasen aussahen. Eine dieser Blasen kam direkt auf mich zu, berührte mich an der Stirn und wanderte an meinen Körper hinunter bis zu den Zehen. Diese Blase war mein Verbündeter. Er tastete mich nur ab, um sich zu vergewissern, ob ich der Richtige für ihn bin. Nun, das war ich anscheinend, denn als nächstes bewegte er sich abermals auf meine Stirn zu. Er blieb diesmal nicht außerhalb, sondern drang in meinem Schädel ein, wanderte in meinem Körper bis hinunter zu den Zehen, wo er wieder heraus kam. Aber wie gesagt - er suchte mich und nicht ich ihn. So ist es nun mal bei wahren Verbündeten. Und wahre Verbündete suchen sich ihre Leute sehr gut aus. Nicht jedes Leuchtende Wesen hat so einen Verbündeten, wohl aber die meisten.“
„Sozusagen haben nur Leuchtende Wesen Verbündete“, meinte Manola.
„Nein, nein - sie suchen manchmal auch andere Lebewesen auf - bloß müssen diese Lebewesen schon einige Bewusstseinsblasen durchbrochen haben. Anders ist es bei den anorganischen Lebewesen, von denen ich dir ja schon erzählt habe. Sie sind nicht so wählerisch. Sie sind sogar froh, wenn du sie suchst. Aber ich würde mich nie darauf einlassen, denn am Ende kann es dir passieren, dass du dein restliches Dasein für immer bei ihnen verbringen musst. Sie sind auf der einen Seite voll und ganz ehrlich, aber auf der anderen Seite auch sehr gerissen. Wenn du dich einmal mit anorganischen Lebewesen einlässt, musst du immer auf der Hut sein. Sie nörgeln und singen dir ständig die Ohren voll. Sie locken dich mit den schönsten und irrsten Zaubereien, und wenn du darauf eingehst, kann es sein, dass du dein eigenes Versprechen, für immer bei ihnen zu bleiben, überhörst. Dann bist du eben für immer in dieser Schicht gefangen und kannst auch nur mehr von dort aus agieren. Das heißt, du kannst jederzeit Abstecher in andere Welten machen, auch viel dazu lernen, aber die Ganzheit deines Selbst wird nicht mehr die selbe sein, sobald du dich mit den anorganischen Wesen verbündet hast.
Bei den Verbündeten der Leuchtenden Wesen ist es ganz anders, denn sie verändern nichts an dir.
„Wann hast du deinen Verbündeten bekommen?“
„Das ist nicht so wichtig - auf jeden Fall hatte ich ihn damals, als dieser Unfall passierte, noch nicht wirklich. Er fühlte die Zukunft und wusste schon damals, wer ich bin. Eigentlich fühlte er die Zukunft nicht wirklich, denn diese Wesen stehen über der Zeit - das heißt, sie erkennen bereits das Ganze.“
„Wohin zauberte er deinen Unterleib, Kim?“
„Wahrscheinlich auf die Leuchtende Welt, oder auf seinen Planeten. Ich weiß es nicht - und ich fragte ihn auch nie danach“, sagte Kim lächelnd.
„Und als die Ärztin dich aus dem Autowrack zog, gab er deinen Unterleib stückweise frei?“
„Genau das tat er, Manola. Und es fiel überhaupt nicht auf. Es sah wirklich so aus, als ob die Ärztin meinen Körper aus dem Wrack und nicht aus dem Nichts ziehen würde. Ich hätte also tot sein müssen, aber dank meines Verbündeten überlebte ich.“
„Half er dir öfter? Ich frage das, weil du damals sehr viele Verletzungen hattest, die normal tödlich wären.“
„Nein, ich glaube, das war das einzige Mal. Diese Verletzungen damals überlebte ich, weil ich zum Großteil ein Leuchtendes Wesen war.“
„Gibt es viele von diesen Wesen?“
„Unmengen.“
„Wie werden sie geboren?“
„Sie werden nicht geboren. Man könnte sagen, sie sind die Schätze der Quelle der Kraft. Sobald sich die Quelle der Kraft in ein neues Universum ausbreitet, entstehen auch diese Wesen - und sie bestehen so lange, bis sich die Quelle der Kraft wieder in sich zusammen zieht.“
„Schätze?“
„Ja, Schätze, oder Geschenke - wie immer du es nennen willst.“
„Und warum kommen sie erst zu diesen Lebewesen, welche bereits mehrere Bewusstseinsblasen durchbrochen haben?“
„Weil erst diese Lebewesen bereit sind, Manola. Menschen, zum Beispiel, würden prahlen und mit ihrer Zauberei Geld verdienen wollen. Sozusagen sind sie noch lange nicht bereit. Ich nannte Menschen nur als Beispiel, denn es gibt auch viele andere Lebewesen, die ebenso wenig bereit sind. Eine Entwicklung gehört nun mal zu allen Lebewesen, nicht nur zu den Menschen. Ich sage das nur, damit du dich jetzt nicht gegen die Menschen stellst, denn es gibt noch viel schlimmere Lebewesen, wobei - schlimm - sicher nicht das Wahre ist, denn auch das gehört zur Entwicklung. Viele Lebewesen müssen sich erst über die Unterschiede, über die Vergleiche stellen - und das können sie nur, wenn sie diese Unterschiede und Vergleiche gelebt haben. Denn wenn sie das gelebt haben, ist es ihnen erst möglich, zu erkennen, dass es im Grunde genommen keine Unterschiede gibt. Wenn einer kommt und ihnen sagt, dass es nichts zu unterscheiden gibt, könnten sie es glauben. Nur ist dieser Glaube sehr seicht, so lange sie nicht wirklich danach gelebt haben.“
„Du meinst, ein Mensch muss erst richtig böse sein, um auch das Gute zu erkennen? Und wenn er dann das Gute gelebt hat, erkennt er, dass zwischen gut und böse kein Unterschied besteht?“
„Genau das meine ich, Manola.“
„Was ist mit dem Mittelweg?“
„Und wie sieht der aus, Manola?“
„Gerechtigkeit.“
„Gerechtigkeit kommt von richten, und das hört sich, meiner Meinung nach, gar nicht gut an. Nein, es geht weder um Gut, noch Böse, auch nicht um den Mittelweg, denn einen Mittelweg gibt es nicht. Auch der Mittelweg wurde von irgendwem aufgestellt und kann nicht für alle gelten, nicht einmal für einen zweiten. Es geht nur darum, dass du immer nur du selbst bist, für dich selbst entscheidest, dich selbst richtest, um am Ende zu erkennen, dass du dich mit all deinen Schwächen und Stärken voll und ganz akzeptieren musst, ohne jemals etwas zu bereuen. Spring ab vom Weg, von jedem Weg und stürze dich hinab in den tiefsten Abgrund deines Selbst. Das ist der wahre Weg und kein anderer. Er ist sehr einsam, aber der einzige Weg, wirklich zu erkennen. Und auf diesem Weg gibt es kein Gut und kein Böse mehr, weil es nichts mehr zu unterscheiden gibt.“
Manola lächelte.
„Das ist dein Lieblingsspruch, nicht wahr? Sagen wir, dein zweiter Lieblingsspruch, der dem ersten sehr ähnlich ist, der lautet: Lebe immer nach deinem Herzen.“
„Na, klar, denn wenn du nach deinem Herzen lebst, ist es ja so, dass du alles was du sagst und tust, jederzeit und überall vertreten kannst.“
„Und mein Herz ist meine größte Bewusstheit, die mich eigentlich sehr gerne leiten möchte, aber nicht kann, weil sie in mein Leben nicht eingreifen darf.“
„Sie kann nicht, Manola - aber dass sie es gerne tun möchte, ist vielleicht wahr. Du bist nur ein kleiner Teil von ihr, aber ihr liegt an jedem kleinsten Teil genauso viel wie an ihrem größten.“
„Und sie ist jetzt genauso existent wie ich, nicht wahr?“
„Wenn du bereits mehrere Bewusstseinsblasen durchbrochen hättest, wüsstest du es, Manola. Ja, denn alles ist gleichzeitig existent. Es gibt nur das allumfassende Jetzt. Aber um das zu begreifen, müsstest du multidimensional sein.
Ich sagte einmal, dass es keine Seele gibt. Irgendwie ist es richtig, aber irgendwie auch wieder nicht. Die eigentliche Seele ist ja das Herz, also die aller größte Bewusstheit. Ihre kleinen und größeren Bewusstheiten, also ihre anderen Leben, sind ja nur Teile ihres Ganzen, also ist deine Seele auch nur ein kleiner Teil der wahren Seele. Und demnach kann man diese Kleinigkeit kaum Seele nennen, obwohl sie genug Energien, also Leben in sich hat, um selbständig und gewissermaßen frei zu existieren. Vollkommen frei ist ja nichts in diesem Universum, solange es geöffnet ist. Wir sind von allem und jedem abhängig, weil wir im Grunde genommen von allem nur ein winziger Teil sind. Die wahre Freiheit und die wahre Seele erkennen wir erst, wenn wir eins mit der Quelle der Kraft und sozusagen sie selbst sind. Also nenne dich weder Seele, noch Körper - das einzig richtige, was du sagen kannst, ist: Ich bin nur ein winziger Teil vom Ganzen - weder Mensch, noch Tier, weder Pflanze, noch Mineral, denn das sind nur die Namen, welche Menschen erfunden haben.“
„Ich mochte deine Verrücktheit schon immer, Kim“, sagte Manola lächelnd und sah ihn bewundernd an.
Auch Kim lächelte und nickte Manola aufmunternd zu.
„Du bist auf dem besten Weg, annähernd in meine Fußstapfen zu treten, Mädchen.“
„Und annähernd ist gut, nicht wahr? So ist es noch immer mein eigener Weg, und nicht deiner.“
„Gut gesagt, Manola.“
„Du sagtest eben, das einzig richtige, was ich sagen kann ist: Ich bin nur ein winziger Teil vom Ganzen. Sozusagen trifft das doch auf alles und jeden zu, auch auf die aller größten Bewusstheiten.“
„So ist es auch, Manola. Unterschätze und überschätze niemals etwas, denn alles ist wie du ein Teil vom Ganzen. Deshalb bedankte ich mich als Mensch bei allem, was ich aß und trank, denn ich wusste, in all diesen Dingen steckt Leben, genauso wie in mir.
Menschen könnten friedlich neben wilden Tieren leben, so wie es früher Indianer getan haben. Sie holten sich nur die Nahrung, die sie brauchten, nicht mehr. Die anderen Tiere ließen sie wieder weiter ziehen. Aber in der Gesellschaft, in der ich auf der Erde lebte, nahm man den Tieren ihren Freiraum weg, und sperrte sie als lebende Nahrung ein, wo sie sich kaum mehr bewegen konnten. Tiere wehren sich nicht - sie sind Engel. Und diese Engel wissen, wozu sie hier sind, nämlich um anderen Lebewesen Kraft zu geben, um andere Lebewesen mit ihrer Kraft weiterleben zu lassen. Sie geben dir ihre Energien, die du eigentlich mit großem Dank aufnehmen müsstest.“
„Verlieren sie dabei sehr viel?“
Kim lächelte.
„Sie verlieren ihr Leben, Manola.“
„Ich meine, du sagtest ja, auch Tiere hätten aller größte Bewusstheiten. Ändert sich dann etwas daran, wenn ein Mensch sie isst? Ich meine, verbindet sich dann ihre Bewusstheit mit der aller größten Bewusstheit des Menschen?“
„Nein, so stark ist weder ihre Energie, noch die der Menschen. Diese raubenden Energien, von denen du eben gesprochen hast, befinden sich in einer anderen Bewusstseinsblase.
Lass uns noch einmal zurück zu diesem Satz, den ich dir geraten habe, dass du nur ein winziger Teil des Ganzen bist, sozusagen mit nichts zu vergleichen und doch eins mit allem. Dieses - eins mit allem - hat es in sich. Wie du weißt, existierst du in anderen Erddimensionen genauso wie hier als ein und die selbe Person. Das hat mit deiner Bewusstheit im Grunde genommen nichts zu tun, denn du und die anderen Dus in den anderen Dimensionen ist eine Bewusstheit. Es könnte aber durchaus sein, dass du hier auf der Erde auf eine andere Bewusstheit deiner aller größten Bewusstheit stoßt. Hast du dich das noch nie gefragt, Manola?“
„Du meinst, ein mir bekannter Mensch ist genauso wie ich ein Teil meiner größten Bewusstheit? Nein, diese Frage habe ich mir noch nie gestellt. Aber es wäre interessant. Hat es irgendeine Bedeutung?“
Kim lachte auf.
„Nichts in diesem Universum hat eine Bedeutung, Manola. Alles ist wie es ist. Und wie es ist, wirst du sicher einmal wissen.“
„Sozusagen brauche ich nicht weiter zu fragen, wer noch ein Teil meiner größten Bewusstheit ist.“
„Du hast das richtig verstanden, Mädchen“, sagte Kim und dachte dann wohl an Melanie, die eine große Bewusstheit Raminas war und ist - und Ramina ist sich ja bereits bewusst, dass sie nicht nur Manola, sondern auch Melanie ist. Die Frage ist nur, wie wird die kleine Elfe, mit den großen, schwarzen Augen in diesem Universum erscheinen, wenn es an der Zeit sein und dieses Universum sich schließen wird. Wird es Ramina sein, die sich ihrer erinnern wird? Erinnern ist erkennen, sagte Kim einmal.
Es gibt da noch eine Frage. Warum weiß diese „Vision“ Kim so viel? Kim wusste damals, als er Manola in die linke Bewusstseinshälfte führte, all diese Dinge noch nicht, die er ihr jetzt aber erzählen konnte. Und doch sollte das der selbe Kim von damals sein. Die Sache ist die - Kim war schon immer die aller größte Bewusstheit, sozusagen die Ganzheit des Selbst, nur, er selbst erkannte es nur schrittweise, obwohl bereits alles in ihm war. Manolas Vision ist ja keine Halluzination, also nicht bloß eine Wunschvorstellung, sondern eine reale Materialisation ihrer linken Bewusstseinsseite. Für einen Durchschnittsmenschen wäre das eine unglaubliche und unerklärbare Zauberei. Aber Kim sprach ja von Zauberei, die uns möglich wäre, wenn wir uns endlich auf die restlichen 97% unseres menschlichen Bewusstseins einlassen würden. Würde ein anderer Mensch an Manolas Seite die linke Bewusstseinsseite kennen, würde er Kim genauso sehen wie sie, obwohl er nur ihre Vision ist. Er würde Kim vielleicht etwas anders wahrnehmen, genauso wie Maria das Reich des Bösen anders wahr nahm als Kim, aber beide würden wissen, wer vor ihnen steht. Und da Kim bereits alles Wissen in sich hatte, da er, wie gesagt, schon immer die aller größte Bewusstheit war, hat auch die Vision Kim dieses Wissen in sich und kann es jederzeit hervor holen und Manola mit interessanten Gesprächen unterhalten.

Es mag vielleicht ungerecht erscheinen, dass über Manola so viel und über Cora nur sehr wenig geschrieben wird. Aber was soll man über eine höchst durchschnittliche, sich unterordnende Person schon schreiben? Sicher, Kim unterhielt sich sehr viel mit ihr - zumindest als sie noch ein Teenager war, aber später fand er es selbst langweilig, mit ihr zusammen zu sitzen und sich über medizinische Fortschritte zu unterhalten, da Cora kaum für ein anderes Thema offen war. Sie war nun mal Ärztin mit Leib und Seele, wie man so schön sagt.
Markus, ihr Mann, war da etwas offener. Aber auch über ihn gibt es nur wenig zu schreiben, obwohl er, genauso wie Manola, ganz leicht die linke Bewusstseinsseite erreicht hätte, wenn es Cora zugelassen hätte. Sie liebte Kim über alles, keine Frage, aber sie sah es überhaupt nicht gerne, wenn Markus mit ihm zusammen saß, weil sie befürchtete, Kim könnte ihm Flausen in den Kopf setzen. Trotz dieser abgöttischen Liebe hielt sie ihren Adoptivvater wirklich für verrückt. Aber das gab Cora nie offen zu. Es war nur so, dass Kim dies durchschaute, deshalb gab er seine Gespräche mit ihr auch auf und unterhielt sich mit ihr über Medizin, was zwar nur eine einseitige Unterhaltung war, denn er hörte Cora ja nur zu. Später gab er auch die Unterhaltungen mit Markus auf, da er sich mit Cora nicht verfeinden wollte, denn das hätte er, wäre er zu hartnäckig gewesen.
Nun zu Jochen, Manolas Mann. Man könnte sagen, er kannte Manola durch und durch - und er akzeptierte sie voll und ganz. Es war schon Anbetung und höchste Bewunderung, die er seiner geliebten Frau entgegen brachte – natürlich nicht, weil sie Kims leibliche Tochter war, denn das hatte für Jochen keine Bedeutung, sondern weil sie nun mal anders war. Er verstand zwar vieles nicht, was sie sagte - genauso wenig wie das, was Kim sagte, aber es imponierte ihm und er eiferte den beiden Menschen nach, die er am meisten liebte. Jochen schrieb sogar einiges auf, was ihm Manola, oder Kim erzählte und dachte über alles angestrengt nach.
In „Kim 12.Buch“ steht zwar, dass Kim seinen Töchtern und ihren Männern, so wie seinen Freunden, den Schlüssel in die Hände gab, aber ganz so war es nicht, denn dies schaffte er nur bei Manola wirklich, die ihren ganz eigenen Weg auch fand. Cora, Markus und Jochen wichen nie vom üblichen Weg ab. Das einzige, wonach sie wirklich lebten, war, dass sie niemandem Vorschriften machten und über andere Meinungen tolerant schwiegen. Nur glaube ich, dass sie das Kim zuliebe machten, denn im Inneren, vor allem im Inneren von Cora, spielte sich ja doch etwas ganz anderes ab.
Manchmal trat auch Manola ganz schön daneben, vor allem als sie von Kim erwartete, er würde ihre Schwangerschaft sehen. Sie wurde dann ziemlich wütend, als er ihr anfangs die kalte Schulter zeigte. Auch die Sache mit dem Apfelbaum nahm sie ziemlich mit. Aber sie glaubte daran mehr als Cora, Markus und Jochen.
Kims Kraft war eben doch zu groß, um ihr zu entgehen, wie es Cora eigentlich wollte. Diese Baum machte ihr große Probleme, dass sie sogar Hilfe bei Maria suchte.
„Es ist nicht normal, dass ein Baum im Winter ständig blüht und Früchte trägt“, sagte sie zu ihrer Adoptivmutter, als die beiden einmal alleine in der Küche waren.
„Aber es ist so. Du siehst es ja, Cora.“
„Es kann nicht sein, Mama. Und das weiß ich. Daddy spielt uns da etwas vor. Er hypnotisiert uns. Ich kann das fühlen.“
„Das tut er sicher nicht, Cora. Mag sein, dass seine Kraft dich mit zieht, aber das ist wohl kaum seine Absicht.“
„Was bedeutet das - seine Kraft zieht mich mit?“
„Das ist schwer zu erklären. Ich kann dir da nur einige Beispiele geben. Jeder Mensch hat Kräfte in sich, die er noch nie entdeckt hat, weil er nicht an sie glaubt und vielleicht auch gar keine Ahnung hat, dass es sie gibt. Aber diese Kräfte sind da, weil sie ein Teil des menschlichen Bewusstseins sind und unbewusst auf dich einwirken. Alleine kannst du sie schwer mobilisieren, da du nicht weißt, dass sie unbewusst in dir stecken. Jetzt ist es aber so, dass Kim diese Kräfte besser kennt, als jedes andere Wesen - und wenn er zu dir spricht, spricht er auch zu diesen Kräften und mobilisiert sie. Kim kann gar nicht anders mit dir kommunizieren. Er beachtet dich voll und ganz. Er übergeht dich nicht, wie er das mit Menschen tut, die ihm fremd sind, die ihm eben nichts bedeuten. Und da er dich voll und ganz beachtet, wirken seine Kräfte auf deine Kräfte unbewusst ein.
Das Beispiel, das ich dir geben wollte, ist Maggie. Kim schenkte ihr einmal einen Traum, zumindest sagte er das, denn er schenkte ihr nicht wirklich einen Traum, sondern bloß einen Teil seiner Kraft, um Maggies Kraft zu mobilisieren. Maggie war bereit, also träumte sie.
Das nächste Beispiel ist Armin. Kim verwandelte sich vor seinen Augen in einen schwarzen, riesigen Panther. Auch ihm gab er dadurch nur Kraft - und seine Kraft mobilisierte Armins Kraft, dass er wirklich einen Panther sah.
Genau das selbe ist mit dem Apfelbaum. Ihr seid bereit, obwohl ihr das nie zugeben würdet. Aber da ihr den blühenden Baum seht, ist das das Zeichen, dass ihr bereit seid.“
„Ich will mit dieser Zauberei nichts zu tun haben, Mama - und ich möchte, dass Daddy auch Markus dabei heraus hält“, sagte Cora hart.
„Du musst keine Angst haben, Cora.“
„Ich habe aber Angst. Und ich finde, dass ich ganz und gar nicht bereit bin.“
„Anscheinend bist du das, denn sonst würdest du den blühenden Baum nicht sehen. So einfach ist das - und auch ganz ohne Zauberei. Die linke Bewusstseinsseite ist sehr geheimnisvoll und ein Mysterium, wenn man zu sehr in der rechten verankert ist, so wie du. Aber manchmal dringt ein Teil dieses Bewusstseins auch in das rechte durch, so wie das nun bei dir der Fall ist.
Ihr habt ja auch dieses Spiel mitgemacht, das Kim euch geraten hat - dieses erweiterte Versteckspiel, wo ihr euch ohne Verabredung suchen und auch finden sollt. Leider habt ihr versagt.“
„Und das ist auch gut so. Selbst Manola, mit ihren Spinnereien, hat versagt.“
„Das würde ich nicht sagen, Cora. Es war nur so, dass sie nicht mitspielte. Sie wollte nicht triumphieren und sich ebenso wenig in den Vordergrund stellen. Die innere Welt ist nicht aufdringlich. Sie ist still und beinahe selbstlos. Lieber stellt sich Manola als Narr und Versager hin, als zu sagen: Seht her, was ich alles kann.“
Cora holte tief Luft, bevor sie sprach.
„Nun gut! Was diesen Apfelbaum betrifft - ist es ja so, zumindest wie ich das verstanden habe, dass Daddy mit seiner Kraft unsere Kraft mobilisiert. Macht er das bewusst, oder unbewusst? Ich frage das deshalb, weil wenn er es bewusst macht, so bedeutet das, dass er uns ja doch hypnotisiert.“
„Ein Beispiel, Cora. Produzierst du bewusst rote Blutkörperchen?“
„Natürlich nicht! Was soll diese absurde Frage? Jedes Kind weiß, dass der Körper... .“
„Schon gut, Cora“, unterbrach Maria sanft und lächelte kurz. „Du weißt es vielleicht nicht, aber Kim hat die menschliche Bewusstseinsblase bereits durchbrochen. Das heißt, er kennt das menschliche Bewusstsein in- und auswendig und kann sich ihm bewegen wie und wann immer er will. Ich möchte jetzt gar nicht weiter darauf eingehen, in welchen Bewusstseinsblasen er sich noch bewegen kann, denn darum geht es nicht. Es geht jetzt nur ums menschliche Bewusstsein, in dem er sich befindet, wenn er mit euch spricht. Er kann sich zwar ganz leicht in die rechte Seite begeben, aber da er auch die linke kennt, kann er dieses Wissen einfach nicht vergessen, oder ignorieren, denn sein Körper kennt diese Seite viel zu gut. Und Kim hat Körper und Seele und auch seine Umgebung voll und ganz vereint - das heißt, er ist im Einklang mit allem. Wenn nun seine innere Kraft eine andere innere Kraft fühlt und erkennt, steht er diesem Phänomen machtlos gegenüber. Das heißt, er kann es nicht kontrollieren, nicht bewusst steuern, denn seine innere Kraft geht ja nur auf die andere innere Kraft ein, wenn diese bereit ist. Ist sie nicht bereit, ignoriert seine innere Kraft die andere Kraft. Es ist nichts anderes, als wenn dein Körper rote Blutkörperchen produziert. Auch dem stehst du machtlos gegenüber. Du kannst jetzt nicht sagen: Halt, hör auf zu produzieren! Und genauso wenig kann Kim seine innere Kraft steuern, weil sie von selbst erkennt.“
„Heißt das, dass man der linken Bewusstseinsseite vollkommen machtlos gegenüber steht?“
„Was ist Macht, Cora? Worüber hast du denn wirklich Macht?“
Cora lächelte und schüttelte ihren Kopf.
„Gegen euch kommt man einfach nicht an. Ihr habt für alles eine entschuldigende Antwort parat.“
„Es ist die Wahrheit, Cora - keine entschuldigende Antwort. Aber wenn du es so ausdrücken willst - ja, der linken Bewusstseinsseite steht man vollkommen machtlos gegenüber. Sie ist voll mit Überraschungen, voll von unergründlichen Geheimnissen, wo du nur mehr staunen kannst. Dort gibt es keine Erklärungen mehr, weil dort einfach nichts zu erklären ist.
Ich weiß, für dich zählt der Verstand sehr viel. Du bist sogar stolz auf deinen Verstand und hältst an ihm fest, wie am Leben selbst. Aber wie lange wirst du dein Leben festhalten können? Lass los, Cora - das ist der einzige Rat, den ich dir geben kann.“
Cora lachte hysterisch auf.
„Klar, für euch beide ist das leicht, denn ihr seid unsterblich.“
„Unsere sogenannte Unsterblichkeit hat eine ganz andere Bedeutung. Wenn du so denkst, bist auch du auf eine gewisse Art unsterblich.“
„Es interessiert mich eigentlich nicht, trotzdem möchte ich dich fragen, was denn so in der linken Bewusstseinsseite passiert? Und warum ist man dort machtlos?“
Maria lächelte.
„Sie zeigt dir andere Wirklichkeiten, andere Wahrheiten, aber immer nur einen Teil deines Selbst. Sobald deine Kraft mit ihr in Berührung kommt, kannst du alles jederzeit wieder hervorholen - und das ziemlich kontrolliert. Man ist nicht wirklich machtlos, aber man hat auch keine Macht. Du hast auch hier in der rechten Bewusstseinsseite keine Macht, denn auch hier wirken Energien und Kräfte auf dich ein, die du überhaupt nicht kontrollieren kannst, weil du überhaupt keine Ahnung von ihnen hast. Und ebenso ist es in der linken Seite, wo die Energien und Kräfte noch viel stärker auf dich einwirken. Kim spricht immer von der inneren Welt, wenn er von der linken Seite erzählt. Aber auch die rechte Seite ist viel mehr eine innere Welt, denn das, was du wahrnimmst, strahlt ja nur das Bewusstsein aus - ob es nun das rechte, oder das linke ist, ist vollkommen egal. Nur ist es so, dass man das rechte Bewusstsein allgemein wahrnehmen kann, weil es ja bloß die Oberfläche ist. Im linken Bewusstsein aber bist du auf dich alleine gestellt, dort gibt es keine allgemeine Wahrnehmung. Warum das so ist, kann ich dir nicht sagen. Vielleicht hängt es mit dem Verstand zusammen, wie Kim immer sagt. Das rechte Bewusstsein ist der Verstand und die Erklärungen, aber im linken gibt es keinen Verstand mehr und auch keine Erklärungen, denn dort ist immer alles wie es ist. Dort kannst du nichts mehr beeinflussen. Vielleicht bedeutet das Machtlosigkeit.“
„Aber was sieht man - was erlebt man dort?“ fragte Cora.
„Du siehst die Welt von einer anderen Perspektive aus - du siehst ihre viele Schichten und kannst in sie eindringen. Und was du dort erlebst, kommt ganz alleine auf dich selbst an. Das kann ich dir nicht sagen. Es ist aber so, dass dein Wille alleine nicht zählt. Diese Wahrnehmung wird dir nicht so einfach geschenkt, denn du musst voll und ganz dafür bereit sein und vorher alles, was du bisher gekannt und geliebt hast, los lassen können. Diese Kraft, die Kim in euch erkannt und mobilisiert hat, ist zuwenig für die linke Seite. Also, sei beruhigt - er verzaubert euch nicht. Außerdem kann er das auch gar nicht - das könnt nur ihr selbst, wenn ihr voll und ganz bereit seid und die linke Seite euch aufnehmen will.“
„Wird das irgendwann einmal der Fall sein?“ fragte Cora besorgt.
„Wahrscheinlich, weil alles zur Quelle zurück drängt. Stagnation, ewige Wiederholung ist für kein Lebewesen erstrebenswert. Nur wissen die wenigstens, dass die wahre Erkenntnis in der Erinnerung liegt. Wir müssen uns erinnern, Cora - das ist alles. Nur die Erinnerung führt zur Quelle zurück.“
„Meinst du wirklich, dass das Leben da draußen so falsch ist? Ich meine, die menschliche Intelligenz hat doch wirklich viel geschaffen. Denke an die Medizin, an die Technik, an die Gesellschaft, die wirklich eine hervorragende Wirtschaft aufgestellt hat. Wie sollte es möglich sein, diese vielen Menschen, die sich noch immer unheimlich schnell vermehren, auf eine andere Art zufrieden zu stellen? Wenn all das zusammen bricht, so würde ich das sehen, bricht auch die gesamte Menschheit zusammen. Von euren Träumen und Phantasien wird doch kein Mensch satt.“
„Ich möchte jetzt einmal hart sein. Kim würde wahrscheinlich sagen, dass das zu eurer Entwicklung gehört und ihr ja doch einmal aufhört, stets nur an der Oberfläche zu kratzen und euch dann endlich in das Innere wagt. Nein, ich möchte das anders ausdrücken, nämlich so, dass ein großer, mächtiger Wurm in euch sitzt, der euch für alles blind, taub und stumm macht.
Was erreicht ihr denn mit all dem, was du eben aufgezählt hast? Ihr erkennt nicht einmal, dass ihr euch in einer Sackgasse befindet und immer wieder eure Schädel an der selben unüberwindbaren Mauer blutig stößt. Wenn es bei euch nicht mehr weiter geht - sei es der Grund, dass es zu viele Menschen, zu wenig Arbeit, zu wenig Geld, oder was immer gibt - kommt für euch nur eines in Frage, nämlich totale Zerstörung durch Kriege, damit ihr wieder einmal von vorne beginnen könnt.“
Maria und Cora hörten im Hintergrund Applaus. Es war Kim, der an der Küchentür stand und nach Marias Worte klatschte. Es war aber kein sogenannter Beifall, denn Kims Blick war höchst zynisch.
„Bravo, mein Mädchen - du gehst ja ganz schön ran“, sagte er und setzte sich lächelnd an den Tisch.
„Ich weiß, Kim - du siehst das ja wieder ganz anders“, sagte Maria schmollend.
„Ganz und gar nicht. Auch ich bin der Meinung, dass da nur mehr ein großer, weißer - vielleicht auch schwarzer, oder roter, oder gelber Arsch in Frage kommt, der alles zuscheißt. Die Menschheit würde im Dreck ersticken. Was gäbe es Schöneres?“ meinte Kim und grinste spitzbübisch.
„Was würdest du vorschlagen, Daddy?“ fragte Cora.
„Überhaupt nichts, weil jeder Vorschlag ins Leere geht. So war es doch schon immer. Geduld heißt die Devise - nur Geduld. Irgendwann erkennt jeder einmal. Es kann gar nicht anders sein. Also, wozu soll man die Menschen zu irgend etwas zwingen, das sie nicht kennen? Man kann niemandem etwas sagen. Es wäre nicht echt. Und das sagte ich sicher schon zum tausendsten Mal.
Was soll euer Gespräch überhaupt? Was wollt ihr damit bezwecken? Befürchtet ihr das Ende der Menschheit? Und wenn schon? Ich weiß, dass nie etwas verloren geht. Es verändert sich bloß, das ist alles. Es gibt kein Ende, keinen Anfang. Es gibt immer nur das allumfassende Jetzt.
Und wieder zum zigtausendsten Mal: Verändern könnt ihr euch selbst, niemals einen anderen, oder etwas anderes. Geht das nicht in eure verbohrten Schädel hinein?
Was mache ich überhaupt hier? Warum sitze ich hier und spreche zu Blinden und Tauben?“
Nach diesen Worten schüttelte Kim verächtlich seinen Kopf und verließ grinsend die Küche. Maria und Cora sahen ihm ratlos nach. Bevor Kim verschwand, drehte er sich noch mal an der Tür um und sagte:
„Es wäre besser, ihr würdet das Essen endlich fertig kochen und mit diesem schwachsinnigem Gerede aufhören. Die Kinder sind nämlich schon hungrig, und ich hasse es, mit hungrigen Kindern zu spielen.“
„Er ist irre“, sagte Cora, als Kim weg war. „Das sagte ich schon immer. So süß er ist, so irre ist er.
Aber so ist er nun mal. Das ist Kim pur, wie er leibt und lebt.“