Text aus "Die Zauberin" von Taisha Abelar:

Als wir mit dem Essen fertig waren, reichte Clara mir Schreibblock und Bleistift.
Sie sagte, der erste Schritt bestehe darin, eine Liste aller Menschen anzulegen, denen wir je begegnet sind - angefangen von der Gegenwart bis zurück zu meinem frühesten Erinnerungen.
"Das ist unmöglich!" stieß ich hervor. "Wie um alles in der Welt soll ich mich denn an jeden erinnern, mit dem ich je zu tun hatte, vom ersten Tag an?"
"Schwierig ist das, keine Frage", sagte Clara, "aber nicht unmöglich. Und ein notwendiger Teil der Rekapitulation. Die Liste stellt ein Gerüst dar, an das der Geist sich halten kann."
Die Anfangsphase, sagte sie, besteht aus zweierlei. Das erste ist die Liste, das zweite die Inszenierung. Und die Inszenierung besteht darin, dass man sich alle Details der Ereignisse, deren man sich erinnern, bildlich vor Augen führt.
"Wenn Sie alle Elemente beisammen haben, wenden sie den Fegeatem an; die Bewegung ihres Kopfes ist wie ein Fächer, der alles in dieser Szene in Bewegung setzt. Wenn sie zum Beispiel ein bestimmtes Zimmer erinnern, dann atmen Sie alles ein, was Sie sehen, die Wände, die Decke, die Möbel, die Leute. Und hören sie nicht auf, bevor auch der letzte Rest der Energie absorbiert ist, die Sie dagelassen haben."
"Woher weiß ich, wann das der Fall ist?" fragte ich.
"Ihr Körper sagt Ihnen, wann es reicht", versicherte sie. "Denken Sie nur daran: Sie müssen alle Energie, die Sie in der eben rekapitulierten Szene gelassen haben, einatmen wollen, und Sie müssen alle fremden Energie, die anderen Ihnen eingeimpft haben, ausatmen wollen."
Clara sagte, die Rekapitulation müsse damit anfangen, dass wir die Aufmerksamkeit auf unsere bisherigen Geschlechtsleben richten.
"Warum muss man gerade da anfangen?" fragte ich argwöhnisch.
"Weil da der Löwenanteil unserer Energie festgelegt ist", erklärte sie.
Möchten sie denn, dass die Männer, die Sie gehabt haben, sich immer weiter von Ihrer Energie ernähren? Möchten sie, dass sie stärker werden, wenn Sie stärker werden? Wollen sie für den Rest Ihres Lebens Energiequelle bleiben? Wohl kaum. Mir scheint, Sie verstehen die Bedeutung des Geschlechtsakts und der Rekapitulation nicht."
"Ganz recht, Clara. Ich verstehe die Gründe für dieses bizarre Ansinnen nicht."
Ihr gewichtiger Tonfall eines Lehrers, der einen Anfänger einführt, erläuterte sie, dass die Frauen die eigentlichen Träger der Gesellschaftsordnung seien; und um diese Rolle spielen zu können, werden sie überall auf der Welt in gleicher Weise zu Dienerinnen des Mannes erzogen.
"Es macht keinen Unterschied, ob sie auf dem Sklavenmarkt gekauft oder umworben und geliebt werden", betonte Clara. "Ihre Bestimmung und ihr Schicksal ist immer gleich: die Männer nähren und bergen und ihnen dienen."
Clara sah mich an, um, wie ich annahm, zu sehen, ob ich ihrem Gedankengang folgte. Das tat ich zwar, aber meine ganz ursprüngliche Reaktion besagte, dass die ganze Sache schon von ihrer Grundannahme her falsch war.
"Das mag in manchen Fällen so sein", sagte ich, "aber ich glaube, man kann nicht einfach sämtliche Frauen über einen Kamm scheren."
Das sah Clara offenbar ganz anders. "Das Teuflische an der Servilität der Frauen liegt darin, dass sie nicht einfach nur durch den Druck der Gesellschaft zustande kommt, sondern schon in ihrer biologischen Natur liegt."
Jede Spezies, erklärte sie, hat den biologischen Drang, sich selbst zu erhalten, und die Natur hat für Einrichtungen gesorgt, die sicherstellen, dass das Verschmelzen von weiblicher und männlicher Energie auf sehr effektive Weise geschieht. Beim Menschen, sagte sie, sei zwar auch die Fortpflanzung die Hauptfunktion des Geschlechtsverkehrs, aber es gebe da noch eine versteckte Nebenfunktion, nämlich dafür zu sorgen, dass beständige Energie von der Frau zum Mann fließt.
"Männer lassen bestimmte Energiestränge im Körper der Frau zurück. Die sind wie leuchtende Bandwürmer, die sich in ihrem Schoß winden und Energie schlürfen.
Frauen bilden die Grundlage für den Fortbestand der Menschheit. Der größte Teil der Energie kommt von ihnen; sie tragen, gebären und ernähren nicht nur die Kinder, sondern sorgen auch dafür, dass der Mann seine Rolle in dem Geschehen spielt.
Es ist schon schlimm genug, die Energiefäden von einem einzigen Mann im Körper zu haben, obgleich es ja notwendig ist, um Kinder zu bekommen und für sie sorgen zu können. Aber keine Frau kann mit den Energiefasern von zehn oder zwanzig Männern fertig werden, die sich alle von ihrer Energie ernähren. Kein Wunder, dass Frauen niemals wirklich den Kopf heben können.
Eine Frau trägt diese leuchtenden Würmer sieben Jahre mit sich herum. Danach verschwinden oder verblassen sie. Das Elend mit diesen Würmern ist nur, dass die ganze Armada - vom ersten Mann, den die Frau je gehabt hat, bis zum letzten - gerade gegen Ende dieser sieben Jahre in helle Aufregung gerät und die Frau durch einen unwiderstehlichen Drang nach Geschlechtsverkehrt bekommt. Prompt werden sämtliche Würmer wieder quicklebendig und ernähren sich weitere sieben Jahre lang von der leuchtenden Energie der Frau. Ein endloser Kreislauf."

Taisha Abelar: So läuft letztendlich alles auf die Frage hinaus, ob man genügend Energie hat, um mehr wahrzunehmen, als was uns wahrzunehmen erlaubt wurde. Unsere soziale Ordnung erlaubt es uns nicht, uns in andere Sphären vorzuwagen, außer durch Geisteskrankheit oder durch Träume, welche von ihr ohnehin als nicht real betrachtet werden. Diese zwei Wege stehen also mehr oder weniger offen, wobei sie jedoch nicht als wirklich aus sich selbst lebensfähige Wege betrachtet werden können. Nun behaupten die Zauberer, daß man - vorausgesetzt, man hat genügend Energie - den Montagepunkt bewegen und ihn dann auf einer neuen Position fixieren kann. Diese Fixierung ist absolut notwendig, weil man weder verrückt werden will, noch irgendwo in diesen Welten über Welten stranden will, von denen die Zauberer behaupten, daß sie dort draußen wirklich existieren, angeordnet wie die Schichten einer Zwiebel. Was man also braucht, ist Kontrolle, Energie und Flexibilität. Und das, was wir 'unbeugsame Absicht' nennen. Die Flexibilität befähigt einen dazu, den Montagepunkt weg von dem gegebenen Punkt zu bewegen, der uns zur Person macht, und wir werden darauf noch zurückkommen, weil dieser gegebene Punkt, der uns zur Person macht, in Wirklichkeit das ist, was wir das Selbst nennen. Und das ist der Punkt, an dem wir die eigene Wichtigkeit aus dem Fenster werfen müssen, denn solange wir dem Selbst die Treue halten, halten wir uns tatsächlich an jener spezifischen Position des Montagepunktes fest. Und dann werden wir niemals dazu fähig sein, etwas wahrzunehmen, daß über die für selbstverständlich gehaltene Realität da draußen hinausgeht. Uns ist in diesem Fall nur erlaubt, das wahrzunehmen, was unsere gegenwärtige Position innerhalb der sozialen Ordnung gestattet. Also benötigen wir Flexibilität, um unseren Montagepunkt anderswo hin zu bewegen, und dann benötigen wir Stabilität, Konzentration und Energie, um den Montagepunkt in einer anderen Position zu fixieren. Und das ist es, was Zauberei im eigentlichen Sinne ist, die Bewegung und die Fixierung, das erneute Fixieren des Montagepunktes auf unterschiedlichen Positionen, wobei gleichzeitig verschiedene Wirklichkeiten erhellt werden, die genauso fest und real sind wie das, was wir als Wirklichkeit unserer Alltagswelt annehmen.

Die Rekapitulation ist eine Technik der Schamanen mittels derer sie in ihrem Leben verlorengegangene Energien zurückholen können. Das Vorgehen ist denkbar einfach. Man sitzt, laut Originalliteratur am besten an einem engen Ort, bequem und mit geradem Rücken. Die Füße sollten nicht durch Schuhwerk eingeengt sein. Man wählt ein Ereignis aus, aus dem man seine Energien zurückrufen möchte, und beginnt mit einem tiefen Einatmen, während man das Kinn von der Mitte zur linken Schulter wendet, und mit einem tiefen Ausatmen, während man es zur Brust zurücklaufen läßt. Dann vergegenwärtigt man sich die vergangene Situation bis man ihre Essenz erfaßt hat. Man sollte sich wieder genau so fühlen, wie in der damaligen Situation. Gelingt einem das nicht, so sollte man sich an den Details entlang hangeln, bis man das Bild komplett hat. Welche Personen waren da? Wie war mein Tag davor? Wie waren die anderen gestimmt? Welche Tageszeit war es, wo stand die Sonne? War das Fenster offen? Haben Vögel draußen gezwitschert? Welche Farbe hat der Teppich? Brennen Lampen? Gab es einen besonderen Geruch? Wie hat das Holz gerochen? Wie fühlte ich mich damals? Wenn man die Situation wiederbelebt hat, fängt man an mit entspannten und ruhigen Atemzügen die eigenen Energien einzuatmen und die fremden Energien zurückzugeben. Man läßt den Atem alles leerfegen, bis die Situation vollkommen neutral ist. Hilfreich ist es, bei den Atemzügen, den Kopf langsam von einer Seite zur anderen zu schwenken und wieder zurück. Beim Einatmen von rechts nach links und beim Ausatmen von links nach rechts oder umgekehrt. Beendet wird die Szene dann mit zwei Kopfdrehungen ohne Atemzüge, bei der die energetische Verbindung zu der Situation durchtrennt wird. Danach fällt der Kopf in entspannte Mittelhaltung zurück.

Die energetische Verbindung kann unter Umständen sogar körperlich wahrgenommen werden als ein Kribbeln im Bauch und ein Energiefaserbündel, das von der Körpermitte ausgeht. Ebenso können die Bewegungen des Kopfes plötzlich sehr harmonisch werden. All dies geschieht, wenn der Energiekörper an der Rekapitulation mit teilnimmt.

Für gewöhnlich ist die Rekapitulation in den Kreisen der Castanedageschädigten so etwas, wie der unliebsame Geigenunterricht in der Kindheit. Wenn du nicht Geige übst, darfst du nicht spielen gehen. Ohne Reka keine Freiheit. Zu einem guten Geiger braucht es aber mehr als nur ein äußeres Exerzieren. Und zu einem Krieger sowieso.

Ich möchte daher eine weniger erfolgsorientierte Methode der Rekapitulation vorschlagen. Rekapitulieren Sie das, wozu Sie gerade Lust haben! Lassen Sie sich von Ihren Erinnerungen in vergangene Zeiten tragen. Sie werden erstaunt sein, welch neue Farbe Ihr Leben selbst durch wenige Minuten pro Tag einer so beseelten Rekapitulation annimmt. Denn die Reise durch Ihr Leben ist das eigentliche magische Moment der Rekapitulation. Mit jeder Erinnerung die Sie so rekapitulieren, holen Sie sich nicht nur irgendwelche Energiefäden zurück, sie atmen vielmehr die Essenz Ihres Lebens in sich ein. Sie fliegen durch Ihre ureigenste Zeit, und eine andere Zeit gibt es nicht. Das ist der abstrakte Flug.